Baumgarten, Michael - Irrlehrer widerlegt durch freie Versammlung der Glaubenden

Baumgarten, Michael - Irrlehrer widerlegt durch freie Versammlung der Glaubenden

Apostelgeschichte 15

Die Schlange im Paradies erschütterte das den Menschen anvertraute Wort Gottes zuerst durch Zweifel, sodann durch Lügen. Damit ist die Säule der Wahrheit ins Schwanken gebracht und der Irrgeist hat seinen Einzug in die Menschheit gehalten; damit ist auch die Möglichkeit gegeben, daß die Schlange als Irrlehre in dem neutestamentlichen Heiligtum auftritt. Nicht nur die Kirchengeschichte, sondern auch unsere kirchliche Gegenwart beweist, daß die richtige Behandlung der Irrlehre von ganz bedeutender Wichtigkeit ist; daher nimmt auch der Schriftabschnitt Apostelgeschichte 15 unsere ganze Aufmerksamkeit in Anspruch.

Die vornehmsten Irrlehrer der apostolischen Zeit sind Juden, christliche Juden, welche in Jerusalem wohnen, oder in Antiochia den geeigneten Boden für die Verbreitung ihrer Lehre finden. Sie stellen nämlich die Behauptung auf, daß die Heiden, die in Antiochia in großer Zahl Christen geworden sind, sich beschneiden lassen müssen, wenn wir wirklich gerettet werden wollen. Es ist ein ungewöhnlicher Eifer in diesen Männern für ihre Lehre, sie sehen in diesen unbeschnittenen Christen eine Gefahr für das ganze Judentum; dieser Gefahr zu begegnen, reisen sie von Judäa nach Syrien. Noch stärker zeigt sich dieser Eifer in dem hartnäckigen Widerstand, den sie den angesehensten Männern entgegensetzen, um ihre Lehre zu behaupten. In Antiochia sind Barnabas und Paulus. Beide nicht bloß angesehene Lehrer in der Gemeinde zu Antiochia, sondern auch seit kurzem aus einer sehr erfolgreichen Heidenmission zurückgekehrt. Die Judenchristen scheuen sich nicht, mit diesen beiden in einen heftigen Kampf sich einzulassen und lassen sich auch durch die Gründe derselben von ihrer Behauptung nicht abwendig machen., Wir machen uns übrigens schwer einen Begriff von der großen Erregtheit, mit welcher auf diesem Boden für einen religiösen Satz gekämpft wird. Da es zu einer Entscheidung in Antiochia nicht kommt, beschließt die Gemeinde in Antiochia, Paulus und Barnabas und einige andere Brüder aus ihrer Mitte nach Jerusalem an die Apostel und Ältesten zu entsenden. In Phönizien und Samarien werden die Mitteilungen der beiden Heidenboten mit großer Freude aufgenommen, und die ganze Gesandtschaft von Antiochia wird in Jerusalem feierlich empfangen. Obgleich das ganze Aufsehen, welches der Kampf bis dahin gemacht hat, sich offenbar gegen die judaistischen Eiferer wendet, sind dieselben weit entfernt, nachzugeben; schroffer denn bisher treten dieselben auf, die jetzt als Gläubige aus der Sekte der Pharisäer bezeichnet werden, ihre Forderung lautet jetzt: „Man muß die Heidenchristen beschneiden, und sie anhalten, das Gesetz Moses zu beachten.“

Es fragt sich, wie soll eine solche Hartnäckigkeit überwunden, wie soll eine solche Zerstörung der Einigkeit wieder erbaut werden? Wir werden am besten verstehen, welch hoher Geist in der Apostelgeschichte waltet, wenn wir fragen, wie die hier vorliegende Schwierigkeit nach unsern Begriffen etwa zu heben sein möchte. Man wird auf den Gedanken kommen, daß zunächst die apostolische Autorität müsse geltend gemacht werden, entweder Petrus als Primas spreche ein entscheidendes Wort oder die apostolische Zwölfzahl erhebe sich zu einer autoritativen Züchtigung des hochmütigen Pharisäertums. Oder die Zwölfe vereinigen sich mit Paulus und Barnabas, so daß das gesamte apostolische Amt sich erhebe gegen den vorlauten Judaismus. Oder damit auch der Gemeinde ein gewisses Stimmrecht nicht vorenthalten werde, so lege man doch durch apostolischen Beschluß eine Art Programm oder Statut zugrunde, damit nicht eine ungebunden freie Versammlung und Verhandlung ins Haltlose ausschweife und jedenfalls erfolglos verlaufe. Von all diesen Vorsichtsmaßregeln ist keine Rede. Es wird erzählt: die Apostel und Ältesten versammelten sich, um zuzusehen wegen dieser Sache. Daß man sich in dieser Angelegenheit versammelt, wird als selbstverständlich angesehen, aber ebenso wird vorausgesetzt, daß die, welche sich versammeln, nicht mit fertigen Begriffen oder gar mit einem unwandelbaren Schlußurteil zusammentreten. Die Versammelten kommen mit offenem, empfänglichen Sinn, sie wollen hören und sehen, sie wollen lernen, was von der vorliegenden Streitsache zu halten sei. Dieser Sinn, der sich nicht im Besitz der Wahrheit dünkt, sondern auf das gemeinsame Forschen und Erkennen der Wahrheit gerichtet ist, das ist der geheime Geistestrieb, der die Versammlung der Apostel und Ältesten veranlaßt. Wenn nun gesagt wird, daß ein starker Streit entstand, so ist anzunehmen, daß von vornherein die eifernden Judaisten das Wort an sich gerissen haben. Es ist also freie Diskussion gegeben und ist in diesem Kreise keine Besorgnis vorhanden, daß eine solche Freiheit die Möglichkeit einer geordneten Verhandlung zerstören und die Aufregung der Geister in ein wogendes Meer verwandeln werde. Hier herrscht die wahre Freiheit, welche sich selber ihr eigenes Maß und Gesetz bestimmt; die Freiheit, an deren Segen auch Luther glaubt, wenn er den Rat gibt: „Man lasse die Geister aufeinanderplatzen.“

Nachdem die Gegensätze ihren ersten Eifer ausgeschüttet haben, erhebt sich Petrus, um durch Berufung auf eine bedeutsame Tatsache der Verhandlung einen festen Halt zu geben. Der heidnische Hauptmann Kornelius war durch das Wort des Petrus zum Glauben bekehrt, hatte darauf mit den Seinen den Heiligen Geist empfangen und hatte, wie die Jünger am Pfingstfest, in neuer Sprache Gottes Großtaten gelobt. Darauf sind diese Heidenchristen getauft und ohne Beschneidung in die Christengemeinde aufgenommen worden. Petrus behauptet, daß in dieser mit wunderbaren Zeichen verbundenen Tatsache eine entschiedene Abweisung der judaistischen Forderung enthalten ist. Es ist von erheblicher Wichtigkeit, daß der erste Beweisgrund auf diesem sogenannten Apostelkonzil nicht aus der Dogmatik, sondern aus der Kirchengeschichte entnommen wird, und wir werden gleich sehen, daß auch die folgende Beweisführung in dieser denkwürdigen Versammlung denselben historischen Charakter hat. Wie die Gründung der Gemeinde auf Tatsachen ruht, so erfolgt die Geschichte der Gemeinde nicht durch verstandesmäßige Entfaltung des christlichen Grunddogmas, sondern durch Tatsachen, in denen Göttliches und Menschliches verbunden ist, welche die Geheimnisse Gottes in geschichtlicher Form immer deutlicher bis zur Vollendung offenbaren. Darum muß mit der Mahnung Christi, auf die Zeichen der Zeit zu achten, ein weit größerer Ernst gemacht werden, als das in der Regel zu geschehen pflegt.

Nach Petrus kommen Paulus und Barnabas zu Wort, diese berichten die Zeichen und Wunder aus der Heidenmission, in welcher sich im Wesentlichen wiederholt, was in Cäsarea im Hause des Kornelius geschehen ist. Zweimal berichtet die Erzählung, daß die Versammelten still geschwiegen, daß die ganze Menge verstummt ist, das erste Mal nach der Rede des Petrus, das zweite Mal nach dem Bericht von Paulus und Barnabas. Die einfache Mitteilung der göttlichen Tatsachen macht einen so tiefen Eindruck, daß kein Widerspruch erfolgt, sondern die ganze Versammlung in sinnendes Verstummen sich versenkt.

Der vierte Redner ist Jakobus, der Bruder des Herrn, Vorsteher der Gemeinde zu Jerusalem. Derselbe weist zurück auf die Tatsache in Cäsarea und besiegelt die tatsächlichen Beweisführungen durch Berufung auf die Propheten, welche den Heiden kraft des heiligen Namens das Heil verheißen. Dieser Redner faßte die Beweisgründe dahin zusammen, daß den Heiden bei ihrer Aufnahme in die Christengemeinde nicht ein Joch oder eine Last oder eine Beschwerde (V. 10.19) auferlegt werden dürfe. Jakobus macht sodann den Vorschlag, daß man den Heidenchristen Enthaltungen empfehlen möge, um dem alten Volke Gottes in dem Verkehr nicht unnötigen Anstoß zu geben, und dieser Vorschlag des Nichtapostels ward von der ganzen Versammlung ohne Widerspruch angenommen. Dann wurde dieses Ergebnis schriftlich abgefaßt und mit einer Brüderabordnung an die Heidenchristen in Antiochia abgesandt.

In dem Schreiben der Jerusalemischen Versammlung an die Christen in Antiochia heißt es: „Es ist des Heiligen Geistes und unser Beschluß, euch keine weiteren Lasten aufzuerlegen als die folgenden unerläßlichen Dinge.“ Durch dieses Wort wird auf den Beschluß der Versammlung das große Siegel des Heiligen Geistes gedrückt. Woher haben die Männer dieser Versammlung die Zuversicht, ihren Beschluß mit dem Beschluß des Heiligen Geistes unter einen Begriff zu bringen? Es gibt dafür keine andere Garantie, als was diese Versammlung in der Verhandlung an sich selber erfahren hat. Diese Männer sind sich dessen bewußt, daß sie mit einem reinen Eifer, dem es nur um die Wahrheit zu tun war, in diese Versammlung gegangen sind, und deshalb erkennen sie in der Erfahrung, daß alle Widersprüche verstummen und nach dem heftigen Streit immer mehr die Geister sich einigen, die gegenwärtige Macht des Heiligen Geistes, der das Joch des Gesetzes abwirft, und an Stelle der versuchten Menschenknechtschaft Freiheit schafft.

Da auf der Irrlehre, welche hier die apostolische Christenheit bedrohte und gefährdete, das römische Papsttum ruht, so gibt es eine gefährlichere und verderbtere nicht. Die gewöhnliche Vorstellung ist, daß, wo grundsätzliche Gegensätze vorhanden sind, nun und nimmer eine Ausgleichung und Einigung zu hoffen sei. Man zweifelt an der Macht der Wahrheit und glaubt erbärmlicherweise, sich so einrichten zu müssen, daß wir uns mit der bloßen Wahrscheinlichkeit begnügen müssen. Dieser trostlosen Lebensansicht setzt Paulus entgegen: „Die Gemeinde des lebendigen Gottes ist Säule und Pfeiler der Wahrheit“ (1. Tim. 3,15).So wenig ist die Wahrheit der Menschheit entrückt, daß die Gemeinde Gottes die Wahrheit als Säule der Welt darstellt und der Vorgang Apostelgeschichte 15 zeigt, wie die Gemeinde Gottes durch ihre Selbstbesinnung und durch ihre Zusammenfassung im Heiligen Geist die Schlange der gefährlichsten Irrlehre überwindet und den Streit der Meinungen zu einem Fortschritt der Wahrheitserkenntnis weiht.

Quelle: Gärtner - Eine Wochenschrift für Gemeinde und Haus 1912

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