Arndt, Johann Friedrich Wilhelm - Die letzten Worte des sterbenden Erlösers.

Arndt, Johann Friedrich Wilhelm - Die letzten Worte des sterbenden Erlösers.

Predigt am Charfreitage, über Luc. 23,46 von Friedr. Arndt, Pfarrer an der evang. Parochial-Gemeinde in Berlin.

O Lamm Gottes, unschuldig
Für uns am Kreuz geschlachtet,
allzeit erfunden geduldig,
Wiewohl Du warest verachtet,
All‘ Sünd‘ hast Du getragen,
Sonst müßten wir verzagen,
Erbarm‘ Dich unser, O Jesu. Amen.

Text: Luc. 23,46

Und Jesus rief laut und sprach: Vater, ich befehle meinen Geist in deine Hände. Und als er das gesagt, verschied er.

Diese Worte, andächtige Zuhörer, sind die letzten unter den sieben Worten, welche unser Herr und Heiland Jesus Christus sterbend am Kreuze sprach. Wenn die letzten Worte eines Menschen so recht eigentlich Ertrag seines Lebens sind und in die Tiefen seines Herzens klar und hell hineinschauen lassen; wenn sie für die Hinterbliebenen oft das theuerste Vermächtnis ausmachen, unvergeßlich ihr ganzes Leben hindurch in ihre Ohren schallen und unvertilgbar sich eingraben in ihre Brust: wie viel bedeutungsvoller müssen dann die Sterbeworte dessen für uns sein, der mehr ist als ein Mensch und uns näher steht, als selbst der geliebteste Mensch auf Erden? Lasset uns denn zur Stärkung unsers Glaubens und zu einer würdigen Feier des heutigen Tages in der gegenwärtigen Stunde unsere Andacht mit der Betrachtung

der letzten sieben Worte des sterbenden Erlösers

beschäftigen, und, um die ganze Größe des in ihm uns erschienen Heils und den vollen Umfang des Erlösungswerkes zu erkennen, sehen, wie er in ihnen 1) noch einmal seine göttliche Liebe im herrlichsten Glanze offenbaret, und 2) sein heiliges Werk vollendet.

I.

Der furchtbar schauerliche Tag, an welchem das Opfer für die Sünde der Welt fallen und die ewige Versöhnung vollbracht werden sollte, war angebrochen. Schon war das Todesurtheil über Jesum von dem hohen Rathe gefällt und von dem römischen Landpfleger bestätigt; schon sehen wir den göttlichen Dulder mit dem Kreuzesbalken auf dem Schultern, umgeben von den Henkern und dem spottenden Volke, mit der Dornenkrone auf dem Haupte, die Schmerzensstraße ziehen nach Golgatha; schon fängt in vielen Seelen die Wuth und die Rachsucht an nachzulassen und es erwachen Gefühle der Theilnahme und des Mitleids, Thränen werden vergossen, und nur auf den rechten Gegenstand gelenkt furch das Wort: Weinet nicht über mich, weinet über euch und eure Kinder. Der Zug geht langsam vorwärts, da kommt Simon von Cyrene von seiner Feldarbeit in die Stadt hinein, und sei es, daß auch er Mitleiden offenbarte, sei es, daß er seinen gerechten Unwillen über die That aussprach, sei es, daß er gerade der Nächste zur Hand war, man zwingt ihn, dem Erliegenden das Kreuz abzunehmen.

Endlich ist die Schädelstätte erreicht, das Kreuz wird auf gerichtet, die Erde festgemacht, die spottende Ueberschrift angeschlagen, und Jesus Christus dem Tode übergeben. Da hängt er schwebend zwischen Himmel und Erde, Hände und Füße grausam durchbohrt mit hartem Eisen, und ins heilige Haupt eine Dornenkrone gedrückt, seine entblößte Brust ist bleich, sein sonst so strahlendes Angesicht erblaßt, die Arme sind ausgestreckt, als wollten sie noch im Sterben die Menschheit an sein Herz rufen, und stromweise fließt sein kostbares Blut aus den geschlagenen Wunden. Da hängt er in unnennbaren Schmerzen, die in den zartesten und feinsten Theilen seines Körpers wühlen, um das Kreuz herum stehen seine leidenschaftlichen Verfolger, seine bitteren Spötter, die Pharisäer und Schriftgelehrten schütteln den Kopf und sprechen: „Andern hat er geholfen, er helfe ihm selbst, ist er Christus, der Auserwählte Gottes.“ Die wilden Kriegsknechte stimmen ein in den Spott. „Bist du der Juden König, so hilf dir selbst.“ Seine Feinde grinsen sich Freude zu, daß ihr heilloses Werk ihnen gelungen und der Sieg auf ihrer Seite geblieben ist; dazwischen lärmt das Volk, das sein Hosianna vergessen und nicht weiß, wie ihm geworden, und mitten unter diesem Spottregen, unter diesen Martern öffnet der Gekreuzigte seinen Mund, und betet: Vater, vergib ihnen, sie wissen nicht, was sie thun. Welch ein Wort der Liebe! Nicht an sich denkt er zuerst und an seine Schmerzen, an die Feinde denkt er und ihre Sünden. Sie spotten, und er bittet; sie wüthen gegen ihn, und er bittet für sie; sie freuen sich ihrer Mordlust und Rache, und er bittet für sie um Vergebung; sie suchen seinen Namen verhaßt zu machen beim Volk, beim Landpfleger, beim Kaiser, und er bittet für sie beim Vater um Vergebung; sie sind so gefühlslos, daß sie an den Todesqualen des Hingerichteten noch ihre Freude haben und ihren Witz üben können, und er ist so liebevoll, daß er in Augenblicken, wo sie den Frevel aufs höchste treiben, und die Schmerzen am heftigsten wüthen, ihren Thaten die mildeste Deutung gibt. Wahrlich, das heißt lieben, das ist ein Vorbild vollkommener Gerechtigkeit, die da sagen kann, „Lernet von mir, denn ich bin sanftmüthig und von Herzen demüthig“ und die durch eigne Beobachtung ihrem Gebote Kraft und Nachdruck gibt: „Liebet eure Feinde, segnet, die euch fluchen, thut wohl denen, die euch hassen, bittet für die, so euch beleidigen und verfolgen.“ O ihr, die ihr nur einmal in eurem Leben ein Opfer der Bosheit Anderer geworden seid, nur einmal im Elende liegend, den Spott eurer Feinde hören mußtet, die ihr fühltet, wie der Zorn da kochte in eurem Blute, wie die Rache und der Stolz in euren Herzen sich erhob, und gern zu Worten und Thaten der bittersten Feindschaft fortgeschritten wäret, wenn ihr nur gekonnt hättet; müßt ihr nicht gestehen, dieser Jesus muß ein anderes Menschenherz haben, als mein Menschenherz ist? Auch für euch hat er gebetet: „Vater, vergib ihnen, sie wissen nicht, was sie thun.“ Auch an euch hat er gedacht, als er im Sterben hing, und uns Allen kommt zu Gute die Kraft seiner göttlichen Fürbitte.

Die Feinde unter dem Kreuze und die rohen Krieger fuhren indessen fort zu spotten; auch der Uebelthäter einer, die gehenkt waren, obgleich er ein Räuber und Mörder war, stimmte ein in den Spott der Uebrigen, es riß ihn mit fort, und er sprach: Bist du Christus, so hilf dir selbst und uns.“ Da antwortete der andere, strafte ihn und sprach: und du fürchtest dich auch nicht vor Gott, der du doch in gleicher Verdammnis bist? Und zwar wir sind billig darinnen, denn wir empfangen, was unsere Thaten werth sind, dieser aber hat nicht Ungeschicktes gehandelt.“ Ob er durch eine leidenschaftliche Aufwallung oder plötzlichen Leichtsinn in seine Sünde und Strafen gefallen war, wissen wir nicht, da uns aus seinem frühern Leben nicht berichtet wird; aber das sehen wir aus diesen Worten, daß er Gott fürchtete, daß er sich selbst mit dem Andern straft, daß er seine Sünde und die Gerechtigkeit der Strafe anerkennt. Sein Herz war ein bußfertiges Herz und in der letzten Stunde seines Lebens noch bekümmert um Gnade. Aber noch mehr, es war auch ein gläubiges Herz. Seine Füße waren gebunden, seine Hände durchnagelt, sein Körper ausgespannt am Holze, er hatte nichts mehr frei als sein Herz und seine Zunge, und mit dem Herzen glaubte er, mit der Zunge bekannte er den Herrn, und sprach: „Herr gedenke an mich, wenn du in dein Reich kommest.“ Den, welchen kein Sklave in diesem Augenblick für seines Gleichen erkannt hätte, nannte er „Herr“; er redete von seinem „Reiche“, das die Ueberschrift über dem Kreuze zu einem Spott gemacht hatte bei den Einheimischen und Fremden; er bat sogar den Leidenden und in der tiefsten Verachtung am Kreuze Sterbenden, den von der Welt Verworfenen und als Missethäter Hingerichteten, daß er sein gedenken möge, wenn er in sein Reich käme. Fürwahr, er mußte einen Glauben haben wie Abraham, der sich an das hielt, was er nicht sah, als sähe er es, einen Glauben, der die ewige Herrlichkeit des Sohnes Gottes festhielt mitten in seiner allertiefsten Erniedrigung, einen Glauben, der sich durch den Augenschein des Gegentheils nicht irre machen ließ in der seligsten Ueberzeugung seines Innern, und der es wagte, trotz aller seiner schweren Sünden, Gnade flehen, Gnade hoffend, dem Thron des Richters der Lebendigen und der Todten zu nahen. Die Jünger waren geflohen und irre geworden, er aber blieb treu und besiegelte das Wort, daß die Letzten werden die Ersten, und die Ersten werden die Letzten sein. Darum begnadigte ihn auch der Gottessohn, sprach ihm Trost zu, und erleichterte ihm den Todeskampf durch die Verheißungen des ewigen Lebens. Wahrlich, sprach er zu ihm, ich sage dir, heute wirst du mit mir im Paradiese sein. Himmlische, aufrichtende Zusage! Du Räuber, du Mörder, du tiefgefallener Mensch, den dein Volk ausgestoßen hat, der du mit mir die tiefste Schmach der Erde duldest, du sollst mit mir im Paradiese sein, heute noch sollst du Theil haben an meiner Herrlichkeit, und das ist so ß wie nichts in der Welt gewiß ist, wahrlich, ich sage es dir. – Wie Geliebte? Ist das ein Mensch, der so redet, der Sündern vergibt, Sünder begnadigt, über das Paradies des Himmels schaltet und waltet, wie über sein Eigenthum? Ist das nicht schon die Herrlichkeit des Richters der Lebendigen und der Todten, die sich in diesen Worten und darstellt? Ist das nicht eine alle Begriffe und Ahnungen unendlich übersteigende Gnade, die zu einem armen Sünder also sich herabläßt? O höret es, höret es Alle, dies Wort: „Wahrlich, ich sage dir, heute wirst du mit mir im Paradiese sein“, und fasset den Trost auf, der in demselben auch für uns verborgen liegt, wenn unser Gewissen uns anklagt, wenn unsre Sünden uns drücken, wenn wir unsere Schuld fühlen, wenn wir nur einen Seufzer auf der Lippe tragen, den Seufzer um Erbarmen, wenn wir zu Gottes Tische gehen und uns seiner Gnade unwürdig fühlen, und danket dem Herrn, der noch am Kreuze sein ganze Heilandsmacht und Heilandsgnade offenbarte.

Unter dem Kreuze, im drängenden und wogenden Volke, standen auch Maria und Johannes. Die Tausende, welche Jesum mit Hosianna und Palmen in Jerusalem eingeführt hatten, waren verstummt; die Blinden, die Tauben, die Aussätzigen, die Lahmen, die er geheilt, die Armen, denen er das Evangelium verkündigt, die Todten, die er auferweckt hatte, hatten ihn vergessen und verlassen; die Jünger selbst waren bis auf Johannes geflohen; nur die Mutter konnte nicht wegbleiben von seinem Kreuze. Sie kannte seine Unschuld, sie hatte sooft die tiefsten Blicke gethan in sein großes, edles und reines Herz, sie wußte, was er gewollt und gethan, und nun sah sie ihn für alle diese Liebe und Treue mit dem Tode der Verbrecher gestraft. An dem Kreuze stand die bleiche Mutter da, die schmerzenreiche, als ihr Sohn im Sterben hing; ach, ein Schwerdt ihr durch die warme, hoffnungsleere, trostesarme, tiefgebeugte Seele ging. Was Simeon ihr geweissagt hatte, als sie ihr neugebornes Kind im Tempel darstellte, daß ihr einst ein Schwerdt würde durch die Seele dringen, das erfüllte sich jetzt. Sie fühlte das Schwerdt in ihrer Seele; sie sah den Sohn, dessen Erscheinung einst ein Engel angekündigt, dessen Geburt himmlische Heerschaaren gefeiert, dessen Kindheit Könige aus dem Morgenlande angebetet, in dem alle Verheißungen Israels sich erfüllten, jetzt sterben; sah das Haupt, das sie vor vielen Jahren als Kindlein an ihre Mutterbrust so oft gelegt hatte, jetzt mit Dornen geritzt und blutend, sah die Hände, die ihre mütterlichen Liebkosungen so oft erwidert hatten mit Kindesliebe, und von denen so viel Segen ausgegangen war über Stadt und Land, durchbohrt und durchnagelt; sah den Mund, der so oft gerufen hatte: „Mutter, Mutter“, so oft Worte des Lebens gesprochen, in den heftigsten Schmerzen des furchtbaren Todeskampfes; dachte an die vergangenen seligen Tage, die nun nicht mehr waren, und nie mehr wiederkamen. Noch vor Kurzem war sie vom Volke bewundert und beneidet worden als die Mutter des großen Propheten; Tausende hatten sie hochgepriesen, und jetzt stand sie da, von Allen verlassen, ihrer höchsten Freude im Leben, ihrer gewissesten Stütze im Alter beraubt, alle ihre Hoffnungen vernichtet, die traurigste Zukunft vor Augen. Ach, und das Alles hätte sie ertragen, wäre es ihr jetzt nur vergönnt gewesen, die letzten qualvollen Augenblicke dem theuren Sterbenden zu erleichtern, die Ströme des Bluts ihm zu stillen, sein Haupt ihm zu halten und zu stützen und die letzten Seufzer von seinen sterbenden Lippen zu küssen. Doch indem sie so dastand und wankte, blickte Jesus auf sie hernieder: o wie mußte der Blick seines Auges ihr wohlthun! Er dachte an ihre trostlose Lage, an ihre Sorgen, ihre Befürchtungen, ihre künftige Noth, und hätte er auch nichts zu ihr gesagt, aus seinem vielsagenden Liebesblick hätte sie sich schon getröstet gefühlt. Aber er konnte nicht schweigen, als er sie sah, und sprach: Weib, siehe, das ist dein Sohn, und zu Johannes: Siehe, das ist deine Mutter. So heiligte er noch sterbend ihre Verbindung, gab der verlassenen Mutter einen Sohn wieder, und zwar den, der an seiner Brust gelegen, und unter allen Jüngern ihm der Liebste geworden, und auch jetzt noch treu geblieben war, bis in den Tod; Johannes sollte Kindespflicht an ihr thun, und Einer in dem Andern die Gabe seiner letzten Liebe erkennen. So waren sein letzten Aeußerungen und Anordnungen nichts als Ergießungen einer überströmenden Liebe und Erbarmung, und so lange Maria und Johannes lebten, mußte diese Stunde ihrer engern Verbindung ihnen unvergeßlich sein. Wie sein erstes Wort Vergebung für die Mörder erflehte, sein zweites Gnade und himmlische Seligkeit aussprach, so offenbarte das dritte seine zärtliche Fürsorge für die Seinen.

Möge er auch unsere Verbindung auf Erden heiligen, und durch den Geist, den er ihnen mittheilt, sie weihen zu Vorschulen des Himmels.

II.

Die drei ersten Worte der vergebenden, begnadigenden und fürsorgenden Liebe waren gesprochen; die sechste Stunde des Tages, die Mittagsstunde war gekommen, die Qualen der Sterbenden wuchsen von Minute zu Minute. Da verhüllt sich plötzlich die Sonne, der Schrecken der Finsternis lagert sich über die ganze Erde von der sechsten bis zur neunten Stunde, die Erde bebt, die Felsen zerreißen, die Gräber thun sich auf, die ganze Natur geräth in furchtbare Bewegung; es ist, als wenn jetzt der Allmächtige vom Himmel herab reden wollte, während Jesus Christus drei Stunden hindurch schweigt; wie weggescheucht eilt ein bedeutender Theil des Volks in die Stadt zurück, und kaum sind sie in die Stadt eingetreten, so kommt ihnen die entsetzliche Nachricht entgegen, daß im Tempel der Vorhang zerrissen sei zwischen dem Heiligen und Allerheiligsten von oben an bis unten aus. Nur wenige bleiben mit den Freunden des Herrn an der Richtstätte. Da, um die neunte Stunde, um drei Uhr nachmittags, bricht Jesus Christus das lange Schweigen und spricht zu Gott, dem Richter. O hört es betend, was der Sohn Gottes zu seinem Richter spricht! Er spricht: Eli, Eli, lama asabthani, d. h. mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? Geheimnisvolle Worte! Die Himmel fassen euch nicht, die Engel verstummen vor euch: wie könnten wir es wagen, den Schleier lüften zu wollen? Wir können nur ahnen, was ihr sagen wollt. Wenn Jesus während seines Lebens sprach: „Die Vögel unter dem Himmel haben ihre Nester, und die Füchse ihre Gruben, aber des Menschen Sohn hat nicht, wo er sein Haupt hinlege“; wenn er weinte über Jerusalem, wenn er in Gethsemane zitterte und zagte und betrübt ward bis in den Tod und der Angstschweiß wie Blutstropfen von seiner Stirn auf die Erde fiel und ein Engel vom Himmel ihn stärken musste, wenn der Verrath des Judas, die Verleugnung des Petrus, der Spott und Hohn seiner Feinde ihm tiefe Wunden bohrte: so war das Alles doch nur Einleitung, Vorbereitung, Anfang des ungeheuren Schmerzes, des furchtbaren Seelenkampfes, der in den Worten lag: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Wir mögen fragen: wie war es möglich? Wie konnte der, dessen Herrlichkeit war wie die des Eingebornen vom Vaters voller Gnade und Wahrheit; der, der da war das Ebenbild seines Wesens und der Abglanz seiner Herrlichkeit, der der selbst sagte: „ich und der Vater sind Eins“; der nie eine Sünde gethan, und in dessen Munde nie ein Betrug erfunden worden, sich von Gott verlassen fühlen? Wir begreifen die Möglichkeit nicht, wir ahnen ein Geheimnis ohne Gleichen. Das Furchtbarste, was wohl dem Menschen widerfahren kann, ist das Schicksal von Gott verlassen zu sein, denn das höchste Gut des Menschen ist Gott, ohne ihn kein Trost, keine Freude, keine Kraft. Getrennt, verlassen von Gott ist der Mensch aber nur im Unglauben und in der Sünde, von Sünde kann nun bei Christo die Rede nicht sein, denn er war Gottes Sohn, von Unglauben auch nicht, denn er war der vollendete Mensch, der Menschensohn; aber stellvertretend trug er unsere Schmerzen, war das Lamm Gottes, das der Welt Sünden trug, und wurde für uns zur Sünde gemacht, auf daß wir würden in ihm die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt. Darum starb er nicht bloß den irdischen Tod, sondern ließ auch den Zustand der Unseligen vor sich vorübergehen, durchkämpfte auch den geistlichen und ewigen Tod, und indem er diesen Tod durchkämpfte, rief er aus: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ So rief er, damit wir uns nie möchten von Gott verlassen fühlen, damit, wenn die Noth am höchsten, wir glauben dürften, daß auch die Hülfe am nächsten sei; und wir in jeder Dunkelheit der Seele, in jedem Kampf und Weh des Lebens in ihm unsere Genüge finden. So rief er, als der Wendepunkt des Erlösungswerks gekommen, der göttlichen Gerechtigkeit Genüge gethan war, und die Menschheit auf ewig vom Verderben befreit dastand.

Danach, als Jesus wusste, daß schon Alles vollbracht war, daß die Schrift erfüllet würde, sprach er: Mich dürstet. Sechs Stunden hatte er schon am Kreuze gehangen, im langsamen, martervollen Tode, in der glühenden Mittagshitze, unter einem Himmelsstrich, der viel heißer ist als der unsrige, nach einer Seelenangst und anhaltendem Gebet durchwachten Nacht, erschöpft, von allen Misshandlungen und Schmerzen, so wie vom Blutverluste, was war natürlicher als dieser Durst? Lange hatte er jede Erquickung verschmäht, um sich frei zum Gebet zu erhalten, doch nun stieg der Schmerz zu einer ungewöhnlichen Höhe, er ahnte die Nähe des Todes und rief: „Mich dürstet.“ Aber nicht bloß seine Körper, auch seine Seele dürstete, es verlangte ihn nach der Vollendung seines Werks, nach der Ablegung der Knechtsgestalt, nach den ewigen Früchten seines Todes, nach der Seligkeit einer sündigen Welt und nach dem Reiche seines Vaters. Vor den Augen seiner Allwissenheit stand die Millionen Menschen in ihrem Elende, er sah sie, ihn jammerte derselben, und er dürstete danach, sie selig zu machen im Glauben. So theilte er jeden Schmerz unserer Natur, um uns davon zu befreien, unsern Durst nach Seligkeit auf ewig zu stillen, jedes zeitliche Unglück, um es in Gnade zu verwandeln und auch in uns die Sehnsucht nach Vereinigung mit ihm rege zu machen. Die Kriegsknechte reichten ihm einen Schwamm mit Essig gefüllt dar, das war sein letzter, ärmlicher, einziger Labetrunk!

Darauf aber wandte sich die Stimme des Klagens plötzlich um in die Stimme des Triumphs. Als Jesus den Essig genommen hatte, sprach er: Es ist vollbracht. Geliebte, was mußte Maria empfinden, als sie in dem Klange der Worte schon die Stimme der Vollendung erkannte! Was mußte der Schächer fühlen, als des Herrn Sieg auch den Seinigen verhinderte! Wie mußte es durchzucken die Millionen unsichtbarer Zeugen, welche staunend der großen Gottesthat zugesehen! Wie mußte dem Herrn selbst sein, als er nun an der Grenze seines unendlich versöhnenden Leidens stand! Wie sich der Arbeiter freut, wenn die Stunde des Feierabends schlägt, die seinen ermatteten Gliedern Ruhe und Erholung verheißt; wie der Wanderer sich freut, wenn die Stunde das Ziel der langen, beschwerlichen Reise erreicht hat; wie der Kranke sich freute, wenn er erlösende Tod kommt, der allen Schmerz auf immer ein Ende macht; so mochte er sich auch freuen, als er rief: „Es ist vollbracht.“ Vollbracht war seine Seelenangst in Gethsemane, seine Geißelung, seine Verspottung, der sechsstündige Todesschmerz am Kreuze, das furchtbare Gefühl von Gott verlassen zu sein, die ganze schwere Blutarbeit um unser Heil, vollbracht das Werk der Menschenerlösung, die Erwartung von vier Jahrtausenden und die Sehnsucht aller Frommen. Die Sünde der Menschen war getilgt, die ewige Gerechtigkeit und Liebe versöhnt, des Gesetzes Fluch verwandelt in Segen, die Schrift erfüllt und das Reich des neuen Testamentes aufgerichtet. Erklärt war es feierlich und durch Blut besiegelt, daß, wo die Sünde mächtig gewesen, die Gnade noch viele mächtiger geworden war! Und nun erscholl der Siegesruf durch die dunkle Finsternis, durch die staunende Menge: „Es ist vollbracht!“ Nun drang der Triumphruf durch die Lüfte an das Herz des versöhnten Vaters, Jesus rief laut: Vater, ich befehle meinen Geist in dein Hände. Mit voller Lebenskraft redete er noch im letzten Augenblick des Sterbens, kein gewaltsamer Kampf des Lebens mit dem Tode war bemerkbar, in Friede schlummerte er ein, als der Sieger über Leben Tod, über Sünde und Hölle, noch im Tode Gott seinen Vater und damit sich selbst den Sohn Gottes nennend, noch im Tode durch seinen lauten ruf unsern Glauben stärkend, und die Sterbestunden der Seinigen heiligend und erleichternd.

So starb Christus! Das waren seine letzten Worte. Wir haben sie gehört, Andächtige; wir haben ihn bluten und sterben sehen, wir sind im Geiste Zeugen gewesen seines martervollen Endes, was wollen wir nun thun? Es heißt in der Schrift: Da aber der Hauptmann sah, was das geschah, pries er Gott und sprach: Fürwahr, dieser ist ein frommer Mensch und Gottes Sohn gewesen. Und alles Volk, das dabei war und zusah, da sie sahen, was da geschah, schlugen sie an ihre Brust, und wandten sich wieder um. Das wollen auch wir thun, Geliebte, an unsre Brust schlagen und fühlen, wie jede unserer Sünden ein Nagel zu seinem Kreuze und ein Dorn zu seiner Krone, wie er um unserer Sünde willen zerschlagen und um unserer Missethaten willen verwundet worden ist, und unsere Strafe auf ihm lag, damit wir Frieden hätten und durch seine Wunden geheilet würden. Das wollen auch wir thun, und mit dem Hauptmann bekennen, daß Jesus Christus Gottes Sohn und unser Erlöser gewesen, daß all sein Leiden und zu Gute kommen und sein Verdienst die Quelle unserer Seligkeit werden möchte; dann aber auch aus Dankbarkeit und Gegenliebe für so viele Liebe uns ihm ganz hingeben, unser Leben ihm weihen, unsere Herzen ihm zum Opfer bringen, unser Kreuz ihm nachtragen, und ihm Sterben unsere Seele befehlen in seine Hände.

Herr, göttlicher Mittler, erbarmungsreicher Heiland, nimm uns gnädig an, heilige Dir selbst unsere Seelen, und verwirf uns arme Sünder nicht. Unsere Herzen sind bewegt von dem Anblick deiner liebenden Leiden und deiner leidenden Liebe, Du Mann der Liebe und der Schmerzen; o laß diese Bewegung bleiben, laß sie die stehende Grundstimmung unseres Inneren werden, laß Dein Marterbild und begleiten in die Freuden und Arbeiten, in die Schmerzen und Thränen des Lebens hinein. Wenn die Weltlust uns lockt, unsere Dir geweihete, Dir gehörende Seele vergiften will, und es darauf anlegt, uns von Dir wieder loszureißen und in ihren Jammer zurückzuziehen: Herr, tritt dann in Deiner Kreuzesgestalt vor unsere Seele, zeige uns deine Wunden und rufe uns zu: das that ich für dich, was thust du für mich? Wenn die Sünde, die Versuchung, der Unglaube, die Zweifellust, der Unfriede, die Thorheit und Klügelei uns nahet, und unsere Seele schwankt zwischen Deinem Gebot und der Lust der Sinne, wenn unser Gebet, unsere Liebe zu Dir ermatten will und der Kampf nachzulassen, der Feind zu siegen scheint: Herr, dann tritt in dem Bilde Deiner Leiden und Schmerzen vor uns hin, dann erinnere uns an Dein Kämpfen, Dein Ringen, Dein Bluten für uns, dann zeige uns den Preis, um deswillen wir erlöset sind, und gib uns neue Kraft und Stärke, daß wir das Feld behaupten und sprechen: wie könnt ich solch ein Uebel thun, und wider den Herrn meinen Gott sündigen? Wenn des Lebens Trübsale uns niederdrücken, die Noth steigt, die Menschen uns verlassen, die Unsrigen sterben, Alles um uns her die Oede und Wüstenei zu werden droht, dann, Herr, ja dann laß uns sehen Deine Geduld, deine Ergebenheit, Deine Sanftmut und Liebe, Dein Gottvertrauen, und in dem Anschauen Deiner Herrlichkeit Frieden und Ruhe finden für unsere Seele. Wenn endlich unser Sterbestündlein schlägt und wir den letzten Gang gehen sollen, unsere Augen nicht mehr sehen werden, unser Ohr nicht mehr hören wird, unsere Lippen nicht mehr seufzen können, dann laß den Blick auf Dich, die Erinnerung an Deine letzten Worte unser Labsal sein in unserer allerletzten Noth, dann reiche uns Deine durchgrabene Hand führe uns durchs dunkle Todesthal und nimm uns auf in Deine ewige Herrlichkeit.

Wenn ich einmal soll scheiden,
So scheide nicht von mir;
Wenn ich den Tod soll leiden,
So tritt Du dann herfür;
Wenn mir am allerbängsten
Wird um das Herze sein,
So reiß mich aus den Aengsten
Kraft Deiner Angst und Pein.

Erscheine mir zum Schilde,
Zum Trost in meinem Tod,
Und laß mich sehn Dein Bilde
In deiner Kreuzesnoth.
Da will ich nach Dir blicken,
Da will ich glaubensvoll
Dich fest an mein Herz drücken
Wer so stirbt, der stirbt wohl. Amen.

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