Aurelius Augustinus - Bekenntnisse - 11. Buch

Aurelius Augustinus - Bekenntnisse - 11. Buch

Erstes Kapitel

Bist du, o Herr, da die Ewigkeit dein ist, wohl unkundig denen, das ich dir sage, oder siehst du erst zur Zeit, was in der Zeit geschieht? Warum erzähle ich dir erst so vieles? Sicherlich nicht, dass du sie durch mich erführst, sondern ich erhebe mein Herz zu dir und die Herzen meiner Leser, auf dass wir alle sprechen: „Der Herr ist groß und hoch zu loben.“ Ich habe es gesagt und werde es nochmals sagen: „Aus Liebe zu deiner Liebe tue ich es.“ Denn wir beten ja auch zu dir, obwohl die Wahrheit sagt: „Euer Vater weiß, was ihr bedürfet, ehe denn ihr ihn bittet.“ Um unsere Hingebung dir kundzutun, bekennen wir dir unser Elend und deine Barmherzigkeit über uns, auf dass du uns gänzlich befreitest, wie du es begonnen hattest, damit wir aufhörten, in uns elend zu sein und selig wären in dir; denn du hast uns berufen, dass wir geistlich arm seien, sanftmütig, Leid tragen und hungern und dürsten nach der Gerechtigkeit, barmherzig, reinen Herzens, friedfertig. Siehe, vieles habe ich dir nach bestem Wissen und Wollen erzählt; denn du wolltest es zuerst, dass ich dir mein Gott und Herr bekennete, denn du bist freundlich und deine Güte währet ewiglich.

Zweites Kapitel

Wann aber werde ich dem Bedürfnis Genüge leisten können, durch die Sprache der Feder alle deine Mahnungen, alle deine Schrecknisse, allen Trost und Führungen mitzuteilen, durch die du mich dazu bewogen hast, dein Wort zu verkündigen und dein Sakrament deinem Volke zu spenden? Und wenn ich wirklich imstande wäre, es der Reihe nach mitzuteilen, so sind mir doch die wenigen Augenblicke zu kostbar. Längst entbrenne ich, über dein Gesetz Betrachtungen anzustellen und dir darin meine Kenntnis und Unkenntnis, die Anfänge deiner Erleuchtung und den Rest meiner Finsternis zu bekennen, bis die Schwäche von der Stärke verzehrt wird. Ich will nicht, dass die Stunden, die mir zu Gebote stehen und frei sind von der Sorge der Erholung und der Anstrengung des Geistes und den Diensten, welche wir unsern Nebenmenschen schulden, und denen, welche wir, auch ohne sie schuldig zu sein, doch leisten, mit einer etwas andern Beschäftigung verfließen. Herr, mein Gott, merke auf mein Flehen und deine Barmherzigkeit erhöre mein Sehnen; denn nicht allein für mich erglüht es, sondern der Bruderliebe will sie dienen, und du erkennest, dass es mein Herz so meint. Gern weihte ich dir den Dienst meines Denkens und meiner Zunge, gib, was ich dir darbringen will. Denn ich bin elend und arm, du bist reich über alle, die dich anrufen, der du fern von Sorgen für uns sorgst. Beschneide von aller Vermessenheit und Lüge die Lippen meines Mundes und meines Herzens. Möge deine Schrift meine keusche Wonne sein, auf dass ich mich nicht irre noch andere irreleite; Herr, höre mich und erbarme dich, Herr, mein Gott, du Licht der Blinden und Kraft der Schwachen und dem sogleich Licht der Sehenden und Kraft der Starken, merke auf meine Seele und höre die Stimme des Rufenden aus der Tiefe. Denn wäre dein Ohr nicht auch in der Tiefe, wohin sollten wir dann gehen, wohin sollten wir nach dir rufen? Tag und Nacht sind dein, auf deinen Wink fliegen Augenblicke vorüber. Gewähre mir aus ihnen die Zeit, mit meinen Gedanken in die Geheimnisse deines Gesetzes einzudringen, und verschließe es denen nicht, die anklopfen. Du hast nicht gewollt, dass die dunkeln Geheimnisse so vieler Seiten umsonst geschrieben würden, oder haben nicht auch jene Wälder ihre Hirsche, die sich zurückziehen, ruhen, umherstreifen und weiden, sich niederlegen und wiederkäuen? O Herr, vollende mich, enthülle mir sie. Siehe, deine Stimme ist meine Freude, deine Stimme ist mir mehr als alle Wonne der Lust. Gib mir, was ich liebe; denn ich liebe; und du hast mir dies gegeben. Gib nicht dafür deine Gaben und verachte nicht dein dürstendes Kräutlein. ich will dir alles bekennen, was ich in deinen Büchern finden werde und ich will hören die Stimme des Dankes und will dich schlürfen und betrachten die Wunder an deinem Gesetze, von dem Anfange, wo du Himmel und Erde schufest bis dahin, wo wir in deiner heiligen Stadt ewiglich mit dir herrschen werden.

Herr, erbarme dich meiner und erhöre mein sehnendes Flehen. Denn ich glaube, es verlangt nicht nach dem, was von dieser Welt, nicht nach Gold und Silber und Edelgestein und Kleiderschmuck, nicht nach Ehre und Macht und fleischlichen Genüssen, nicht nach den Bedürfnissen des Leibes und Lebens unserer irdischen Pilgerfahrt, das uns alles zufallen wird, wenn wir nach dem Reiche Gottes und nach seiner Gerechtigkeit trachten. Siehe, Herr, mein Gott, woher mein Verlangen stammt. Die Stolzen graben mir Gruben, die nicht sind nach deinem Gesetze, O Herr. Siehe also, woher mein Verlangen stammt. Siehe, o Vater, und schaue auf mich, siehe es an und billige es, Gnade möge ich finden im Angesicht deiner Barmherzigkeit, dass uns eröffnet werden die inneren Tiefen deiner Worte, wenn ich sie betreten will. Ich flehe dich an im Namen unseres Herrn Jesu Christi, deines Sohnes, des Mannes deiner Rechten, des Menschensohnes, den du zum Mittler zwischen dir und uns gemacht hast; durch den du uns aufgesucht hast, als wir dich noch nicht suchten, durch den du uns aber aufsuchtest, auf dass wir dich suchten. Dein Wort, durch das du alles geschaffen hast und mich auch darunter; deinen Eingeborenen, durch den du berufen hast das Volk deiner Gläubigen zur Kindschaft, wozu auch ich gehöre, durch dies flehe dich ich an, der zur Rechten Gottes sitzt und uns vertritt; in welchem verborgen liegen alle Schätze der Weisheit und der Erkenntnis. Diese suche ich in deiner Schrift. Moses hat von Ihm geschrieben, das sagt er selbst, das sagt die Wahrheit. ===== Drittes Kapitel ==c Hören will ich und verstehen, wie du im Anfang Himmel und Erde geschaffen hast. Dies schrieb Moses, er schrieb es und ging hinweg und ging von dir zu dir, dann jetzt ist er nicht mehr vor mir. Wäre er noch hier, dann würde ich ihn halten und ihn bitten und bei dir beschwören, dass er mir dieses enthüllte; und ich würde das Ohr meines Leibes den Worten leihen, die aus seinem Munde hervorströmten. Redete er in hebräischer Sprache, so würde es vergebens zu meinem Sinn dringen, und nichts davon würde meinen Geist berühren; spräche er aber lateinisch, dann würde ich seine Worte verstehen. Woher aber sollte ich wissen, ob er auch die Wahrheit spräche? Wüsste ich auch dieses, würde ich es von ihm wissen? In meinem Innern, innen in der Wohnstätte der Gedanken würde keine hebräische, keine griechische, keine lateinische, keine fremde Sprache mir ohne die Werkzeuge der Zunge und des Mundes, ohne den Klang der Silben mir sagen - „Er redet die Wahrheit“. und ich würde dann gewiss sogleich vertrauensvoll zu jenem Manne sagen: „Du sprichst die Wahrheit“ Da ich ihn nun nicht fragen kann, so bitte ich dich, dich, von dem er erfüllt die Wahrheit sagte, dich mein Gott, dich bitte ich, schone meiner Sünden, und du, der du jenem deinem Knechte verliehen hast, so zu reden, gib auch mir solche Erkenntnis.

Viertes Kapitel

Siehe Himmel und Erde sie sind: sie sagen, dass sie geschaffen sind; denn sie verändern und verwandeln sich. Was aber nicht geschaffen ist Und doch ist, an dem ist nichts, was vorher nicht war, was verwandelt und verändert werden konnte. Sie sagen aber ferner auch, dass sie sich nicht selbst geschaffen haben: Wir sind deshalb, weil wir geschaffen worden sind; bevor wir da waren, waren wir nicht, so dass wir nicht von uns selbst geschaffen werden konnten. Und die Stimme derer, die dies sagen, ist der Beweis selbst. Du, o Herr, hast sie geschaffen, der du schön bist, denn sie sind schön; der du gut bist, denn sie sind gut; der du bist, denn sie sind. Nicht aber sind sie so schön, nicht aber sie so gut wie du, ihr Schöpfer; mit dir verglichen sind sie nicht schön, nicht gut, sind sie überhaupt nicht. Wir wissen dies und danken dir. Und unser Wissen mit deinem Wissen verglichen ist Nichtwissen.

Fünftes Kapitel

Wie aber hast du Himmel und Erde geschaffen und welches war das Werkzeug deines so großen Werkes? Denn nicht wie ein menschlicher Künstler bildest du aus dem Einen etwas anderes, nach dem Gutdünken des Geistes, wenn er dem, was ihm in dem Geiste vorschwebt, Gestalt zu geben sucht. Und das vermag er doch auch nur, weil du ihn geschaffen hast. Er gibt dem vorhandenen Stoffe, der Erde, dem Stein, dem Holz, dem Gold oder irgendeiner andern Art Gestalt. Woher aber hätten diese Stoffe die Fähigkeit, wenn du sie nicht dazu bestimmt hättest? Du schufst dem Künstler den Leib, du schufst ihm den Geist, der den Gliedern gebietet, du schufst ihm den Stoff zu seiner Arbeit, das Talent, wodurch er die Kunst erfasst und innerlich schaut, was er äußerlich darstellen soll; du schufst ihm den Sinn für die Verhältnisse des Körpers, durch dessen Vermittlung er das, was er schafft, aus seines Geistes Tiefe auf den Stoff überträgt und der dem Geiste wiederum mitteilt, was geschehen ist, damit er die Wahrheit als entscheidende Richterin frage, ob es gut sei. Alles dies preist dich als den Schöpfer aller Dinge; aber wie schufst du sie? Wie schufst du, O Gott, Himmel und Erde? Du schufst nicht Himmel und Erde im Himmel und auf Erden noch in der Luft und im Gewässer, denn das gehört mit zum Himmel und der Erde, noch hast du das Weltall im Weltall geschaffen, denn es gab ja nichts, wo es hätte geschaffen werden können, bevor es geschaffen wurde, dass es war. Nichts hieltest du in der Hand, damit du hättest Himmel und Erde schaffen können, denn woher hättest du gehabt, was du nicht geschaffen hattest? Was gibt es denn, was du nicht bist? Deshalb hast du gesprochen und es ist geworden und in deinem Worte hast du es gemacht.

Sechstes Kapitel

Aber wie hast du gesprochen? Auf jene Weise vielleicht wie die Stimme aus den Wolken, die da sprach: Dies ist mein Sohn? Jene Stimme ertönte und vertönte, begann und endete. Die Silben erklangen und verklangen, die zweite folgte der ersten, die dritte der zweiten und so der Reihe nach bis zur letzten, Und nach der letzten trat Stillschweigen ein. Deshalb ist es klar und deutlich, dass sie von einer zeitlichen Bewegung, von einer Kreatur stammen musste, die deinem ewigen Willen diente. Und diese deine für den Augenblick geschaffenen Worte verkündete das äußere Ohr dem vernünftigen Geiste, dessen inneres Ohr dein ewiges Wort erkennt. Er aber verglich diese in der Zeit verschollenen Worte mit deinem ewigen in Stillschweigen gehüllten Worte und sprach: Es ist anders, ganz anders. Diese sind mir nicht ebenbürtig, sie sind überhaupt nicht, weil sie dahinfließen und vorübergehen. Das Wort meines Herrn aber über mir bleibet in Ewigkeit. Hättest du also mit erklingenden und verklingenden Worten gesagt: „Es werde Himmel und Erde“, und hättest du auf diese Weise Himmel und Erde erschaffen, dann wäre bereits vor Himmel und Erde eine Körperwelt vorhanden gewesen, durch deren zeitliche Bewegung zeitlich jene Stimme entsprang.

Vor Himmel und Erde aber war nichts Körperliches vorhanden, oder wenn es vorhanden war, so war es sicherlich ohne diese vorübergehende Stimme von dir geschaffen, damit du daraus eine flüchtige Stimme hervorbrächtest, mit der du sagen könntest: Es werde Himmel und Erde. Was es auch immer war, woraus du eine solche Stimme hervorgehen ließest, wäre es nicht von dir geschaffen, so könnte es überhaupt nicht sein. Mit welchem Wort sprachst du also, dass ein Körper entstände, aus dem solche Worte hervorgingen?

Siebentes Kapitel

O Gott, du rufst uns zur Erkenntnis des Wortes, das Gott ist bei dir, das von Ewigkeit gesprochen und durch das alle Dinge ewig gesprochen werden; dein Wort endet nicht und wird kein anderes gesprochen, damit das Ganze ausgesprochen werde, sondern es wird damit alles zugleich und von Ewigkeit her ausgesprochen; sonst wäre ja dort Wechsel und Zeit und keine wahre Ewigkeit noch wahre Unsterblichkeit. Dies erkenne ich, mein Gott, und danke dir dafür. Ich erkenne es, bekenne es dir, o Herr, und mit mir erkennt es und preist dich ein jeder, der gegen die gewisse Wahrheit nicht undankbar ist. Wir erkennen, Herr, wir erkennen, dass insofern etwas nicht mehr ist, was es früher war, und etwas ist, was es früher nicht war, es insoweit vergeht und entsteht. Deshalb findet sich in deinem Worte kein Vergang noch ein Fortgang, weil es wahrhaft unsterblich und reich ist. Du sprichst mit deinem Wort, das gleich dir ewig ist, zugleich und ewig alles, was du aussprichst, und alles, was du sagst, dass es werde, wird und nicht anders als durch dein Wort schaffst du und doch nicht zugleich und ewig werden alle Dinge, die du durch dein Wort schaffst.

Achtes Kapitel

Warum nur dies? frage ich dich, mein Gott und Herr: Ich erkenne wohl dies einigermaßen und doch weiß ich nicht, wie ich es anders sagen soll, als etwa so, dass aller Dasein anfängt und aufhört, dann zu sein anfängt und dann aufhört, wenn die ewige Vernunft, in der weder Anfang noch Ende ist, erkennt, dass es anfangen und enden soll. Dies aber ist dein Wort, welches auch der Anfang ist, weil es auch zu uns redet. So spricht es Fleisch geworden im Evangelium und es drang von außen zu den Ohren der Menschen, damit es Glauben finde und innerlich im verborgenen gesucht und in der ewigen Wahrheit gefunden würde, wo es als gütiger und alleiniger Lehrer alle Jünger unterweist. Wer uns aber nicht unterweist, wenn er redet, der redet nicht zu uns. Wer lehrt uns nun aber, wenn nicht die unvergängliche Weisheit? Denn wenn wir auch durch die dem Wandel unterworfene Kreatur ermahnt werden, so werden wir doch zur unwandelbaren Wahrheit geleitet, wo wir wahrhaftig lernen, wenn wir darin bestehen und ihn hören und uns hoch erfreuen an der Stimme des Bräutigams, indem wir uns dem zurückgeben, von dem wir das Dasein haben. Deshalb ist sie der Anfang, weil, wenn sie nicht unwandelbar wäre, wir im Falle des Irrtums zu ihr zurückkehren könnten. Wenn wir aber vom Irrtum zurückkehren, so geschieht es durch die Erkenntnis der Wahrheit, damit wir diese aber erkennen, lehrt sie uns, denn sie ist der Anfang und redet mit uns.

Neuntes Kapitel

In diesem Anfange schufst du, Gott, Himmel und Erde, in deinem Worte, in deinem Sohne, in deiner Kraft, in deiner Weisheit, in deiner Wahrheit, in wunderbarer Weise sprechend und auf wunderbare Weise schaffend. Wer wird es begreifen, wer wird es erzählen? Was ist das, was mir entgegenschimmert und mein Herz erschüttert, ohne es zu verletzten? Ich werde von Schauer ergriffen und ich erbebe vor Wonne, erschaudere, insoweit ich ihm unähnlich, und erglühe, insoweit ich ihm unähnlich bin. Die Weisheit, ja, die Weisheit selbst ist es, deren Strahlen mir entgegenleuchten und die den Nebel meiner Dunkelheit zerreißen, der mich wieder umhüllt, wenn ich mich von ihr mit Finsternis bedeckt und unter der Last meines Elends von ihr abwende; denn mein Leben hat so abgenommen an Kraft vor Betrübnis, dass ich selbst das Gute an mir nicht ertragen kann, bis du, o Herr, mir alle meine Sünde vergibst und heilest alle meine Gebrechen; der du mein Leben vom Verderben erlösest und mich krönest mit Gnade und Barmherzigkeit und mein Verlangen mit Gütern erfüllest, dass ich jung werde wie ein Adler. Denn wir sind nicht selig, doch in Hoffnung und deine Verheißung erwarten wir mit Geduld. Höre, was da kam auf die Stimme, die in unseren Herzen spricht; ich aber will zuversichtlich mit deines Propheten Worten rufen: Herr, wie sind deine Werke so groß und viel, du hast sie alle weislich geordnet. Sie ist der Anfang und in diesem Anfang schufest du Himmel und Erde.

Zehntes Kapitel

Sind nun jene nicht noch ganz erfüllt von ihren alten Irrtümern, die zu uns sagen: Was tat denn Gott, ehe er Himmel und Erde schuf? Wenn er bis dahin ruhete, sagen sie, und weiter nichts tat, warum war er so nicht immer und in der Folge, worin er auch vorher verblieben war. Wenn in Gott irgendeine neue Bewegung entstand und ein neuer Wille, um einem Geschöpfe das Dasein zu geben, das er zuvor noch nicht geschaffen hatte, ist denn das eine wahre Ewigkeit, in der ein Wille entsteht, der vorher noch nicht vorhanden war? Denn der Wille Gottes ist ja nicht ein Geschöpf, sondern er ist vor aller Kreatur, weil nichts geschaffen werden konnte, wenn nicht der Wille des Schöpfers vorhanden wäre; der Wille Gottes gehört also zum Wesen Gottes selbst. Wenn also etwas in Gottes Wesen entstand, was vorher nicht war, so könnte man jenes Wesen nicht mit Wahrheit ewig nennen, wenn aber der Wille Gottes, dass es eine Kreatur gebe, ewig war, warum soll denn nicht auch die Kreatur ewig sein?

Elftes Kapitel

Die, welche so reden, erkennen dich noch nicht, du Weisheit Gottes, Licht des Geistes; sie erkennen nicht, wie das geschieht, was durch dich und in dir geschieht, sie erdreisten sich, das Ewige verstehen zu wollen, aber ihr Herz flattert noch in den vergangenen und zukünftigen Bewegungen der Dinge und ist noch voll Eitelkeit. Wer wird es festhalten und zum Stillstand bewegen, damit es nur ein wenig den Glanz der immer stetigen Ewigkeit erfasse und ihn vergleiche mit der nie stetigen Zeit; und erkenne, dass sie unvergleichbar seien, und sehe, dass eine lange Zeit nicht lang werde als nur durch viele vorübergehende Augenblicke, die nicht zugleich verfließen können; dass aber in der Ewigkeit nichts vorübergehe, sondern in ihr alles stets gegenwärtig sei; dagegen keine Zeit ganz gegenwärtig sei; dass er sehe, wie alle Vergangenheit von der Zukunft verdrängt werde und alle Zukunft der Vergangenheit folge und alle Vergangenheit und Zukunft von der ewigen Gegenwart erschaffen werde und ausgehe? Wer wird. das Herz des Menschen festhalten, dass es stehe und in der Gegenwart fußend erkenne, wie es festgegründete, zukünftige und vergangene Zeiten bestimme, wie aber die Ewigkeit weder zukünftig noch vergangen ist. Vermag etwa meine Hand dieses, oder kann die Hand meines Mundes durch Worte ein so großes Werk vollbringen?

Zwölftes Kapitel

Siehe ich antworte dem, der da fragt: Was tat Gott, bevor er Himmel und Erde schuf? Ich gebe ihm nicht die Antwort, die einst jemand scherzweise gegeben haben soll, um der Schwierigkeit dieser Frage zu entgehen: „Er bereitet denen, die sich vermessen, jene hohen Geheimnisse zu ergründen, Höllen.“ Etwas anderes ist „wissen“ als „witzeln“, darum möchte ich diese Antwort nicht geben, lieber hätte ich geantwortet: Ich weiß nicht, was ich nicht weiß, als eine Antwort zu geben, die den zum Spott macht, der so Hohes erfragt, um dem nichtigen Spötter Lob einzubringen. Aber ich nenne dich, unsern Gott, den Schöpfer der ganzen Schöpfung. Und wenn man unter dem Namen Himmel und Erde die ganze Schöpfung versteht, so sage ich kühn: „Bevor Gott Himmel und Erde schuf, tat er nichts.“ Denn wenn er schaffte, was war's anders als ein Geschöpf? Wenn ich doch das, was ich zu meinem Nutzen zu wissen wünschte, so gut wüsste, wie ich weiß, dass kein Geschöpf geschaffen wurde, bevor eine Schöpfung stattfand. Wenn aber irgend jemandes schwärmerischer Sinn sich mit seiner Phantasie in vergangene Zeiten verliert und sich wundert, dass du, allmächtiger, alles erschaffender und alles erhaltender Gott, der Baumeister von Himmel und Erde, vor der Erschaffung dieses so großen Werkes unzählige Jahrhunderte geruht hast, ehe du es schufest, so möge er sich fassen und bedenken, dass er sich über Falsches wundere. Dem wie konnten unzählige Jahrhunderte vergehen, die du nicht geschaffen hättest, wenn du aller Jahrhunderte Urheber und Schöpfer bist? oder wie hätte Zeit sein können, die du nicht geschaffen hättest, und wie konnte sie vorübergehen, wem sie niemals war? Wenn du also der Schöpfer der Zeiten bist, und wenn es eine Zeit gab, bevor du Himmel und Erde erschufst, wie kann man dann sagen, du habest damals nicht gewirkt? Denn gerade diese Zeit ist es, die du geschaffen hattest, und es konnten keine Zeiten vorübergehen, bevor du die Zeit erschufst. Wenn es also vor Himmel und Erde keine Zeit gab, wie kann man dann fragen, was du damals machtest? Denn es war kein Damals, wo noch keine Zeit war.

Dreizehntes Kapitel

Du gehst nicht in der Zeit den Zeiten voran, sonst könntest du nicht aller Zeit vorausgehen. Aber du gehst in der Erhabenheit der stets gegenwärtigen Ewigkeit aller Vergangenheit voran und bist über alle Zukunft erhaben, weil sie eben zukünftig ist, und wenn sie einmal kommt, ist sie auch schon vergangen; du aber bleibst, wie du bist und deine Jahre nehmen kein Ende. Deine Jahre gehen weder, noch kommen sie; unsere irdischen Jahre gehen und kommen, so dass sie endlich alle kommen. Alle deine Jahre sind ein ewiges Heute, weil sie unbeweglich bestehen; und da sie nicht dahingehen, werden sie von den kommenden nicht verdrängt, weil sie nicht vorübergehen; aber unsere irdischen Jahre werden erst dahin sein, wenn sie einmal alle dahin sind. Dein Heute ist die Ewigkeit; deshalb zeugtest du den Gleichewigen, zu dem du sagtest: Heute habe ich dich gezeuget. Alle Zeiten schufst du und vor allen Zeiten bist du und nie gab's eine Zeit, wo keine Zeit war.

Vierzehntes Kapitel

Niemals also hat es eine Zeit gegeben, wo du nicht schon etwas geschaffen hattest, weil du ja die Zeit selbst geschaffen hast. Und keine Zeit ist ewig wie du, weil du immerdar derselbe bleibst. Wenn sie aber bliebe und nicht verginge, dann wäre sie keine Zeit. Denn was ist die Zeit? Wer vermöchte dies leicht und in Kürze auseinanderzusetzen. Wer kann nun darüber etwas je sprechen, es auch nur in Gedanken umfassen? Und doch erwähnen wir nichts so häufig und nichts ist als so selbstverständlich als die Zeit. Und wir verstehen es allerdings irgendwie, wenn wir davon sprechen, noch verkennen wir es, wenn wir eine andere von ihr reden hören. Was ist also die Zeit? Wenn mich niemand darnach fragt, weiß ich es, wenn ich es aber einem, der mich fragt, erklären sollte, weiß ich es nicht; mit Zuversicht jedoch kann ich wenigstens sagen, dass ich weiß, dass, wenn nichts verginge, es keine vergangene Zeit gäbe, und wem nichts vorüberginge, es keine zukünftige Zeit gäbe. jene beiden Zeiten also, Vergangenheit und Zukunft, wie kann man sagen, dass sie sind, wenn die Vergangenheit schon nicht mehr ist und die Zukunft noch nicht ist? Wenn dagegen die Gegenwart immer gegenwärtig wäre und nicht in die Vergangenheit Übergänge, so wäre sie nicht mehr Zeit, sondern Ewigkeit. Wem also die Gegenwart nur darum zur Zeit wird, weil sie in die Vergangenheit übergeht, wie können wir da sagen, dass sie ist und wenn sie deshalb ist, weil sie sofort nicht mehr ist; so dass wir insofern in Wahrheit nur sagen könnten, dass sie eine Zeit ist, weil sie dem Nichtsein zustrebt?

Fünfzehntes Kapitel

Und doch sagen wir, das ist eine lange, jenes eine kurze Zeit; dies können wir aber nur von der Vergangenheit sagen und der Zukunft. Die vergangene Zeit, z. B. vor hundert Jahren, nennen wir lange, ebenso nennen wir in der Zukunft die Zeit nach hundert Jahren. Die Vergangenheit von zehn Tagen nennen wir, meiner Meinung nach, kurz, sowie wir die zukünftige Zeit nach zehn Tagen kurz nennen. Wie aber kann nun lang oder kurz sein, was gar nicht ist? Denn die Vergangenheit ist nicht mehr und die ,Zukunft ist noch nicht. Wir sollten daher von der Vergangenheit nicht sagen: „Sie war lang!“ und von der Zukunft: „Sie wird lang sein.“ O mein Gott und Herr, mein Licht, spottet nicht auch hier deine Wahrheit der Menschen? Denn wie war die vergangene Zeit lang, war sie lang, als sie bereits vergangen war oder als sie noch gegenwärtig war, Denn dann nur konnte sie lang sein, als sie überhaupt etwas war, was lang sein konnte; als Vergangenheit aber war sie nicht mehr; deshalb konnte sie auch nicht lang sein, wie sie überhaupt nicht war. Wir dürfen also eigentlich nicht sagen: „Die vergangene Zeit war lang“, denn wir werden nichts an ihr finden, was lang gewesen wäre, da es, seitdem es vergangen ist, nicht mehr ist; sondern wir müssen sagen: „jene gegenwärtige Zeit war lang“, weil sie nur, während sie Gegenwart war, lang war. Denn noch war sie nicht zum Nichtsein übergegangen, und deshalb war sie etwas, was lang sein konnte. Sobald sie aber vergangen war, hörte sie zugleich auch auf, lang zu sein, da sie zu sein überhaupt aufgehört hat.

Lass uns sehen, o Menschenseele, ob die Gegenwart lang sein könne; denn dir ist's gegeben, die Dauer der Zeit wahrzunehmen und zu berechnen. Was ist deine Antwort darauf? Sind hundert Jahre der Gegenwart eine lange Zeit? Sich zuerst, ob hundert Jahre überhaupt gegenwärtig sein können. Wenn das erste Jahr vergeht, so ist dies nur gegenwärtig, neunundneunzig Jahre aber sind noch zukünftig und deshalb noch gar nicht; während nun das zweite Jahr vergeht, ist bereits eins vergangen, das andere gegenwärtig, die übrigen aber noch zukünftig. Und wenn wir so ein beliebiges Jahr aus der Mitte dieser hundert als gegenwärtig setzen, so haben wir vor ihm vergangene und nach ihm zukünftige; folglich können hundert Jahre nicht gegenwärtig sein. Nun siehe, ob nicht wenigstens das eine Jahr, das verläuft, gegenwärtig ist. Während der erste Monat desselben verläuft, sind die andern zukünftig, verläuft der zweite, so ist der erste bereits wieder vergangen und die übrigen sind noch zukünftig. Folglich gehört auch das Jahr, das vergeht, nicht ganz der Gegenwart an, und ist es nicht in seinem ganzen Umfange gegenwärtig, so ist es überhaupt nicht gegenwärtig. Denn das Jahr hat zwölf Monate, von denen jedesmal der ablaufende Monat gegenwärtig ist, die übrigen aber gehören entweder der Vergangenheit oder der Zukunft an. Nun ist aber freilich auch nicht einmal der ablaufende Monat ganz gegenwärtig, sondern nur ein Tag davon; ist's der erste, so sind die übrigen noch kommende, ist's der letzte, so sind die übrigen vergangene; ist's irgendeiner aus der Mitte, so läuft er ab zwischen vergangenen und zukünftigen Tagen.

So ist die gegenwärtige Zeit, die allein, wie wir fanden, lang genannt werden kann, kaum auf den Raum eines Tages beschränkt. Aber lasst uns auch diese noch zerlegen, da auch nicht ein Tag ganz gegenwärtig ist. Er wird von vierundzwanzig Stunden des Tages und der Nacht ausgefüllt, von denen die erste die übrigen als zukünftig vor sich hat; die letzte sie als vergangen nach sich; eine jede in der Mitte hat vergangene vor sich und zukünftige nach sich. Und selbst die eine Stunde verläuft in flüchtigen Augenblicken; was von ihr schon enteilte, ist vergangen, und was noch übrig ist, zukünftig. Könnte man sich irgendeine Zeit denken, die sich nicht mehr, auch nicht in die kleinsten Teilchen zerteilen läßt, so könnte diese allein gegenwärtig genannt werden. Und doch würde auch diese so schnell von der Zukunft in die Vergangenheit hinübereilen, dass sie auch nicht die geringste Dauer aufweisen könnte. Denn wenn es der Fall wäre, so würde es in Vergangenheit und Zukunft zu teilen sein; für die Gegenwart bliebe kein Raum. Wo ist also eine Zeit, die wir lang nennen könnten? Etwa die Zukunft? Wir können nicht sagen von ihr: „Sie ist lang“, weil ja noch gar nichts vorhanden ist, was lang sein könnte; wir sagen vielmehr: „Sie wird lang sein.“ Wann wird sie es erst nun sein? Denn wenn sie auch dann, wo sie noch Zukunft ist, nicht lang sein kann, weil das, was lang sein soll, noch nicht ist, sie aber ebensowenig lang sein kann, wenn sie aus der Zukunft, die noch nicht ist, allmählich das Dasein gewinnt und zur Gegenwart wird, damit etwas da sei, was lang wäre, da ruft uns bereits die Gegenwart mit obigen Worten zu, dass sie nicht lang sein könne.

Sechzehntes Kapitel

Und doch, Herr, nehmen wir Zeiträume wahr und vergleichen sie miteinander und nennen die einen länger, die andern kürzer. Wir berechnen auch, um wieviel diese Zeit kürzer oder länger ist als jene, und wir sagen, diese ist zwei- oder dreimal so lang als jene, oder sie sind sich gleich. Aber wir messen die Zeiten nur im Vorübergehen, wenn wir sie durch die Wahrnehmung messen. Wer aber kann vergangene Zeiten messen, die nicht mehr sind oder als zukünftige noch nicht sind? Es sei denn, dass jemand zu behaupten wagte, etwas messen zu können, was gar nicht ist. Während also die Zeit vorübergeht, kann man sie wahrnehmen, wenn sie aber vorübergegangen ist, ist es unmöglich, weil sie dann nicht mehr ist.

Siebzehntes Kapitel

Ich forsche, o Vater, und behaupte nicht; mein Gott schütze und regiere mich. Wer dürfte mir sagen, es gäbe nicht drei Zeiten, wie wir als Knaben es gelernt haben und wir wiederum den Knaben es gelehrt haben, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, sondern nur die Gegenwart, weil jene beiden nicht sind? Oder sind auch diese und tritt etwa jene nur aus der Verborgenheit hervor, wenn aus der Zukunft die Gegenwart wird, und tritt diese etwa nur in die Verborgenheit zurück, wenn aus der Gegenwart die Vergangenheit wird? Denn wie sahen es die, welche das Zukünftige voraussagten, wenn es noch nicht war? Denn was nicht ist, kann nicht gesehen werden. Und die, welche Vergangenes erzählen, würden nichts Wahres erzählen, wenn sie es nicht im Geiste schauten. Wäre es gar nicht, so könnte es überhaupt nicht gesehen werden. Es gibt also eine Zukunft und Vergangenheit.

Achtzehntes Kapitel

Lass mich, Herr, noch weiter fragen, meine Hoffnung, möge mein Bemühen nicht gestört werden. Wenn es also eine Zukunft und Vergangenheit gibt, so möchte ich wissen, wo sie sind. Wenn ich dies auch noch nicht vermag, so weiß ich doch, dass, wo sie auch sein mögen, sie dort nicht Zukunft oder Vergangenheit sind, sondern Gegenwart. Denn wäre die Zeit nicht auch dort noch Zukunft, so wäre sie dort noch nicht, wäre aber dort schon die Vergangenheit vergangen, so wäre sie dort nicht mehr.

Wo immer also etwas ist, so ist es nie in der Gegenwart vorhanden. Wem wir demgemäß Vergangenes der Wahrheit gemäß erzählen, so schöpfen wir zwar nicht die Dinge selbst, die vergangen sind, aus dem Gedächtnis, sondern nur Worte, die den Vorstellungen von Dingen entsprungen sind, die in der Seele gleichsam beim Vorüberziehen dem Geiste Spuren einprägten. So gehört meine Kindheit, die nicht mehr ist, der Vergangenheit an, die nicht mehr ist. Wenn ich ihrer aber gedenke, schaue ich ihr Bild in der Gegenwart, weil es noch in meinem Gedächtnisse ist. Ob nun bei der Verkündigung der Zukunft die Sache sich ähnlich verhält, so dass von Dingen, die noch gar kein Sein haben, die Bilder davon als bereits seiend sich im Geiste spiegeln, ob dem so ist, o mein Gott, ich bekenne, das weiß ich nicht. Das aber weiß ich sicher, dass wir sehr oft über unsere zukünftigen Handlungen im voraus nachdenken und dass diese Vorüberlegung der Gegenwart, die Handlung selbst dagegen, über die wir nachdenken, der Zukunft angehört, weil sie noch nicht ist; sobald wir aber mit der Ausführung jener Handlung, die wir vorüberlegten, begonnen haben, dann gewinnt sie das Sein, weil sie nun nicht mehr zukünftig, sondern gegenwärtig ist.

Wie es sich auch mit dem geheimen Vorgefühl für zukünftige, verhalten mag, was kein Sein besitzt, kann auch nicht gesehen werden. Was aber bereits ist, das ist nicht zukünftig, sondern gegenwärtig. Wenn man also von einem Schauen in die Zukunft redet, so ist dies nicht ein Schauen dessen, was noch nicht ist, sondern was bereits gegenwärtig ist, aus dem das im Geiste Aufgefasste als zukünftig vorausgesagt wird. Diese Vorstellungen sind bereits da und die, welche dies voraussagen, schauen sie in sich als gegenwärtig. Unter so vielen Dingen möge ein beliebiges Beispiel für mich sprechen. Ich sehe die Morgenröte, ich verkündige den Aufgang der Sonne; was ich sehe, ist gegenwärtig, was ich verkünde, ist zukünftig; die Sonne aber ist in diesem Falle nicht das Zukünftige, denn sie ist bereits da, sondern ihr Aufgang selbst, der noch nicht ist, doch auch den Aufgang könnte ich nicht vorhersehen, wenn ich mir ihn nicht im Geiste vorstellte wie eben jetzt, wo ich dies sage.

Indes ist weder jene Morgenröte, die ich am Himmel sehe, der Sonnenaufgang, obgleich sie ihm vorangeht, noch jene seelische Vorstellung; ich sehe aber beide als gegenwärtig, so dass ich jene, die noch zukünftig ist, voraussagen kann. Das Zukünftige ist also noch nicht vorhanden, und was noch nicht ist, ist überhaupt nicht, und was nicht ist, kann man auch gar nicht sehen, sondern nur vorhersagen aus dem Gegenwärtigen, das bereits ist und somit gesehen werden kann.

Neunzehntes Kapitel

Du aber, Herrscher über deine Schöpfung, wie belehrest du die Seele über das, was da zukünftig ist? Denn du hast ja deine Propheten darüber belehrt. Welches ist die Art, wie du, für den es keine Zukunft gibt, die Zukunft lehrst, oder vielmehr bezüglich der Zukunft Gegenwärtiges? Denn was nicht ist, kann ja überhaupt nicht gelehrt werden. Diese Weise ist meiner Fassungskraft nicht gewachsen; solche Erkenntnis ist mir zu wunderlich und zu hoch; ich kann es nicht begreifen; durch dich aber vermag ich es wohl, wenn du es mir verleihest, du süßes Licht meines inneren Auges.

Zwanzigstes Kapitel

Das ist nun wohl klar und einleuchtend, dass weder das Zukünftige noch das Vergangene ist. Eigentlich kann man gar nicht sagen: Es gibt drei Zeiten, die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, genau würde man vielleicht sagen müssen: Es gibt drei Zeiten, eine Gegenwart in Hinsicht auf die Gegenwart, eine Gegenwart in Hinsicht auf die Vergangenheit und eine Gegenwart in Hinsicht auf die Zukunft. In unserem Geiste sind sie wohl in dieser Dreizahl vorhanden, anderswo aber nehme ich sie nicht wahr. Gegenwärtig ist hinsichtlich des Vergangenen die Erinnerung, gegenwärtig hinsichtlich der Gegenwart die Anschauung und gegenwärtig hinsichtlich der Zukunft die Erwartung. Wenn es uns gestattet ist, so zu sagen, so sehe ich allerdings drei Zeitunterschiede und gestehe, dass es wirklich drei gibt. Man mag auch sagen: Es gibt drei Zeiten, Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft, wie es einmal der Missbrauch der Gewohnheit ist; mag man es sagen, ich kümmere mich nicht darum, ich widerstrebe nicht, ich tadele es nicht; wem man nur versteht, was man sagt, und nicht der Meinung ist, als ob das Zukünftige oder Vergangene jetzt sei. In der Sprache gibt es weniges, was mit dem eigentlichen Ausdruck gesagt werden kann, das meiste uneigentlich, dessenungeachtet erkennt man, was wir wollen.

Einundzwanzigstes Kapitel

Ich habe kurz vorher gesagt, dass wir die Zeit im Vorübergehen messen, so dass wir sagen können, diese Zeit ist im Verhältnis zu jener einfachen Zeit das Doppelte oder diese ist gerade so groß wie jene. Deshalb messen wir, wie ich sagte, die Zeiten, wenn sie vorübergehen. Wenn mir nun jemand sagt: Woher weißt du das? würde ich antworten: Ich weiß es, dass wir sie messen, und dass das, was nicht ist, nicht gemessen werden kann, und dass Vergangenheit und Zukunft nicht sind. Wie messen wir aber die gegenwärtige Zeit, wenn sie keine Ausdehnung hat? Sie wird gemessen, wenn sie vorübergeht, wenn sie aber bereits vorübergegangen ist, wird sie nicht mehr gemessen, weil dann nichts mehr da ist, was gemessen werden kann. Aber woher, wie und wohin geht sie vorüber, indes sie gemessen wird? Woher, wenn nicht aus der Zukunft, wie, wenn nicht durch die Gegenwart, wohin, wem nicht in die Vergangenheit? Aus dem also, was noch nicht ist, durch das, was keine Dauer hat, zu dem, was nicht mehr ist. Was messen wir aber, wenn nicht die Zeit in irgendeiner Ausdehnung? Denn wenn wir sagen: Das Einfache, das Doppelte, das Dreifache, das Gleiche, so sagen wir das nur von der Zeit in ihrer Ausdehnung und Dauer. In welcher Dauer messen wir also die vorübergehende Zeit? Etwa in der Zukunft, von wo aus sie vorübergeht? Aber was noch nicht ist, messen wir nicht, oder in der Gegenwart, durch die sie vorübergeht? Aber wir können nicht messen, was keine Dauer hat. oder in der Vergangenheit, wohin sie vorübergeht. Aber wir können nicht messen, was nicht mehr ist.

Zweiundzwanzigstes Kapitel

Meine Seele brennt vor Verlangen, diesen rätselhaften Knoten zu lösen. Verschließe nicht, o mein Gott und Herr, gütiger Vater, ich flehe dich an im Namen Jesu Christi, verschließe meinem Verlangen nicht dieses Alltägliche und doch so Geheimnisvolle, auf dass mein Geist in dasselbe eindringe und es durch die Erleuchtung deiner Barmherzigkeit, Herr, erhelle. Wen kann ich, Herr, über diese Dinge befragen? Und wem kann ich mit größerem Nutzen meine Unwissenheit bekennen, als dir, der meinen Eifer nicht tadelt, der mich so in heißem Drange unwiderstehlich zu deiner Schrift hinzieht. Gib, was ich liebe; denn ich hebe und auch dies hast du mir gegeben. Gib, Vater, der du in Wahrheit deinen Kindern gute Gaben zu geben weißt. Gib mir's, denn ich hab's auf mich genommen, zur Erkenntnis zu gelangen, aber es ist mir zu schwer, bis du es mir aufschliessest.

Bei Christus beschwöre ich dich, im Namen dieses Heiligen der Heiligen, lass niemand mir dabei hinderlich sein. Ich glaubte, deshalb redete ich auch. Das ist meine Hoffnung und ihr lebe ich nach, dass ich schauen darf die Freude des Herrn. Siehe du hast von alters her meine Tage bestimmt und sie fliehen dahin, ich weiß nicht wie. Wir sprechen von Zeit und Zeit, von Zeiten und Zeiten und fragen: Wann hat er das gesagt? Wann hat er das getan? Wie lange habe ich das nicht gesehen? Und dann diese letzteren Silben nehmen doppelte Zeit in Anspruch im Vergleich mit jener einfachen kürzeren. Wir sagen es und hören es und wir verstehen es und werden verstanden. Das ist so klar und gewöhnlich wie etwas und doch auch wiederum so völlig dunkel und die Lösung des Rätsels noch unbekannt.

Dreiundzwanzigstes Kapitel

Ich hörte einstmals von einem gelehrten Manne sagen, die Zeit sei die Bewegung der Sonne, des Mondes und der Gestirne. Ich aber stimmte nicht bei. Denn warum sollten nicht vielmehr die Bewegungen aller Körper die Zeit sein? Oder wenn die Lichter des Himmels feierten und die Scheibe des Töpfers sich nur noch bewegte, gäbe es dann keine Zeit mehr, um die Drehungen dieser Scheibe zu messen, und sagen zu können, dass sie entweder in gleicher Schnelligkeit vollbracht würden, oder wenn die Bewegung vielleicht eine langsamere oder schnellere wäre, dass einige mehr, die andern minder langsam seien? Oder wenn wir dieses sprächen, würden wir nicht auch noch in der Zeit sprechen, oder wären in unsern Worten einige Silben nicht allein deshalb von verschiedener Länge und Kürze, weil sie bald längere, bald kürzere Zeit tönten?

Ich möchte zur Erkenntnis der Bedeutung und des Wesens der Zeit kommen, wodurch wir die Bewegung der Körper messen und zum Beispiel sagen, jene Bewegung sei doppelt so lang als diese. Denn ich frage dies, weil wir nicht bloß den Zeitraum Tag nennen, wo die Sonne sich über dem Horizont befindet, danach scheiden wir Tag und Nacht - sondern auch den Zeitraum des ganzen Umlaufes vom Aufgang bis wieder zum Aufgang, demgemäß wir sagen: „So viele Tage sind verflossen“, wir meinen dann die Tage mit den dazugehörigen Nächten und zählen die Nächte nicht besonders; wird nun der Tag durch die Bewegung der Sonne und ihren Kreislauf vom Morgen bis wieder zum Morgen vollendet, so frage ich danach, ob die Bewegung selbst der Tag ist oder ob es der Zeitraum ist, worin sie stattfindet, oder beides zugleich. Denn wäre das erste der Tag, so wäre er also auch Tag, wenn die Sonne ihren Lauf innerhalb einer einzigen Stunde vollendet; wäre es das zweite, so wäre dann kein Tag, wenn es von einem Sonnenaufgang bis zum andern nicht länger als eine Stunde währte, sondern vierundzwanzigmal müsste alsdann die Sonne umlaufen, um einen Tag zu vollenden.

Wäre endlich beides zugleich der Tag, so wäre es weder ein Tag zu nennen, wenn die Sonne ihren Lauf in der Zeit einer Stunde vollendete, noch auch, wenn die Sonne ausbliebe und darüber so viel Zeit verginge, als sie in der Regel braucht zur Vollendung ihres ganzen Umlaufs von einem Morgen zum andern. ich will darum jetzt nicht weiter fragen, was eigentlich ein Tag, sondern was denn die Zeit sei, mittels deren wir den Umlauf der Sonne messen und sagen, er sei um die Hälfte Zeit kürzer als gewöhnlich, wenn er in einem Zeitraume vollendet wäre, in welchem zwölf Stunden ablaufen, und wenn wir beide Zeiten vergleichen, würden wir jene die einfache, diese die doppelte Zeit nennen, wenn die Sonne zuweilen in jener einfachen, zuweilen in jener doppelten Zeit vom Aufgange bis wieder zum Aufgange liefe. Niemand sage mir deshalb, die Bewegung der Himmelskörper sei die Zeit, denn als einst die Sonne auf Eines Wunsch stillstand, damit er eine Schlacht siegreich vollende, stand wohl die Sonne still, die Zeit dagegen ging ihren Lauf, und jene Schlacht wurde geliefert und beendigt in dem Zeitraume, der für sie genügte. Ich sehe also, dass die Zeit eine gewisse Ausdehnung ist. Aber erkenne ich es, oder glaube ich es nur zu erkennen? Du wirst mich es lehren, der du das Licht und die Wahrheit bist.

Vierundzwanzigstes Kapitel

Willst du, dass ich beistimme, wenn jemand sagt, die Zeit sei die Bewegung eines Körpers? Das willst du nicht. Denn jeder Körper bewegt sich, wie ich gehört habe, nur in der Zeit. So sagst du es. Dass aber die Bewegungen eines Körpers die Zeit selber sei, höre ich nicht; du sagst das nicht. Denn wenn sich ein Körper bewegt, so messe ich durch die Zeit, wie lange er sich bewegt von Anfang bis zu Ende der Bewegung. Und sehe ich nicht den Beginn jener Bewegung und fährt er fort, sich zu bewegen, so dass ich das Ende der Bewegung nicht absehe, so bin ich nicht imstande, sie zu messen, als nur etwa von der Zeit an, wo ich sie wahrnahm bis zum Ende meiner Wahrnehmung. Sah ich lange Zeit die Bewegungen, so kann ich mir sagen, die Zeit ist eine lange, nicht aber, wie lang sie ist. Denn wenn wir wirklich eine Bestimmung der Länge angeben, so tun wir das doch nur infolge einer Vergleichung; so wenn wir sagen, diese ist so groß als jene, oder diese ist doppelt so lang im Vergleich zu jener usw. Wenn wir aber den Punkt bezeichnen könnten, woher und wohin ein Körper bei jener Bewegung kommt, so könnten wir auch bestimmen, wieviel Zeit der Körper oder einer seiner Teile braucht, um sich von einem Punkt zum andern zu bringen. Da nun die Bewegung eines Körpers etwas anderes ist als das Maß, mit dem wir ihre Länge messen, wer erkennt nicht, was wir von diesen beiden vielmehr Zeit nennen müssen? Denn wenn auch ein Körper sich verschiedentlich bald bewegt, bald stillsteht, so messen wir doch nicht bloß jene Bewegung, sondern auch die Dauer seines Stillstandes und sagen: Er stand so lange still, als er sich bewegte, oder zwei- oder dreimal so lang war, als sonst er war. Das ist das Resultat unserer Messung, sei es ein genaues oder ungefähres. Es ist also die Zeit etwas anderes als die Bewegung des Körpers.

Fünfundzwanzigstes Kapitel

Ich bekenne es dir, Herr, dass ich immer noch nicht weiß, was die Zeit ist, und wiederum ich bekenne dir, Herr, zu wissen, dass ich dieses in der Zeit sage und dass ich schon lange über die Zeit rede: Wie weiß ich nun dieses, wenn ich doch nicht weiß, was die Zeit selber ist? oder weiß ich vielleicht das nicht auszudrücken, was ich weiß, weh mir, dass ich nicht einmal weiß, was ich nicht weiß? Siehe, mein Gott, ist's offenbar, dass ich nicht lüge, wie ich rede, so ist mein Herz. Du erleuchtest, mein Gott und Herr, meine Leuchte, machst meine Finsternis ficht.

Sechsundzwanzigstes Kapitel

Bekennt dir nicht meine Seele in wahrhaftigem Bekenntnisse, dass ich die Zeiten messe? ja, mein Gott, ich messe sie, und doch weiß ich nicht, was ich messe? Ich messe die Bewegung des Körpers durch die Zeit, und doch messe ich nicht die Zeit selbst? Oder könnte ich die Bewegung eines Körpers messen, wie lang sie ist und in welcher Zeit er von einem Punkte zum andern gelangte, wenn ich nicht die Zeit mäße, in der er sich bewegt? Wodurch messe ich also die Zeit selbst? Messen wir etwa die längere Zeit durch die kürzere, wie wir die Länge eines Balkens durch das Maß eines Fußes messen? Denn so scheinen wir durch das Maß einer kurzen Silbe das Maß einer langen Silbe zu messen und nennen sie doppelt so lang. So messen wir den Umfang von Gedichten durch die Länge der Verse und die Länge der Verse durch die Länge der Füße und die Länge der Füße durch die Länge der Silben und die Länge der langen Silben durch die kurzen: doch nicht wie sie auf dem Papier stehen - denn so messen wir räumliche Ausdehnungen, nicht die Zeit -, sondern wie sie sich ergibt, wenn die Worte beim Aussprechen vorübergehen und wir dann sagen: das Gedicht ist lang, denn es besteht aus soundso vielen Versen, die Verse sind lang, denn sie bestehen aus soundso viel Füßen; die Füße sind lang, denn sie zählen soundso viel Silben; die Silbe ist lang, denn sie hat das Doppelte einer kurzen. Aber auch so wird noch kein sicheres Zeitmaß erreicht, da ja erst auch ein kürzerer Vers, wenn er gedehnter ausgesprochen wird, einen geraumeren Zeitraum hindurch ertönt als ein längerer, wenn er rasch vorgetragen wird. Ebenso verhält es sich mit einem Gedichte, mit einem Fuße, einer Silbe, deshalb scheint es mir, dass die Zeit nichts anderes ist als eine Ausdehnung; aber von was, weiß ich selber nicht; und wunderbar, wenn nicht von dem Geiste selbst. Was messe ich, ich bitte dich, mein Gott, wenn ich unbestimmt sage: „Diese Zeit ist länger als jene“, oder auch bestimmt. „Diese ist doppelt so lang als jene?“ Ich messe die Zeit, ich weiß es; aber ich messe nicht die zukünftige Zeit, weil sie im Raume keine Ausdehnung; ich messe nicht die vergangene, weil sie nicht mehr ist. Was messe ich also? Etwa die vorübergehende Zeit, aber noch nicht vergangene Zeit. So war es meine Meinung.

Siebenundzwanzigstes Kapitel

Fasse dich, meine Seele, und merke wacker auf; Gott ist unsere Hilfe; er hat uns gemacht, und nicht wir selbst. Merke auf, wo das Morgenrot der Wahrheit aufgeht. Denke dir, ein Körper beginnt mit seiner Stimme zu ertönen, läßt sich hören, sie ertönt und ertönt fort und verhallt; es ist Schweigen eingetreten und jene Stimme ist nicht mehr. Ehe sie ertönte, war sie zukünftig und konnte nicht gemessen werden, weil sie noch nicht war, und nun kann sie es nicht, weil sie nicht mehr ist. Als sie ertönte, war es möglich, denn da war sie in Wirklichkeit vorhanden und konnte gemessen werden. Aber auch damals war sie nicht bleibend; sie kam und ging vorüber. Oder war es deshalb um so eher möglich? Denn vorübergehend dehnte sie sich zu einer gewissen Dauer aus, durch die sie gemessen werden konnte, weil die Gegenwart keinen Raum hat. Wenn es also möglich war, so denke dir, eine andere Stimme ertönt, und sie ertönt noch fort und fort ohne Unterbrechung; lasst sie uns messen, solange sie noch ertönt, denn wem sie zu tönen aufgehört hat, wird sie bereits vorübergegangen sein, und dann ist's nicht mehr möglich, sie zu messen; lasst sie uns also wirklich messen und sagen, welche Dauer sie hat. Aber noch ertönt sie, und doch kann sie nur gemessen werden von ihrem Anfange, wo sie zu ertönen begann, bis zu dem Ende, wo sie aufhörte. Wir messen nämlich den Zwischenraum selbst von irgendeinem Anfange bis zu einem Ende. Daher kann die Stimme, die noch nicht ihr Ende erreicht hat, nicht gemessen werden, dass man sagen könne, wie lang oder wie kurz sie sei; auch läßt sich nicht sagen, sie sei irgendeiner gleich oder im Vergleich zu irgendeiner andern einfach oder doppelt oder etwas Derartiges. Ist sie aber zu Ende, so ist sie überhaupt nicht mehr. Wie wäre es also möglich, sie zu messen? Und doch messen wir die Zeiten; aber weder die, welche noch ist, noch die, welche nicht mehr ist, noch auch die, die sich auf keine Dauer erstreckt, noch auch die, die keine Grenze hat; also weder die zukünftige Zeit, noch die vergangene, noch die gegenwärtige, noch die vorübergehende Zeit messen wir, und dennoch messen wir die Zeit.

„O Gott, du Schöpfer aller Welt“; dieser Vers besteht aus acht abwechselnd kurzen und langen Silben. Vier sind also kurz: die erste, dritte, fünfte und siebente, sie sind einfach im Vergleich zu den vier langen, der zweiten, vierten, sechsten und achten. Diese erfordern im Vergleich zu jenen die doppelte Zeitdauer. Ich spreche sie aus, ich wiederhole sie, und es ist so, soweit wir unserm Sinne darüber Gewissheit verschaffen. Soweit nun die sinnliche Wahrnehmung zuverlässig ist, messe ich die lange Silbe mit der kurzen und mache die Wahrnehmung, dass sie doppelt so lang ist als jene. Aber wenn die eine nach der andern ertönt, wenn die erste kurz, die folgende lang ist, wie kann ich dann die kurze festhalten und sie beim Messen der langen anwenden, um zu finden, dass sie die zweifache Länge von jener hat, da die lange erst zu ertönen beginnt, wenn die kurze bereits aufgehört hat? Auch die lange Silbe selbst messe ich nicht, während sie gegenwärtig ist, sie ist ja erst zu messen, wenn sie beendet ist. Hat sie aufgehört, so ist sie bereits vorübergegangen. Was soll ich da messen? Wo ist denn die kurze Silbe, mit der ich messe, wo die lange, die ich messe? Beide sind erklungen, sind verklungen, vergangen, sind bereits nicht mehr. Und doch messe ich und gebe mit Zuversicht die Antwort, soweit man sich auf ein geübtes Gehör verlassen kann, jene sei das Einfache, diese das Zweifache, nämlich der Zeitdauer nach. Es wäre unmöglich, wenn diese beiden Silben nicht bereits vergangen und beendet wären. Ich messe also nicht sie selbst, die bereits nicht mehr sind, sondern etwas, was sich meinem Gedächtnisse eingeprägt hat.

In dir, mein Geist, messe ich die Zeiten; entgegne mir nicht: Wieso das? Lass dich nicht durch die Menge deiner Vorurteile verwirren. In dir, ich sage es nochmals, messe ich die Zeiten; der Eindruck, den die vorübergehenden Dinge auf dich machen, bleibt auch, wenn sie vorübergegangen sind, und ihn messe ich, wenn ich die Zeiten messe. Es ist also entweder er selbst die Zeit, oder es ist nicht die Zeit, die ich messe. Aber wie, wenn wir nun selbst das Stillschweigen messen und sagen, dieses Schweigen hat ebenso lange gedauert, als jene Stimme anhält? Dehnen wir da nicht unsere Gedanken nach der Dauer der Stimme, als wenn sie noch ertönte, um darnach etwas von der Dauer des Schweigens angeben zu können? Denn wenn auch Stimme und Mund schweigen, lassen wir doch in Gedanken Gedichte, Verse und jegliche Rede an unserem Geiste vorübergehen und geben dann die betreffende Ausdehnung ihres Vorübergangs und das Verhältnis der Zeitdauer des einen zum andern gerade so an, als wenn wir jene Gedichte usw. laut aussprächen. Wenn irgend jemand einen etwas längeren Laut von sich gäbe und im voraus dessen Länge bestimmte, so bestimmt er diesen Zeitraum in der Stille, übergibt ihn seinem Gedächtnisse und beginnt jenen Ton hervorzubringen, bis er die von ihm festgesetzte Dauer erreicht hat, oder vielmehr er ertönte und wird ertönen, denn soweit er vorüber ist, soweit erschallte er bereits; was aber noch übrig ist, das wird noch ertönen. Es wird also vollendet, während die gegenwärtige Aufmerksamkeit das Zukünftige in die Vergangenheit überträgt, so, dass durch die Abnahme der Zukunft die Vergangenheit wächst, bis sich nach gänzlichem Aufbruch der Zukunft alles in Vergangenheit umgesetzt hat.

Achtundzwanzigstes Kapitel

Aber wie kann sich die Zukunft, die noch gar nicht ist, verringern und erschöpfen? oder wie kann die Vergangenheit, die nicht mehr ist, zunehmen, wenn sich nicht im Geiste, in dem dieses vorgeht, ein dreifaches befindet? Er erwartet, er fasst auf und erinnert sich, so dass das, was er erwartet, durch seine Auffassung, was er auffasst, in sein Gedächtnis übergeht. Wer also leugnet, dass die Zukunft noch nicht ist? Dessenungeachtet aber ist bereits in der Seele die Erwartung des Zukünftigen. Und wer leugnet, dass die Vergangenheit keine Existenz habe? Dennoch lebt in der Seele die Erinnerung an Vergangenes. Und wer leugnet, dass die gegenwärtige Zeit der Dauer entbehre, weil sie nur ein unteilbarer Punkt ist? Aber doch währt die Wahrnehmung, durch welche das, was vergangen ist, zu sein fortfährt. Es ist die zukünftige Zeit nicht lang, weil sie nicht ist, sondern eine lange Zukunft ist nichts anderes als die lange Erwartung der Zukunft; ebensowenig ist die Vergangenheit, die nicht mehr ist, lang, sondern lange vergangen, ist nichts anderes als die lange Erinnerung des Vergangenen.

Ich will ein Lied vortragen, das ich auswendig kann; bevor ich anfange, richtet sich meine Erwartung auf das Ganze; wenn ich aber begonnen habe, dann fällt das, was ich davon vortrage, als Vergangenes dem Gedächtnis anheim; und die Dauer dieser meiner Tätigkeit zerteilt sich in das Gedächtnis dessen, was ich gesagt habe und was ich noch sagen werde; gegenwärtig ist dagegen meine Aufmerksamkeit, durch die das, was zukünftig war, hindurchgeht, um Vergangenes zu werden. je mehr nun dieses geschieht, desto mehr verkürzt sich die Erwartung und verlängert sich die Erinnerung, bis die ganze Erwartung sich erschöpft, weil die ganze Handlung völlig beendet in das Gedächtnis übergegangen ist. Und was bei dem ganzen Gedichte geschieht, das geschieht auch bei jedem einzelnen Teile und den einzelnen Silben desselben; ebenso bei einer längeren Handlung, von der das Gedicht vielleicht ein Teil ist; ebenso bei dem ganzen menschlichen Leben, dessen einzelne Handlungen nur Teile sind; ebenso bei der ganzen Menschheit, von der das Leben der einzelnen Menschen nur Teile sind.

Neunundzwanzigstes Kapitel

Aber deine Güte ist besser denn Leben, siehe mein Leben ist Zerstreuung und deine Rechte hat mich aufgenommen in meinem Herrn, dem Menschensohn, dem Mittler zwischen dir, dem Einen und uns, den Vielen, in Vielem durch Vieles, damit ich durch ihn es ergreife, von dem auch ich ergriffen bin und mich von meiner Vergangenheit abwende, vergesse, was da hinten ist, und mich ausstreckend nicht nach dem, was künftig und vorübergehend, sondern zu dem, was da vorne ist, nicht zerstreut, sondern strebend, eile ich der Palme der ewigen Berufung zu; wo ich höre die Stimme deines Lobes und deine Wonne schaue, die weder kommt noch vorübergeht. jetzt aber sind meine Jahre Jahre des Seufzens. Du bist mein Trost, Herr, du bist mein ewiger Vater; ich aber bin dem Wechsel der Zeiten hingegeben, deren Ordnung mir unerforschlich ist; meine Gedanken, das innerste Leben meiner Seele, werden von dem stürmischen Wechsel zerrissen, bis ich, gereinigt und geläutert durch deiner Liebe Glut, ganz in dich mich ergieße und sammle.

Dreißigstes Kapitel

Stark und fest will ich stehen in dir, in meinem Urbild, in deiner Wahrheit, und ich werde nicht dulden die Fragen der Menschen, die in strafbarer Sucht nach mehrerem, als sie hoffen können, dürsten und sagen: „Was tat Gott, ehe er Himmel und Erde schuf? Und wie kam Ihm der Gedanke, etwas zu schaffen, da Er doch nie zuvor etwas machte? “ Gib ihnen, Herr, dass sie recht bedenken, was sie sagen, und dass sie finden, dass man nicht reden kann von „niemals“, wo es keine Zeit gibt. Wenn man sagt, „er habe nie etwas geschaffen“, so heißt das nichts anderes, als „er habe zu keiner Zeit etwas geschaffen“. Mögen sie also erkennen, dass keine Zeit sein könne ohne Schöpfung und mögen sie abstehen, diese Verkehrtheit zu wiederholen. Mögen auch sie ihr Verlangen nach dem erstrecken, was da vorne ist, und dich erkennen vor aller Zeit als den ewigen Schöpfer aller Zeiten, also, dass keine Zeit mit dir gleich ewig sei noch irgendeine Kreatur, auch wenn sie selbst uns über die Zeit hinausreicht.

Einunddreißigstes Kapitel

Herr, mein Gott, wie groß sind die Tiefen deiner Geheimnisse, wie haben mich die Folgen meiner Vergehen davon entfernt? Heile meine Augen, auf dass zugleich ich mich freue über dein Licht. Freilich gäbe es einen Geist, begabt mit einer so großen Wissenschaft und Kenntnis der Zukunft, dass ihm alle Vergangenheit und Zukunft so bekannt wäre wie mir z. B. ein ganz bekanntes Lied, so wäre dieser Geist allerdings bewunderungswürdig und zum Erschrecken erstaunenswert, da alle Jahrhunderte der Vergangenheit und der Zukunft enthüllt vor ihm lägen wie mir, weint ich das Lied singe, was und wieviel ich vom Anfange bereits gesungen und was und wieviel noch übrig ist. Doch ferne sei es, zu denken, dass du, Schöpfer des Weltalls, Schöpfer der Seelen und Leiber; fern sei es, dass du alles Zukünftige und Vergangene in ähnlicher Weise wissen solltest. Du weißt es weit, weit wunderbarer, weit geheimnisvoller. Denn nicht wie bei der Stimme dessen, der ein bekanntes Lied singt oder ein bekanntes Lied hört, durch die Erwartung der noch kommenden Verse und durch die Erinnerung der bereits gesungenen verschiedenfach berührt und die Aufmerksamkeit gespannt wird, ist es bei dir der Fall, dem wunderbar Ewigen, d. h. dem wahrhaft ewigen Schöpfer aller Geister. Wie du also im Anfang Himmel und Erde ohne Wandel deiner Kenntnisse kanntest, so schufest du im Anfange Himmel und Erde ohne Änderung deiner Tätigkeit. Wer dies erkennt, möge es dir bekennen; und wer es nicht versteht, der preise dich ebenso. O wie erhaben bist du, und die demütigen Herzens sind, sind deine Wohnung! Denn du richtest auf, die zerschlagenen Herzens sind, und die werden nicht fallen, deren Höhe du bist.

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