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Bacon, Francis - Von der Wahrheit.

Bacon, Francis - Von der Wahrheit.

„Was ist Wahrheit?“ fragte Pilatus scherzend, und wartete die Antwort nicht ab1). Fürwahr, es gibt Menschen, die an Wandelbarkeit Vergnügen finden und es für Knechtschaft halten, sich einer Überzeugung anzubequemen, indem sie freien Willen sowohl im Denken wie im Handeln begehren. Wiewohl nun die Sekten der Philosophen dieses Schlages2) aufgehört haben, so gibt es doch noch gewisse spitzfindige Schwätzer mit derselben Ader, wenn auch nicht so vollblütig wie ihre Vorgänger. Allein weder die Schwierigkeit und Mühe, die Wahrheit zu erforschen, noch dass sie, wenn sie gefunden ist, den Sinn der Menschen beherrscht, ist es was die Lüge in Gunst bringt: sondern eine natürliche, wiewohl verderbliche Liebe zur Lüge selbst. Einer aus den späteren Schulen der Griechen, der den Gegenstand untersucht, weiß sich nicht zu deuten, woran es liegen sollte, dass der Mensch die Lüge liebt, wo sie weder Vergnügen gewährt, wie den Dichtern, noch Vorteil, wie den Kaufleuten, sondern um der Lüge selbst willen. Aber ich weiß es nicht; diese Wahrheit ist eben ein nacktes und helles Tageslicht, welches die Masken, Mummereien3) und Gepränge der Welt nicht halb so fein und stattlich zeigt wie Kerzenlicht. Die Wahrheit steigt wohl bis zum Preis einer Perle, die sich am schönsten bei Tage ausnimmt; doch erreicht sie nimmer den Preis eines Diamanten oder Karfunkels, welche sich am besten in schimmerndem Licht betrachten lassen. Eine Beimischung von Lüge erhöht stets das Vergnügen. Kann Jemand bezweifeln, dass wenn aus dem Gemüte der Menschen all ihr Eigendünkel, ihre schmeichelnden Hoffnungen, ihre falschen Urteile, Einbildungen und dergleichen verschwänden, dann dasjenige einer großen Anzahl von Menschen Nichts als ein armseliges verschrumpftes Ding bleiben würde, voller Schwermut und Verdruss, und ihnen selbst zum Ekel? Einer der Väter nannte die Poesie mit großer Strenge „vinum daemonum“4), weil sie die Einbildungskraft hinreißt, und doch geschieht Dies nur mit dem Schatten einer Lüge. Allein nicht die Lüge, die durch das Gemüt hindurchzieht, sondern diejenige, welche sich hineinsenkt und festsetzt, ist es, welche den Schaden anrichtet, von dem wir vorhin sprachen. Indessen, obschon diese Dinge einmal so in den verderbten Urteilen und Neigungen der Menschen bestehen, so lehrt doch die Wahrheit, die allein sich selbst beurteilt, dass die Forschung nach Wahrheit, welche die Werbung um sie; die Erkenntnis der Wahrheit, welche die Vermählung mit ihr; und die Überzeugung von der Wahrheit, welche ihr Besitz ist die vornehmsten Güter der Menschennatur sind. Die erste Schöpfung Gottes in den Werken der Tage war das Licht des Geistes5), die letzte war das Licht der Vernunft6), und von der Zeit an ist sein Sabbatwerk immerdar die Erleuchtung seines Geistes gewesen. Zuerst hauchte er Licht auf die Oberfläche des Stoffes oder Chaos; sodann hauchte er Licht auf das Angesicht des Menschen, und immer noch haucht und ergießt er sein Licht auf das Angesicht seines Auserwählten. Jener Dichter, welcher die Sekte verherrlichte, die eigentlich noch wertloser war als alle übrigen, sagt dennoch vortrefflicher Weise: „Es ist eine Lust, am Ufer stehend, die Schiffe auf der See umherschleudern zu sehen; eine Lust, am Fenster einer Burg zu stehen, und eine Schlacht und ihre Gefahren mit anzuschauen: doch keine Lust ist derjenigen vergleichbar, auf dem sicheren Boden der Wahrheit zu stehen“ (eines unabsehbaren Hügels, auf dem die Luft stets klar und heiter ist) „und die Irrtümer und Unbeständigkeiten, die Nebel und Stürme drunten zu erblicken“7) - in solcher Weise freilich, dass dieser Anblick mit Mitgefühl, nicht aber mit Schadenfreude oder Stolz verknüpft sei. Wahrlich, es ist der Himmel auf Erden, wenn eines Menschen Gemüt sich in Barmherzigkeit rührt, auf die Vorsehung vertraut, und sich auf den Polen der Wahrheit bewegt.

Um nun von der theologischen und philosophischen Wahrheit auf bürgerliche Angelegenheiten überzugehen, so muss eingeräumt werden, - selbst von Denen, die ihn nicht üben, - dass gerader und offener Verkehr die Ehre des menschlichen Charakters, und jene Mischung von Betrug gleich dem Zusatz in Gold- und Silbermünzen ist, der zwar das Metall zum Verarbeiten geschickter macht, aber es verschlechtert. Denn diese gewundenen und krummen Wege sind wie das Kriechen der Schlange, welche sich niedrig auf dem Bauch und nicht auf den Füßen bewegt. Kein Laster gibt es, das den Menschen so sehr mit Schimpf bedeckt, als falsch und verräterisch befunden zu werden; und deswegen sagt Montaigne8) hübsch, da er der Ursache nachforscht, weshalb die Lüge eine so große Schmach und ein so hassenswertes Laster sei, so sagt er: „Wenn man es wohl erwägt, zu sagen, dass Jemand lügt, heißt soviel als ob man sagte, er sei trotzig vor Gott und ein Feigling vor Menschen, denn eine Lüge bietet Gott Trotz und erbebt vor Menschen“9). Fürwahr, Bosheit, Treulosigkeit und Verräterei können unmöglich nachdrücklicher gezeichnet werden als dadurch, dass sie der letzte Ruf sein werden, um Gottes Gericht auf die Geschlechter der Menschheit zu entbieten; denn es ward prophezeit, dass, wann „Christus erscheine, er keine Treue auf Erden finden werde“10).

1)
Evangelium Johannis, XVIII,38
2)
Die Sophisten, zur Zeit des Sokrates und Plato in größter Blüte
3)
daher auch das Wort „Mummenschanz“
4)
Der Wein der Dämonen, der bösen Geister
5)
1. Buch Mosis, I,3.
6)
1. Buch Mosis, II,7.
7)
Der von Bacon zitierte Dichter ist Lucretius Carus (92-45 v. Chr.), welcher der Schule der Epikuräer angehörte. Die Stelle ist übrigens nicht genau wiedergegeben, weil wahrscheinlich aus dem Gedächtnis niedergeschrieben, was Bacon häufig zu tun pflegte.
8)
Einige in diesem Essay enthaltene Gleichnisse hat Bacon seinem Vorgänger, dem französischen Essayisten Michel de Montaigne (1533 - 1592), entlehnt. In dessen Essay: „Wir genießen Nichts ungetrübt“, heißt es am Eingange: „Die Gebrechlichkeit unseres Wesens bedingt, dass wir Nichts in seiner ursprünglichen Einfachheit und Reinheit benutzen können; die Elemente, in deren Genuss wir leben, ja selbst die Metalle, werden verändert, und das Gold muss durch irgend eine Beimischung verschlechtert werden, um es unserm Gebrauch anzupassen.“
9)
Montaignes Essay „Vom Leugnen“: „Das Lügen ist ein schändliches Laster, das Einer der Alten (Plutarch) in den hässlichsten Farben malt, indem er sagt, dass es die Verachtung Gottes neben der Furcht vor den Menschen bekundet. Es ist unmöglich, das Abschreckende, Abscheuliche und Verworfene seines Wesens glücklicher zu kennzeichnen; denn was kann man sich Elenderes vorstellen als Jemanden, der, feige vor Menschen, seinem Schöpfer Trotz bietet ?“
10)
Evangelium Lucä, XVIII,8.
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