Baumgarten, Michael - Die Geschichte Jesu für das Verständniß der Gegenwart dargestellt - Sechzehnter Vortrag. Die Kämpfe in Jerusalem.

Baumgarten, Michael - Die Geschichte Jesu für das Verständniß der Gegenwart dargestellt - Sechzehnter Vortrag. Die Kämpfe in Jerusalem.

Um die galiläische Periode der Geschichte Jesu vollständig zu überschauen, ist noch übrig, unseren Blick nach zwei Seiten zu richten, die einander entgegengesetzt sind, einerseits nämlich nach Jerusalem, dem Mittelpunkt alles jüdischen Lebens und Wesens, wo Jesus während seines galiläischen Wirkens zeitweilig auftritt, und auf der entgegengesetzten Seite stehen die Heiden, mit denen Jesus gleichzeitig in Berührung kommt. Für heute beschäftigen wir uns mit den inzwischen vorfallenden Kämpfen Jesu in Jerusalem, das nächste Mal werden wir den bedeutsamen und lehrreichen Verkehr Jesu mit den Heiden betrachten.

Wir wissen bereits, daß es der Evangelist Johannes ist, der uns die der letzten Entscheidung in Jerusalem, welche alle vier Evangelisten mit besonderer Ausführlichkeit mittheilen, vorausgehenden Ereignisse der Geschichte Jesu in der israelitischen Hauptstadt umständlich berichtet und dadurch den synoptischen Bericht über die galiläische Wirksamkeit wesentlich ergänzt hat. Die Anwesenheit Jesu in Jerusalem, von welcher Johannes erzählt, ist nur eine zeitweilige und setzt seinen regelmäßigen Aufenthalt in Galiläa voraus, sie ist nämlich jedesmal durch eine Festfeier veranlaßt, zu welcher die Israeliten durch Gesetz und Sitte verpflichtet waren, den Tempel zu Jerusalem zu besuchen. Es fügen sich demnach die jerusalemischen Ereignisse sehr einfach und naturgemäß in das Leben Jesu ein und ist uns dieser Umstand wiederum ein Beleg, daß sich in dieser Geschichte Alles nach den Gesetzen und Ordnungen des israelitisch menschlichen Lebens entwickelt. Außer den beiden ersten Festreisen Jesu nach Jerusalem, deren geschichtlichen Inhalt wir bereits erwogen haben, berichtet Johannes vor der letzten, die wir natürlich von unserer heutigen Betrachtung ausschließen, noch zwei andere, welche in die Mitte der galiläischen Periode fallen und deshalb an dieser Stelle unserer Erörterung unterzogen werden müssen.

Der hier in Betracht kommende Abschnitt des vierten Evangeliums geht vom Anfang des siebenten Kapitels bis gegen den Schluß des zehnten (s. 10, 39) und berichtet, was sich in Jerusalem ereignete in Anlaß des Aufenthaltes Jesu bei dem Hüttenfest und bei dem Tempelweihfest (s. 7, 2. 10, 22). Wir werden für unseren geschichtlichen Zweck diese Ereignisse uns übersichtlich deutlich zu machen und die entscheidenden Geschichtsmomente derselben verständlich zu machen haben. Ich habe diese jerusalemischen Zwischenfälle die Kämpfe Jesu in Jerusalem genannt und damit schon im Vorwege ihren Grundcharakter bezeichnet. Nachdem wir bereits beim ersten Male der Anwesenheit Jesu in Jerusalem das Verhältniß zwischen Jesus und den Juden kennen gelernt haben, werden wir auch kaum etwas Anderes erwarten können, als daß dies Mißverhältniß, welches bei der ersten Anwesenheit sogleich zum Vorschein kam und bei dem zweiten Male schon in tödtliche Feindschaft ausbrach, sich immer weiter auf die Spitze treibt. Während des Laubhüttenfestes und des Festes der Tempelweihe erhält die tödtliche Feindschaft, deren Keim und Grund wir schon früher erkannt haben, eine immer bestimmtere Gestalt, ja sie macht Anstalten und Versuche ihren Willen auszuführen. Als Jesus den Juden im Anfang des Hüttenfestes den Vorwurf macht: „ihr suchet mich zu tödten,“ antworten sie: „du bist besessen, wer sucht dich zu todten?“ (s. Joh. 7, 19. 20). In frecher Weise stellen die Juden die todfeindliche Absicht wider Jesum in Abrede, weil die Thatsachen, denen diese Feindschaft zu Grunde liegt, noch nicht offen hervorgetreten sind. Jesus aber hat ihr Inneres längst durchschaut und kurz darauf müssen die Juden ihm selber Recht geben, indem sie sagen: „ist dieser nicht der, den sie zu tödten suchen?“ (s. Joh. 7, 25). Sodann berichtet Johannes wiederholentlich, daß die Juden damit umgingen, ihn zu sahen (s. 7, 30. 44. 8, 20. 10, 39), ja daß die Pharisäer und Hohenpriester, also die höchsten Mitglieder des hohen Rathes ihre Diener entsandten, um Jesum zu sahen und ihnen zu überliefern (s. 7, 32. 45). ^Sowohl während des einen wie während des anderen Festes kommt es schon so weit, daß die Juden gegen Jesum Steine aufheben (s. 8, 59. 10, 31), welche Drohung die Absicht der Tödtung um so deutlicher und handgreiflicher in sich schließt, da die Steinigung nach dem Gesetze die Strafe der Gotteslästerung und der falschen Lehre ist, deren sie Jesum bezichtigen, und das Volk selber diese Strafe zu vollziehen hat (s. 3 M. 24, 10 -11). 5 M. 13, 6-11). Wir sehen also, daß die Feindschaft der Juden in Jerusalem, welche sich bei dieser Gelegenheit auch sonst in manchen Worten und Zeichen zu erkennen gibt, immer schon am Rande ihres äußersten Ausbruches steht. Demnach ist die Bemerkung, welche Johannes unserem Abschnitt vorausschickt: „Jesus wandelte in Galiläa, denn er wollte nicht in Judäa wandeln, weil die Juden ihn zu tödten suchten“ (s. Joh. 7, 1), sehr wohl verständlich und wird durch unsere Erzählung erklärt. Diejenigen freilich, welche das Leiden und Sterben Jesu nicht historisch, sondern dogmatistisch auffassen, müssen aus dieser Stelle merken, daß Johannes sein Evangelium für sie nicht kann geschrieben haben. Da sie nämlich den Tod Jesu von seinem Wirken und Leben gänzlich isolieren und es ihnen im Grunde nur um dieses abgesonderte Sterben zu thun ist, wobei ihnen namentlich ganz gleichgültig ist, wie er zu diesem Sterben kommt, so ist ihre Logik der des Evangeliums gerade entgegengesetzt, sie müßten schließen, eben weil Jesus wußte, daß die Judäer ihn tödten wollten, hätte er nicht in Galiläa bleiben sollen, sondern so bald als möglich nach Jerusalem gehen müssen. Gegen diese antievangelische Ungeschichtlichkeit und Unnatur haben wir uns von allem Anfang her ausgesprochen, wir sind in vollem Einklang mit Johannes, da wir von der Voraussetzung ausgehen und diese bis dahin allenthalben bestätigt gefunden haben, daß Jesus als der Mann Gottes im höchsten Sinne des Wortes zunächst keine andere Aufgabe hat, als seinen heiligen Willen durch die That in der Welt auszuwirken. Deshalb war es ganz in der Ordnung, sobald Jesus wahrnahm, daß die Feindschaft in Jerusalem und Judäa sogleich auf das Aeußerste ging, daß er sich nach Galiläa begab, wo ihm hinlänglicher Spielraum gelassen war, um sein Inneres vollständig zu offenbaren, und wenn es ihm auch nicht möglich wurde, der Masse des galiläischen Volkes verständlich zu werden, doch seinen Vertrauten den Eindruck seiner Persönlichkeit so tief einzuprägen, baß er nicht wieder verloren gehen konnte. Es ist also ganz richtig, was auch Johannes andeuten will, daß er nach Galiläa geht, um sich der ihm in Judäa bedrohenden und sein Wirken störenden steten Todesgefahr zu entziehen. Man muß diese Fernhaltung von dem Orte der Gefährdung nur nicht unter den Begriff der erlaubten Vorsicht oder Klugheit bringen wollen. Daß der Begriff des Erlaubten überall noch eine so große Rolle spielt in unserem sittlichen Leben, ist ein deutlicher Beweis, daß wir noch weit entfernt sind von den Fußstapfen, die uns Jesus hinterlassen hat, daß wir ihnen folgen sollten (s. 1 Petr. 2, 21. 1 Joh. 2, 6). Denn der Begriff des Erlaubten ist nur statthaft, so lange noch Unklarheit herrscht über ein bestimmtes sittliches Gebiet, sobald aber die nöthige Klarheit, nach der wir überall streben müssen, vorhanden ist, zeigt sich auch jedesmal die scharfe Linie, welche Alles scheidet in Gebotenes und Verbotenes, in Gutes und Böses. In dem Leben Jesu gibt es keine Unklarheit über das, was ihm zu thun und zu lassen obliegt, daher ist Alles, was ihm zu Händen kommt, vor dem Blicke seines Geistes entweder Gottes Wille oder Gottes Nichtwille und vom Erlaubten kann deshalb bei ihm keine Rede sein. Also Jesus zieht sich nach Galiläa zurück, um hier in Sicherheit zu wandeln, weil er nur so seine Aufgabe erfüllen konnte. Jetzt tritt aber die Kehrseite auf und es entsteht die Frage: wie ist es zu verstehen, daß Jesus unter diesen Umständen Galiläa verläßt, ehe er sein Werk dort vollendet hat, und sich in Gefahr begibt, da er weiß, daß die Juden in Jerusalem ihn zu tödten suchen? Da Johannes zweimal bemerkt, daß die Juden, obwohl sie darnach trachteten und Anstalten dazu machten, Jesu Nichts anhaben konnten, weil seine Stunde noch nicht gekommen war (s. 7, 30. 8, 20), so könnte man meinen, Jesus habe diese göttliche Vorherbestimmung, nach welcher für diese Zeit noch keine Gefahr über ihn verhängt war, gewußt und darauf sich verlassend, habe er sich, ohne feiner Aufgabe, sein Werk weiter fortzusetzen, untreu zu werden, in die Gefahr begeben dürfen. Aber mit diesem Argument würden wir zu viel beweisen und deshalb, wie die Logiker sagen, Nichts beweisen. Denn wäre dieser Grund stichhaltig, so hätte Jesus überall nicht nöthig gehabt nach Galiläa zu gehen, dann hätte er trotz aller Gefahren, die durch das Wissen von der göttlichen Vorherbestimmung zu einem bloßen Schein und Schatten herabgesetzt worden wären, in Jerusalem, der Hauptstadt des Landes bleiben können. Da nun aber Johannes selbst, wie wir gesehen, durch das Vorhandensein der Gefahr in Judäa das Wandeln Jesu in Galiläa motiviert, so muß auch seine Bemerkung: „die Stunde Jesu war noch nicht gekommen,“ einen anderen als den angegebenen Sinn haben. Wir können auch zeigen, daß der vermeintliche Sinn jener johanneischen Bemerkung mit dem ganzen Stande, den Jesus in der Welt einnimmt, durchaus nicht übereinstimmt. Wir wissen, daß der Versucher ihm zumuthete, sich von des Tempels Zinnen herabzulassen, weil nach dem Psalmwort die Engel ihn behüten und tragen würden, und daß Jesus diese Zumuthung zurückwies, weil er in dem Sturze von des Tempels Höhe nicht einen Weg erkennen konnte, der ihm befohlen sei, und deshalb die Beziehung der Verheißung des Schutzes für jene Gefahr nicht gelten ließ. Vielmehr setzte er dem Versucher das Wort entgegen: „du sollst Gott nicht versuchen,“ und dieses Wort sah er als für sich selbst und in diesem Falle als verbindlich an. Daraus wird uns gewiß, daß Jesus von besonderen göttlichen Anstalten zu seinem Schutze, auf welche er sich ohne Weiteres verlassen dürfe bei seinen Unternehmungen, Nichts weiß, daß er des göttlichen Schutzes nur da sich getröstet, wo er sich auf den ihm befohlenen Wegen weiß, daß er dagegen alles Vertrauen, welches dieses Grundes nicht gewiß wäre, auch für sich als ein Gottversuchen betrachten würde. Mit einem Wort, wir kommen wieder auf das ganz Einfache zurück: der Stand Jesu in der Welt und unter Gott ist auch in Beziehung auf Schutz und Bewahrung durchaus kein Ausnahmestand, sondern gerade wie bei uns ein streng sittlich bedingter. Als Kind zwar wird Jesus aus drohender Todesgefahr durch wunderbare Fürsorge gerettet, sobald er aber zum Mann geworden, gilt für ihn das Weltgesetz: „wer des Tages wandelt, der stößt sich nicht, wer aber des Nachts wandelt, der stößt sich“ (s. Joh. 11, 9. 10). Er war sich zu jeder Zeit der Stunde bewußt, dieses Bewußtsein war aber nicht ein mathematisches und mechanisches, sondern ein ethisches, seines Willens, die Welt zu erlösen, war er sich in jedem Augenblicke gerade so bewußt, wie es die jedesmalige Erlösungsbedürftigkeit und Erlösungsbefähigung der Welt mit sich brachte. Dieses sittliche Zeitbewußtsein, welches immer vom richtigen Wahrnehmen zum rechten Handeln übergeht, ist das Tageslicht, in welchem Jesus allwege wandelt, und in welchem er nicht anzustoßen sicher sein darf. Nur indem er sich an diese seine Aufgabe ohne Vorbehalt hingibt, weiß Jesus, daß er Gottes Werk thut, und in diesem Bewußtsein weiß er, daß der, welcher Himmel und Erde regiert, sein Thun nicht eher stören läßt, als bis es vollendet ist. Wir werden später nachweisen, daß das sittliche Selbstbewußtsein Jesu in Bezug auf den Uebergang vom Wirken zum Leiden ganz genau mit der äußeren Weltlage zusammentrifft, daß der Zeiger seines sittlichen Selbstbewußtseins mit dem Zeiger des Weltlaufes genau dieselbe Linie hält. Wenn nun Jesus am Hüttenfeste in Jerusalem sagt: „ich muß wirken die Werke dessen, der mich gesandt hat, so lange es Tag ist, es kommt die Nacht, in der Niemand wirken kann“ (s. Joh. 9, 4), so sehen wir deutlich, was ihn bestimmte, trotz der drohenden Gefahren nach Jerusalem zu gehen. Es sind für ihn Werke des Vaters zu thun und diese Werke des Vaters haben Eile und leiden keinen Aufschub. Er folgt dabei ganz einfach dem Gesetze und der Sitte seines Volkes, verläßt seinen galiläischen Aufenthalt und geht hinauf gen Jerusalem, um den israelitischen Festen beizuwohnen. Freilich ist auch dieses Befolgen der Sitte bei ihm nicht ein gewohnheitsmäßiges, wie es auch niemals sein darf, sondern ein sittliches, indem es mit dem klaren individuellen Selbstbewußtsein verbunden ist und sich deshalb auch individuell ausprägt. Dies sagt er seinen Brüdern, als diese ihn auffordern, mit dem Pilgerzuge hinaufzugehen und sich am Feste in Jerusalem vor aller Welt zu offenbaren; diesen entgegnet er: „meine Zeit ist noch nicht vorhanden, ich gehe nicht hinauf auf dieses Fest, denn meine Zeit Ist noch nicht erfüllet“ (s. Joh. 7, 6. 8). Es wird die Zeit kommen, daß er in feierlichem Festzuge seine königliche Residenz betreten wird, jetzt ist dieser Zeitpunkt noch nicht da, deshalb geht er jetzt nicht mit dem wallenden Haufen (s. Ps. 42, 5), sondern in stiller Verborgenheit nach Jerusalem (s. Joh. 7, 10). Er geht also ein in seines Volkes Sitte, aber in einer Weise, wie es seiner damaligen Lage genau entsprechend war. In diesem hellen Lichte seines sittlichen Bewußtseins kann der Gedanke an die Todesgefahr in Jerusalem ihn nicht bestimmen, seine Festreisen zu unterlassen, noch auch in Jerusalem von dem Thun des ihm aufgetragenen Werkes irgendwie abzulassen. Er weiß sich hier auf den Wegen seines Berufes, er weiß, daß sein Wirken noch nicht vollendet ist, darum darf er darauf vertrauen, daß er auf diesen Wegen geschirmt ist von den Engeln seines Vaters, darum mögen die Häscher kommen, mögen die Juden Steine aufheben, Niemand wird ihm mitten in seinem Wirken die Hand anlegen dürfen. Wenn nun Johannes, wie gesagt, die Errettung Jesu in Jerusalem zweimal mit der Bemerkung erklärt: „seine Stunde war noch nicht gekommen,“ so will er uns aufmerksam machen, daß die Lebensgefahr Jesu so groß gewesen sei, daß die Errettung auf göttliche Vorsehung zurückgeführt werden müsse. Es wäre aber durchaus gegen den Sinn des heiligen Apostels, der die Christen vor den Götzen warnt (s. 1 Joh. 5, 21), wenn wir diese Vorsehung irgendwie fatalistisch denken wollten und das Vertrauen aus dieselbe in Jesu anders als sittlich vermittelt. So wenig also als das Bleiben Jesu in Galiläa gemein hat mit feiger selbstsüchtiger Klugheit, so wenig ist sein Gehen nach Jerusalem, sein Reden und Handeln mitten unter seinen Todfeinden ein tollkühnes Wagniß; in Beiden ist ein und derselbe heilige Wille, der lediglich auf das Vollbringen des göttlichen Werkes gerichtet ist, welcher deshalb das leibliche Leben nur kennt als Organ seiner selber und es demnach erhält, so lange es diesem Willen dient, und dagegen das Leben hingibt, sobald es nicht mehr durch Wirken, sondern nur durch Leiden dem heiligen Willen dienen kann. Das ist die wunderbare Einheit und Einfalt in dem Leben Jesu, des Sohnes Gottes, und nur in dem Maße als wir uns aus unserer Weltverstrickung zu dieser Einheit und Einfalt seines Sinnes und Geistes erheben lassen, verstehen wir die Fußstapfen seines heiligen Wandels und werden wir selber frei von den beschämenden und gefährlichen Schwankungen, denen sonst unser ganzes Leben und Denken nothwendig ausgesetzt ist. Wir betrachten nun zuvörderst das tatsächliche Auftreten Jesu in Jerusalem während der beiden erwähnten Festzeiten: nämlich sein Verhalten gegen die Ehebrecherin und die Heilung des Blindgeborenen. Beides wird uns aber vornehmlich deshalb berichtet, damit wir in den diese Handlungen Jesu begleitenden Umständen den Fortschritt der jüdischen Feindschaft in Jerusalem erkennen sollen. Was den bekannten Abschnitt von der Ehebrecherin anlangt (s. Joh. 7, 53 - 8, 11), so ist die kritische Beschaffenheit desselben ein Gegenstand der wissenschaftlichen Untersuchung, für unseren Zweck genügt es, zu bemerken, daß dieser Abschnitt von Alters her ein Stück unserer kanonischen Evangelien gewesen ist und daß die Wahrheit und Urkundlichkeit desselben durch den Inhalt selbst verbürgt ist. Während Jesus eines Tages im Verlauf des Hüttenfestes am frühen Morgen im Tempel saß und das versammelte Volk lehrte, bringen die Schriftgelehrten und Pharisäer ein Weib, das im Ehebruch ergriffen ist, und fragen Jesum, ob dasselbe nach dem Gesetze Moses gesteinigt werden solle. Die Sache war vom gesetzlichen Standpunkte aus sehr einfach: die That war unzweifelhaft und die Bestimmung der Strafe nach dem Gesetze ebenso außer allem Streit (s. 3 M. 20, 10). Andererseits wußten die Widersacher Jesu, daß er sich der Sünder anzunehmen pflegte, ihre Gesetzmäßigkeit dagegen verdächtigte und mit der schärfsten Rüge belegte (s. Matth. 9, 4-13. Luk. 10, 25-37. 15, 1-32. 18, 9-14). Dieser Fall war nun so angethan, daß die Fragsteller erwarten mußten, entweder würde Jesus dem Ansehen des Gesetzes zu nahe treten oder auch den Ruhm seiner Nachsicht und Milde verlieren. Die feindliche Absicht liegt also der verfänglichen Frage um so deutlicher zu Grunde, da für Jesum durchaus kein Ausweg übrig zu bleiben scheint. Was thut Jesus? Er geht zurück auf den ursprünglichen Sinn des Gesetzes über die Steinigung. Dieser Sinn ist offenbar der, daß wenn in einer Gemeinde eine Frevelthat begangen ist, die ganze Gemeinde sich als durch diese That befleckt anzusehen hat, so daß Jeder an seinem Theile sich von dieser Gesamtschuld zu reinigen habe. Dies geschieht so, daß Jeder durch das Wissen um die That seinen sittlichen Unwillen gegen die begangene Sünde dahin steigern soll, daß er an seinem Theil zum Vollzug der gerechten Strafe an dem Thäter mitwirkt. Die Todesstrafe des Frevels durch die Steinigung soll demnach in Israel nicht sowohl nach ihrer Außenseite als ein bloßes Ergebniß im äußeren Leben angesehen werden, sondern vielmehr nach ihrer Innenseite, nach ihrer Verursachung: die Todesstrafe soll durch die Steinigung, an der eben die ganze Gemeinde sich zu betheiligen hat, dargestellt werden, als die That des sittlichen Gesamtwillens, der sich lossagt von dem Willen des Sünders, indem er durch den Anblick seiner That gesteigert wird und sich in sich selber zusammennimmt. Die Schriftgelehrten und Pharisäer wissen von diesem Sinn und Geist des Gesetzes Nichts, ihnen ist das Gesetz immer nur der starre Buchstabe, indessen ein Gewissen haben sie doch noch. Freilich ist auch dieses tief verdeckt durch den Hochmuth der Selbstgerechtigkeit und arg verwirrt durch ihre Buchstabenweisheit, aber es steht vor ihnen der, in welchem der Geist des Gesetzes persönlich erschienen, der getrost in ihre Mitte hineinrufen kann: „wer unter euch zeihet mich einer Sünde?“ (s. Joh. 8, 46). Jesus, nachdem er zuerst bei ihrer verfänglichen Frage vor sich hinsieht und sich zur Erde neigt, während seine Widersacher nur um so mehr auf eine Antwort dringen, Jesus erhebt sich und spricht zu ihnen: „wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein auf die Sünderin.“ Wenn wir uns bei diesem Worte die ganze heilige Würde Jesu und die achtungerzwingende Gewalt seiner Erscheinung vergegenwärtigen, so können wir es begreifen, daß die Schriftgelehrten und Pharisäer plötzlich inne werden, daß das, was Jesus ausspricht, allerdings die stillschweigende, aber nothwendige Voraussetzung des Gesetzes ist. Sie werden um so mehr beschämt, da ihnen diese Wendung gänzlich überraschend kommt und sie aus der Burg ihres ganzen Gedankenkreises, in welchem sie sich so sicher wähnten, daß ihnen die Möglichkeit einer anderen Auffassung gänzlich undenkbar war, völlig hinauswirft. Beschämt und verwirrt schleichen sie sich weg. Damit ist nun nichts Geringeres an den Tag gekommen, als daß es an derjenigen sittlichen Voraussetzung, welche das Gesetz zum Vollzug der Strafe der Steinigung fordert, gegenwärtig in Israel fehlt, die Sünde hat sich so sehr vertieft und verallgemeinert, daß es an der nothwendigen sittlichen Reaction der Gemeinde fehlt, um sich der Gesamtschuld durch Bestrafung des offenbaren Sünders zu entledigen. Woraus sich dann weiter ergibt, daß, gäbe es keine andere Erledigung der offenbaren Sünde, als die von dem Gesetze vorgeschriebene, die Sünde nicht bloß das Gesetz besiegt hätte, sondern zugleich auch alle übrigen Heilswirkungen Gottes, Die göttliche Bürgschaft aber, daß es noch eine andere Erledigung der Sünde gibt, als die im Gesetz geordnete, ist die Persönlichkeit Jesu selber. Der evangelische Bericht erzählt, daß Jesus während der Verhandlung mit den Schriftgelehrten und den Pharisäern zweimal sich zur EM geneigt und mit den Fingern im Sande geschrieben hat. Was Anderes kann er geschrieben haben auf der Stäte, wo das Ende des geschriebenen Strafgesetzes zu Tage kommt, als das neue Gesetz, nach welchem die Sünde nicht gestraft, sondern vergeben werden soll, aber in dieser Vergebung wirklich gebrochen und entwurzelt wird, was durch die Strafe, wie sich hier ergibt, nicht erreicht worden war? Dieses Gesetz schreibt er in den Sand und nicht wiederum in Stein, denn sein Schreiben ist ein bloßes Symbol, seine Buchstaben mag der Wind verwehen, denn das neue Gesetz hat nicht wiederum eine Buchstabenschrift, seine Schrift ist eine lebendige, es ist die Liebe, das Wirken, das Leiden, das Sterben und endlich das Kreuz Christi selber. Dieses neue Gesetz offenbart hier Jesus sofort in seiner Lebensgestalt; er sagt zu dem Weibe: „wenn dich deine Verkläger nicht verurtheilt haben, so verurtheile ich dich auch nicht.“ Das ist der Sünderin klar geworden, Jesus dürfe den Stein auf sie werfen, nicht bloß nach dem Buchstaben, sondern auch nach dem Geist des Gesetzes; sie fühlt die ihre Sünde verdammende Heiligkeit dieser Persönlichkeit weit tiefer, als wenn alle Schriftgelehrten und Pharisäer sie zu Tode gesteinigt hätten. Sie kann deshalb die Vergebung ihrer Sünde, welche Jesus ihr verkündigt, nicht anders hinnehmen, als nachdem sie sich innerlich von ihrer Sünde losgesagt hat. Deshalb bedarf es auch für sie weiter keiner Weisung, als des Wortes Jesu: „gehe hin und sündige nicht wieder.“ Die Feinde Jesu hatten erwartet, Jesus müsse entweder das Gesetz Preis geben oder auch seine Milde gegen die Gefallenen fahren lassen. Jesus macht ihre kluge Rechnung zu Schanden, indem er zeigt, daß er das Gesetz weit besser kennt und lehrt als sie selber, und zugleich seine sündenvergebende Milde so offenbart, daß die richtende Schärfe gegen die Sünde wirksamer zu Tage kommt, als es die Strenge und Strafe des Gesetzes erreichen kann.

Während bei der Verhandlung wegen der Ehebrecherin die Feinde Jesu in ihrem Gewissen beschämt sich zurückziehen müssen, kommt bei der Heilung des Blindgeborenen das Gegentheil zum Vorschein. Hier ist wiederum wie bei der Heilung des Kranken von Betesda der Hauptumstand, daß die Heilung am Sabbat vollzogen ist (s. Joh. 9, 14. 16). Wir bemerken, daß der Grund, weshalb Jesus die jüdische Scrupulosität der Sabbatsheiligung auch diesmal verachtet, gerade derselbe ist, wie bei seiner früheren Wunderthat, durch welche er zum ersten Mal in Jerusalem die Feindschaft der Juden wider sich erweckte. Als er des Blindgeborenen ansichtig ward, sprach er jenes große Wort: „ich muß wirken die Werke dessen, der mich gesandt hat, so lange es Tag ist, es kommt die Nacht, da Niemand wirken kann.“ In diesem energischen Thatendrang ist es ihm eine reine Unnatur, aus Rücksicht auf die klägliche Befangenheit der Juden in ihren Sabbatsceremonien die Heilung etwa einen Tag aufzuschieben. Das Werk Gottes ist es, dessen Gedanken seine ganze Seele erfüllen, dieses Werk darf keinen Augenblick stille stehen, so lange der Tag des Wirkens scheint, und wenn ganz Jerusalem und Judäa sich daran ärgern sollte. Uebrigens kommt es diesmal zu keiner Verhandlung der Feinde mit Jesu selber, sondern nur mit dem Geheilten; es ist aber diese Verhandlung insofern merkwürdig, als es hier durch das immer weiter dringende Nachforschen der Pharisäer zu einer so zu sagen protokollarischen Sicherheit über den Thatbestand des Wunders vor den Augen der Feinde Jesu kommt. Daß sie sich nun dessenungeachtet allen darin liegenden Folgerungen, welche sie selber ziehen konnten, die aber zum Ueberflusse der Geheilte auf ihr Drängen eben so freimüthig wie verständig ihnen vorhält, entziehen und endlich in leidenschaftlicher Verbitterung die Verhandlung selber abbrechen (s. 9, 34), beweist augenscheinlich, daß sie entschlossen sind, nicht zu sehen und zu verstehen, daß sie also völlig verdient haben, daß ihnen Jesus das Aergerniß der Sabbatsheilung bereitet hat, damit diejenigen, welche vorgeben sehend zu sein, blind werden sollten, wie Jesus selber bei diesem Anlaß sich ausspricht (s. 9, 40. 41).

Was nun weiter die Unterredung Jesu mit den Juden während dieser Festzeiten anlangt, welche uns Johannes sehr sorgfältig mitgetheilt hat, so wollen wir uns daraus dasjenige merken, woran wir am deutlichsten die Fortschritte unserer Geschichte erkennen können. Zunächst haben wir zu beachten, wie es sich während dieser Anwesenheit Jesu schon deutlich herausstellt, daß er immer mehr der unvermeidliche Gegenstand der Aufmerksamkeit und des Nachdenkens im ganzen Volke wird. Noch ehe er zum Laubhüttenfest nach Jerusalem gekommen, fangen die Juden schon an nach ihm zu fragen und sprechen: „wo ist jener?“ Und Johannes fügt hinzu: „viel dumpfes Gerede über ihn war unter den Volkshaufen. Die Einen sagten: er ist gut, die Anderen sagten: nein, er verführt das Volk“ (s. Joh. 7, 11. 12). Jesus hat also die Offenbarung seiner Persönlichkeit unter seinem Volk bereits zu einer Klarheit und Macht gebracht, daß man nicht mehr an ihm vorübergehen kann, man muß sich über ihn ein Urtheil bilden. Zugleich aber zeigt sich, daß dieses Urtheil auf den sittlichen Kern seines Wesens gerichtet ist. Es ist dies durch die Art seiner Offenbarung bedingt, so Mancherlei auch immer von seinen Worten und Thaten zu berichten war, allen seinen Aeußerungen ist der innere Geist seines Lebens so tief eingeprägt, daß bei allen Sehenden und Hörenden immer der jedesmalige Gewissensstand das Urtheil schließlich bestimmen mußte. Darin ist es weiter begründet, daß die Urtheile auseinander gehen müssen, und zwar zum härtesten Widerspruch, so daß die indifferenten Gedanken über ihn immer mehr verdrängt werden. Es steht nun aber so, daß denjenigen, welche ihn des Aeußersten beschuldigen, der Verführung des Volks, also des falschen Prophetenthums, auf die Dauer nur Solche das Gleichgewicht halten können, welche ihn klar und fest für den Christ und den Sohn Gottes hielten. Deshalb liegt in dem Gegensatz der Urtheilenden, wie Johannes ihn an der genannten Stelle bezeichnet, gleich ein verhängnißvolles Zeichen. Diejenigen, welche sagen: „er ist gut,“ sind den Anderen, welche ihn als einen falschen Propheten anklagen, nicht gewachsen, entweder müssen sie in ihrer besseren Erkenntniß fortschreiten oder auch sie werden den Anklägern unterliegen müssen. Diese Erscheinung wird um so bedenklicher, da Johannes gleich hinzufügt: „Niemand jedoch sprach freimüthig über ihn aus Furcht vor den Juden.“ Wir sehen daraus, daß die ungünstige Stimmung und Meinung gegen Jesum in Jerusalem bereits ganz entschieden die Oberhand hatte; um so mehr sind Alle, welche sagen „er ist gut,“ der Gefahr ausgesetzt, diese bessere Ueberzeugung zu verlieren, wie denn überall Jeder, der seine bessere Einsicht aus irgend welcher Furcht nicht mehr freimüthig ausspricht, schon auf dem halben Wege ist, sie ganz einzubüßen.

Unter so bedrohlichen Zeichen tritt Jesus in Jerusalem ein. Es gehört aber zu den unvergleichlichen Eigentümlichkeiten unserer Geschichte, daß so sicher und fest, man möchte fast sagen so mathematisch die Gesetze ihres Fortganges walten, dennoch immer Raum bleibt für alle Modificationen, die in der menschlichen Möglichkeit angelegt sind. Einerseits ist in der israelitischen Nationalität eine unendliche Elasticität der Empfänglichkeit auf dem religiösen Gebiet, andererseits ist Jesus die unbegrenzte Liebesmacht, in ihm ruht das Vermögen ohne Maß, die leisesten Spuren der Empfänglichkeit für Gottes Offenbarungen wahrzunehmen und zu befriedigen, sowie alles Widerstreben gegen das göttliche Werk zu überwinden. Es ist demnach lehrreich, obwohl wir bereits übersehen können, zu welchem Ausgang alle Berührung Jesu mit den Juden kommen muß, die einzelnen Wendungen, welche dieses Verhältniß während jener Festzeiten nimmt, näher zu verfolgen.

Zunächst werden wir es unter den angegebenen Umständen natürlich finden, daß die Feindschaft der Volksführer gegen Jesum immer offener hervortrat. Es war bereits zu einer Verabredung gekommen, daß, wer Jesum für den Christ hielte, in den Bann gethan werden solle (s. Joh. 9, 22). Und nicht bloß der geheilte Blindgeborene, weil er auf seinen wunderkräftigen Wohlthäter nichts Böses kommen lassen wollte, wurde von den Synedristen brutal behandelt, sondern auch den Nikodemus, Einen aus ihrer eigenen Mitte, suchten sie zu terrorisieren, obwohl er für Jesum Nichts weiter verlangte, als die Anwendung der gesetzlichen Regel, daß Niemand verurtheilt werden solle, ohne gehört worden zu sein (s. Joh. 7, 50-52). Daß der Uebergang von solchen Demonstrationen zu dem Anfang und Ansatz zu Tätlichkeiten leicht gegeben war, läßt sich denken und hat sich uns schon oben bestätigt. Indessen die ganze Wucht dieser Feindschaft der höchsten Auctoritäten vermochte doch das Interesse des Volkes an Jesu nicht zu dämpfen. Fortwährend ward über seine Persönlichkeit disputiert und man suchte die verschiedenen Anschauungen über ihn zu begründen. Es gab Solche, welche unumwunden sagten: „dieser ist wahrlich der Prophet,“ Andere: „dieser ist der Christ“ (s. Joh. 7, 40. 41), wieder Andere: „wenn Christus kommt, wird er mehr Zeichen thun, als dieser gethan hat“ (s. 7, 31); nicht bloß wundert man sich über seine Schriftgelehrtheit (s. 7, 17), sondern selbst die Diener des Synedriums sprechen auch vor ihren Gebietern: „niemals hat ein Mensch also geredet, wie dieser Mensch“ (s. 7, 46), endlich sagen Viele: „Alles, was Johannes von diesem gesagt hat, das war wahr“ (s, 10, 41). Daß nun aber auch nicht bloß entgegengesetzte Urtheile auftauchen, sondern auch begründet werden, zeigt, daß man über den Gegenstand nachdachte. Einige sagten: „wird denn aus Galiläa Christus kommen? Spricht nicht die Schrift, daß er kommt aus dem Samen Davids und aus Betlehem, wo David war?“ (s. ?, 42). Aehnlich sagen die Synedristen zu Nikodemus: „bist auch du etwa aus Galiläa? Forsche nach und siehe, daß ein Prophet nicht aus Galiläa kommt“ (s. 7, 52); Andere wiederum: „von diesem wissen wir, von wannen er ist, wenn aber Christus kommen wird, weiß Niemand, von wannen er ist“ (s. 7, 27). Diese Argumente ruhen sämmtlich auf richtiger Schriftkenntniß, sie führen aber irre, weil ihnen die richtige Kunde von den Thatsachen der Geschichte Jesu abgeht. Dabei ist es lehrreich, daß Jesus nicht darauf ausgeht, die factischen Irrthümer zu berichtigen, um die vorhandene Schrifterkenntniß sofort zu einem Beweis für seine Messianität umzuwandeln. Es ist uns dies wiederum eine Bestätigung für unsere auch sonst schon gemachte Wahrnehmung, daß weder die Correctheit der christologischen Begriffe so förderlich ist, noch auch die Incorrectheit derselben so hinderlich, wie der theologische Doctrinärismus sich so leicht einredet. Der unmittelbare Eindruck der Persönlichkeit Jesu ist von Anfang her bis zu Ende hinaus das Entscheidende, erwehrt man sich desselben, so helfen alle noch so richtigen Begriffe Nichts, gibt man sich demselben hin, so werden falsche Vorstellungen leicht und gründlich corrigiert. Darum sind auch die sonst so lobenswerthen christologischen Arbeiten der letzten Jahrzehende so überaus unfruchtbar geblieben, weil sie es mit dem geschichtlichen Grunde aller wahren Christologie viel zu leicht nahmen.

An der persönlichen Bezeugung läßt es Jesus nicht fehlen und zwar durch das unmittelbarste Organ derselben, durch das freie öffentliche Wort. Im Tempel tritt er auf und lehrt das festlich versammelte Volk freimüthig und mit lauter Stimme (s. 7, 14. 26. 28, 37. 8, 20. 10, 23). Denen zwar, welche ein Selbstbekenntniß in einer bestimmten und allgemeinen Formel von ihm verlangen, weicht er aus (s. 8, 25. 10, 24. 25); sein Bekenntniß ist immer ein lebensmäßiges, in engem Anschluß an die jedesmaligen Umstände und Verhältnisse stehendes, nicht ein abstract articuliertes und formuliertes. Vor Allem bezeugt er den Juden, daß das ihm innewohnende göttliche Wesen die wesentliche Gemeinschaft mit Gott, seinem himmlischen Vater ist, wohin namentlich die beiden bekannten Worte gehören: „ehe denn Abraham war, bin ich“ (s. 8,58), und: „ich und der Vater sind Eins“ (s. 10,30). Wir haben nun schon früher gesehen, daß die Feindschaft der Juden durch Nichts mehr entflammt wird als durch die Selbstzeugnisse Jesu von seinem göttlichen Wesen, weil, wenn diese Selbstzeugnisse galten, alle Heiligthümer Israels in Jesu wahrhaft beschlossen sind, mithin der Eifer der Juden für Sabbat, Tempel und Gesetz, den sie Jesu entgegensetzen, nicht bloß völlig nichtig, sondern sogar ein Kampf wider Gott ist. Dasselbe finden wir auch in dem vorliegenden Zusammenhang; die Juden sprechen unter Anderem zu Jesu Folgendes: „wegen eines guten Werkes steinigen wir dich nicht, sondern wegen einer Gotteslästerung, daß du ein Mensch bist und machst dich zu Gott“ (s. 10, 33).

Von dem wesentlichen hier enthaltenen Fortschritte unserer Geschichte gewinnen wir aber erst dann eine Anschauung, wenn wir sehen, wie Jesus vor der wachsenden Feindschaft der Juden nicht bloß nicht zurückweicht, sondern ihr eine desto höhere Kraft seines Willens und seiner Liebe entgegensetzt und sie dadurch überwindet. In dieser Beziehung ist zu merken, daß Jesus bei dem immer stärkeren Hervortreten der feindlichen Stimmung in Jerusalem den ungöttlichen und widergöttlichen Stand der Juden immer unverhohlener ausspricht. Er ermahnt sie mit Rücksicht auf ihre fleischlichen Vorurtheile: „ihr richtet nach dem Fleische, ich richte Niemand“ (s. 8, 15), „richtet nicht nach dem Augenschein, sondern richtet ein rechtes Gericht“ (s. 7, 24); er sagt ihnen: „Mose hat euch das Gesetz gegeben, aber Niemand von euch hält das Gesetz“ (s. 7, 19); er bezichtigt sie der Lügenhaftigkeit, denn sie nennen Abraham ihren Vater und berufen sich auf Gott als ihren Vater, aber sie thun nicht Abrahams Werke und Gott kennen sie nicht (s. 8, 54), „ich dagegen, fährt Jesus fort, wenn ich sagte, ich kenne ihn nicht, würde ich sein wie ihr, nämlich ein Lügner, aber ich kenne ihn und halte sein Wort“ (s. 8, 55), „ihr seid vom Vater dem Teufel und die Gelüste eures Vaters wollet ihr thun“ (s. 8, 44); und nach diesem Anfang und Ursprung ihres Wesens wird auch ihr Ende sein. „Weil ihr sprechet, wir sind sehend, bleibet eure Sünde“ (s. 9, 41); dreimal sagt Jesus den Juden: „ihr werdet sterben in euren Sünden“ (s. 8, 21. 24). Sowie nun Jesus dem widergöttlichen Ursprung des in den Juden waltenden Wesens seinen göttlichen Ursprung entgegenhält, so weist er auch im Gegensatze zu dem endlichen Verderben der Juden auf sein eigenes Ende hin und eben in diesen immer deutlicher werdenden Hinweisungen auf seinen schließlichen Ausgang feiert seine alle Sünde und Feindschaft überwindende Liebe schon jetzt ihren herrlichen Triumph. Jesus bezeugt den Juden: „eine kleine Zeit noch bin ich bei euch, dann gehe ich zu dem, der mich gesandt hat, ihr werdet mich suchen und werdet mich nicht finden, und wo ich bin, könnet ihr nicht hingelangen“ (s. 7,33. 34). Obwohl die Juden diese Aussage Jesu auf die wunderlichste und gehässigste Weise mißverstehen (s. 7, 35. 8, 22), so beharret Jesus dabei, ihrem Untergang in Sünden seinen Aufgang zum himmlischen Vater gegenüberzustellen, er unterläßt aber nicht, schon jetzt diesen Aufgang zu seinem Vater als durch sein Sterben vermittelt darzustellen, und dieses sein Sterben bezeichnet er als bewirkt durch die Hand seiner vor ihm stehenden Feinde. Denn er sagt den Juden: „wenn ihr mich werdet erhöhen, dann werdet ihr erkennen, daß ich es bin“ (s. 8, 28). Auch über den Sinn und die Absicht dieses seines Sterbens gibt er ihnen schon jetzt Aufschluß. Er bezeugt den Juden, haß er trotz der allgemeinen und heftigen Feindschaft, welche er unter ihnen erleidet, auch Solche finde und habe, welche ihm treu ergeben sind, welche seine Stimme hören und vor jeder anderen Stimme fliehen (s. 10, 3-5. 14. 15). In der That erreicht es Jesus durch seine Selbstbezeugungen mitten unter den Ausbrüchen der jüdischen Feindschaft, daß ihm nicht Wenige zufallen; und ist dies ein um so erfreulicheres Zeichen, daß es jetzt nicht sowohl seine Wunderkraft ist, wie bei seiner ersten Anwesenheit in Jerusalem, sondern vorzugsweise seine Selbstoffenbarung in dem Zeugniß seiner Worte, welches diese anziehende und gewinnende Wirkung ausübt. Nicht bloß der geheilte Blindgeborene betet ihn an als den Sohn Gottes (s. 9, 35-38), nicht bloß Nikodemus, der einst aus Furcht vor seinen Genossen bei Nachtzeit zu Jesu ging, wagt in einer Versammlung von Volksobersten ein Wort für Jesum einzulegen (s. 7, 50-52); sondern Johannes bemerkt in unserem Abschnitt bei den verschiedenen Anlässen, daß Viele an Jesum gläubig wurden (s. 7, 40. 8, 30. 16, 42). Wenn Jesus also von den Seinen redet, so wissen die Juden aus eigener und unmittelbarer Wahrnehmung, was er meint. Zwar unterläßt er nicht ausdrücklich zu bemerken, daß seine Jünger erst in der Zukunft ihre Vollkommenheit erlangen werden. Er sagt: „wer an mich glaubt, von dessen Leibe werden Ströme des lebendigen Wassers fließen“, und Johannes fügt hinzu, das habe er gesagt von der Kraft des heiligen Geistes, der aber noch nicht wirksam gewesen sei, so lange Jesus noch nicht verklärt war. Ebenso sagt er bei einer anderen Gelegenheit zu den an ihn Glaubenden: „wenn ihr bleiben werdet in meinem Worte, so seid ihr in Wahrheit meine Jünger und ihr werdet die Wahrheit erkennen und die Wahrheit wird euch frei machen“ (s. 8, 30-32). Es ist also auch für den Glaubenden die Erkenntniß der Wahrheit und die Erlangung der Freiheit noch eine Zukunft. Eben diese Aussagen über den unvollkommenen Stand der Seinen geben aber neues Licht über das, was er von seiner eigenen nächsten Zukunft, von seinem Ende sagt. Er beschreibt die Schaar der Seinen als eine Heerde Schafe, welche dem Angriff des Wolfes bloßgestellt ist. Er selber nun ist der treue Hirte dieser Schafe, der nicht wie ein Miethling vor dem Wolfe flieht und die Schafe preisgibt, sondern sein Leben für die Schafe einsetzt. Bei diesem Gleichniß ist nun das Besonderste und Merkwürdigste, daß der Hirte nicht bloß sein Leben wagt, sondern, wie Jesus wiederholt sagt, sein Leben verliert (s. 10, 15-18). Man sollte nämlich erwarten, daß der treue Hirte, wenn er sich auch in Lebensgefahr begibt, den Wolf erlegen würde und dadurch sich und die Heerde sicher stellen. Nach dem Gleichniß dagegen behält der Wolf äußerlich die Oberhand und der Hirte erliegt seinem Wahn. Worin besteht denn aber die Errettung der Heerde durch den treuen Hirten? Wodurch unterscheidet sich die Wirkung seiner Treue von der Wirkung der Flucht des Miethlings? Daß die Heerde wirklich gerettet wird, ist die stillschweigende Voraussetzung. Von sich selber sagt der treue Hirte, daß, weil er sein Leben in völliger Freiheit lasse und hingebe, er eben so die Freiheit und Macht habe, es wieder zu empfangen. Der freiwillige Tod ist also nicht sein Untergang, sondern der Anfang eines neuen, ja eines höheren Lebens und zwar für seine Heerde. Er spricht nämlich noch von anderen Schafen, die der gegenwärtigen Heerde nicht angehören. Dieselben wird er herführen, sagt er, und kann damit, da er mit dem gegenwärtigen Leben eben an den gegenwärtigen Bestand seiner Heerde gebunden ist, wohl nur eine Thätigkeit in dem neu empfangenen Leben meinen; und dieser Thätigkeit schreibt er sodann die völlige Vereinigung der gesammten Heerde unter einem Hirten zu. Damit ist so viel klar, daß er freiwillig sein Leben der Macht und Gewalt der Feindschaft zum Opfer bringen wird. Eine Veränderung in der äußeren Welt wird dadurch nicht erreicht, die Macht der Feindschaft bleibt in der Welt von Bestand und die Heerde ist nach wie vor ihrer Gewalt bloßgestellt. Aber innerlich ist eine große Wirkung erfolgt, in dem Sterben des guten Hirten hat sich seine Treue und Liebe vollendet und darum ist sein Sterben das Gelangen zu Gott dem Vater und der Anfang eines neuen übermächtigen Lebens. Und da die Seinen mit ihm in einem inneren Verhältniß stehen, „ich kenne die Meinen und werde gekannt von den Meinen,“ sagt er (s. 10, 14), so erkennen sie in seinem Sterben die Vollendung seiner Treue und Liebe und treten in geistigen Zusammenhang mit seinem überweltlichen, himmlischen Leben; und darin vollendet sich das, was in ihnen jetzt unvollkommen ist, sie empfangen den Geist, der auch ihren Leib zum Werkzeug der Verbreitung des göttlichen Lebens macht, der sie in die volle Wahrheit und Freiheit führt. Und damit erlangen sie die Kraft, durch welche sie, wenn auch in der äußeren Welt gefährdet, ja wenn auch der Gewalt unterliegend, doch innerlich siegend von Stufe zu Stufe aus der Welt zu Gott gelangen, indem sie bereits innerhalb der Welt immer mehr von den fleischlichen Gegensätzen gelöset und gereiniget zu einer lebensvollen Einheit und Gemeinschaft hinankommen.

Mit dieser Aussicht also auf einen letzten Kampf, in welchem Jesus unterliegend siegen und die Seinen vollenden wird, schließen diese Kämpfe Jesu in Jerusalem.

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