Baumgarten, Michael - Die Geschichte Jesu für das Verständniß der Gegenwart dargestellt - Zweiter Vortrag - Stoff und Methode.

Baumgarten, Michael - Die Geschichte Jesu für das Verständniß der Gegenwart dargestellt - Zweiter Vortrag - Stoff und Methode.

Nachdem wir zuvörderst eine Selbstbesinnung über unsere Aufgabe mit einander angestellt und uns die Schwierigkeiten, die vor uns liegen, sowie die Möglichkeit, dieselben zu überwinden, klar gemacht, wird für unseren Zweck zur weiteren Einleitung nichts Anderes nöthig sein, als daß wir uns über den Stoff und die Methode dieser unserer Aufgabe verständigen.

Diese vorläufige Verständigung über den Stoff, der vor uns liegt werden wir am einfachsten erreichen, wenn wir uns die Bezeichnung für den Inhalt dieser Vorlesungen klar machen. Für die zusammenfassende Behandlung des in unseren kanonischen Evangelien enthaltenen Geschichtsinhalts ist eine zwiefache Benennung gebräuchlich und herkömmlich: nämlich „Leben Jesu“ oder „Geschichte Jesu“. Der erstere Name hat aber in der neuesten Zeit im Sprachgebrauch den Vorrang gewonnen, seitdem Schleiermacher anfing, über die evangelische Geschichte Vorlesungen zu halten, und diese Vorlesungen Leben Jesu nannte. Ich entscheide mich gegen diese geläufigere Bezeichnung und wähle die seltenere, nicht Leben Jesu nenne ich diese Vorträge, sondern Geschichte Jesu. Ich unterscheide nämlich folgendermaßen: die Einzelgeschichte eines Mannes heißt Leben dieses oder jenes, wenn man in der Darstellung bei dem individuellen Gesichtspunkt stehen bleibt, entweder weil dieser Inhalt keinen nationalen und universalen Standpunkt zuläßt oder weil man von dieser Beziehung absehen will, dagegen nennt man denselben Inhalt Geschichte dieses oder jenes, wenn man den Genannten als ein integrierendes Moment seiner Zeitgeschichte betrachtet. Bei dieser Unterscheidung wird es sich nun so stellen, daß es geschichtliche Individuen giebt, bei denen man die Wahl hat, ob man den einen oder den anderen Standpunkt nehmen will, dagegen wird es andere geben, bei denen entweder nur der individuelle Gesichtspunkt oder auch nur der nationale und universale Gesichtspunkt zulässig erscheint. Ich weiß zwar sehr wohl, daß der Sprachgebrauch, sei es nun der antike oder der moderne, diese meine Unterscheidung keineswegs deckt, indessen gegen die Richtigkeit und Statthaftigkeit dieser Unterscheidung dürfte sich kaum etwas Wesentliches einwenden lassen und sodann schließt sich dieselbe ohne Zweifel an die Wortbedeutung der beiden Bezeichnungen sprachgemäß an, so daß man hoffen darf, es werde sich bei der gegenwärtigen Aufgewecktheit des geschichtlichen Sinnes der Sprachgebrauch allmälig fester und correcter gestalten. Also mit Bewußtsein und eben in dem genannten Sinne wähle ich die Bezeichnung „Geschichte Jesu“; ja ich gehe noch einen Schritt weiter: ich behaupte, der vorliegende Fall ist von der Art, daß nur die Benennung Geschichte statthaft, dagegen die andere Benennung Leben hier unanwendbar ist.

Wo Goethe einmal von dem erziehenden Einfluß der israelitischen Geschichte redet, macht er die Bemerkung, daß die Gestalt Jesu sich von dem Charakter der alttestamentlichen Geschichte strenge absondere, indem das Leben Jesu einen durchaus privatlichen und rein familiären Eindruck mache. Diese Bemerkung ist fein und auch in gewissem Maße richtig. Das ganze Gewicht dieser Bemerkung wird uns aber erst fühlbar, wenn wir uns den Charakter des antiken Lebens überhaupt klar machen.

Es besteht nämlich ein großer Unterschied und Gegensatz zwischen antikem und modernem Leben. Das müssen wir uns gegenwärtig halten, wenn wir den Boden der alten Geschichte betreten; wir gewinnen sonst nirgends eine klare Anschauung. Der Schwerpunkt der Neuzeit liegt in dem Individuum und im Hause, der Schwerpunkt der Altzeit in dem Volke und dem Staate. Dieser Unterschied gestaltet sich aber gegensätzlich: das Individuelle und Familiäre der Neuzeit wird zum Individualismus und Familiarismus, nämlich zur künstlichen und naturwidrigen Ausschließung und Versperrung des Nationalen und Politischen, und ebenso leidet das Alterthum an Nationalismus und Politicismus, nämlich an gewaltsamer Beeinträchtigung des Individuellen und Familiären. Dieser äußerste Contrast ist allerdings die Spitze und die Höhe, aber von da aus will auch das Gewöhnliche und Allgemeine erfaßt und gewürdigt sein. Versuchen wir uns diesen Unterschied in einzelnen Zügen etwas näher zu bringen. Unter den Hellenen erreichte bekanntlich die Geistesbildung ihre höchste Vollendung und zwar innerhalb dieses Volkes vor Allem in Athen. Die Koryphäen der attischen Kunst und Wissenschaft sind uns Allen bekannt. Hier werden wir nun eingeführt in die geheime Werkstatt des inneren Denkens und Bildens. Und dennoch finden wir die Meisten auf diesem Gebiete des geheimen und in sich gekehrten Geisteslebens in einem thätigen und ernsthaften Verhältniß zum öffentlichen Gemeinwesen. Aischylos hielt den Ruhm, beim marathonischen Walde gegen die Meder gefochten zu haben, für höher als die Ehre des dreizehnmaligen Preises seiner Tragödie. Sokrates hat nicht bloß das Prytanenamt1) verwaltet, sondern auch in drei Feldzügen sich den Ruhm eines muthigen Kriegers erworben. Und als Platon für eine Besserung des heimischen Staatswesens keine Hülfe mehr sah, hat er nicht bloß den großartigen Entwurf eines idealen Staates ausgeführt, sondern sich auch mit auswärtigen Fürsten in ernsthafte Verhältnisse eingelassen, um die Schäden des Staatswesens praktisch zu bessern. Wir finden hier also das Denken und Dichten in thatsächlichem Einklang zum öffentlichen Leben. Denselben Eindruck erhalten wir auch, wenn wir das israelitische Alterthum ansehen. Die Heroen des Glaubens und Bekenntnisses sind Gesetzgeber, Heerführer, Richter, Könige, Volksredner, Staatsmänner, sie Alle haben einen öffentlichen Charakter, eine öffentliche Thätigkeit. Das israelitische Wesen aber unterscheidet sich von dem übrigen Alterthum darin, daß das Individuelle und Häusliche von dem Nationalen und Politischen nicht verdrängt und aufgehoben wird; freilich nicht so, daß für das Individuelle und Familiäre eine besondere Stäte neben und außer dem Gemeinwesen ausgeschieden würde, sondern so, daß es in dem Gemeinwesen erhalten, bewährt und vollendet wird. So ist wenigstens die Anlage des Ganzen gehalten. Dies wird ermöglicht durch die göttliche Stiftung und Führung des israelitischen Volks- und Reichswesens. Demosthenes und Cato Uticensis2) sahen, nachdem sie den Untergang ihres Staates und Volkes erlebt hatten, keine Möglichkeit einer individuellen Existenz. Die rechten Israeliten empfinden den Zusammenhang des individuellen Lebens mit dem nationalen nicht weniger tief und entschieden: auch Mose, Elia und Jona wünschen sich den Tod, sobald sie den Bestand ihres Volkes mit dem Untergang bedroht erblicken. Daß diese nicht Hand an sich legen, beruht nicht darauf, daß sie sich schließlich doch mit ihrer individuellen Existenz ohne Zusammenhang mit dem Gemeinwesen begnügt hätten, sondern lediglich darauf, daß die Hoffnung auf die Fortexistenz ihres Volkes auch wider Hoffnung in ihnen wieder lebendig gemacht wird.

Achten wir nun auf diesen nationalen und öffentlichen Charakter des Alterthums und namentlich auch des israelitischen, so werden wir jene Bemerkung Goethe s leicht verstehen. Der nächste Eindruck, den die Persönlichkeit Jesu auf uns macht, ist der eines Privatlebens oder höchstens des Familienlebens; es erscheint uns dieses Leben als ein stilles Heiligthum, welches gegen die Unruhe und das Getümmel des nationalen und öffentlichen Wesens abgeschlossen ist; allerdings sehen wir schließlich, daß ein Conflict von Seiten des öffentlichen Wesens eintritt, aber diese Wahrnehmung scheint uns in dieser unserer Auffassung nur bestärken zu können, denn dieser Conflict schlägt ja eben zur Zerstörung dieses stillen und abgeschlossenen Heiligthums aus und muß demnach wohl das öffentliche Wesen in einem radicalen Gegensatz zu diesem Leben stehen, mithin dieses Leben mit jenem auch gar Nichts gemein haben. Wir erinnern uns endlich daran, daß auch die einzelnen Reden und Handlungen Jesu vorzugsweise den einzelnen Menschen oder höchstens den häuslichen Kreis ins Auge fassen. Und dennoch sagen wir nicht: „Leben Jesu“, sondern „Geschichte Jesu“, und zwar darum, weil diese ganze Auffassung, so scheinbar, so verbreitet und eingewurzelt sie ist, dennoch in die Mitte und in das eigentliche Wesen der Sache nicht eindringt. Wir haben uns bei unserem Gegenstande von vornherein und alles Ernstes vor dem Augenschein zu hüten, nirgends täuscht der Schein so leicht und so sehr, wie auf diesem heiligsten Gebiete aller Geschichte, In der That hat jene Außenseite des Lebens Jesu eine ganz andere Innenseite, als man nach der oberflächlichen Auffassung von jener seiner äußeren Erscheinung anzunehmen pflegt. Dafür ist eben schon seine amtliche Bezeichnung hinlängliche Bürgschaft. Nach seinem amtlichen Charakter heißt Jesus der Christ und diese Bezeichnung ist von Anfang so innig und wesentlich mit seinem Namen verbunden, daß sie allein genügt, um ihn selbst zu unterscheiden und zu kennzeichnen. Es kann also diese Bezeichnung nicht etwa nur dieses und jenes an ihm aussprechen, sondern muß seine persönliche Individualität einschließen. Es muß demnach seine Amtlichkeit, die in jener Bezeichnung ausgesprochen ist, seine ganze Persönlichkeit durchdringen. Nun aber heißt er bekanntlich Christus, weil er der gesalbte König und das geweihte Haupt feines Volkes ist. Demnach muß die Beziehung zu dem israelitischen Volk und Reich in seinem ganzen Leben etwas Durchgreifendes und wesentlich Constituirendes sein, und wer bei der Betrachtung seines Lebens davon absehen wollte, könnte dieses Leben in seinem Zusammenhange unmöglich verstehen. Um die Verborgenheit und Innerlichkeit des Lebens Jesu nicht als eine Abweisung und Verachtung des Nationalen und Oeffentlichen zu fassen, brauchen wir nur einen Blick zu thun in die Weltlage, in welche das Leben Jesu eintritt. Es ist die Zeit, in welcher sich zeigt, daß alle Mittel und Wege des nationalen und öffentlichen Lebens verbraucht und abgenutzt sind, und zwar, weil sich allenthalben gezeigt hat, daß in den Einzelnen und namentlich in den Leitern des Gemeinwesens die reine göttliche Kraft nicht vorhanden war, welche allein im Stande ist, die allgemeine Verderbtheit zu brechen und, wie Platon einmal sagt, „ein Vorbild und einen Anfang der Gerechtigkeit“ wiederum aufzurichten. Der Abbruch des nationalen und politischen Wesens hat allenthalben in Israel nicht minder wie bei den Heiden bereits begonnen und die Zeichen des nahenden Untergangs brechen an allen Enden hervor. In diesen allgemeinen Ruin der Völkerwelt tritt Jesus hinein und er ist es, der diesen Zustand der Welt zu einer großen Zeitwende umschafft und zwar in sich selber und durch sich selber. Denn die vorhandenen Mittel und die gegebenen Dinge, auf denen die Ordnung und der Bestand des nationalen und gemeinen Wesens beruht hat, sind verderbt und unbrauchbar geworden, wer mit diesen noch einen neuen Versuch machen wollte, hätte das innere Wesen dieser Zeit nicht verstanden gehabt. Aber eben so wenig giebt Jesus in Verzagtheit und Selbstsucht das gemeine Wesen seines Volkes auf, wie es Philo und Josephus thaten und wie es bei den späteren Gelehrten und Schriftstellern der Heiden allgemein der Fall war. Sondern er verlegt den Schwerpunkt aller nationalen und politischen Dinge aus der Außenwelt in die Innenwelt, er verlegt ihn dahin wieder zurück, wohin er von Gott Ursprünglich gestellt ist. In der stillen Verborgenheit und Heimlichkeit seines Wirkens und Leidens schafft er ewige unvergängliche Kräfte zur Neubelebung und Neubildung der Völker und Staaten, schafft er die Möglichkeit einer Erneuerung von Zeit und Welt. Wir werden uns überzeugen, daß wir sein Leben und Wirken überall nur in der engsten und durchgreifendsten Beziehung zu dem Volks- und Reichswesen zu verstehen vermögen. Und darum, wenn es irgendwo eine Nöthigung giebt, das Leben eines Einzelnen im Zusammenhang mit der Zeitgeschichte zu erfassen und dasselbe demnach als Geschichte dieses Einzelnen zu begreifen und zu bezeichnen, so ist diese Nöthigung hier vorhanden. Wir betonen deshalb diese Bezeichnung Geschichte Jesu von vornherein und wollen mit dieser Benennung unseres Gegenstandes von allem Anfange her einer irrigen Auffassung vorbeugen.

Es giebt aber noch einen anderen Grund, der freilich mit dem eben entwickelten zusammenhängt, aber doch auch abgesehen von diesem betrachtet werden kann, und dieser Grund ist auch in sich selbst angesehen schon ausreichend, um der gewöhnlichen Bezeichnung Leben Jesu die unsrige vorzuziehen. In der gewöhnlichen Bezeichnung nämlich wird das specifische Moment des Todes Jesu ganz außer Acht gelassen und das ist ein nicht zu duldender Mangel. Sonst nämlich ist der Tod wie das Ende des Lebens so das Ende des Wirkens, hier dagegen ist der Tod die höchste Steigerung und Vollendung des Wirkens. Was ich oben den letzten Conflict nannte und lediglich nach seiner Außenseite als den tödtlichen Gegensatz des öffentlichen Wesens mit dem Leben Jesu bezeichnete, damit verhält es sich eigentlich so, daß das wahre und ewige Reichswesen, welches Jesus in sich selber herstellt und in seiner Rede offenbart, den Gegensatz des falschen und widergöttlichen Reiches in der Welt herausfordert und ans Licht bringt, und wenn das für Jesum einen tödtlichen Ausgang nimmt, so ist das nichts Anderes, als daß er den Willen seines Reiches behauptet und festhält auch gegen die höchste und letzte Gewalt des Weltreiches, damit aber eben seinen Willen durchsetzt, indem er eben damit sein Reich gründet mitten in der Welt und zwar an einem Ort, zu welchem die Gewalt des Weltreiches keinen Zugang hat. Sein Sterben ist demnach das Vollenden seiner Reichsstiftung und sein Tod bleibt die ewige Basis seines herrlichen Thrones. Also auch in diesem Betracht müssen wir unseren Gegenstand nicht Leben Jesu, sondern Geschichte Jesu nennen.

Indem wir nun somit die richtige Benennung unseres Gegenstandes begründet haben, haben wir zugleich den nöthigen Vorbegriff über unseren Stoff gewonnen. Und ebenso werden wir an der Hand dieser richtigen Benennung uns am leichtesten über die Methode der Behandlung orientieren. Die Methode ist nämlich wesentlich dadurch bedingt, daß wir strenge festhalten: das, was uns vorliegt, ist Geschichte im vollen und wahren Sinne des Wortes. In der gewöhnlichen Behandlung dieses Stoffes fehlt sowohl Einheit wie Bewegung, welches beides wesentlicher Charakter jeder wahren Geschichte ist. In dem Maße als eine Geschichte bedeutend ist, in demselben Maße erhebt sie alle Einzelheiten ihrer Umgebung in einen einheitlichen Punkt, in demselben Maße werden alle scheinbaren Zufälligkeiten in ihrem Bereich in das Licht eines abgeschlossenen Zusammenhangs gestellt. Hier handelt es sich nun um das wahre Centrum aller Geschichte, um den ewigen Eckstein des ganzen Baues der Menschheitsgeschichte. Es wird demnach die Aufgabe sein, alle in Betracht kommenden Einzelheiten und Zufälligkeiten als Bestandtheile des einheitlichen Ganzen zu erfassen. Insbesondere aber wird es nothwendig sein, eine solche Kluft, wie sie in der gewöhnlichen Auffassung zwischen dem Wirken und dem Leiden Jesu angenommen wird, so weit aufzuheben, daß wir in beiden den einheitlichen Willen erkennen, was nur so wird geschehen können, daß wir im Wirken nicht das Leiden und im Leiden nicht das Wirken übersehen. Eben so wesentlich aber als die Einheit der Geschichte, ganz eben so wesentlich ist ihr auch die Bewegung. Denn in dem Geschehen, welches ja eben die lebendige Seele der Geschichte ist, ist eine Veränderung des Seins und diese Veränderung ist nicht bloß kein Schein, also eine bloße Veränderung der Oberfläche, sondern eine innere wesenhafte Fortbewegung der Dinge. Ohne dieses würden wir gar in die Nothwendigkeit kommen, von Geschichte reden zu müssen. Was nun in dieser Beziehung von Geschichte überhaupt gilt, erreicht hier wiederum seine höchste Steigerung. Es ist anerkannt, daß diese Geschichte die ganze Welt aus den Angeln gehoben und in eine neue Bahn geleitet hat. Diese absolut bewegende Einwirkung dieser Geschichte auf den ganzen Bestand der Welt ist aber nicht ein mechanischer Stoß, sondern lediglich die Fortsetzung der Selbstbewegung, die in dieser Geschichte selber beschlossen ist. Es ist also wiederum der Mangel an geschichtlicher Methode, wenn die Bewegung, welche schlechterdings in aller Geschichte ohne Gleichen ist, in der Geschichte Jesu nicht zum Vorschein kommt. Entweder man betont einseitig das Göttliche in Jesu, dann haben wir das Ziel gleich am Anfange, oder man hält sich einseitig an das Menschliche, dann kommt man über den Anfang nicht hinaus und in beiden Fällen kommt es nicht zu einer wirklichen Bewegung. Geschichtliche Persönlichkeiten sind solche, welche ihre Umgebung von innen heraus in Bewegung setzen. Dies erreichen sie aber nur so, daß sie die Dimensionen, welche sich später äußerlich herausstellen, zuvor innerlich durchmessen. Diese ihre innere Selbstbewegung ist die Kraft und Ursache der Außenbewegung; je größer nun die Dimensionen der geschichtlich sich herausstellenden Bewegung sind und je tiefer das Gebiet liegt, auf welchem die Bewegung erfolgt, desto energischer muß die innere Spannkraft und die innere Selbstbewegung der geschichtlichen Persönlichkeiten gesetzt werden. Diese Spannkraft und Selbstbewegung in ihrer verborgenen Werkstatt erkennen, heißt die Geschichte in ihrer Bewegung verstehen. Da nun die Wirkung derjenigen Geschichte, welche wir betrachten, nicht bloß die tiefste und höchste ist, die wir überall kennen, sondern auch eine Steigerung dieser Wirkung von uns gar nicht einmal mehr gedacht werden kann, so müssen wir auch hier das absolut höchste Maß von innerer Kraft und Selbstbewegung voraussetzen und nur das kann die richtige und wahre Darstellung der Geschichte Jesu sein, welche uns dieses aufzeigt.

Das Ziel unserer Behandlung wird also sein, daß wir die Einheit in der Bewegung und die Bewegung in der Einheit erfassen müssen. Wie geschieht das? Erreichen wir das durch bloße Denkthätigkeit? In jeder Geschichte liegen allerdings Gedanken und darum kann ohne dieselben die Geschichte nicht verstanden werden, aber man hüte sich vor dem Wahne, durch ein bloßes Nachdenken über die in den Thatsachen enthaltenen Gedanken eine Geschichte erfaßt zu haben! Welcher Wahn übrigens in Bezug auf die heilige Geschichte und die Geschichte Jesu gar nicht selten ist. So wenig die Vorgedanken die That ersetzen können, ehe sie geschehen ist, so wenig reichen die Nachgedanken in die eigentliche Tiefe, aus welcher Geschichte hervorgeht. Zunächst sind die Gedanken der Geschichte nicht mehr bloß geistig, sondern sie sind greifbar und sichtbar, sie haben sich mit den Stoffen der Erde vermählt, sie wollen also schon aus diesem Grunde jedenfalls nicht bloß gedacht, sondern auch geschaut werden. Indessen die Gestalten der Geschichte sind nicht mehr gegenwärtig, sie sind überall meistens schon spurlos aus der Sichtbarkeit verschwunden, ihre Anschauung ist also vermittelst des leiblichen Auges nicht möglich, sondern beruht auf dem geistigen Anschauungsvermögen. Aber auch in Verbindung mit dem geistigen Anschauungsvermögen reicht die Denkthätigkeit noch nicht in den Grund der Geschichte. Daß Gedanke und Stoff zu geschichtlichen Gestalten verbunden sind, liegt zuletzt in dem Willen und sittlichen Wesen der handelnden Personen. Da nun in dem sittlichen Wesen der eigentliche Schwerpunkt des Menschen ruht und demnach eben in diesem Gebiete die eigentlichen und schneidenden Gegensätze der verschiedenen Menschen ihre Stäte haben, so ergiebt sich daraus der Satz, daß das Verstehen und Erfassen der Geschichte auf sittlicher Homogenität oder auch auf sittlicher Ueberlegenheit beruht, so daß ein niederer sittlicher Standpunkt wohl von einem höheren begriffen wird, niemals aber umgekehrt. Wir müssen demnach die wahre Behauptung Goethe s: „Geschichte versteht nur, wer Geschichte erlebt hat,“ noch dahin verschärfen, daß das erkannte Subject mit dem geschichtlichen Object entweder auf demselben sittlichen Standpunkt oder auch auf einem höheren sich befinden muß, oder daß das geschichtliche Selbsterlebniß mit dem geschichtlichen Object in einer sittlichen Gleichartigkeit oder Ueberlegenheit stehen muß.

Es könnte aber scheinen, daß wir durch diese Grundsätze über das Verstehen der Geschichte die Aufgabe unserer Geschichte nur erschweren, ja die Lösung derselben eigentlich unmöglich machen. Denn wer will sich anmaßen, daß er mit Jesu auf dem gleichen sittlichen Boden stehe? Wer muß nicht wie dereinst Petrus vor ihm niederfallen und ausrufen: „Herr, gehe von mir hinaus, ich bin ein sündiger Mensch“? Beruht also das Verstehen der Geschichte auf der Gleichheit des sittlichen Standpunktes, so bliebe die Geschichte des Heiligen uns den Sündern auf immer verschlossen. Allerdings muß es uns so erscheinen und zwar nicht bloß einmal, sondern immer wieder aufs Neue, aber nicht damit wir diese Aufgabe liegen lassen, sondern damit wir sie richtig erfassen.

Das ist nämlich überall das Erste, daß wir Jesum erkennen und anschauen auf dem Boden der allgemein menschlichen Natur und uns damit in die Gleichheit seines Lebens gestellt erfassen. Diese Gleichheit setzt sich aber sofort um in Ungleichheit; denn Jesum sehen wir in allen Momenten des Lebens gehorsam dem Willen des Vaters und dieser sein Gehorsam, diese seine Gerechtigkeit überführt uns unseres Ungehorsams und unserer Sünde; und zwar so, daß wir eben in dem Gebiete der Gleichheit diesen Gegensatz zwischen Jesu und uns inne werden, denn Jesu Gerechtigkeit und Gehorsam offenbart sich innerhalb des menschlich leiblichen Lebens und eben in diesen unseren leiblichen Gliedmaßen erkennen wir die Werkzeuge unseres sündigen Willens. Diese Gleichheit und Ungleichheit Jesu mit uns ist die Einheit seines Lebens, so erkennen und schauen wir ihn, ob er am See Genezaret steht oder auf Golgata hängt, und zwar werden wir dieser seiner Einheit inne an dem Orte, wo die unterste Wurzel aller unserer Gewißheit ruht, in unserem eigenen Gewissen. Wir ersehen demnach die Möglichkeit, wie wir zur Auffassung der Einheit in der Geschichte Jesu gelangen können. Diese Einheit Jesu hat aber für uns eben so viel Abstoßendes wie Anziehendes, sie kann also für sich in uns Nichts bewirken und erzeugen. In der That ist sie aber auch niemals und nirgends allein, sondern stets und überall in Bewegung und erst in dieser Bewegung bildet sie die Geschichte Jesu. Die Bewegung durchdringt alle Momente des Lebens Jesu und ist die Kraft und Thätigkeit, die Ungleichheit, in welcher wir zu ihm stehen, zur Gleichheit zu erheben oder unsere sündige Natur, die er zu der seinigen gemacht, zu heiligen, und zwar ist dies nicht etwa nur ein Versuch, sondern dieses Werk vollzieht er in jedem Lebensmoment und vollendet es in seinem Sterben. Darum liegt aber in dieser seiner Sünde und Tod schlechthin übermögenden Selbstbewegung die Kraft der Selbstmittheilung an Alle, die innerhalb der Sünde und des Todes gebunden sind, und demnach die Möglichkeit für Alle, dieser Selbstbewegung Jesu nicht bloß mit ihrer Denkthätigkeit und Phantasie zu folgen, sondern dieselbe vermittelst ihres Willens in sich selbst zu erleben und sie in dieser Selbsterlebung zu verstehen und anzuschauen. So wird also die Ungleichheit, in die wir durch das Anschauen der Einheit Jesu versetzt werden, durch die Mittheilung der Selbstbewegung Jesu in uns selber zu einer Gleichheit hergestellt, wie Jesus zuvor die Welt der Sünde und des Todes auf sich genommen und sie durch den heiligen Willen seines Lebens und Sterbens aus der Gottesferne des Zornes in die Gottesgemeinschaft der Versöhnung und Gnade eingeführt hat. Das ist also das innere Wesen der richtigen Methode unserer Geschichte, daß wir unseren Willen der Kraft der Selbstmittheilung des Willens Jesu hingeben, dann verstehen wir seine Geschichte, zwar nicht auf Grund eines früheren Selbsterlebnisses, sondern auf Grund der durch die ewige Kraft dieser Geschichte augenblicklich und jedesmal erfolgenden Selbsterfahrung. Und auf diesem einzig und allein von der Selbstmacht der Geschichte Jesu gestifteten sittlichen Grunde der überwundenen Ungleichheit und der hergestellten Gleichheit stehend, wird unsere Denkthätigkeit und Phantasie befähigt, den der Geschichte innewohnenden Gedanken zu vollziehen und ihre äußere Gestaltung geistig anzuschauen. Das ist der Weg, die Einheit der Geschichte Jesu in ihrer Bewegung und die Bewegung in ihrer Einheit zu erfassen, und einen anderen Weg kann es nach der Natur der Sache nicht geben.

Auf diesem Wege werden wir auch Nichts gewahr von dem breiten Graben, über den einst Lessing so verzweiflungsvoll geklagt hat und der auch heute Vielen ein großes Hinderniß ist. Lessing schreibt nämlich, daß wenn er endlich in Ansehung der evangelischen Geschichte zur Ueberzeugung gekommen wäre, so sehe er gar keinen Uebergang und Zugang zu dem, was die Theologie als Glaubenssätze aufstelle. Und in der That ist es ganz gewöhnlich, daß das Historische und das Dogmatische so weit auseinander gehalten wird, daß streng genommen das Eine das Andere immer ausschließt. Geht man von dem Dogmatischen aus, so wird es mit dem Historischen niemals und nirgends rechter Ernst, geht man dagegen von dem Historischen aus, so gelangt man entweder gar nicht zu dem Dogmatischen oder erreicht es nur vermittelst eines Sprunges. Es ist eine falsche Theologie, welche diese Kluft gemacht und noch fortwährend erhalten hat. In der heiligen Geschichte selber liegt sie nicht, auch findet sie sich nicht in den apostolischen Schriften, noch in der ältesten Kirche, wie das apostolische Glaubensbekenntniß beweist. Dieser ältesten und allein sicheren Spur werden wir folgen und es wird sich uns zeigen, daß Alles, was wir von unserem Herrn Jesu Christo zu glauben haben, in seiner Geschichte enthalten ist, daß aber auch andererseits Alles, was in seiner Geschichte enthalten ist, wesentlich Gegenstand des Glaubens ist und bleiben muß und nimmermehr durch unsere Gedanken, Worte und Werke ersetzt werden kann.

1)
Ein Amt in einige griechischen Städten, regierte für ein Jahr als oberste Regierungsgewalt. AJ
2)
der Jüngere Cato, benannt nach seinem Todesort AJ
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