Baur, Gustav Adolph - Wie Jesus Christus durch seine Predigt des Gesetzes der Liebe zu dem Evangelium von ihm hinführt.

Baur, Gustav Adolph - Wie Jesus Christus durch seine Predigt des Gesetzes der Liebe zu dem Evangelium von ihm hinführt.

Am 18. Sonnt. n. Trinitatis.

Darin stehet die Liebe, nicht, daß wir Gott geliebet haben, sondern, daß er uns geliebet hat und gesandt seinen Sohn zur Versöhnung für unsere Sünden. Ihr Lieben, hat uns Gott also geliebet, so sollen wir uns auch unter einander lieben. (1. Joh. 4, 10). - Amen.

Da haben wir, meine liebe Gemeinde, in diesen herzinnigen Worten des Jüngers, welchen der Herr lieb hatte, wieder eins der inhaltreichsten Worte vernommen, welche die menschliche Sprache besitzt, und eins der inhaltreichsten auch, welche der köstliche Sprachschatz evangelischer Wahrheit aufzuweisen hat. Ich meine das herrliche Wort Liebe. Aber wie das Höchste und Herrlichste auch dem ärgsten Mißbrauche ausgesetzt ist, so wird auch kaum ein anderes Wort so oft gemißbraucht und mißverstanden und so selten in dem ganzen heiligen Ernst und in der vollen Tiefe seiner Bedeutung erfaßt. Nicht bloß in dem Verhältnisse der beiden Geschlechter zu einander muß der Name der heiligen Liebe sich? oft da mißbrauchen lassen, wo die Namen einer oberflächlichen und flüchtigen Neigung, der sinnlichen Lüsternheit und Begierde, des kalt berechnenden Eigennutzes besser an ihrer Stelle wären; sondern auch in dem weiteren Gebiete der Nächstenliebe wird gar oft da von Liebe gesprochen, wo nur von einer natürlichen und oft sehr schwachen und unweisen Gutmüthigkeit, oder doch nur von einer ganz äußerlichen Leistung derjenigen Werke die Rede sein sollte, welche das Gesetz der Liebe fordert. Der allersonderbarste Mißbrauch aber ist es, wenn das Wort Liebe Solche auf ihre Fahne schreiben, welche gegen diejenigen zu Felde ziehen, die sich um die Fahne des Glaubens an Jesus Christus sammeln, weil sie in diesem den alleinigen Grund alles Heiles gefunden haben; wenn die Liebe das Feldgeschrei werden muß, um dem christlichen Glauben als einem unnützen und verderblichen Wahne den Krieg zu erklären. Es ist das in der That nicht minder verkehrt, als wenn das unmündige und unselbständige Kind gegen die eigne Mutter feindlich auftreten und sie als entbehrlich und in ihrem Wirken als verderblich ansehen wollte, die ihm doch das Leben gegeben hat und deren Hülfe es zur Erhaltung und zur Förderung seines Lebens keinen Augenblick entbehren kann. Denn kein Anderer, als Jesus Christus, hat uns ja erst von der Liebe gegen den Nächsten, d. h. gegen einen jeden, der unserer brüderlichen Handreichung bedarf, reden gelehrt. Die vorchristliche Welt hat von dem großem Gebote der Liebe so gut wie nichts gewußt. Wenn auch das Volk des alten Bundes in vielen seiner Glieder von dem engherzigen Grundsatze abgekommen war, daß man nur die Angehörigen des auserwählten Volkes lieben, alle anderen aber als seine Feinde hassen solle; so zeigen uns doch zahlreiche Stellen der heiligen Schrift, wie weit es noch davon entfernt war, in jedem Hülfsbedürftigen seinen Nächsten zu erkennen, dem man Liebe schuldig ist. Den heidnischen Völkern aber war und ist heute noch das Gebot der Liebe gegen alle Menschen geradezu unverständlich und lächerlich. Auch die geistig gefördertsten unter ihnen kannten selbst gegen die eignen Volksgenossen keine Pflicht der Liebe, sondern nur die Pflicht der Gerechtigkeit; gegen andere Völker hatten sie, wenn nicht feindseligen Haß, doch nur Gleichgültigkeit und Geringschätzung. Erst dadurch, daß der eingeborene Sohn Gottes uns die volle Liebe unseres Vaters im Himmel geoffenbart hat, sind die Menschen der Pflicht sich bewußt geworden, daß sie als Kinder desselben Vaters und als Brüder sich einander lieben sollen. Und wie aus dem Glauben an Christus erst die Liebe gegen die Brüder entsprungen ist; so führt das Gebot der Liebe, wenn es in seiner vollen Bedeutung gründlich verstanden wird, auch mit Nothwendigkeit auf den Glauben an Christus hin. Dieses Verständniß will uns nun der Herr selbst in unserm heutigen Texte aufschließen. Der gnädige Gott aber wolle unsere Betrachtung segnen, damit wir sein heiliges Wort recht hören und bewahren.

Lied: 253. 1.

Wohl dem, der Jesum liebet.
Und seinem Himmelszelt
Von Herzen sich ergiebet!
Der ruht im sichern Port.
Wo Jesus Wohnung findet.
Da stehet Alles wohl;
Wer sich auf Jesum gründet,
Der lebet lebensvoll.

Text: Matth. 22, 34-46.
Da aber die Pharisäer höreten, daß er den Sadducäern das Maul gestopfet hatte; versammelten sie sich. Und einer unter ihnen, ein Schriftgelehrter, versuchte ihn, und sprach: Meister, welches ist das vornehmste Gebot im Gesetz? Jesus aber sprach zu ihm: Du sollst lieben Gott, deinen Herrn, von ganzem Herzen, von ganzer Seele, und von ganzem Gemüthe. Dieß ist das vornehmste und größeste Gebot. Das andere aber ist dem gleich: Du sollst deinen Nächsten lieben als dich selbst. In diesen zween Geboten hanget das ganze Gesetz und die Propheten. Da nun die Pharisäer bei einander waren, fragte sie Jesus. Und sprach: Wie dünket euch um Christo? Weß Sohn ist er? Sie sprachen: Davids. Er sprach zu ihnen: Wie nennet ihn denn David im Geist einen Herrn, da er sagt: Der Herr hat gesagt zu meinem Herrn: Setze dich zu meiner Reckten, bis daß ich lege deine Feinde zum Schemel deiner Füße?„ So nun David ihn einen Herrn nennet, wie ist er denn sein Sohn? Und Niemand konnte ihm ein Wort antworten, und durfte auch Niemand von dem Tage an hinfort ihn fragen.

Unser Text zerfällt deutlich in zwei Theile. Der Inhalt des ersten faßt das Wort des Herrn zusammen, daß in dem Gebote der Liebe das ganze Gesetz und die Propheten hange; und in dem Mittelpunkt des zweiten steht die ernste und hochwichtige Frage: „Wie dünket euch um Christo?“ Auf den ersten Blick haben diese beiden Theile keinen inneren Zusammenhang, aber ihre eingehendere Betrachtung zeigt, wie gerade das rechte Verständniß des Gebotes der Liebe uns nothwendig zu der Frage: „Wie dünket euch um Christo?“ hinführen muß. Jesus Christus selbst führt uns in unserem Texte durch seine Predigt des Gebotes der Liebe zu dem Evangelium von Christo hin. Laßt uns denn mit aufmerksamem und heilsbegierigem Herzen diesem sicheren Führer folgen. Hören wir zuerst, wie er uns das Gesetz der Liebe predigt, und sehen wir dann zweitens, wie diese Predigt, wenn sie mit dem rechten Sinn aufgenommen wird, uns nothwendig zu dem Evangelium von Christo und zu dem Glauben an ihn hinführen muß.

l.

Unmittelbar vor unserem Texte berichtet der Evangelist Matthäus, wie Christus die Sadducäer, welche an die Auferstehung der Todten nicht glaubten, und ihm eine darauf bezügliche verfängliche Frage vorgelegt hatten, durch eine Gegenfrage zum Schweigen gebracht, oder, wie Luther in seiner kräftigen Weise übersetzt, ihnen das Maul gestopfet hatte. Darüber freuten sich denn die Pharisäer, nicht als ob sie ihre Freude gehabt hätten an der siegreichen Kraft der göttlichen Wahrheit, mit welcher Christus hier wieder seine Feinde zu Schanden gemacht hatte, sondern nur über die Niederlage, welche ihre Gegner erlitten hatten, empfanden sie ein schadenfrohes Behagen. Denn wer das Herz auf dem rechten Fleck hat, der freut sich über den Sieg des Guten und Rechten und über das Wohlergehen und Gedeihen des Nächsten. Unlautere, selbstsüchtige und engherzige Gemüther dagegen suchen ihre armselige Freude darin, daß nur einem Andern sein Vornehmen nicht gelingt, ohne daß sie sich selbst für die Wahrheit und das Recht lebendig begeistern können. So verrathen denn auch hier die Pharisäer gleich ihre unlautere Gesinnung gegen Jesum selbst, obgleich sie an seinem Siege über ihre Feinde sich schadenfroh geweidet haben. Sie selbst versuchen ihn nun, d. h. sie suchen ihn durch eine verfängliche Frage in Verlegenheit zu bringen. Einer von ihnen, ein Schriftgelehrter, spricht für alle und fragt: „Meister, welches ist das vornehmste Gebot in dem Gesetz?“ Nach dem griechischen Grundtexte des Neuen Testamentes lautet die Frage eigentlich: „Was für ein Gebot ist ein großes in dem Gesetz?“ d. h. wie muß ein Gebot beschaffen sein, um zu den großen Geboten im Gesetze gerechnet zu werden?“ Die jüdischen Schriftgelehrten zerspalteten nämlich das Gesetz in eine Menge, in 613 einzelne Gebote, theilten diese in große und kleine Gebote und disputirten nun mit allem Aufwand ihrer eitelen und unfruchtbaren Gelehrsamkeit darüber hin und her, ob ein Gebot zu dieser oder zu jener Classe gehöre und welche Eigenschaften es dazu haben müsse. Denn je weniger ein Mensch in der Religion lebt, desto mehr sucht er seine Kraft in solchen müßigen Disputationen über die Religion; und wenn der Geist des Gesetzes in unserm Herzen nicht lebendig ist, so fällt es uns auseinander in eine Menge äußerlicher Gebote. So tritt denn dieser Schriftgelehrte mit seiner Frage zu Christo hin. Er denkt: Mag dieser Prophet aus Nazareth antworten was er will, unsere Gelehrsamkeit und unser Scharfsinn wird ihm doch etwas entgegenzusetzen haben, was ihn in Verlegenheit bringen muß. Aber er war an den Unrechten gekommen; er war an den gekommen, der gewaltig predigte und nicht wie die Schriftgelehrten. Mit seiner göttlichen Gewalt wirft Christus alle die unnützen Fragen zur Seite, welche ein von dem Ernst einer geheiligten Gesinnung verlassener klügelnder und sich selbst überhebender Verstand aufgeworfen hat, und dringt gleich hindurch zum Grunde des Herzens. Er läßt sich auf die Frage gar nicht ein, welche Gebote des Gesetzes etwa für groß und wichtig zu halten seien, und welche für klein und minder wichtig; sondern er dringet gleich hindurch zu dem Gebote, an welchen, wie er sagt, das ganze Gesetz hanget, ohne dessen Erfüllung kein einziges Gebot wahrhaft erfüllt werden kann, mit dessen Erfüllung aber auch die Erfüllung aller übrigen von selbst sich gibt. -Laßt uns denn hören, Geliebte, wie Christus das Gesetz gewaltig predigt, und nicht wie die Schriftgelehrten! Er antwortet dem aberweisen und hinterlistigen Frager: „Du sollst lieben Gott, deinen Herrn, von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von ganzem Gemüthe. Dieß ist das vornehmste und größeste Gebot, das andere aber ist dem gleich: Du sollst deinen Nächsten lieben als dich selbst. In diesen zweien Geboten hanget das ganze Gesetz und die Propheten.“ Nun, Geliebte, diese beiden Gebote hatten die Juden auch in ihrem Gesetze schon gelesen (5. Mos. 6, 5. - 3. Mos. 19, 18), insofern also sagte Christus ihnen nichts Neues. Aber sie hatten sie mir angesehen als zwei besondere Gesetzesvorschriften nebenvielen andern. Christus dagegen predigt sie ihnen jetzt als die Gebote, in welchen das ganze Gesetz hanget, welche die eigentliche Grundlage aller übrigen Gebote sind. Er predigt ihnen mit Einem Worte das Eine große Gebot der Liebe, welches ihnen bei ihrer äußerlichen Gesetzesgerechtigkeit in seiner vollen Bedeutung bisher noch nicht aufgegangen war, der Liebe, welche nicht das Ihre sucht, sondern alle Hoffart, alles Böse, selbstsüchtige Gelüste aus dem Herzen verbannt, welche freie Bahn macht, damit der heilige Willen Gottes in das Herz einziehen und von ihm Besitz ergreifen kann, und welche dadurch des Gesetzes Erfüllung wird. Und als den ersten Gegenstand dieser Liebe bezeichnet nun Christus Gott, den Herrn; ihn sollen wir lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von ganzem Gemüthe. Nichts soll in unserem Wesen und Willen sein, was nicht beherrscht und durchdrungen wäre von der Liebe zu Gott. Kein Geschöpf soll unsere Liebe mit dem Schöpfer theilen; sondern er will uns ganz haben, unser ganzes Herz und unser ganzes Leben, und alle Liebe, welche unser Herz bewegt, muß umschlossen sein von der heiligen Liebe zu ihm, zu Gott unserm Herrn. Nichts, was sichtbar und zeitlich ist, darf den Blick der Liebe trüben, daß er nicht hindurchdringe zu dem ewigen und lebendigen Gott; kein zeitliches Gut. keine Creatur darf sich in die Mitte stellen zwischen uns und ihn und die Gemeinschaft der Liebe mit ihm, unserem höchsten und wahren Gute, stören. Der Führung seiner Vaterhand muß die Liebe freudig folgen, mag es nun durch finstere Thäler gehn. oder durch grüne Auen; und ob seine Hand nimmt oder gibt, die Liebe, welche Gott über Alles liebt, muß seine Hand als eine Segenshand preisen. Und diesem ersten Gebote ist das andere gleich: „Du sollst deinen Nächsten lieben als dich selbst.“ Wenn hiermit unsere Selbstliebe zum Maßstabe und zum Vorbilde unserer Nächstenliebe gemacht wird, meine geliebten Freunde, so dürfen wir nicht an jene natürliche und sündige Selbstliebe denken, welche im Grunde nichts Anderes ist, als schwache Nachgiebigkeit gegen das selbstsüchtige Gelüste des natürlichen Menschen. Sondern von der Selbstliebe ist die Rede, welche bereits geläutert und geheiligt ist durch die Erfüllung des vornehmsten und größesten Gebotes, durch die Liebe, welche Gott, unsern Herrn, über Alles liebt. Wer durch diese Liebe eingetreten ist in die Gemeinschaft mit Gott, der lernt auch die Kinder ansehn mit dem Auge des Vaters im Himmel. Er liebt sich selbst nicht als ein Kind dieser Welt, das gepflegt und ergötzt werden muß mit ihren vergänglichen Gütern und Genüssen; sondern er liebt sich als ein Kind Gottes, welches ein Erbe werden soll seiner ewigen himmlischen Herrlichkeit. Was ihn von dieser Bestimmung abhält, das hält er für Schaden, wie sehr es auch dem natürlichen Menschen ein Gewinn zu sein scheint. Und wie sich selbst, so liebt er auch die Brüder als theure Kinder des Vaters im Himmel. Daß diesem keines von ihnen verloren gehe, darauf ist das Trachten seiner Nächstenliebe gerichtet. Er speist den Hungernden und kleidet den Nackten und bringt dem Kranken Hülfe, damit die Sorge um des Leibes Nothdurft nicht die Sorge um das Heil ihrer Seele in ihnen ersticke. Das geängstigte und zerschlagene Gemüth sucht er aufzurichten mit dem Troste, den Verirrten sucht er zurückzuführen mit der Leuchte des göttlichen Wortes, auf daß wir alle hinankommen zu der Gemeinschaft seliger Gotteskinder in dem himmlischen Hause unseres Vaters. So, meine Lieben, predigt uns Jesus Christus das große Grundgesetz der heiligen Liebe, daß wir Gott über Alles lieben sollen und unsern Nächsten als uns selbst. - Und wenn wir uns nun messen mit diesem Maßstabe, welchen unser Herr selbst uns in die Hand gibt, ach, meine lieben Brüder und Schwestern, wie werden wir da bestehen? Wie werden die bestehen, welche glauben mit ihrer Liebe sich brüsten und der Lehre und Hülfe desjenigen entrathen zu können, welcher zuerst das Gebot der Liebe mit seiner gewaltigen Predigt laut in die Welt hineingerufen hat. Werden sie nicht, wenn sie aufrichtig sich selbst prüfen, bekennen müssen, daß ihre Gerechtigkeit nicht besser ist, denn die der Pharisäer und Schriftgelehrten; daß sie von dem Zuge der heiligen Liebe, die Gott über Alles liebt, noch nichts an ihrem Herzen erfahren haben, ja daß viele von ihnen auch gar nichts davon erfahren wollen, weil sie von dem lebendigen Gott selbst nichts wissen wollen, und daß es nur die Flucht vor der beängstigenden Oede und Leere ihres eigenen Herzens ist, was sie in die Werke einer äußerlichen Barmherzigkeit hineintreibt? Und fehlt nicht bei aller Vielgeschäftigkeit ihrem Wirken doch die Weihe und Kraft der heiligen Liebe, weil von deren heiligender und selig machender Kraft ihr eigenes Herz noch nicht berührt worden ist? Aber auch dir, liebe Seele, die du gerne zu den Füßen deines Herrn und Meisters auf seine Lehre lauschest und zu dem Vorbild hinaufschauest, welches er dir gelassen hat: muß es dir nicht bange werden, wenn du mit dem, was du nach seinem Gebote der Liebe sein solltest, das vergleichest, was du bist? In diesem Gebote der Liebe hanget ja, wie der Herr sagt, das ganze Gesetz; wer dieß eine Gebot recht erfüllt, der erfüllt auch alle andern. Wohlan, Geliebte, wie steht es mit dieser Erfüllung? Da lautet gleich das erste: „Ich bin der Herr dein Gott, du sollst keine anderen Götter neben mir haben!“ Aber o wie hat doch der Götze des Mammon, der Fleischeslust, der Hoffart seinen Thron aufgeschlagen in dem Herzen, das Gott allein dienen soll. „Du sollst den Namen des Herrn, deines Gottes, nicht mißbrauchen!“ - aber wie viel fehlt doch, daß wir seinen Namen ehren und preisen in Gesinnung, Wort und That, und was wir thun mit Worten und Werken, das Alles thun in seinem heiligen Namen! „Du sollst den Feiertag heiligen!“ - aber wie oft wird gerade der Feiertag des Herrn entweiht durch unheilige Lust. Habe ich nöthig, Geliebte, alle Gebote durchzugehn bis zum letzten, welches nicht allein die sündige That, welches auch schon das unheilige Begehren des Herzens verdammt, um uns alle zu dem Bekenntnisse zu treiben, daß wir des Rühmens mangeln, den wir vor Gott haben sollten; daß wir gerichtet sind, wenn wir gerichtet werden sollen nach dem Gesetz der Liebe, wie es der Herr uns predigt und auslegt?

II.

Und wohl uns, meine Lieben, wenn wir unsere Unwürdigkeit, unsere Sünde und Verschuldung recht tief und schmerzlich empfinden; wenn es uns recht bange um's Herz wird, weil wir fühlen, wie wir darum zu Schanden werden müssen vor dem Richterstuhle des heiligen Gottes und wie wir ausgeschlossen sind von der seligen Gemeinschaft mit ihm. Ich sage: Wohl uns dann! Denn dann sind wir bei dem Punkte angekommen, auf welchen Christus durch seine Predigt des Gesetzes der wahren Liebe uns hat hinführen wollen. Dann ist er bereit, die uns niederschlagende Predigt des Gesetzes übergehn zu lassen in die Verkündigung des selig machenden Evangeliums. Dann ist es Zeit, die Frage an uns zu richten: „Was dünket euch um Christo?“ Denn ein geängstetes und zerschlagenes Herz weiß auf diese Frage die rechte Antwort zu finden. - Die Pharisäer und Schriftgelehrten konnten diese rechte Antwort nicht finden. Ihnen war der Messias oder der Christus, welchen sie erwarteten, nichts Anderes, als der Sohn Davids, welcher in der Art seines großen Vorfahren sein unterdrücktes Volk befreien und zu der alten Macht und Herrlichkeit, ja zur Herrschaft über alle Völker erheben werde. Sie empfanden nur eben das Unglück und die Schmach, in welche ihr Volk durch die römische Oberherrschaft gestürzt worden war, und nicht das verderblichere und schmählichere Joch, welches der Fürst dieser Welt ihnen aufgelegt hatte. Darum wurden ihre Augen gehalten, daß sie in dem Propheten von Nazareth, welcher in Knechtsgestalt einhergieng und keinen Ort hatte, da er sein Haupt hinlegen konnte, welcher ein Reich ankündigte, das nicht von dieser Welt sei, und denen Sättigung verhieß, die da hungerten und dürsteten nach der Gerechtigkeit, - daß sie in ihm die Wahrheit und Gnade des eingeborenen Sohnes vom Vater nicht erkannten. Sie empfanden eben nicht das Verderben ihrer Sünde, nicht als ob sie davon weniger ergriffen gewesen wären, als jene heilsbegierigen Frauen, jene Zöllner und armen Fischer, welche um Jesus sich sammelten; sondern nur darum, weil sie an einem äußerlichen Werkdienst sich genügen ließen und mit der Erfüllung des Gesetzes niemals recht Ernst gemacht hatten. Und ganz dasselbe ist auch der Fall mit denjenigen, welche nur immer und immer, und bis zum Ekel und Ueberdruß für ein ernstes Gemüth, von Liebe reden und von dem Glauben an Christum nichts wissen wollen. Hätten sie nur einmal Ernst gemacht mit der Erfüllung des Gebotes der Liebe, wären sie sich nur einmal recht klar geworden darüber, was das heißt: Gott über Alles lieben und seinen Nächsten als sich selbst; wahrlich, sie müßten sich schämen der elenden äußerlichen Werklein, mit welchen sie jenem Gebote glaubten genug gethan zu haben. Es müßte ihnen klar werden, wie an diesem Gebote nicht bloß das ganze Gesetz hanget, sondern auch die Propheten. Das Gebot der Liebe würde ihnen eine Weissagung auf Christum werden, indem es ihnen ihre Schwachheit und Sünde aufdeckt, ihnen zeigt, daß kein Mensch gerecht wird aus Werken des Gesetzes, sondern daß sie verloren wären, wenn nicht Gott in seiner Barmherzigkeit ihrer sich annimmt mit der Gnadenhülfe, die er von oben sendet. Und dann würden sie den nicht mehr verkennen und verwerfen, der uns von Gott gemacht ist zur Weisheit und zur Gerechtigkeit, zur Heiligung und zur Erlösung; sondern sie würden auf die Frage: „Was dünket euch um Christo?“ die rechte Antwort finden, die Antwort, mit welcher dort Petrus zu dem Herrn sich bekannt hat (Joh. 6, 68.): Herr, wohin sollen wir gehen? Du hast Worte des ewigen Lebens und wir haben geglaubt und erkannt, daß du bist Christus, der Sohn des lebendigen Gottes.„ - Und wenn so die in dem Herzen lebendig aufgenommene Predigt des Gesetzes der Liebe uns nothwendig zum Glauben an das Evangelium von Christo, unserem Erlöser und Seligmacher, hinführt; was soll uns da das thörichte Gerede, oder die elende Verläumdung, daß der Glaube an Christum dem freien Walten und dem kräftigen Wirken der Liebe hinderlich sei? Ich wüßte nicht, aus welcher andern Quelle der Strom der Liebe so kräftig sich ergießen und so frei ausbreiten könnte, als aus der Quelle solchen Glaubens. Denn dieser Glaube verbürgt uns ja. daß Gott uns unsere Sünden nicht zugerechnet, sondern den, welcher von keiner Sünde wußte, für uns zur Sünde gemacht, und also das Wort von der Versöhnung unter uns aufgerichtet hat, daß er die Strafe auf ihn gelegt hat, damit wir Friede hätten und durch seine Wunden geheilet würden. Kann es einen stärkeren Antrieb geben, Gott über Alles zu lieben, als daß er uns so sehr geliebet hat, da wir noch Sünder waren? Und weiter, meine Lieben, kann es einen stärkeren Antrieb geben zur Liebe gegen den Nächsten, als den Glauben an den, welcher uns zuerst gelehret hat, daß wir alle als Brüder und Schwestern Einem großen Vaterhause angehören, und der uns als heiliges Vermächtniß sein Wort hinterlassen hat (Joh. 13, 34): „Ein neu Gebot gebe ich euch, daß ihr euch unter einander liebet, wie ich euch geliebet habe. .. Dabei wird Jedermann erkennen, daß ihr meine Jünger seid, so ihr Liebe untereinander habet!“ O Geliebte, wenn wir von ihm die rechte Hirtentreue lernen, welche das Schwache stärket und das Kranke heilet, die Irrenden zurecht führt und die Verlorenen zu Hause bringt: wahrlich, dann kommt in unsere Liebesthätigkeit eine andere Kraft und eine andere Weihe, als die natürliche Liebe sie aufzubringen vermag, welche, indem sie Christum verwirft, die lebendige Quelle der heiligen Liebe sich selber verschüttet. - So lasse ich denn noch einmal hinausgehn in diese Versammlung und an jeden Einzelnen von euch die Frage: „Was dünket euch von Christo? O möchte es doch aus recht vielen Herzen mit freudiger Zuversicht antworten: „Ich habe geglaubet und erkannt, daß er ist der Sohn des lebendigen Gottes!“ Aber von Allen freilich läßt sich diese Antwort nicht erwarten. Denn die Schriftgelehrten unserer Zeit haben wieder gerüttelt an der Krone göttlicher Herrlichkeit, welche den eingeborenen Sohn vom Vater schmückt, und haben den Glauben seiner Gemeinde verwirret. Was soll ich euch für ein Mittel gegen solche Verwirrung anrathen? Soll ich euch verweisen auf die Schriften anderer Gelehrten, welche jene Angriffe abzuwehren versucht haben? Ich möchte vielmehr sagen: Ihr habt ja die Evangelisten und Apostel; glaubt ihr denen nicht, so werden euch auch andere Schriften nicht zum Glauben helfen. Laßt mich euch lieber ein einfacheres und sichereres Mittel angeben. Versucht es einmal mit recht treuer Erfüllung des Gebotes, Gott über Alles zu lieben und den Nächsten als sich selbst. Und wenn ihr dann euch sagen müßt, wie ihr täglich ja stündlich gegen dies Gebot euch vergeht, und wenn die Menge und das Gewicht eurer Sünden euch immer beängstigender auf der Seele lastet, dann richtet euren Blick hinauf zu dem Kreuze auf Golgatha, von welchem das selige Wort in alle Welt ergangen ist: „Also hat Gott die Welt geliebt, daß er seinen eingeborenen Sohn gab, auf daß alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben. Daß dieses Wort keine Täuschung sei, das bestätigen euch viele vollgültige Zeugen, welche um dieses Kreuz versammelt sind. Da stehet ein ernster Mann, der einst über die Maßen geeifert hatte um der Väter Gesetz, und der doch nicht eher den Frieden seiner Seele gefunden hat, als bis er geängsteten und zerschlagenen Herzens dieses Kreuz umklammerte und am liebsten seiner Schwachheit sich rühmen lernte und der Kraft Gottes, die in dem Schwachen mächtig ist. Und neben Paulus steht, die Palme des Sieges in der Hand Stephanus, der erste Märtyrer, der, als er unter den Steinwürfen seiner wüthenden Feinde seinen Geist aufgab, mit seliger Freude ausrief (Apostelg. 7, 55): „Siehe, ich sehe den Himmel offen und des Menschen Sohn zur Rechten Gottes stehn!“ Da steht Johannes, der Jünger, den der Herrn lieb hatte, und dem vergönnt war, bis weit über die gewöhnlichen Gränzen des menschlichen Lebens hinaus zu bezeugen: „Darin stehet die Liebe, nicht daß wir Gott geliebet haben, sondern daß er uns geliebet hat und gesandt hat seinen Sohn zur Versöhnung für unsere Sünden.“ Und um sie sammelt sich eine unabsehbare Menge aus allen Völkern und Zeiten, und alle, alle bezeugen laut und freudig: Was dem Gesetz unmöglich war, sintemal es durch das Fleisch geschwächet war, das hat Gott möglich gemacht, dadurch, daß er seinen Sohn sandte, und nur durch diese göttliche Gnadenhülfe konnte unser Geschlecht aus dem Tode der Sünde zu neuem Leben erweckt werden. Aber auch in deiner Nähe ist ja vielleicht ein solcher lebendiger Zeuge von der Gnade Gottes in Christo zu finden. Da ist ein Mann, aus dessen Wesen dich eine ruhige Heiterkeit und ein freundlicher Ernst immer eigenthümlich angesprochen und dir Achtung abgenöthigt, aber dich doch auch ferne von ihm gehalten hat, um so mehr, da er dir bezeichnet worden ist als einer von den Frommen, die es mit dem Christenthum gar zu streng nehmen. Aber nun treibt dich deine Seelennoth, ihm eine schüchterne Mittheilung zu machen. Und siehe, er versteht dich sogleich ganz und seine Antwort lautet ähnlich, wie die Worte eines frommen Dichters:

Ich fall' dir weinend in die Arme,
Auch mir war einst wie dir zu Muth;
Doch ich genas von meinem Harme
Und weiß nun, wo man ewig ruht.
Dich muß, wie mich, ein Wesen trösten,
Das innig liebte, litt und starb,
Das selbst für die, die ihm am wehsten
Gethan, mit tausend Freuden starb.
Mit ihm kommt neues Blut und Leben
In dein erstorbenes Gebein,
Und wenn du ihm dein Herz gegeben,
So bleibt auch seins auf ewig dein!

Und siehe, da reißt es auch in deinem Herzen. Da fühlst du den Zug des Vaters zu dem Sohne hin. Da treibt es dich, dem, der für dich gestorben ist, dein ganzes Herz hinzugeben. Und jetzt durchdringt dich ein neues Leben. Zu den äußeren Zeugnissen von der belebenden Wundermacht des Herrn kommt das innere Wunder des Glaubens hinzu, die Wiedergeburt zu einem neuen Leben. Und nun kannst du mit frohem Herzen bekennen: „Nun erkenne ich mit der Wahrheit, mein Herr und Heiland, daß du Gottes Sohn bist; denn Niemand kann die Zeichen thun, die du thust, es wohne denn in ihm die Gnade und Kraft des lebendigen Gottes!“ O möchte doch der gnädige Gott durch die Predigt des Gesetzes der Liebe und durch die Verkündigung des seligmachenden Evangeliums von Christo uns alle zu diesem freudigen und seligen Bekenntnisse hinführen! - Amen.

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autoren/b/baur_gustav/baur-18_nach_trinitatis.txt · Zuletzt geändert: von aj
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