Baur, Gustav Adolph - Eine Tischrede Jesu Christi.

Baur, Gustav Adolph - Eine Tischrede Jesu Christi.

Am 17. Sonntage nach Trinitatis.

Es stehet geschrieben: Der Mensch lebet nicht vom Brod allein, sondern von einem jeglichen Worte, das durch den Mund Gottes gehet (Matth. 4, 4). - Amen.

Es geschieht wohl, meine lieben Freunde, daß, wenn man einem Menschen zwar seine persönliche Ehrbarkeit, einer Sache ihren inneren Werth, einer Maßregel ihre gute Absicht nicht absprechen, das Alles aber doch als recht unbrauchbar für das wirkliche Leben bezeichnen will, daß man dann sagt, es passe nicht in die Welt, wie sie eben einmal ist. Nun hat aber bekanntlich unser Heiland selbst auch von dem Reiche, welches zu gründen er gekommen ist, gesagt, daß es nicht von dieser Welt sei (Joh. 18, 36); und so läßt sich vermuthen, daß solche klugen Weltleute auch über das Christenthum das Urtheil fällen werden, es passe nicht in die Welt, es sei eine unpraktische Religion, mit welcher in dem wirklichen Leben sich nichts anfangen lasse. Und diese Vermuthung bestätigt sich in der That. Um von denjenigen ganz zu schweigen, welche aus ihrer Feindschaft gegen das Christenthum gar keinen Hehl machen, sondern seinen Stifter laut als einen Schwärmer, und die, welche seine Förderung sich zum Lebensberufe gemacht haben, als die thörichten oder selbstsüchtigen und betrügerischen Feinde des wahren Fortschrittes bezeichnen; so hört man gar Manche zwar anerkennen, daß das Christenthum eine gar erhabene Religion und sein Stifter ein Mann von ausgezeichneter Tugend sei, zugleich aber hört man sie behaupten, daß es für diese Welt nichts sei, sondern daß man. um in ihr fortzukommen, andere Ziele verfolgen müsse, als die, welche das Christenthum uns vorsteckt, und andere Mittel anwenden, als die, welche das Christenthum uns empfiehlt. Ja auch Solche, welche für sich selbst in ihm die Quelle alles Heiles gefunden haben, haben ihm doch die Kraft nicht zugetraut, den Kampf mit der Welt zu bestehen, und haben es vorgezogen, in mönchischer Zurückgezogenheit von der Welt ihr Christenthum zu pflegen. Der Heiland selbst aber hat offenbar andere Gedanken gehabt. Nicht umsonst ist er hineingetreten in das volle Leben, um es zu befreien von dem Bann der Sünde und um es, heiligend und verklärend, völlig umzugestalten. Nicht umsonst hat er den Seinen gesagt, daß sie ihr Licht nicht unter den Scheffel stellen, sondern es sollten leuchten lassen vor den Leuten Nicht umsonst hat er sie das Salz der Erde genannt und sein Evangelium einen Sauerteig, weil es nicht als ein todtes Pfand in der Menschheit liegen, sondern ihr ganzes Wesen mit der Kraft eines neuen Lebens durchdringen soll. Und wahrlich, meine liebe Gemeinde, wenn wir hineinsehen in die Geschichte der christlichen Kirche und in das Leben einzelner wahrhaft lebendiger Christen, so wüßte ich nicht, was dem Gedanken widerspräche, daß die seligmachende Gotteskraft des Evangeliums das Allerwirksamste, das Allerpraktischste ist, was es nur geben kann. Ich wüßte nicht, wie es ein schöneres und glücklicheres häusliches Leben geben könnte, als da, wo Jesus Christus der liebste und unentbehrlichste Hausfreund geworden ist, der ja nicht allein das Glück uns erst recht genießen lehrt, sondern auch in den Stunden der Noth unser Herz mit einer Alles überwindenden Freude erfüllt. Ich wüßte nicht, was uns ein kräftigerer Sporn werden könnte zu treuer und eifriger Arbeit in unserem Berufe, als wenn wir im Glauben an Christum auch diesen Dienst als einen Gottesdienst und auch unsere Berufsarbeit als eine Arbeit zur Förderung seines himmlischen Reiches ansehen. Ich wüßte nicht, wie menschlicher Wissenschaft ein helleres Licht aufgehen könnte, als wenn sie in Ihm, dem Lichte der Welt, den zusammenhaltenden Mittelpunkt aller Erkenntniß gefunden hat, welcher in alle Gebiete des Wissens seine erleuchtenden Strahlen hinwirft. Ja, meine Lieben, das Reich, welches unser Herr gegründet hat, ist nicht von dieser Welt, aber es ist für diese Welt; es ist gegründet, um dieser Welt die Kräfte des wahren Lebens erst mitzutheilen. Und wenn wir nur mit unserem Christenthum recht Ernst machen, meine lieben Brüder und Schwestern, so werden wir das Alles zu unserem Heile auch an uns selber erfahren. Darum laßt uns unser wahres Leben nicht in dem Wesen dieser Welt suchen, das vergehet. Laßt uns eingedenk sein des Wortes unseres Herrn: „Der Mensch lebt nicht vom Brod allein, sondern von einem jeglichen Worte, das durch den Mund Gottes geht.“

Lied: 254, 1.

Herr, öffne selbst uns Ohr und Herz,
Daß wir dein Wort recht fassen,
In Glück und Leid, in Lust und Schmerz
Es aus der Acht nicht lassen.
Gieb, daß wir Hörer nicht allein,
Nein! auch desselben Thäter sein,
Frucht hundertfältig bringen.

Text: Luc. 14, 1-11.
Und es begab sich, daß er kam in ein Haus eines Obersten der Pharisäer, auf einen Sabbath, das Brod zu essen; und sie hielten auf ihn. Und siehe, da war ein Mensch vor ihm, der war wassersüchtig. Und Jesus antwortete, und sagte zu den Schriftgelehrten und Pharisäern, und sprach: Ist es auch recht, auf den Sabbath heilen? Sie aber schwiegen still. Und er griff ihn an, und heilete ihn, und ließ ihn gehen. Und antwortete, und sprach zu ihnen: Welcher ist unter euch, dem sein Ochse oder Esel in den Brunnen fällt, und er nicht alsobald ihn herausziehet am Sabbathtage? Und sie konnten ihm darauf nicht wieder Antwort geben. Er sagte aber ein Gleichniß zu den Gästen, da er merkte, wie sie erwählten obenan zu sitzen, und sprach zu ihnen: Wenn du von Jemand geladen wirst zur Hochzeit, so setze dich nicht obenan, daß nicht etwa ein Ehrlicherer, denn du, von ihm geladen sei; und so dann kommt, der dich und ihn geladen hat, spreche zu dir: „Weiche diesem;“ und du müssest dann mit Scham untenan sitzen; sondern wenn du geladen wirst, so gehe hin, und setze dich untenan, auf daß, wenn da kommt, der dich geladen hat, spreche zu dir: „Freund, rücke hinauf.„ Dann wirst du Ehre haben vor denen, die mit dir zu Tische sitzen. Denn wer sich selbst erhöhet, der soll erniedriget werden; und wer sich selbst erniedriget, der soll erhöhet werden.

Wie ihr seht, meine geliebten Freunde, hat dieser Text einen verschiedenartigen Inhalt, der sich nicht leicht unter einen Gesichtspunkt bringen läßt. Aber insofern bildet er doch ein Ganzes, als er uns ein Tischgespräch oder eine Tischrede Jesu Christi darstellt. Und durch diese Tischrede predigt Christus uns thatsächlich, daß das Christenthum sich nicht scheu von dem Leben zurückziehen, sondern frisch und kühn in das Leben hineintreten soll; aber freilich nur um den Menschen zu mahnen, daß er nicht vom Brode allein leben soll, sondern vor Allem von dem Worte, welches aus dem Munde Gottes kommt. Und wie nun Christus in der sinnlichen und vergänglichen Natur überall bedeutsame Fingerzeige gefunden hat, um uns hinzuweisen auf die übersinnliche und unvergängliche Welt; so wird ihm hier die leibliche Nahrung, welche ihn, dargereicht wird, ein Anlaß, seinen Tischgenossen das lebendige Brod seiner Lehre voll Wahrheit und voll Leben darzureichen. Es sind aber zwei Hauptpunkte des christlichen Lebens, über welche der Herr in dieser Tischrede uns Belehrung ertheilt. Er belehrt uns erstens über die christliche Freiheit und zweitens über die christliche Demuth.

I.

Wenn Christus mit Zöllnern und Sündern zu Tische saß, die ihn eingeladen hatten, weil sie in der tiefen Seelennoth, welche das Bewußtsein ihrer Sünde und Gottverlassenheit ihnen verursachte, bei ihm Trost und Hülfe und Erlösung zu finden hofften, so konnte er diesen nach Gerechtigkeit hungernden und dürstenden Seelen das Evangelium von der Gnade Gottes verkündigen, welcher die bußfertigen Sünder annimmt. Nun aber war er geladen in das Haus eines Obersten der Pharisäer, und die hielten sich ja für die Gesunden, welche des Arztes nicht bedürften. Wir wissen, daß sie im Vertrauen auf ihre äußerliche Gesetzeserfüllung und Rechtschaffenheit sich für die wahren Israeliten, für die gottwohlgefälligen Glieder des auserwählten Volkes hielten. Je weniger sie von dem Geiste des Gesetzes im Inneren erfüllt waren, desto eifriger hatten sie dem Buchstaben der Gesetze Mose's noch eine Menge willkürlicher Satzungen hinzugefügt. Und während sie über der peinlichen Befolgung dieser kleinlichen äußerlichen Bestimmungen die Hauptsache vergaßen, Mücken seihten, wie der Herr sagt, und Kameele verschluckten; während sie sich selbst und dem Volke unerträgliche Lasten aufbürdeten: glaubten sie in ihrem Hochmuth auf einen Jeden mit Verachtung herabsehen zu dürfen, welcher nicht Lust hatte, unter ihr Joch sich zu beugen. Unter solchen Menschen, welche ihre Sünde noch nicht einmal erkannt hatten, wäre die Predigt der Gnade zu frühe gekommen; hier that vor Allem die Predigt der christlichen Freiheit und Demuth noth. - Und schon dadurch, daß er an dem Mahle dieses Pharisäers theilnimmt, verkündet Christus die göttliche Freiheit, deren der eingeborene Sohn Gottes sich bedienen durfte. Er braucht nicht, wie Johannes der Täufer, in die Wüste sich zurückzuziehen, um von dort seine Predigt erschallen zu lassen; sondern frei und kühn tritt er mitten in das Leben hinein. Wie er im Verkehr mit Zöllnern und Sündern die Lästerung nicht scheut, daß er ein Fresser und Weinsäufer sei und der Zöllner und Sünder Geselle, so fürchtet er sich im Hause dieses Pharisäers vor der Nachrede nicht, daß er seine Füße gerne unter die Tische der Reichen und Vornehmen strecke und gleich diesen um die Noth des armen Volkes sich nicht kümmere., Er bedient sich seiner Freiheit zugleich mit der vollkommensten Sicherheit, daß er in jeder Lage das Rechte gewiß treffen werde. Und diese Sicherheit, meine lieben Freunde, muß die Begleiterin unserer Freiheit sein, wenn diese nicht machen soll, daß wir nicht allein dem Lästerer in Schmach und Strick, sondern auch den Versuchungen der Welt in ihre Schlingen und Stricke fallen, wenn nicht die wahre Freiheit der Kinder Gottes in die falsche und fleischliche Freiheit der Welt sich verwandeln soll. Und wo finden wir nun solche Sicherheit in unserem ganzen Verhalten? Wo anders, Geliebte, als in der Uebereinstimmung mit dem Willen des weisen und heiligen Gottes. Wenn der unser Wollen und Thun bestimmt, dann werden wir in keiner Lage zweifelhaft sein, was wir zu thun und was wir zu lassen haben; dann brauchen wir unter keinen Umständen zu fürchten, daß wir uns etwas vergeben, sondern wir werden allen Versuchungen der Welt und allen üblen Nachreden der Lästerer zum Trotz unsere Würde und unseren Beruf aufrecht zu erhalten wissen. Und weil nun der Heiland mit seinem Vater so völlig Eins war, weil es seine Speise war, daß er thue den Willen seines Vaters im Himmel; darum durfte er mit dieser unbefangnen Sicherheit seiner Freiheit sich bedienen. - In dem Hause dieses Pharisäers aber hatte Christus besondere Veranlassung, seine göttliche Sicherheit zu bewähren. Denn, wie der Evangelist uns berichtet: diese Menschen hielten auf ihn, d. h. sie lauerten ihm auf, ob sie nicht etwas an ihm fänden, daß sie diesen ihnen widerwärtigen Propheten aus Nazareth, der so ganz andere Wege gieng, als sie, in Verlegenheit bringen, verlästern, verklagen und verderben könnten. Und siehe, die Gelegenheit dazu scheint sich ja gleich darzubieten. Denn „da war ein Mensch vor ihm. der war wassersüchtig.“ Es ist nicht unwahrscheinlich, daß die Pharisäer selbst diesen Kranken veranlaßt hatten, jetzt Jesum um Hülfe anzugehn, denn sie dachten: Hilft er ihm, so macht er der Uebertretung der Sabbathsgesetze sich schuldig; und hilft er ihm nicht, so können wir ihn verklagen, daß er sich geweigert hat, ein Werk der Barmherzigkeit an einem Unglücklichen zu üben. Der Herr aber zeigt ihnen, daß mit seiner Sicherheit im Gebrauche der Freiheit auch die weiseste Vorsicht verbunden ist. Es ist ja freilich eine gar leichte Sache, meine geliebten Freunde, wenn einer unserer Brüder eine schwere Entscheidung zu treffen hatte, dann über ihn mit hart tadelndem Urtheil herzufallen, mag er sie nun auf die eine oder auf die andere Weise getroffen haben. Versetzen wir uns aber in die Lage desjenigen, welchem die schwierige Entscheidung erst noch obliegt, so werden wir bescheidener urtheilen lernen. Dazu gibt denn auch Christus hier seinen Feinden Gelegenheit. Die Entscheidung, durch welche sie ihn in Verlegenheit bringen wollen, schiebt er vielmehr ihnen selbst zu. „Ist es auch recht, so fragt er sie, auf den Sabbath heilen?“ Jetzt sind sie auf einmal die Verlegenen, welche beschämt verstummen müssen; denn durch eine bejahende Antwort würden sie mit ihren eignen Satzungen über ihre abergläubische Sabbathsheiligung in Widerspruch gerathen sein, durch eine verneinende aber hätten sich sich selbst als die Unbarmherzigen dargestellt und den Kranken, welcher ihnen ein Anlaß zur Anklage Jesu hatte werden sollen, zu einen Verkläger ihrer eignen Hartherzigkeit gemacht. So greift denn der Heiland den Wassersüchtigen an und heilt ihn und läßt ihn gehn und rechtfertigt sich vor seinen Feinden noch mit der vorwurfsvollen Frage: „Welcher ist unter euch, dem sein Ochs oder Esel in den Brunnen fällt, und er ihn nicht alsobald herausziehet an dem Sabbathtage?“ Auch darauf können sie ihm keine Antwort geben; denn was ihr Eigennutz an einem unvernünftigen Thiere thut, das können sie doch der Liebe nicht verbieten, daß sie es an einem unglücklichen Bruder thue. Sie sind selbst in die Grube gefallen, welche sie dem Herrn gegraben haben. Er aber hat in seiner göttlichen Aufrichtigkeit und Sicherheit alle Schlingen ihrer niedrigen Liste und Tücken zerrissen, er hat was ihm zum Falle gereichen sollte zu einer Offenbarung der Barmherzigkeit Gottes gemacht und ihnen bewiesen, daß er in seiner göttlichen Freiheit ein Herr auch über den Sabbath ist (Matth. 12, 8), also daß sie verstummen müssen vor dem überwältigenden Eindrucke der Kraft und Herrlichkeit des eingeborenen Sohnes vom Vater. - Und was sollen nun wir, meine lieben Freunde, aus diesem Werke und aus den es begleitenden Worten des Herrn für uns selbst zu Lehr und Nutz entnehmen über das Wesen und den Gebrauch der christlichen Freiheit? Vor allen Dingen doch gewiß dieses, daß die christliche Freiheit etwas ganz Anderes ist. als jenes ungebundene, träge oder lüsterne Sichgehenlassen des natürlichen Menschen; denn das ist vielmehr das gerade Gegentheil der wahren Freiheit, es ist die Knechtschaft der Welt und der Sünde. Wir haben ja bereits gesehen, wie die wahre Freiheit von der Vorsicht begleitet ist, welche uns vor den Schlingen der Versuchung bewahrt, die der wahren Freiheit uns berauben möchte, und wie sie von der Sicherheit begleitet ist, welche auf der Uebereinstimmung unseres Willens mit dem Willen des weisen und heiligen Gottes beruht. Und wie steht es nun mit dieser Uebereinstimmung bei uns? Ach, Geliebte, auch bei dem Besten unter uns ganz anders, als es bei dem Herrn stand. Auch bei dem Besten unter uns hört der natürliche Eigenwille nicht auf, gegen den heiligen Willen Gottes zu streiten. Und weil dieß der Fall ist, weil der Wille Gottes uns nicht so lebendig in das Herz hineingeschrieben ist, daß er unser ganzes Wesen erfüllt und beherrscht, darum ist und bleibt das äußere Gesetz für uns eine heilsame Zucht; und wenn der eingeborene Sohn Gottes es nicht verschmähte, auch dadurch uns ein Beispiel zu geben, daß er alle menschliche Gerechtigkeit willig erfüllte (Matth, 3, 15), so steht es uns um so weniger an, dieser heilsamen Zucht uns zu entziehen und uns auf die christliche Freiheit zu berufen, um sie zu einem Deckel unserer Bosheit zu machen. Sondern darin sollen wir unsere Freiheit suchen, daß das äußere Gesetz uns immer mehr zu einem inneren werde, daß dem „Du sollst!“ welches das äußere Gesetz uns zuruft, aus unserem innersten Wesen heraus ein immer aufrichtigeres und herzlicheres: „Ich will!“ antworte. Es muß, um nur bei dem stehn zu bleiben, was unser heutiger Text uns am nächsten legt, - es muß dahin kommen, daß wir den Sonntag nicht darum nur feiern, weil es die Sitte einmal fordert, oder gar nur so, wie es das äußere Gesetz gebietet, das ja auch unter uns läßig genug gehandhabt wird. Sondern wir müssen unter der Arbeit der Woche schon uns freuen auf diesen Tag, und zwar nicht bloß als auf einen Tag der Ruhe, sondern in Wahrheit als auf den Tag des Herrn. Unser Herz muß uns treiben, inmitten der versammelten Gemeinde im Hause unseres Gottes unter Singen und Beten aus seinem Worte Erbauung und an seinem Tische Stärkung zu suchen. Es muß uns etwas fehlen, wenn wir dieser Seelenspeise einmal haben entbehren müssen. Die Töne, die in der Kirche geweckt worden sind, müssen fortklingen in dem gesammelten Herzen und in dem Hause, in welchem der Lärm der Werktagsarbeit schweigt. Und, wenn wir so voll sind von der heiligen Nähe unseres Gottes, so dürfen wir auch nach dem Vorbild unseres Herrn an den Freuden einer edlen Geselligkeit teilnehmen, ohne fürchten zu müssen, daß wir in ihnen uns selbst verlieren; die Werke seiner Schöpfung werden auch uns laut redende Zeugen der Weisheit und Güte unseres Vaters im Himmel werden; und alle die große Treue und Barmherzigkeit, die er an uns gethan hat, wird uns antreiben, ihn zu preisen und seinen Tag zu feiern in Werken christlicher Barmherzigkeit. Und wie es in dieser einen Beziehung ist, so ist es in jeder andern. Je mehr Christus durch unseren Glauben an ihn eine Gestalt in uns gewinnt, je mehr in der Gemeinschaft mit ihm der Wille seines Vaters das Gesetz auch unseres innersten Lebens wird, desto mehr wachsen wir auch hinein in die wahre christliche Freiheit, in die Freiheit der Kinder Gottes, welche ihr Gesetz in sich selbst trägt, weil sie auf der Liebe ruht, die des Gesetzes Erfüllung ist.

II.

Die Pharisäer in unserem Texte wähnten mit ihrem strengen Halten an dem Buchstaben des mosaischen Gesetzes und der Satzungen ihrer Väter Gott einen Dienst zu thun. Daß sie Jesum mit unlauterer Feindseligkeit und Gehässigkeit verfolgten, das machte sie in diesem Wahn nicht irre. Denn so äußerlich faßten sie das Wesen und den Willen Gottes und die Natur seines Reiches auf, daß sie glaubten seinen heiligen Absichten mit den unheiligsten Mitteln feindseliger Tücke dienen zu können. Aber bald sollte sich recht bestimmt zeigen, wie wenig ihr äußerlicher Gottesdienst sie innerlich hatte läutern und heiligen können. Jesus merkte, wie Lucas uns weiter erzählt, wie seine Mitgäste erwähleten obenan zu sitzen.“ Dieselben Menschen also, die eben noch mit ihrem Eifer um das väterliche Gesetz sich einen Stuhl im Himmel zu verdienen trachteten, die streiten sich jetzt um einen Ehrenplatz an dem Tische dieses Obersten, der sie geladen hatte. Wie sie von der Barmherzigkeit ihres Gottes die Liebe nicht gelernt haben, aus welcher die Freiheit eines wahrhaft gottwohlgefälligen Handelns hervorgeht, so haben sie auch von der Allmacht und Heiligkeit des Schöpfers die Demuth nicht gelernt, welche dem Menschen als seinem Geschöpfe geziemt. Darum enthält denn diese Tischrede Jesu Christi, in ihrem zweiten Theile eine Belehrung über die christliche Demuth, deren Inhalt er schließlich in das ernste Wort zusammenfaßt: „Wer sich selbst erhöhet, der wird erniedriget werden; und wer sich selbst erniedriget, der wird erhöhet werden.“ Gewiß, meine lieben Freunde, wer in seinem Gottesdienste noch nicht einmal frei geworben ist von jenen Regungen - ich will nicht sagen des Ehrgeizes, denn dieser Name ist noch viel zu gut dazu - sondern der erbärmlichsten Eitelkeit und der kleinlichsten Eifersucht, der darf sich nicht rühmen, daß er ein aufrichtiger Diener seines Gottes sei. Denn wer es begreift, was es heißt, in dem Dienste eines allmächtigen, allweisen und heiligen Gottes zu stehn, der muß in tiefer Demuth seine Ohnmacht, die Beschränktheit seiner Einsicht und seine Sünde empfinden und es aufgeben, in dünkelhaftem Pochen auf das, was er ist und was er leistet, an seinen Mitknechten sich zu messen, sondern der wird sich gerne mit ihnen zusammenfassen in dem Bekenntnisse, daß wird allzumal Sünder sind und des Ruhmes mangeln, den wir vor Gott haben sollten. Er wird es empfinden, daß er auch den Geringsten von ihnen werth halten muß als einen Solchen, der durch Gottes Gnade berufen ist, ein Bürger zu werden seines himmlischen Reiches, daß er andere halten und tragen und fördern muß auf dem Wege zu diesem Ziele, wie er es bedarf, daß er von andern gehalten und getragen und gefördert werde, damit wir alle hinankommen zu dem Ziele, welches unsere himmlische Berufung uns vorhält. - Und wenn nun Christus in unserem Texte uns den Rath gibt, daß wenn wir eingeladen werden zu einem Feste, wir uns nicht oben bin drängen sollen, damit wir nicht zu unserer Beschämung einem Vornehmeren weichen müssen, sondern daß wir uns untenansetzen sollen, damit wir mit Ehren hervorgezogen werden aus unserer freiwilligen Verborgenheit; so Willeruns damit offenbar nicht eine bloße Regel der äußeren Lebensart geben, welche uns am Ende auch schon die natürliche Klugheit gibt, wie denn gewiß ein jeder von uns mittheilt, daß ein solches eitles Hervordrängen nicht bloß tief unter der Würde eines Christen, sondern auch schon unter der Würde eines gebildeten Menschen ist. Sondern Lucas sagt uns ausdrücklich, daß der Herr in jenen Worten seinen Mitgästen nur ein Gleichniß gesagt habe. Und worauf dieses Gleichniß sich bezieht, auch das wird uns klar, wenn wir nur wenige Verse weiter lesen. Denn da redet Christus von dem großen Abendmahl, unter dessen Bilde er uns das Reich Gottes darstellt, welches der barmherzige Vater im Himmel begründet hat und zu welchem er seine Kinder einladen läßt durch seinen eingebornen Sohn. Und zu diesem himmlischen Mahle findet Niemand Eingang, an seinen reichen Tischen, an welchen wir gespeist und getränkt werden sollen mit dem Brod und Wasser des ewigen Leben, findet kein Gast einen Platz, der nicht angethan ist mit dem hochzeitlichen Kleide der Demuth. Das wird uns auch an das Herz gelegt durch das Gleichniß vom Pharisäer und vom Zöllner, welches gleichfalls mit der Lehre schließt (Luc. 18, 14): „Wer sich selbst erhöhet, der wird erniedriget werden, und wer sich selbst erniedriget, der wird erhöhet werden,“ und welches dem zur Warnung und zur Strafe gesagt ist, der auf sein Verdienst pocht und aus unbekehrtem Herzen zu Gott betet: „Ich danke, dir, Gott, daß ich nicht bin wie andere Leute,“ und nur dem Gnade verheißt, der in Demuth feine Sünden bekennt und bußfertig an seine-Brust schlägt mit dem Gebete: „Gott, sei mir Sünder gnädig.“ Ich weiß Wohl, meine geliebten Freunde, es wird uns dieses Bekenntniß nicht leicht; und wenn es auch leicht über die Lippen geht, so will doch das hochmüthige Herz nicht nach, sondern sucht immer nach neuen Stützen, auf welche es sein Vertrauen gründen und mit deren Hülfe es sich selbst rechtfertigen könne. Aber es hilft nichts. Geliebte! Wer vor Gott gerechtfertigt werden will, der muß alle Selbstrechtfertigung aufgeben und sein Vertrauen allein auf die Gnade setzen; und wer Theil haben will an dem, der uns von Gott zur Erlösung gemacht ist, der muß fühlen, daß er ein armer Gefangener ist, verkauft in die Knechtschaft der Sünde, und muß ihm die gefesselten Hände betend hinhalten: „O du mein Herr und mein Erlöser, löse du meine Bande; denn du weißt es ja, daß ich es nicht vermag!“ Denn es bleibt dabei (1. Pet. 5, 5): „Den Hoffärtigen widerstehet der Herr, aber den Demüthigen gibt er Gnade.“ Und wenn wir so alle die nichtigen Flitter unserer Eitelkeit und Selbstgerechtigkeit von uns geworfen haben, dann ziehet Gott in seiner Gnade seine wiedergefundenen Kinder mit Freuden an mit der Kraft aus der Höhe und mit dem Feierkleide des neuen Menschen. Aus dem Sclavendienste der Welt und Sünde werden wir nun aufgenommen in den Dienst des lebendigen Gottes und lernen in ihm die wahre Freiheit, die herrliche Freiheit der Kinder Gottes, gebrauchen und genießen. - Und so zeigt sich am Ende doch, daß die beiden Hauptlehren in der Tischrede unseres Herrn, die Lehre von der christlichen Freiheit und von der christlichen Demuth, auch innerlich miteinander verwandt sind. Denn die Demuth führt uns zu Gott hin; sie schließt dem Walten seines Geistes unser Herz auf; sie macht, daß in völliger Hingabe an ihn sein heiliger Wille uns nicht mehr als ein äußeres Gesetz gegenübersteht, sondern in unseren Willen aufgenommen und die innerste Triebkraft unseres Wollens und Thuns wird, und daß so an die Stelle des äußerlichen Knechtesdienstes des Gesetzes der freie Gehorsam der Liebe tritt.

So viel, meine liebe Gemeinde, über diese Tischrede unseres Herrn Jesu Christi. Möge sie uns ein Antrieb werden, daß wir auch im Genusse der Güter dieser Welt nie vergessen, nach dem zu trachten was droben ist. Möge sie uns die Demuth lehren, welcher der gnädige Gott den Mitgenuß seines großen himmlischen Abendmahles verheißen hat, und die Freiheit, mit welcher uns Christus befreiet hat, indem er uns losgekauft hat von der Knechtschaft des Gesetzes und der Sünde, und uns zurückgeführt hat in die Gemeinschaft mit dem heiligen Gott. Denn wen der Sohn frei macht, nur der ist recht frei (Joh. 8, 36). - Amen.

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autoren/b/baur_gustav/baur-17_nach_trinitatis.txt · Zuletzt geändert: von aj
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