Baur, Gustav Adolph - Jesus Christus, das rechte Vorbild der erbarmenden und helfenden Samariterliebe.

Baur, Gustav Adolph - Jesus Christus, das rechte Vorbild der erbarmenden und helfenden Samariterliebe.

Am 13. Sonntag nach Trinitatis.

Gnade sei mit euch und Friede von Gott dem Vater und Jesus Christus, unserem Herrn, jetzt und immerdar! - Amen.

Ich weiß kein besseres Wort zu finden, um dich, meine liebe Gemeinde, nach längerer Trennung an heiliger Stätte zum ersten male wieder zu begrüßen, als diesen apostolischen Gruß: „Gnade sei mit euch und Friede von Gott dem Vater und Jesus Christus, unserm Herrn!“ Als ich zuletzt von dieser Stelle zu dir habe reden dürfen, da hatte ich dir das Evangelium von der Gnade deines Gottes zu verkündigen, welcher, als ein guter Hirte, in seinem eingeborenen Sohne seiner Herde sich selbst angenommen und das Verlorene gesucht hat, welcher dir verheißt, daß über Einen Sünder der Buße thut, mehr Freude im Himmel sein werde, denn über neun und neunzig Gerechte, und welcher dich auffordert, in uneigennütziger Liebe an deinen Brüdern zu vergelten, was er an dir gethan hat. Und siehe, auch heute legt mir das Gleichniß von dem barmherzigen Samariter, welches die Grundlage unserer Betrachtung bilden soll, wieder den Preis der erbarmenden und helfenden Liebe auf die Lippen, damit an das selige Ende ein seliger Anfang sich anknüpfe. Das Sprüchwort sagt: „Ein gutes Lied singt man zweimal.“ Nun, meine geliebten Freunde, es gibt ein gutes Lied, das zu singen kann das Christenherz gar nicht müde werden, und das ist eben das Lied von der Gnade unseres Gottes und von dem Frieden, welcher das Herz erfüllt, das im Glauben an Jesus Christus der Gnade seines Gottes gewiß geworden ist. Achtzehnhundert Jahre lang ergehn die beseligenden Worte und Klänge dieses Liedes in alle Welt, und sie werden tröstend und stärkend und zu neuem, heiligem und seligem Leben erweckend fortsingen alle Ewigkeit. - Siehe, meine liebe Gemeinde, ich habe in der letztverflossnen Woche Zeuge und Theilnehmer sein dürfen einer gar schönen und erhebenden Feier. In der prächtigen Elbstadt Dresden hat die diesjährige Hauptversammlung des evangelischen Vereins der Gustav -Adolf-Stiftung getagt, und der gütige Vater im Himmel hat seine liebe Sonne gar freundlich scheinen lassen zu dem schönen Feste. Dieselbe Stadt hatte wenige Wochen vorher den deutschen Sängervereinen ihre Thore gastlich aufgethan und sich gefreut, die in den verschiedenen Gauen unseres großen deutschen Vaterlandes gepflegten Töne des deutschen Liedes in ihren Mauern zusammenklingen und wiederhallen zu hören. Aber es ist doch ein guter Schluß gewesen, der Jedermann wohl gethan hat, dass zuletzt evangelische Christen aus allen Stämmen Deutschlands und aus anderen Ländern miteinander das alte gute Lied angestimmt haben, welches die Gnade des großen Gottes preist und die Liebe verkündet, die aus dem Glauben an Gottes Gnade in Christo hervorwächst und bedrängten Glaubensgenossen brüderliche Handreichung thut. Ist doch auch das Größte und Edelste und Schönste, was die menschliche Kunst des Gesanges hervorgebracht hat, aus diesem Glauben hervorgegangen, und wenn alle menschlichen Lieder verstummt sind, so wird das Lied von der Gnade und dem Frieden Gottes im Chore der seligen Geister forttönen in alle Ewigkeit. Der treue Gott lasse denn auch heute die Verkündigung seiner Gnade an uns gesegnet sein, indem er in unserm Herzen seine Frieden wirket, der höher ist denn alle Vernunft, und welchen die Welt uns nicht geben und nicht nehmen kann.

Lied: 132, 5 u. 6.

Nichts, Nichts hat dich getrieben
Zu mir vom Himmelszelt,
Als dein getreues Lieben,
Womit du alle Welt
In ihren tausend Plagen
Und großer Jammerlast,
Die kein Mund kann aussagen,
So fest umfangen hast.

Das schreibt in eure Herzen,
Betrübte! klagt nicht mehr;
Zagt nicht in euren Schmerzen,
Als ob kein Helfer wär'
O sehet auf! ihr habet
Den besten Helfer nah;
Der eure Seele labet,
Der treue Freund ist da.

Text: Luc. 10, 23-37.
Und er wandte sich zu seinen Jüngern, und sprach insonderheit: Selig sind die Augen, die da sehen, das ihr sehet. Denn ich sage euch: Viele Propheten und Könige wollten sehen, das ihr sehet, und haben es nicht gesehen; und hören, das ihr höret, und haben es nicht gehöret. Und siehe, da stand ein Schriftgelehrter auf, versuchte ihn, und sprach: Meister, was muß ich thun, daß ich das ewige Leben ererbe? Er aber sprach zu ihm: Wie stehet im Gesetz geschrieben? Wie liesest du? Er antwortete, und sprach: Du sollst Gott, deinen Herrn, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von allen Kräften, und von ganzem Gemüth; und deinen Nächsten als dich selbst. Er aber sprach zu ihm: Du hast recht geantwortet; thue das, so wirst du leben. Er aber wollte sich selbst rechtfertigen, und sprach zu Jesu: Wer ist denn mein Nächster? Da antwortete Jesus, und sprach: Es war ein Mensch, der gieng von Jerusalem hinab gen Jericho, und fiel unter die Mörder; die zogen ihn aus, und schlugen ihn, und giengen davon, und ließen ihn halbtodt liegen. Es begab sich aber ohngefähr, daß ein Priester dieselbige Straße hinab zog; und da er ihn sahe, gieng er vorüber. Desselbigengleichen auch ein Levit, da er kam bei die Stätte, und sahe ihn, gieng er vorüber. Ein Samariter aber reisete, und kam dahin; und da er ihn sahe, jammerte ihn sein, gieng zu ihm, verband ihm seine Wunden, und goß drein Oel und Wein; und hob ihn auf sein Thier, und führete ihn in die Herberge, und pflegte sein. Des andern Tages reisete er, und zog heraus zween Groschen, und gab sie dem Wirth, und sprach zu ihm: Pflege sein; und so du was mehr wirst darthun, will ich dir's bezahlen, wenn ich wiederkomme. Welcher dünkt dich, der unter diesen dreien der Nächste sei gewesen dem, der unter die Mörder gefallen war? Er sprach: Der die Barmherzigkeit an ihm that. Da sprach Jesus zu ihm: So gehe hin, und thue desgleichen.

Wenn der Herr mit seiner Mahnung: „So gehe hin und thue desgleichen!“ auf ein Beispiel zur Nachfolge uns hinweist, so muß uns das doch daran erinnern, meine lieben Freunde, daß er selbst das leuchtendste Vorbild uns gegeben hat, auf daß wir sollen nachfolgen seinen Fußtapfen. Und wenn der Herr uns mahnet, Barmherzigkeit zu üben an bedrängten und in Gefahr des Todes schwebenden Brüdern, so wissen wir doch, daß größere Barmherzigkeit und Liebe Niemand hat, denn die, welche er an uns geübt hat, um uns zu erretten von dem Verderben der Sünde und des geistlichen Todes. Wohlan, Geliebte, laßt uns den Herrn selbst betrachten, als den rechten barmherzigen Samariter. Jesus Christus, das rechte Urbild der erbarmenden und helfenden Samariterliebe, das soll der Gegenstand dieser Predigt sein, und drei Fragen soll sie uns beantworten. Erstens: Aus welcher Noth errettet er uns? Zweitens: Welche Hülfe leistet er uns? Drittens: Welche Verpflichtungen legt er uns auf?

I.

Die Noth, welche den Mann in unserem Gleichnisse betroffen hatte, schildert der Herr in unserem Texte mit den Worten: „Es war ein Mensch, der gieng von Jerusalem hinab gen Jericho und fiel unter die Mörder, die zogen ihn aus und schlugen ihn und giengen davon und ließen ihn halbtodt liegen.“ Gewiß, meine Lieben, es war eine tiefe Noth und eine toddrohende Gefahr, in welche dieser arme Mensch hineingerathen war, und das müßte ein Herz von Stein sein, das nicht mit ihm und mit einem Jeden, der sich in ähnlicher Lage befindet, ein inniges Mitleid empfände. Aber laßt uns über solches Bedauern doch nicht vergessen, daß unser Gleichniß auch einem Jeden von uns zuruft: ,Du bist der Mann!„ daß, was der Herr von diesem armen Menschen erzählt, zugleich ein Bild der tiefen Noth ist, in welche wir alle hinein gerathen sind, und aus welcher uns Niemand anders erretten kann, als das rechte Urbild der erbarmenden und helfenden Samariterliebe, unser Herr und Heiland Jesus Christus. - Der Mann in unserem Gleichnisse war ausgegangen von Jerusalem, der heiligen Stadt, in welcher der wahrhaftige und lebendige Gott seine Wohnung gemacht hatte. Er war von dort hinabgezogen in die wüste und wilde Gegend auf dem Wege, welcher nach Jericho und endlich zum todten Meere hinabführt. Dort war er unter die Mörder gefallen, die ihn seiner Güter beraubt und ihn in vollkommen hülflosem Zustande halbtodt hatten liegen lassen. Nun, Geliebte, auch wir alle, auch unser ganzes Geschlecht ist ja ursprünglich ausgegangen von einer heiligen Stätte, da der heilige und allgütige Gott dem Menschen sich genahet hatte, ihn mit dem belebenden Odem seines Geistes erfüllt und ihn mit dem herrlichen Blicke seines Ebenbildes geschmückt hatte, um ihn zum Herrn und König über seine Schöpfung zu weihen. Aber durch den Betrug der Sünde haben wir das Paradies verloren und haben uns in die Wüste einer gottentfremdeten Welt verirrt. Auch wir sind dem in die Hände gefallen, der ja nach dem Worte unseres Herrn (Joh. 8, 44) vom Anfange an ein Lügner und Menschenmörder gewesen ist; und der hat uns des herrlichen Kleides der ursprünglichen Weisheit und Heiligkeit und Gerechtigkeit beraubt und uns nicht bloß halb todt, sondern fast völlig todt liegenlassen. Denn nur so viel Leben ist in dem natürlichen Menschen geblieben, daß er noch die Fähigkeit besitzt, die Kräfte des höheren, wahren Lebens, des Lebens aus Gott und in Gott, in sich aufzunehmen. Aber aus eigener Kraft zu diesem Leben hindurchzudringen, das vermag er nicht. Sondern wie jener Gemißhandelte in seiner Wüste elend verkommen sein würde, wenn ihm die Hülfe nicht gebracht worden wäre; so würden auch wir, uns selbst überlassen, unfehlbar unser Ende finden in dem todten Meere des ewigen Verderbens. - Aber wer soll uns nun die Hülfe bringen, die uns erretten kann aus unserer tiefen Noth? Menschen vermögen es gewiß nicht; denn die wandeln ja alle auf derselben abschüssigen Bahn des natürlichen Verderbens. Nicht alle Priester und Leviten und Weisen dieser Welt sind an dem Jammer ihrer Brüder und an der Noth ihres Geschlechtes so gleichgültig vorübergegangen, wie der Priester und der Levit in unserem Texte. Es hat deren viele gegeben, welche eifrig bemüht waren, Hülfe zu bringen. Aber wenn sie es auch wollten, so konnten sie es doch nicht. Die Opfer, welche sie darbrachten, konnten doch nicht das volle Gefühl der Versöhnung mit dem heiligen Gott bewirken, ohne welches es für das Herz keinen Frieden auf Erden gibt; und die Lehren und Gesetze, welche sie verkündigten, konnten wohl eine äußerliche Gesetzesgerechtigkeit, die das Heil in todten äußerlichen Werken sucht, zu Stande bringen, wie sie auch der Schriftgelehrte besaß, welcher Christus fragte: Meister, was muß ich thun, daß ich das ewige Leben ererbe?“ - aber sie vermochten nicht in die Herzen auszugießen den lebendigen Strom der wahren Liebe, der selbstverläugnenden, heiligen Liebe, welche nicht mehr zu fragen braucht: „Was muß ich thun, und wer ist mein Nächster?“ sondern in jedem Falle weiß, was sie zu thun hat, zu brüderlicher Handreichung allezeit bereit und des Gesetzes wahre Erfüllung ist. - In dem Herzen des barmherzigen Samariters hat ein Fünklein von solcher Liebe geglüht und ihn getrieben, dem hartbedrängten Bruder beizuspringen und ihn von dem leiblichen Tod und Verderben zu erretten. Aber wer uns von dem geistlichen Tod und Verderben erretten soll, der muß selbst von diesem Verderben vollkommen frei sein. Und weil das nun Keiner von uns allen ist, weil wir vielmehr allzumal Sünder sind und des Ruhmes mangeln, den wir vor Gott haben sollten; darum hat unser Vater im Himmel nach seiner großen Barmherzigkeit den ganzen Reichthum seines Geistes ausgegossen über einen Sohn unseres Geschlechtes, damit er in ihm, als dem wahren Menschensohne, sein verlorenes Ebenbild wiederherstelle, und hat in der ganzen Fülle seines göttlichen Wesens Wohnung gemacht in Jesu von Nazareth. Das ist der große Helfer, auf welchen unser Geschlecht hat harren müssen, um durch ihn endlich erlöst zu werden aus dem Verderben der Sünde und auf welchen wir in alle Ewigkeit aufsehen müssen, als auf den Anfänger und Vollender unseres Glaubens, wenn wir aus der Wüste dieser Welt wieder hindurchdringen wollen zur Seligkeit des himmlischen Jerusalems. In ihm erkennen wir die Herrlichkeit des eingeborenen Sohnes vom Vater voll Gnade und Wahrheit, in ihm das lebendige Abbild der erbarmenden und helfenden Liebe unseres Gottes und das rechte Urbild aller erbarmenden und helfenden Bruderliebe. Darum preist er selbst uns selig in unserem Teile, indem er spricht: Selig sind die Augen, die da sehen, das ihr sehet. Denn ich sage euch: Viele Propheten und Könige wollten sehen, das ihr sehet, und haben es nicht gesehen und hören, das ihr hört, und haben es nicht gehört.„ Ja selig ist das Herz, das in Jesus Christus seinen Heiland in Wahrheit gefunden hat, und mit der demüthigen und freudigen Dankbarkeit einer von dem Verderben erretteten Seele seine erbarmende und helfende Samariterliebe preist:

Nichts, nichts hat dich getrieben
Zu mir vom Himmelszelt,
Als das geliebte Lieben,
Damit du alle Welt
In ihren tausend Plagen
Und großen Jammerlast,
Die kein Mensch aus kann sagen,
So fest umfangen hast.

II.

Die zweite Frage, welche meine Predigt zu stellen und zu beantworten hat, lautet: Welche Hülfe leistet uns unser Herr und Heiland als das rechte Vorbild der erbarmenden und helfenden Samariterliebe? Laßt uns unser Augenmerk zuerst wieder auf die Hülfe richten, welche nach unserm Gleichnisse der barmherzige Samariter seinem gemißhandelten und hartbedrängten Bruder hat angedeihen lassen. Da heißt es: „Ein Samariter aber reisete und kam dahin, und da er ihn sahe, jammerte ihn sein, gieng zu ihm, verband ihm seine Wunden und goß darin Oel und Wein, hob ihn auf sein Thier und führete ihn in die Herberge und pflegte sein.“ Das Alles, meine lieben Freunde, läßt sich auch auf die Hülfe anwenden, welche Jesus Christus uns hat zu Theil werden lassen. Zunächst das Wort: „Und er gieng hin.“ Er gieng hin, weil auch ihn seiner hartbedrängten, hülfsbedürftigen und verlassenen Brüder jammerte. Aus herzlichem Erbarmen mit ihrem trostlosen Zustande, aus reiner Liebe zu ihnen hielt er es nicht für einen Raub, Gott gleich zu sein, sondern entäußerte sich selbst und gieng hin in Knechtesgestalt, hinein in dieß arme Erdenleben, um alle Noth desselben mit seinen Brüdern zu theilen. Wie der Samariter im Gleichnisse, so war auch der Galiläer aus Nazareth verachtet von Priestern und Leviten, von den Weisen und Mächtigen und Reichen in Israel, die kein Auge und kein Herz hatten für die Noth ihres Volkes, und weil sie selbst sich reich dünkten und gar satt, auch kein Auge hatten für ihre eigne Noth und für die Hülfe, welche der eingeborene Sohn Gottes, der gekommen war, um die Verlornen zu suchen, ihnen darbot. Aber kein bitterer Hohn und keine feindselige Verfolgung konnte sein göttliches Erbarmen müde machen, daß er nicht unablässig fortgefahren hätte, seinen Trost und seine Hülfe den Bedrängten zuzuwenden. Und so hat er uns endlich errettet und sich zum Eigenthum erkauft nicht mit vergänglichem Gold und Silber, sondern mit seinem eigenen theuren Blut, als eines unschuldigen und unbefleckten Lammes (1. Pet. 1,18. 19). - Und durch diese größte That der erbarmenden und helfenden göttlichen Liebe hat er unsere tödlichen Wunden verbunden und Oel und Wein darin gegossen. Indem der eingeborene Sohn Gottes selbst als das theuerste Opfer in die Kluft sich hineinstürzte, welche seine sündigen Brüder von seinem Vater, dem heiligen Gott im Himmel, trennte, hat er diese Kluft ausgefüllt. Durch die selige, durch seinen Tod verbürgte Verkündigung (Joh. 3,16): „Also hat Gott die Welt geliebt, daß er seinen eingeborenen Sohn gab, auf daß alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben,“ hat er die Schmerzen der zagenden und verzweifelnden Herzen gemildert, und durch seinen heiligen Geist hat er in die Herzen seiner Gläubigen die Kräfte des neuen, wahren Lebens, des Lebens in Gott, ausgegossen. - Und nachdem im Glauben an Jesum Christum, den Gekreuzigten und Auferstandenen, das Herz erst wieder die Gewißheit empfangen hatte, daß wir einen versöhnten Gott im Himmel haben, da ist dem Menschen auch diese Erde wieder zu einer freundlichen Herberge geworden. Freilich eben nur zu einer Herberge, meine lieben Brüder und Schwestern, uns angewiesen für die kurze Zeit unserer irdischen Pilgrimschaft, zu einer Herberge, in der es nicht ist, wie in der lieben Heimath, sondern in der wir mit mancher Noth und Entbehrung zu kämpfen haben; aber doch immerhin, wie gesagt, zu einer freundlichen Herberge, weil wir uns deß getrösten können, daß, wenn wir nur der treuen und liebevollen Pflege unseres Herrn uns überlassen und sie uns zu Nutze machen, wir aus ihr eingehen werden in die selige Heimath des himmlischen Jerusalems. Denn gleichwie der barmherzige Samariter, da er des anderen Tages reiste, dem Wirthe Geld zurückließ und zu ihm sprach: „Pflege sein, und so du was mehr wirst darthun, will ich dir's bezahlen, wenn ich wiederkomme;“ so hat auch das ewige Urbild der erbarmenden und helfenden Samariterliebe, da er aus der Herberge dieser Welt wieder scheiden mußte, um zurückzukehren zu seinem und unserem Vater, die Seinen nicht ohne Pflege gelassen. Er hat uns das reine Gold seines heiligen und kräftigen Wortes hinterlassen, damit es den Weg des Heiles uns öffne und uns eine stärkende Seelenspeise werde. Er hat uns die Sacramente gegeben, damit sie den Gnadenbund zwischen uns und unserem Gott und Erlöser knüpfen und lebendig erhalten. Er hat Hirten und Pfleger in seiner Gemeinde eingesetzt, damit sie diese unvergänglichen Schätze richtig verwalten und austheilen zum Heil der von dem himmlischen Herrn und Haupte der Gemeinde ihnen anbefohlenen Seelen. O möchte doch der Gott der Wahrheit uns allen erleuchtete Augen des Verständnisses geben, damit wir erkennen, wie tief die Noth ist, aus welcher der rechte Samariter, unser Herr und Heiland, uns erretten will und uns allein erretten kann. Möchten wir die Hülfe, welche er durch seinen Tod und durch seine Auferstehung gegründet hat und welche er in den Gnadenmitteln des Wortes und der Sacramente allezeit bereitwillig und reichlich uns darreicht, uns im Glauben und in herzlichem Verlangen zu eigen machen, damit wir, aus eigner seliger Erfahrung heraus, immer freudiger einstimmen lernen in den Preis seiner helfenden Barmherzigkeit:

Ich lag in schweren Banden,
Du kommst und machst mich los.
Ich stand in Spott und Schanden,
Du kommst und machst mich groß.
Und hebst mich hoch zu Ehren,
Und schenkst mir großes Gut,
Das sich nicht läßt verzehren,
Wie irdisch Reichthum thut.

III.

Und welche Verpflichtungen legt uns nun unser Herr, das Urbild der erbarmenden und helfenden Samariterliebe, auf? Das, meine Lieben, ist unsere dritte und letzte Frage, und Christus selbst gibt uns auf sie am Schlusse unseren Textes die einfache Antwort: „Gehe hin und thue desgleichen!“ - Das Beispiel des barmherzigen Samariters, auf welches der Herr mit diesen Worten als auf ein Vorbild uns hinweist, ist ein Beispiel menschlicher Barmherzigkeit. Aber ein noch mächtigerer Antrieb, Barmherzigkeit zu üben und brüderliche Handreichung zu leisten, muß es für uns werden, wenn wir stets aufsehen zu ihm, dem leuchtenden Urbilde der erbarmenden und helfenden Bruderliebe, und wenn wir jederzeit lebendig deß eingedenk sind, was er an uns allen gethan hat. Denn sollte nicht der, welcher von dem Tode errettet worden ist, von heiligem Eifer erfüllt sein, denen beizuspringen, welche in gleicher Gefahr schweben? Sollte nicht der von einer verderblichen Krankheit Erstandene seine größte Freude darin finden, das Mittel, welches ihm geholfen hat, denen mitzutheilen, die an demselben Uebel darniederliegen? Sollte nicht der von drückender Knechtschaft Befreite gern das Seinige thun, um die Bande anderer Gefangenen zu lösen? Und sollte nicht der ohne sein Verdienst mit Gütern des äußeren oder inneren Lebens reich Gesegnete, aus seinem Reichthum mit Freuden den leiblich oder geistlich Darbenden aufhelfen? Gewiß, Geliebte, so sollte es sein, und so würde es sein in der Gemeinde des Herrn, wenn sie das wäre, was sie selbst sein soll, eine Hütte Gottes unter den Menschen, eine Herberge für die Zeit unserer irdischen Pilgrimschaft, in welcher all die von Gott in irgend einer Weise mit Kraft Gesegneten darnach trachten, daß die Schwachen gestärkt und gepflegt werden für den Weg in die selige Heimath des ewigen Lebens. - Aber leider, das müssen wir zu unserer Beschämung uns eingestehen, leider ist es nicht so, wie es sein sollte. Es ist nicht mehr so, wie es in der ersten Christengemeinde zu Jerusalem war, von welcher in der Apostelgeschichte das liebliche Zeugniß geschrieben steht (4, 32): „Die Menge aber der Gläubigen war Ein Herz und Eine Seele; auch keiner sagte von seinen Gütern, daß sie sein wären, sondern es war ihnen Alles gemein.“ Es geht in der Gemeinde, die sich nach Christo nennt, jetzt vielfältig, wie es nach unserem Gleichnisse dort in der Wüste zwischen Jerusalem und Jericho gieng: wir gehen an bedrängten Brüdern, die uns hart am Wege liegen, vorüber, wie der Priester und der Levit, und haben für ihre Bedrängniß kein Auge und kein Herz und keine helfende Hand. O möchte doch der Geist jener ersten Zeiten wieder unter uns aufwachen! Möchten wir alle recht klar und lebendig erkennen, was das sagen will, daß wir zu der Gemeinschaft gehören, deren wesentliche und unterscheidende Eigenthümlichkeit darin besteht, daß sie sich zu Jesus Christus bekennt als zu dem Erlöser von dem Verderben der Sünde und des geistlichen Todes. Möchten mit derselben dankbaren Freude, mit welcher die erste Christenheit es empfand, daß sie endlich befreit war von der drückenden und beängstigenden Obrigkeit der Finsterniß und durch Gottes Gnade versetzt in das Reich seines lieben Sohnes, auch wir es empfinden, daß mit dem Gute, welches Christus durch die Erlösung von der Sünde und durch die Versöhnung mit unserem Vater im Himmel uns zuwenden will, kein anderes Gut verglichen werden kann. Dann würde auch seine Mahnung: „Gehet hin und thuet desgleichen!“ eine Kraft des Lebens in uns werden. Alles, was uns gegeben ist von Kräften des Geistes und von Gütern des äußeren Lebens, würden wir daran sehen, damit die Hindernisse beseitigt werden, welche so viele noch abhalten, als lebendige Glieder zu wachsen an den, der das Haupt ist, und damit je mehr und mehr in Erfüllung gehe die Bitte im Gebet des Herrn: „Zu uns komme dein Reich!“ - Und wenn das klare Bewußtsein von dem, was der Erlöser an uns gethan hat, auch unseren Werken äußerer Barmherzigkeit erst ihre rechte Kraft und ihren wahren Werth gibt; so fordert sein: „Gehet hin und thuet desgleichen!“ uns doch ganz besonders auf, den Segen seines seligmachenden Evangeliums auszubreiten, welchem wir den Frieden unserer Seele und die Hoffnung des ewigen Lebens verdanken. Es ist ein erfreuliches Zeichen eines in unserer evangelischen Kirche sich regenden neuen Lebens, daß diese Verpflichtung immer deutlicher empfunden wird, daß die freien Vereine an Zahl und Ausdehnung und Kraft gewinnen, welche die Verkündigung des Evangeliums unter den Heiden, oder die Rettung der Verlorenen in der christlichen Gemeinschaft selbst, oder die Unterstützung bedrängter evangelischer Gemeinden sich zur Aufgabe gemacht haben. Es geschieht unter dem frischen Eindruck des reichen Segens, welcher aus solcher Vereinsthätigkeit hervorgeht, wenn ich euch, meine lieben evangelischen Brüder und Schwestern, auffordere, durch die Theilnahme an solchen Werken freier christlicher Liebe zu bezeugen, daß ihr das Wort eures Herrn und Erlösers: „So gehe hin und thue desgleichen!“ nicht vergeblich vernommen hat. Und wahrlich ihr braucht nicht abzuwarten, bis er euch in höherem Sinne das Wort des barmherzigen Samariters in unserem Text erfüllt: „So du etwas mehr wirst darthun, will ich dirs bezahlen, wenn ich wiederkomme;“ sondern diese christliche Barmherzigkeit bringt ihren Lohn unmittelbar mit sich, indem wir die Güter, welche wir andern mittheilen, selbst besser schätzen und gebrauchen und ihrer inniger uns freuen lernen. So möge denn das Urbild der erbarmenden und helfenden Samariterliebe, Jesus Christus, das Feuer solcher Liebe in seiner Gemeinde immer wärmer und heller glühen und leuchten lassen. Laßt uns zu ihm beten, wie wir nachher zu ihm singen wollen:

Du der seiner Schaar geboten.
Daß sie Liebe üben soll.
Mehre sie, weck' auf die Todten,
Mach' die Schwachen geistesvoll!
Laß uns so vereinigt werden,
Wie du mit dem Vater bist.
So daß auf der ganzen Erden
Kein getrenntes Glied mehr ist. -

Amen.

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