Baumgarten, Michael - Die Geschichte Jesu für das Verständniß der Gegenwart dargestellt - Vierzehnter Vortrag. Die zwölf Apostel.

Baumgarten, Michael - Die Geschichte Jesu für das Verständniß der Gegenwart dargestellt - Vierzehnter Vortrag. Die zwölf Apostel.

Das, was Jesus am Jordan gleich nach seiner Einweihung in das Amt begann, die Berufung einzelner Jünglinge in seine Gemeinschaft, das vollendet er in Galiläa. Die Erwählung und Bildung der zwölf Apostel ist dasjenige Werk der galiläischen Thätigkeit Jesu, in welchem sich die Zukunft seines Reiches am meisten vorbereitet und begründet, und fordert insofern eine eingehende Betrachtung. Je mehr aber das Apostolat in die Gründung und Entwickelung der Kirche eingreift, je näher eben damit die Person, das Amt und das Wirken der Apostel unserer Gegenwart gerückt sind, man denke nur an die Bedeutung der apostolischen Briefe, desto größer ist auch die Gefahr, die geschichtliche Genesis des Apostolates und feine ursprüngliche Gestalt und Wirklichkeit aus den Augen zu verlieren. Man frage sich nun, ob es uns wohl recht gelingt, sich den Apostelfürsten Petrus auf dem galiläischen See schwimmend zu denken (s. Joh. 21, 7), ob es wohl zu dem uns geläufigen Bilde des Petrus stimmt, daß er in der Nacht, als der Herr vom Abendmahl aufsteht und über den Kidron nach Getsemane geht, nicht bloß mit einem Schwert bewaffnet einhergeht, sondern auch von seinem Schwert einen blutigen Gebrauch macht. Es ist in der That so, daß, sowie die Wirklichkeit und Geschichtlichkeit Jesu uns nur allzuleicht in der Vorstellung seiner göttlichen und himmlischen Macht und Herrlichkeit abhanden kommt, auch die Correctheit der Apostel, in der Anschauung von ihrer späteren Bedeutung und Wirkung uns zu verschwimmen droht. Verhielte sich nun die geschichtliche Wirklichkeit zu der späteren Bedeutung und Wirkung wie die Hülse zum Kern, so könnten wir uns bei dieser Wahrnehmung leicht beruhigen, aber das Verhältniß ist in beiden Fällen ein wesentlich anderes , es ist vielmehr das Verhältniß der tragenden und nährenden Wurzel zum Baum. Was von der Geschichte Jesu ursprünglich laut des ersten christlichen Bekenntnisses gilt, das gilt abgeleiteterweise auch von der Geschichtlichkeit der Apostel, insofern nämlich, was für ihre Geschichtlichkeit hauptsächlich in Betracht kommt, eben das Werk Jesu an ihnen und mit ihnen ist. Wie, demnach die ewige Bedeutung und Macht des Heilandes immer nur auf Grund seiner Geschichte erfaßt und verstanden sein will und von diesem Grund losgelöst jedesmal eine falsche Vorstellung erzeugt, so entsteht auch nothwendigerweise ein falsches Bild des heiligen Apostolates, wenn wir nicht immerdar seine geschichtliche Grundlage in ihren festen und bestimmten Umrissen anschauen. Es handelt sich dabei keineswegs hauptsächlich um die biographische und psychologische Einzeluntersuchung der verschiedenen apostolischen Persönlichkeiten, wäre dies der Fall, dann wären wir in Ansehung der aufgestellten Forderung mißlich daran, denn in dieser Beziehung haben wir nur ein sehr beschränktes Material. Nur in Ansehung des Paulus kann man sich anheischig machen, ein biographisches Einzelbild aufzustellen, aber Paulus gehört nicht zu den Zwölfen und geht uns hier Nichts an. Unter den Zwölfen sind es nur Einzelne, von denen uns eine Reihe charakteristischer Züge berichtet ist, von manchen unter ihnen wissen wir nur den Namen, und auch jene Züge der geschichtlich hervortretenden Apostel zeichnen allerdings scharf umgrenzte Charakterbilder, aber für eine Geschichte sind sie lange nicht ausreichend. Darauf also kann unsere Forderung einer geschichtlichen Anschauung des Apostolates nicht gehen, sie hat vielmehr diesen Sinn, daß wir uns darüber Rechenschaft zu geben haben, wie sich die Bildung des apostolischen Kreises in die Thätigkeit Jesu einfügte, und daß wir dieses erreichen können, dafür hat die evangelische Berichterstattung gesorgt. Freilich gehört auch, um dies zu erkennen, ein richtiges Auge dazu, denn so bequem hat es die evangelische Erzählung nicht eingerichtet, daß sie uns Zeit und Ort angäbe, wo Jesus die Zwölf sich erwählet und ihnen die Gedanken seiner Wahl und ihres Berufes ausgesprochen hätte. Wir finden nur Berufungen an Einzelne, wie wir deren schon früher erörtert haben, und diese Berufungen wiederholen sich an dieselben mehrfach, ja wir können in dem Verhältniß Jesu zu Petrus einen fünffachen Act aufweisen, in welchem die apostolische Berufung immer bestimmter an ihn herantritt (s. Joh. 1, 43. Matth. 4, 19. 16, 17-19. Luk. 22, 31. 32. Joh. 21, 15-19). Wir können daraus abnehmen, daß sich das Verhältniß Jesu zu den Aposteln allmälig immer fester und klarer ausbildete, und nicht durch einen einmaligen Act als ein fertiges festgestellt wurde. Nur das werden wir annehmen müssen, daß für Jeden eine von Jesu ausgehende Anknüpfung des Verhältnisses Statt gehabt hat (s. Joh. 15, 16). Eine erste allgemeine Auszeichnung der Zwölf vor dem übrigen Kreise der Jünger scheint nach Lukas unmittelbar vor der Bergrede Statt gefunden zu haben (s. Luk. 6,13). Allein da wir uns allem Anschein nach die feierliche Berufung des Levi, der Matthäus genannt wird, an seiner Zollstäte später zu denken haben, so hat auch jene Auszeichnung auf dem Berge keineswegs für Alle schon eine bleibende Gemeinschaft begründet. Um so mehr, als durch diese Wahrnehmungen und Erwägungen das Verhältniß der Zwölf zu Jesu einen fließenden und fast verschwimmenden Charakter annimmt, sind wir genöthigt, uns um die allgemeinen geschichtlichen Bedingungen zu bekümmern, unter deren Macht und Einfluß das heilige Apostelamt gegründet und vollendet ist. In der That ist es die Berücksichtigung des nationalgeschichtlichen Rahmens, in welchen sich auch dieses Verhältniß Jesu einfügt, allein, was unserer Anschauung von der Stellung der Apostel den festen Halt und die nöthige Klarheit verleiht.

So viel ist gewiß, daß die Erwählung und Berufung der Zwölf zu einem vorläufigen Abschluß gelangt in der Zeit, in welcher Jesus als der Prophet Israels im galiläischen Lande wirkte. Wir dürfen also voraussetzen, daß das Prophetenthum zu dieser apostolischen Jüngerschaft ein Verhältniß haben werde, und indem wir fragen, welches, ergibt sich uns der erste Anknüpfungspunkt, mittelst dessen das Apostolat, in welchem wir gewohnt sind, ausschließlich Neutestamentliches zu sehen, mit der alttestamentlichen Geschichte verbunden ist.

Es hat sich uns ergeben, daß die Eigenthümlichkeit des prophetischen Amtes und Wirkens im Unterschiede zu den beiden anderen Aemtern darin besteht, daß dasselbe ganz und gar auf der selbstständigen Persönlichkeit seines Trägers ruht. In Jesu als dem vollendeten Propheten vollendet sich auch diese Eigenthümlichkeit. Es kommt dies darin zum Vorschein, daß Jesus, der Anfangs seiner öffentlichen Thätigkeit, wie wir gesehen, das Verhältniß zu seinem angestammten Hause festhält, im weiteren Verlaufe dieses Verhältniß löset, er verläßt Nazaret (s. Matth. 4,13) und trennt sich von dem Kreise seiner Mutter und seiner Brüder (s. Matth. 12, 46-50). Ju dieser Trennung von feinem Hause war er völlig eigenthumslos und konnte das bekannte Wort sprechen: „die Füchse haben Gruben, und die Vögel des Himmels Nester, des Menschen Sohn aber hat nicht, wohin er sein Haupt lege“ (s. Matth. 8, 20). Als des Menschen Sohn ist er Sohn Jehovas und König Israels und als solcher braucht er nur zu fordern, dann sind die Heiden sein Erbe und der Welt Enden sein Eigenthum (s. Ps. 2, 8), und dennoch hat er nicht einmal Theil an dem Acker zu Bethlehem, der dem Hause seines Ahnherrn Isai gehöhte. Einen grelleren Contrast zwischen Würdigkeit und Recht in Ansehung des Besitzes einerseits und Entbehrung und Entsagung andererseits hat es auf Erden nie gegeben und darum ist auch von jeher die Armuth Christi als eine unvergleichliche angesehen worden (s. 2 Kor. 8, 9). Die Armuth Christi besteht nämlich nicht bloß in der Besitzlosigkeit dessen, der der Erbe der Erde ist, sondern sie wird namentlich dadurch geschärft,, daß all sein Wirken und Thun, in welchem er unablässig begriffen ist, keinen Lohn hat. Seine Arbeit ist das Zeugniß der Wahrheit (s. Joh. 18, 37). Wenn nun schon die hellenischen Weisen im Gegensatz zu der Handwerksmäßigkeit der Scheinweisheit es verschmähten, das Kleinod der von ihnen erkannten Wahrheit für schnödes Geld zu verkaufen, so hat das Zeugniß der Wahrheit, welches Jesus als seinen Beruf bezeichnet, nicht bloß einen noch unendlich höheren Charakter, sondern in diesem Zeugniß der Wahrheit ist Etwas enthalten, was ohne Ausnahme Allen eine tödtliche Selbstverleugnung auferlegt, es kann demnach dieses Zeugniß der Wahrheit nur für diejenigen eine gewinnende und anziehende Kraft haben, welche diese Bitterkeit einer völligen Selbstentsagung überwinden. So wenig Jesus einen Acker hat, der ihn ernährt, so wenig darf er von seiner Arbeit einen Lohn zur Erhaltung seines Lebens erwarten, er ist demnach mit seinem ganzen Lebensstande nicht an die Erde und an die Menschen gewiesen, sondern an seinen Vater im Himmel. Die vierte Bitte des Vaterunsers hat nie und nirgends Jemand so eigentlich genommen und gesprochen von einem Tage zum anderen, wie Jesus, und darum ist auch sein Danken und Brodbrechen eine so ausgeprägte Eigenthümlichkeit, daß die Seinen ihn daran am leichtesten erkennen können (s. Luk. 24, 30.31. 35). Daß Jesus aber so gänzlich ans sich selbst gestellt ist und von allem äußerlichen und irdischen Anhalt entkleidet wird, das Alles dient nur dazu, um die göttliche Vollendung seines Prophetenthums offenbar zu machen, um sein Prophetenthum in dem einigen Lichte seiner göttlichen Persönlichkeit und Selbstständigkeit strahlen zu lassen. Eben darin, daß das Prophetenthum auf dem göttlichen Grunde der heiligen Persönlichkeit ruht und keines Mittels und Dinges außer sich benöthigt ist, liegt die Kraft und Möglichkeit, daß es einen neuen Anfang der Gemeinschaft bildet, welcher in die Verderbtheit der vorausgehenden Gemeinschaftsbildung nicht verflochten ist. Die erste und ursprüngliche Gemeinschaftsbildung beruht auf natürlicher Basis, sie ist entweder durch Familien- und Stammverhältnisse bedingt oder wenigstens durch Gleichheit des Standes und Berufes, welche auf nationalen und religiösen Institutionen und Traditionen beruht. Aber da in der natürlichen Basis überall der Keim des Verderbens ruht, so erweist sich die Schadhaftigkeit dieser ursprünglichen Gemeinschaftsbildung zu allen Zeiten. Aus dieser Wahrnehmung geht nun die Bildung der freien Genossenschaftlichkeit hervor, welche nicht die Naturbedingungen, sondern die freien Persönlichkeiten zur Voraussetzung hat. Eine hervorragende Persönlichkeit, die sich eben darin bewährt, daß sie die Mängel der bisherigen Gemeinschaftsbildung erkannt und in sich überwunden hat, tritt an die Spitze und sammelt andere empfängliche Persönlichkeiten um sich, und so bildet sich unter den Trümmern einer alten und verkommenen Ordnung der freie, auf sich selbst ruhende Anfang eines neuen Lebens. In dem hellenischen Alterthum zeigt die Geschichte der philosophischen Schulen eine großartige Erscheinung von diesem Charakter der freien Gemeinschaftsbildung. Wir, die wir so sehr an die materiellen Bedingungen des Lebens gebunden sind, haben alle Mühe, uns von der freien Geistigkeit und Unabhängigkeit dieser Genossenschaften einen anschaulichen Begriff zu machen. Die Freiheit des geistigen Lebens im hellenischen Alterthume war eben weit potenzirter, als wir sie kennen. Das israelitische Prophetenthum bietet uns nun ganz dieselbe Erscheinung und zwar um so markirter, je göttlicher und deshalb selbstständiger und freier hier das Geistesleben ist.

Sobald das Prophetenthum bei dem offenbaren Verfall des priesterlichen Hauses und Standes eine eingreifende Bedeutung gewinnt und zwar zunächst, um die Stiftung des Königthums einzuleiten, finden wir auch, daß die hervorragende Persönlichkeit des Samuel um sich einen Kreis von Prophetenschülern bildet. Diese Verbindung beruht lediglich auf dem Geiste eines gleichen persönlichen Strebens und Wirkens. Eine ähnliche freie Genossenschaft, nur noch mehr organisirt, finden wir in späterer Zeit, als das Königthum in dem Zehnstämmereich mit raschen Schritten seinem Untergang nahte, um die Propheten Elia und Elisa. Weniger beachtet aber unzweideutig und entscheidend sind die dahinzielenden Andeutungen des Propheten Jesaja, welcher der Zeit angehört, als das davidische Haus in Jerusalem in den letzten Wendepunkt seines Abfalles eintrat. Jesaja betrachtet das ganze Volk als verdorben und verstockt, seine schärfste Rüge trifft aber die Inhaber der Gewalt und des Ansehens, im Gegensatz nun zu dieser allgemeinen Verderbtheit spricht er von Jüngern Jehovas, welchen er Auftrag habe, seine göttliche Unterweisung zu versiegeln (s. 8, 16. 50, 4. 54, 13). Bei dem Auftreten Johannes des Täufers wiederholt sich dieselbe Erscheinung: die Schaaren des Volkes kommen zu ihm, hören ihn, lassen sich taufen und gehen wieder heim, aber unter diesen Schaaren finden sich Einzelne, welche sich ihm anschließen und bei ihm verweilen. Diese sind es, welche in den evangelischen Erzählungen als Jünger des Johannes auftreten und immerdar in seiner Nähe sich zeigen.

In diese hergebrachte Form und Sitte fügt sich nun auch die Jüngerschaft Jesu, des vollendeten Propheten, hinein und zwar so, daß Jesus diese Form, wie alle anderen, an welche er sich anschließt, mit ihrem wahren und eigenen Inhalt erfüllt und somit vollendet. Jesus bekennt von sich: „ich bin von Herzen demüthig“ (s. Matth. 11,39). Diese Demuth ist aber nicht eine Verleugnung des Selbstbewußtseins, wie unser schwächliches und unklares Christenthum die Demuth zu verstehen und zu üben gewohnt ist, sondern ist Eins mit dem stärksten und klarsten Selbstbewußtsein, sie ist eben die Willigkeit, die Anerkennung und Geltung des eigenen Werthes den Gesetzen der göttlichen und menschlichen Ordnung in der Welt zu unterstellen. Sein Selbstbewußtsein spricht Jesus aber selten direct aus und immer nur unter besonderen Umständen, dagegen desto häufiger und kräftiger indirect. In Bezug auf seine Jüngerschaft stellt er seine Persönlichkeit als die ausschließlich und unbedingt normirende in die Mitte. Um so weniger als er seinen Jüngern irgend etwas Aeußeres zu bieten hat (s. Matth. 8, 20), um so mehr Gewicht legt er auf den absoluten Werth seiner eigenen Persönlichkeit. In diesem Sinne sagt er: „wer da liebet Vater oder Mutter über mich, der ist mein nicht werth, und wer da liebet Sohn oder Tochter über mich, der ist mein nicht werth, und wer nicht sein Kreuz nimmt und folget mir nach, der ist mein nicht werth“ (s. Matth. 10, 37), und noch schärfer ist folgendes Wort: „wenn Jemand zu mir kommt und hasset nicht seinen Vater und Mutter, und Weib und Kinder, und Bruder und Schwester und dazu auch seine eigene Seele, der kann nicht mein Jünger sein.“ „Ein Jeglicher unter euch, der nicht absagt Allem, was er hat, der kann nicht mein Jünger sein“ (s. Luk. 14, 26. 33). Allerdings stellt er für alle Entsagung einen überschwenglichen Ersatz in Aussicht, aber nur für die Zukunft (s. Matth. 19, 27-29). Für die Gegenwart aber verlangt er eine innere und völlige Entscheidung, die in der gänzlichen Hingabe an seine Person ihren alleinigen Schwerpunkt habe, und diese Entscheidung muß eine unwandelbare sein (s. Luk. 9, 62) und unter Umständen rasch zu Stande kommen (s. Matth. 8, 22). Es wird aber bald klar, daß Jesus den absoluten Werth seiner Persönlichkeit, hinter den alle, auch die heiligsten Verhältnisse zurücktreten müssen, nur deshalb so betonen kann und will, weil in seiner Persönlichkeit alle Verhältnisse und Ordnungen, alle Dinge und Güter, denen der Mensch um seinetwillen entsagen muß, wiederhergestellt werden und zwar so, daß sie von der ihnen anhaftenden Corruption, um deren willen ihre Entsagung eben unerläßlich ist, in ihm selber gereinigt und geheiligt werden. Oder mit anderen Worten, darum ist in Jesu das Ende und der Untergang alles bisherigen Bestandes der menschlichen Verhältnisse und Güter, weil in ihm ein neuer und heiliger Anfang dieses Bestandes ist. Daß er es selber so und nicht anders meint, gibt er durch die Weise, wie er seine Jüngerschaft ordnet, deutlich zu verstehen. Aus dem großen Kreise derer, die im weiteren Sinne Jesu Jünger sind, bildet sich der Herr zwei geschlossene Kreise, deren Zahl bedeutsam ist. Der größere dieser beiden Kreise besteht aus siebenzig Gliedern, über welche Lukas berichtet, daß der Herr sie bei Zweien in die Städte und Ortschaften, welche er zu bereisen gedachte, vor sich hergesendet habe mit dem Auftrag, die Kranken zuheilen und das Herannahen des göttlichen Reiches zu verkündigen. Diese Siebenzig führen den Auftrag aus und kehren mit Freuden wieder unter dem Triumph: „Herr, auch die Dämonen sind uns unterthan in deinem Namen“ (s. Luk. 10, 1 - 17). Wer da weiß und bedenkt, in welchem Maß und Umfang Zahlen der ganzen heiligen Schrift von der Genesis bis zur Apokalypse bedeutsam sind, wird sich des Gedankens nicht erwehren können, daß diese Zahl des Jüngerkreises unmöglich eine zufällige sein könne. Die bedeutsame Beziehung dieser Zahl liegt auch in der That nahe genug. Siebenzig Seelen des Hauses Jakobs sind es, die nach Aegypten ziehen (s. 1 M. 46, 27. 2 M. 1, 5. 5 M. 10, 22). Siebenzig ist also die Zahl, mit welcher die wunderbare Mehrung dieses Hauses zum Volke anhebt, und als solche ist sie dem Volke immer im Gedächtniß geblieben. Bei der zweiten Station in der Wüste finden die Söhne Israels zwölf Brunnen und siebenzig Palmen (s. 2 M. 15, 27); siebenzig Aelteste werden ausgewählt und mit dem Geiste ausgerüstet, um Mose in seinem Regiment über Israel beizustehen (s. 4 Mos. 11, 16. 25); und das Synedrium zur Zeit Jesu, die höchste geistliche Obrigkeit in Jerusalem, bestand aus einem Vorsitzenden und siebenzig Mitgliedern. Was kann nach diesem Allem die Zahl der siebenzig Jünger anders bedeuten, als einen neuen Anfang, aus welchem heraus Israel sich wiederum mehren soll, und zwar nicht leiblicher Weise, sondern in Kraft des Geistes und Wortes, mit welcher Kraft Jesus, wie wir gesehen, diese Siebenzig ausrüstet und in die Oerter des geistlich erstorbenen Volkes entsendet? Um so zuversichtlicher dürfen wir dieser Deutung folgen, da wir über die analoge Zahl des kleineren Jüngerkreises einen authentischen Aufschluß aus dem Munde des Herrn selber besitzen, der uns auf die gleiche Gedankenspur leitet: der kleinere Kreis ist nämlich die apostolische Zwölfzahl. Die Zwölfzahl ist nämlich dem israelitischen Bewußtsein von den zwölf Söhnen Jakobs her, diesen Säulen, auf denen das Haus und Volk Israels ruht, so tief und unverwüstlich eingeprägt, daß wir die Beziehung der zwölf Apostel auf die zwölf israelitischen Stämme auch dann mit Sicherheit erkennen würden, wenn nicht ausdrückliche Aussagen darüber in der neutestamentlichen Schrift vorlägen. Als Petrus den Herrn fragt: was wird uns dafür, daß wir Alles verlassen und dir nachgefolget sind, antwortet Jesus: „wahrlich ich sage euch, ihr, die ihr mir seid nachgefolget, auch ihr werdet in der Neugeburt, wenn des Menschen Sohn sitzen wird auf dem Thron seiner Herrlichkeit, sitzen auf zwölf Thronen und richten die zwölf Stämme Israels“ (s. Matth. 19, 27-28). Und dieselbe feierliche Versicherung wiederholt er während des letzten Mahles: „ihr aber, die ihr mit mir ausgeharret in meinen Versuchungen, ich vermache euch, wie mir mein Vater das Reich vermacht hat, daß ihr essen und trinken werdet an meinem Tische in meinem Reiche, und werdet sitzen auf Thronen, richtend die zwölf Stämme Israels“ (s. Luk. 22, 28-30). Dem entsprechend schaut Johannes in dem neuen Jerusalem auf den zwölf Grundlagen der Stadtmauern die Namen der zwölf Apostel (s. Offenb. 21, 14). Aus diesen Stellen erhellt nicht bloß die Rückbeziehung der apostolischen Zahl auf die israelitische Stammzahl, sondern zugleich der Sinn dieser Rückbeziehung. Offenbar nämlich soll diese Zahl ein bedeutsamer Fingerzeig sein, daß es sich um nichts Geringeres handelt, als um eine Erneuerung Israels: die zwölf Apostel sind die Patriarchen des neuen Israel. Dieser Gedanke wird uns nach unseren früheren Erörterungen über Jesu Verhältniß zu seinem Volke und über feine neue Hausgenossenschaft sehr verständlich und einleuchtend sein. Wir haben gefunden, daß in Jesu Israel zum ersten Mal vollendet erscheint, daß an ihm im Geiste erfüllt ist, was vorher im Fleische vorgebildet war, und diese Vollendung Israels im Geiste ist uns zugleich als die Macht erschienen, welche sich nach außen auswirken muß und wird. Die häusliche Gemeinschaft, in welcher sich dieses israelitische Geisteswesen zunächst auswirkt, wie wir gezeigt haben, nach dem Vorbilde der patriarchalischen Anfangszeit, erhält nun ihre nähere Bestimmtheit durch die apostolische Zwölfzahl, worin eben die patriarchalische Signatur enthalten ist. Demnach lehrt uns die Zwölfzahl die Hausgenossenschaft Jesu noch von einer neuen Seite kennen. Wie Jesus das wahre und ewige Israel ist, so sind die Zwölf die wahren Erzväter des ewigen Hauses Israel. Zunächst müssen wir uns hier das Hauswesen Jesu noch deutlicher als bisher vergegenwärtigen. Wir müssen uns erinnern, daß Jesus selber seine Gemeinschaft mit den Zwölfen so auffaßt und ausdrücklich so bezeichnet. Er nennt sich selber den Hausherrn und die Seinen seine Hausgenossen (s. Matth. 10, 25), die Seinen essen sein Brod (s. Joh. 13, 18), er bezeichnet sich als den Versorger seiner Jünger (s. Luk. 22, 35), als Hausvater läßt er das Passa anordnen für die Seinen (s. Luk. 22, 7. 8), ja er erweitert diese seine Tischgenossenschaft mit seinen Jüngern über die Schranken des gegenwärtigen Weltlaufs hinaus (s. Luk. 22, 30). Zwar hat Jesus nicht einmal für sich selber einen Erwerb, aber da die Bildung der Hausgenossenschaft zu seinem Berufe gehört, so verläßt er sich, wie für sich selber, so auch für die, welche er an seinen Tisch genommen, auf die Güte und Treue seines himmlischen Vaters; und aus der reinen Liebe und Treue der ihn begleitenden und dienenden Frauen, unter denen auch eine von vornehmem Stande genannt wird, aus diesem göttlichsten Quell aller irdischen Liebe fließt ihm zu, was er für sich und die Seinen bedarf (s. Luk. 8, 1-3. Matth. 27, 55). Indessen, obwohl kein Erwerb vorhanden ist, der sich berechnen läßt, ist doch der Haushalt Jesu ein geordneter. Es ist Einer bestellt, der die Kasse führt (s. Joh. 12, 6), der die Besorgungen für das Nöthige zu machen und auch die Armen zu bedenken hat (s. Joh. !3, 29). Wir erfahren auch, daß wirklich Ordnung gehalten und daß diese heilige Haushaltung keineswegs in den Tag hineinlebt. Auf Reisen wird regelmäßig Vorrat!) mitgenommen (s. Matth. 16, 7) und wir erfahren, daß zu zwei verschiedenen Malen, als allen Uebrigen in der Wüste der Vorrath ausgegangen war, die Hausgenossenschaft Jesu wohl versehen ist (s. Matth. 14, 17. 15, 34). Dies Alles zum Beweise, daß es Jesu mit der Haus- und Tischgenossenschaft seiner Zwölf völlig Ernst gewesen ist. Die wahre und geistliche Bedeutung dieser Form wird uns aber erst aufgeschlossen, wenn wir auch das patriarchalische Haus des alten Bundes, in welchem die Zwölfzahl ursprünglich auftritt, genauer ansehen.

Schon früher habe ich darauf aufmerksam gemacht, daß das Volk mit seinem dritten Urvater den Namen theilt und zwar in seiner zwiefachen Gestalt; gleichwie der dritte Patriarch Jakob und Israel heißt, wird das Volk im alten Testament mit diesen beiden Namen genannt. Ohne Zweifel ist der Grund dafür der, daß in der Geschichte dieses dritten Urahnen die ganze Mannigfaltigkeit, Verwickelung und endliche Lösung vorgebildet ist, welche das Volk zu durchleben bestimmt ist. Dieser propädeutische und typische Charakter Jakobs umfaßt einem großen Theile nach auch das Haus Jakobs im engeren Sinn, nämlich seine zwölf Söhne, die Stammväter Israels. Nach dem hebräischen Grundiert 1 M. 37, 2 beginnt die eigentliche Geschichte Jakobs erst da, wo die Verwickelung in seinem Hause anhebt. So sehr wird von allem Anfang her Jakobs Persönlichkeit mit seinem Hause zusammengefaßt. Offenbar ist die Meinung dabei diese, daß, wie sich in der individuellen Geschichte Jakobs ein Dualismus findet, dieser dualistische Charakter sich in seinem Hause wiederholt und weiter ausgestaltet, und ferner so wie sich in der individuellen Sphäre der Dualismus auflöst und ausgleicht, so auch in der häuslichen Sphäre und zwar um so vollkommener, indem diese Ueberwindung der häuslichen Kluft schließlich durch Jakob selber, der eben darin seine, eigene Vollendung feiert, bewirkt wird. Es ist also Jakobs Geschichte dermaßen in die Geschichte seines Hauses verwebt, daß diese beiden Geschichtsreihen mit einander zum Abschluß kommen. Auf denselben wesentlichen Zusammenhang hat es Jesus mit seiner Zwölfzahl abgesehen: „wer euch aufnimmt, der nimmt mich auf,“ sagt er zu den Zwölfen (s. Matth. 10, 40), „denn wie mich der Vater sendet, so sende ich sie,“ ein anderes Mal (s. Joh. 17, 68), den Schlüssel des Himmelreichs, den er führt und besitzt, übergibt er seinen Aposteln (s. Matth. 16, 19. 18, 18. Joh. 20, 29), so wie er der Eckstein ist (s. Matth. 21, 42), so macht er Petrus zum Grundstein (s. Matth. 16, 18), so wie er thronen wird dereinst, so sollen auch sie thronen (s. Luk. 22, 30. Matth: 19, 28). Diese Gleichheit der Apostel hat einen durchaus realen Grund des Zusammenhanges, denn nicht sie sind die Redenden, sondern des Vaters Geist, der in ihnen redet (s. Matth. 10, 20), das ist der Geist, der in ihm ist, und den er ihnen sendet (s. Joh. 16, 7), aber nicht bloß in Einheit des Geistes stehen sie mit ihm, er gibt ihnen sein Fleisch zu essen und fein Blut zu trinken (s. Joh. 6, 51-58. Matth. 26, 26-28).

Die Vermannigfaltigung und Verwickelung, auf welche das Haus Jakobs angelegt ist und die in dieser Geschichte wesentlich ist, beruht auf der ausgeprägten Eigenthümlichkeit des Einzelnen, welche von Anfang bis zu Ende deutlich hervortritt. Die Analogie dieser Erscheinung finden wir gleichfalls in dem Hause Jesu. Schon wegen des repräsentativen Charakters der neuen Patriarchen werden wir voraussetzen müssen, daß die einzelnen Apostel scharf ausgeprägte Persönlichkeiten sind, welche durch ihre Unterschiedlichkeit die ganze Fülle des israelitischen Volkswesens zur Auswirkung und Darstellung bringen. Und so finden wir es auch in Wirklichkeit. Die apostolischen Männer sind bei aller Einheit des Sinnes und Geistes, wie die Welt noch niemals etwas Gleiches oder auch nur Aehnliches gesehen hat, weit entfernt, eine Einerleiheit und Einförmigkeit des Redens und Handelns aufzuweisen, Jeder führet seine Sprache, als die genau entsprechende Form seines Denkens, und Jeder geht seinen Weg unbekümmert um die Uebrigen, nur wissend und festhaltend, daß die Einheit desselben Zieles nicht im eigenen Vornehmen und in gemeinsamer Verabredung, sondern in der Einheit des sie alle beseelenden und treibenden Geistes Gottes verbürgt ist. Freilich sind diese hohen und heiligen Träger des apostolischen Amtes nicht immer so gewesen, wie wir sie später in ihrem Wirken schauen, vielmehr ist mit ihnen allen eine Umwandlung aus dem Grunde des Geistes geschehen, aber diese Umwandlung steht nicht bloß im Gegensatz zu dem Früheren, sondern hat auch eine Beziehung zu ihrer ursprünglichen Natur und früheren Charakterbildung. Die geschehene Umwandlung ist eben die Befreiung ihrer von Gott geschaffenen Natur und des ächt Israelitischen in ihrer früheren Bildung von dem anhaftenden sündlichen Verderben. Wir müssen demnach annehmen, daß das forschende Auge des Herrn in der Masse seines Volkes sich diejenigen ausersieht, in welchen er nach Natur und Charakter solche Züge erkennt, welche das israelitische Volkswesen nach irgend einer Seite in eminenter Weise ausprägen, welche er demnächst durch seinen belebenden Gottesgeist zu einer neuen Kraft seines Willens und Wortes heiligen kann. Für die Richtigkeit dieser Annahme, die übrigens ihren ausreichenden Grund in sich selber und in der biblischen Analogie hat, können wir uns außerdem auf den Erfolg berufen. Dieselbe Wirkung, welche Jesus in Israel hervorbringt, wird auch durch das Apostolat ausgeführt. Jesus, weil er das wahre und göttliche Israel ist, bringt es unter seinem Volke zu einer reinen und vollständigen Entscheidung und Scheidung zwischen dem Göttlichen und Ungöttlichen in Israel. Dieselbe Entscheidung und Scheidung erfolgt als Wirkung der apostolischen Thätigkeit. Dies ist nur dadurch möglich, daß die Apostel durch den Geist Jesu das geworden sind, was Jesus durch die Salbung des heiligen Geistes, welche auf seiner göttlichen Geburt, wie wir sehen, ruht, von Anfang her ist, nämlich das wahre Israel Gottes, wie Paulus schreibt (s. Gal. 6, 16).

Der merkwürdigste und schwierigste Umstand bei der Wahl der zwölf Apostel ist aber immer die Aufnahme des Verräthers in diesen heiligen Kreis; und es könnte scheinen, daß diese Schwierigkeit durch unsere Auffassung noch verwickelter wird. Denn was ist in der Natur und dem Charakter des Verräthers, was als eine Repräsentation des geistlichen Israel könnte angesehen werden? Und doch führt uns unser geschichtlicher Weg, der von den alttestamentlichen Vorgängen ausgeht, zu einer Lösung der Schwierigkeit, die für unseren Zweck als genügend angesehen werden muß; denn allerdings will ich nicht verhehlen, daß in dieser Sache noch andere Momente enthalten sind, die wir unerledigt lassen müssen, weil sie uns in zu weit abliegende Gebiete führen würden. Da, wie wir schon wahrgenommen, die tiefste Corruption des damaligen Israel ihren Sitz in Jerusalem und Judäa hat, so begreifen wir, daß der Herr seine Apostel in Galiläa sucht und findet (s. Apostelg. 2, 7). Auch das ist verständlich, daß er, da, wie uns gleichfalls schon offenbar worden, die Verkehrtheit im Denken und Leben vorzugsweise in den höheren Ständen verbreitet ist, aus den unteren Schichten des galiläischen Volkslebens seine Haus- und Tischgenossen erwählt. Judas der Verräther scheint davon eine Ausnahme zu bilden, und das ist, was uns an ihm zunächst auffällt. Er führt bekanntlich den Beinamen Ischarioth, dies heißt nach der gesichertsten Erklärung ein Mann von Kariot. Kariot ist aber nach dem Grundtext Jos. 15, 25 ein Ort im Stamme Juda. Demnach ist Judas nicht wie die Uebrigen ein Galiläer, sondern ein Judäer. Diese Ausnahme, welche der Herr mit dem Judas macht, läßt uns von vornherein annehmen, daß in ihm eine besonders hervorragende Anlage muß gewesen sein, die Jesum bestimmt hat, diesen Judäer neben den übrigen Galiläern zu erwählen. Diese Anlage ist auch sehr wohl zu erkennen, wenn wir nur nicht bloß auf das Acht geben, was die heilige Geschichte erzählt, sondern auch auf das, was sie verschweigt. Wir wissen nämlich, daß Judas sehr bald nach seiner Erwählung den finsteren Weg des Verderbens einschlug. Nach der Speisung der fünftausend Mann sagt Jesus zu seinen Jüngern: „habe ich nicht eurer Zwölf erwählet und Einer unter euch ist ein Teufel?“ (s. Joh. 6, 70). Jesus sagt schon hier in Kapernaum nicht: er wird ein Teufel werden, sondern er ist es bereits. Wir wissen auch, daß seine Teufelei einen ganz concreten fleischlichen Anhalt hatte. Johannes sagt: „er war ein Dieb, indem er die Kasse führte“ (s. 12, 6). Wenn Johannes ihn als Dieb bezeichnet, so will er offenbar nicht eine einmalige Untreue rügen, sondern eine fortgehende. Man denke sich, was das sagen will: Judas, dem die Gaben eingehändigt wurden (s. Joh. 12, 6), wußte, daß das Anvertraute die Handreichung der reinsten und treusten Liebe war, er wußte und sah es alle Tage, daß das Anvertraute bestimmt war zum Unterhalt der Liebe, die Nichts für sich behielt, die den Spruch im Munde führte und jede Stunde bethätigte: „Geben ist seliger denn Nehmen“ (Apostelg, 20, 35). Diese seine Untreue weiß Judas übrigens so geschickt zu betreiben, daß sie nie offenbar wird, seine Haushaltung ist immer wohl besorgt, ich habe schon darauf aufmerksam gemacht, daß Jesus mit den Seinen, während alles Volk Mangel leidet in der Wüste, jedesmal außer Verlegenheit ist, und wenn die Jünger sagen, sie hätten nie Mangel gelitten, so gebührt dafür allerdings dem Hausvater das vornehmste Lob, aber das zweite Lob kommt ohne Zweifel dem Haushalter zu. Dann müssen wir bedenken, daß die Jünger allesammt praktische Männer waren und keine Stubengelehrte, sie haben aber nie Etwas von Judas Untreue entdeckt, augenscheinlich haben sie erst, nachdem die Bosheit des Verräthers an den Tag gekommen, genauere Nachforschungen angestellt und sind so hinterher seinen geheimen Schlichen und Kunstgriffen auf die Spur gekommen. Und obwohl wir voraussetzen dürfen, daß Jesus diese Nachtseite seines Wesens durchschaute, so hat er ihn doch nie auf der That ertappen können; denn wäre solches geschehen, so würden wir darüber ohne Zweifel Kunde haben, schon aus dem Grunde, weil eine solche Enthüllung unfehlbar das Verhältniß aufgelöst haben würde. Judas weiß also seine Untreue in den Schein einer geschickten und geordneten Haushaltung zu kleiden. Nun mache man sich klar, wie es in dem Gewissen eines solchen Diebes, der alle Tage vom Tische Jesu sein Brod ißt, ausgesehen haben muß! Welch eine ungeheure Kraft von Ueberlegung und Selbstbeherrschung gehört dazu, in der Nähe und Gegenwart des Heiligen, der da wußte, was im Menschen war (s. Joh. 2, 25), die fortgehende Untreue mit solcher Kunst zu verdecken! Aber das ist noch lange nicht Alles, was wir aus dem Schweigen der heiligen Schrift über Judas lernen. Der Umgang und Verkehr Jesu mit seinen Jüngern ist ein so belebter und geistig bewegter, wie er seines Gleichen nicht hat. Wir sehen das am deutlichsten darin, daß die Jünger mit ihren Thorheiten und Verkehrtheiten gelegentlich an den Tag kommen, so daß Jesus sie dann fassen, unterweisen und erziehen kann, und gerade die Hervorragendsten in dem Jüngerkreise, Petrus, Johannes und Jakobus setzen sich auf diese Weise am häufigsten der schärfsten Rüge des Herrn aus. Judas hat sich immer zu hüten gewußt, den Tadel Jesu auf sich zu ziehen, nur ein einziges Mal kann Jesus ihn fassen, aber auch hier hat er es so geschickt gemacht, daß er alle Uebrigen auf seiner Seite hat und außerdem seinen eigentlichen Sinn so verkleidet, daß Jesus ihn nur indirect treffen kann (s. Joh. 12, 7-8. Matth. 26, 8-11). Wir können uns nicht denken, daß Judas diese Tadellosigkeit etwa dadurch erreicht, daß er sich alles Redens und Handelns enthält, um sich nicht zu verrathen. Ein solches Verhalten wäre nämlich den Mitaposteln, die wir uns in aller Weise als richtige Menschen denken müssen, verdächtig geworden, während wir doch wissen, daß dieselben den Judas, auch dann noch, als der Herr ihn schon als Verräther bezeichnet und hinausgewiesen hatte, als einen correcten Jünger ansehen (s. Joh. 13, 27-30) und ihnen erst da die Augen aufgegangen sind, als sie den Verräther an der Spitze der feindlichen Schaar erblicken. Eine gewisse Enthaltsamkeit im Reden und Handeln müssen wir allerdings bei Judas annehmen, aber diese macht in den Augen der Jünger durchaus keinen verdächtigen Eindruck, sie trägt durchaus den Schein der Besonnenheit, Nüchternheit und Festigkeit. Und hier offenbart sich die Naturgabe des Judas zugleich auf das Glänzendste und auf das Schrecklichste. Ich behaupte, Keiner unter den Zwölfen hat sich so rasch und so sicher in den Gedankenkreis Jesu und namentlich in seine Forderungen an das Apostelamt hineinzuversetzen gewußt, wie Judas. Ohne Zweifel hat er das Thörichte und Unbedachte in manchen Reden der Jünger sofort durchschaut und bedurfte dazu nicht erst der rügenden Bemerkungen Jesu, die auf solche Reden folgten. Denn nur durch eine so eminente Verstandesüberlegenheit, der ein entschlossener und ausgebildeter Wille zur Seite ging, wurde es ihm möglich, bei dem Brandmaal im Gewissen in der Nähe seines Meisters und seiner Mitapostel eine solche Correctheit seines Verhaltens herstellig zu machen, daß er jedem directen Tadel unzugänglich blieb. Und eben diese außerordentliche Begabung ist es, welche diesen Judäer für das hohe Apostelamt wahlfähig macht. Das haben wir bereits gesehen, daß der Herr keine denkträgen und unklaren Träumer und Phantasten für sein weltumfassendes Werk gebrauchen kann; aber er braucht in seiner Zahl auch Einen, in welchem das Denkvermögen in einem eminenten Grade angelegt und ausgebildet ist, und zwar eben, um die Repräsentation des israelitischen Wesens vollständig zu haben. Wer die israelitische Geschichte kennt, wird einräumen müssen, daß in diesem Volke ein sehr gesundes Denkvermögen herrscht, ja wir brauchen nur in die gegenwärtigen Trümmer dieses Volkes hineinzuschauen, um uns zu überzeugen, daß der Verstand unter den Juden eine große Rolle spielt, und die Kundigen erinnere ich an den Einfluß, den Baruch Spinoza durch sein System auf das philosophische Denken des letzten Jahrhunderts ausgeübt hat. Natürlich war es diese Naturgabe in Judas nicht allein, was die Wahl des Herrn bestimmte, denn er hat Keinen erwählt, der nicht von ihm angezogen wurde und sich ihm nicht mit seiner inneren Selbstbestimmung zuwandte. Dies haben wir natürlich auch bei Judas vorauszusetzen, sein scharfer Verstandesblick wird überwältigt von der Klarheit und Größe der Gedanken in den Reden und Thaten Jesu, und wir müssen annehmen, daß dieser erste Eindruck sich auch später wiederholte, bis er in immer leiseren Schwingungen von der feindlichen Gewalt des Widerwillens und Hasses endlich gänzlich vernichtet wurde. Die Gefährlichkeit dieses großen Charakters entging Jesu nicht von allem Anfang an, aber in der sicheren Erkenntniß dieser repräsentativen Natur, welche ihm unter dem bestimmten Eindruck der Zuwendung entgegentrat, wagte Jesus die Erwählung; war doch auch bei allen Uebrigen ein Versuch, der nur dadurch Sicherheit hatte, weil Jesus entschlossen war, dem ersten und letzten Feinde der Menschheit Trotz zu bieten (s. Luk. 22, 31. 32). Der Herr gibt dem Judas einen bestimmten Auftrag in dem nächsten Kreise und gibt ihm darin sofort eine Ausnahmsstellung. Dieser Auftrag ist so geartet, daß Judas sofort seine Gabe gebrauchen muß, zugleich aber auch immerfort an die Schranke seiner Gabe erinnert wird. Denn einen Etat gibt es nicht für seine Kasse, mit seiner Einnahme ist er an ein Gebiet gewiesen, welches er mit seinem Verstande nicht ermessen kann, bei dem er immerdar inne wird der wunderbaren Macht der Liebe und Einfalt, welche thut und übt, „was kein Verstand der Verständigen sieht.“ Anstatt der erziehenden Macht dieser Erfahrung sich hinzugeben, bewältigt er das Wunder der Liebe mit seinem Verstand und verwandelt es in einen todten Schatz, der sich berechnen und nebenbei zum eigenen Nutzen verwerthen läßt. Sein hoher, heller Verstand, der ihm für die Erkenntniß der Geheimnisse des Himmelreiches gegeben war, ward durch seine eigene Unlauterkeit und des Teufels Verführung zu einer Rechenmaschine seiner schmutzigen Habsucht erniedrigt. Aber während seine Seele in diesen Stricken gefangen lag, hat sie doch so viel überflüssige Denk- und Willenskraft, daß er daneben das Geschäft des Haushalters und Apostels mit musterhafter Exactheit ausrichtet.

Durch diese entsetzliche Wendung wird der Versuch Jesu den Judas zum Apostel auszubilden vereitelt. Wäre nun dies die einzige Seite der Sache, so müßten wir in der Gründung des Apostolates einen Fehlgriff Jesu erkennen und dies würde mit unserer ganzen Vorstellung von ihm in Widerspruch treten. Allerdings ist Vieles, was Jesus versucht, durch den Widerstand der Sünde vereitelt und nicht bloß die Erwählung des Judas, ja wir müssen sagen Alles, was er geredet und gehandelt, ist vereitelt, denn darauf allein beruht sein Leiden und Sterben, aber die Hingebung seiner göttlichen Kraft und Heiligkeit an sein Werk ist so groß und unerschöpflich, daß jede Vergeblichkeit seines Wirkens nur die Unterlage für eine höhere Steigerung seiner Kraft wird und somit zu einer immer größeren Verherrlichung seiner Liebe und Macht gereicht. Dieses wunderbare Gesetz seiner Geschichte offenbart sich auch hier und läßt uns die Analogie zwischen dem Hause Jesu und dem Hause Jakobs erst völlig übersehen. Das Haus Jakobs war nicht bloß auf eine reiche Mannigfaltigkeit angelegt, sondern auch auf eine Verwickelung der allerschlimmsten Art. Die Spannung und Spaltung, welche eintritt zwischen Joseph und dem Vater einerseits und den zehn Brüdern andererseits und welche über zwanzig Jahre besteht, gehört zu den schaurigsten Nachtstücken der Menschheitsgeschichte. Aber in diese Finsterniß fällt nun das Licht der wundervollen Führung Josephs, der es unter Gottes Beistand durch seine Tugend, seine Weisheit und Liebe erreicht, daß den bereits verstockten Brüdern ihre Sünde zum Bewußtsein gebracht wird und diese Sünder in Folge dessen den thatsächlichen Beweis ihrer gründlichen Sinnesänderung liefern. Sobald auf diesem Wege innerer Bekehrung der Knoten dieser grauenvollen Verwickelung gelöst ist, wird auch der äußere Riß geheilt und auf die Noth und Entbehrung folgt eine Zeit der Fülle und Freude. Von diesem Ende aus fällt das Licht der göttlichen Vorherbestimmung auf diese ganze Verwickelung zurück und in diesem Lichte erkennen wir, daß dieses Haus dazu bestimmt ist, die Sünde der Welt in seinen Schooß aufzunehmen, um dieselbe durch die hier waltenden Kräfte der Heiligung innerlich zu überwinden, auf daß auf Erden eine Stäte sei, von welcher eine sieghafte Kraft der Heiligung gegen alle Sünden und Ungerechtigkeiten der Welt ausgehe. Schließlich aber zeigt sich, daß dies Alles nur ein Vorbild ist, weil es in dem alttestamentlichen Hause Jakobs an dem ewigen und unüberwindlichen Grunde aller Heiligkeit noch fehlte. Das wahre Haus Israels ist erst Jesus mit seinen Zwölfen. Darum aber muß auch in dieses Haus die Sünde Zugang finden und zwar, da es jetzt der ewigen Vollendung aller Heiligung gilt, die Sünde in vollendeter Gestalt und Kraft. Diese Vollendung der Sünde in dem Hause Jesu ist Judas, den Jesus schon zu Kapernaum einen Teufel nennt, von dem die Evangelisten später, als er sich zur Ausführung seines ruchlosen Frevels anschickte, erzählen, daß der Satan in ihn gefahren sei (s. Luk. 22, 3. Joh. 13, 27). Und eben weil die Sünde sich hier vollendet, so muß es auch mit Judas zu einer schließlichen Ausscheidung kommen, er geht hin an seinen Ort (s. Apostelg. 1, 25). Ueberwunden ist aber diese vollendete Sünde dadurch, daß Jesus die Liebe bewahrte und festhielt bis zur Annahme des Verrätherkusses, und sodann, daß die übrigen Elf lediglich auf Antrieb des Geistes, der sie als Genossen des wahren israelitischen Hauses beseelte, die Lücke der Zwölfzahl durch eine Neuwahl wieder ausfüllten.

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