Arndt, Johann Friedrich Wilhelm – 12. Predigt

Arndt, Johann Friedrich Wilhelm – 12. Predigt

Text: Matth. V., V. 21-26.

Ihr habt gehört, daß zu den Alten gesagt ist: Du sollst nicht tödten! wer aber tödtet, der soll des Gerichts schuldig sein. Ich aber sage euch: Wer mit seinem Bruder zürnet, der ist des Gerichts schuldig, wer aber zu seinem Bruder sagt: Racha! der ist des Raths schuldig; wer aber sagt: Du Narr! der ist des höllischen Feuers schuldig. Darum, wenn du deine Gabe auf dem Altar opferst, und wirst allda eingedenk, daß dein Bruder etwas wider dich habe: so laß allda vor dem Altar deine Gabe, und gehe zuvor hin, und versöhne dich mit deinem Bruder, und alsdann komm und opfere deine Gabe. Sei willfertig deinem Widersacher bald, dieweil du noch bei ihm auf dem Wege bist, auf daß dich der Widersacher nicht dermaleinst überantworte dem Richter, und der Richter überantworte dich dem Diener, und werdest in den Kerker geworfen. Ich sage dir: Wahrlich, du wirst nicht von dannen heraus kommen, bis du auch den letzten Heller bezahlest.

Was Jesus mit den Worten unserer letzten Betrachtung gemeint hat: Es sei denn eure Gerechtigkeit besser, denn die der Schriftgelehrten und Pharisäer, so werdet ihr nicht in das Himmelreich kommen: das erläutert Er nun an sechs einzelnen Beispielen, in denen Er die Gerechtigkeit, wie Er sie forderte und wie sie in den Gesetzen des Alten Bundes eigentlich auch schon gemeint war, entgegengesetzt der Gerechtigkeit, welche die Pharisäer in ihren Lehren aufstellten und in ihren Handlungen ausübten. Sechsmal hintereinander lesen wir die Worte: Ihr habt gehört, daß zu den Alten gesagt ist – ich aber sage euch; und jedesmal ist der Sinn dieser Worte der: Ihr habt beim Vorlesen des Gesetzes in den Schulen gehört. Solches geschah alle Sabbathe, und die Schriftgelehrten fügten dann jedesmal eine ganz im Geiste des Pharisäismus aufgefaßte Erklärung hinzu, wovon die Folge war, daß das Volk das Gesetz ganz nach der Auslegung dieser seiner Schriftgelehrten verstand und anwandte, und eigentlich gar nicht mehr Gottes Gesetz, sondern die Satzungen seiner Pharisäer zu hören bekam; was geistlich gegeben war, fleischlich verstand, und von dem wahren Verstande der göttlichen Gebote zuletzt nichts mehr wußte. Jesus will daher durch seinen Gegensatz: Ich aber sage euch, nicht dem alttestamentlichen Gesetze, sondern nur sofern es durch die Satzungen der Volksältesten aufgelöst und ausgeleert worden war, widersprechen; Er will Seine Zuhörer zurückführen von der falschen Auslegung seiner Obersten zu dem richtigen Sinn des Gesetzes und das geistige Verständniß desselben ihnen öffnen und entfalten. Das ist die erste Vorbemerkung, Geliebte, mit der wir an die Auslegung der nun folgenden sechs Gegensätze zu gehen haben, um keinen schiefen Sinn denselben unterzulegen. – Eine andere, nicht minder wichtige Bemerkung ist die: daß Alles, was Jesus in der Bergpredigt sagt, sich lediglich auf Seine wahren Jünger bezieht; auf diejenigen, welche in die ganze Heilsordnung, wie Er sie in den acht Seligpreisungen auseinandersetzte, eingegangen sind, welche das Salz der Erde und das Licht der Welt sein sollten; aber keineswegs sich bezieht auf die Namenchristen, die bloß auf Jesum getauft sind, ohne Ihm innerlich und wahrhaft anzugehören, auf die sichtbare Kirche, auf die Kinder der Welt. Für Letztere behalten die alttestamentlichen Gebote in ihrer unmittelbaren, buchstäblichen Bedeutung ihre Gültigkeit; für Erstere gelten dagegen die geistigen und tieferen Erklärungen, welche Jesus über jene Gesetze ertheilt. – Endlich, um gleich alle Hauptsachen und Hauptblicke von vorne herein anzudeuten, spricht auch Jesus wieder in allen sechs Fällen nur die allgemeine Regel aus, wie sie in Beziehung auf die Gesinnung und das Verhalten Seiner wahren Jünger, als solcher, gelten soll, aber diese Regel soll keinesweges ausnahmslos sein; Jesus selbst und die Apostel erlaubten sich in besonderen Fällen vielfache Ausnahmen von derselben, und es ist die Sache des Geistes Gottes in uns und die Aufgabe unserer christlichen Weisheit und Liebe, in den jedesmaligen Umständen die Anwendung der Regel oder ihrer etwaigen Ausnahmen zu machen, wie sich dies näher bei der Prüfung und Deutung jedes einzelnen Gebotes ergeben wird. – Gehen wir nun mit diesen Grundsätzen an die Erklärung der vorliegenden sechs Fälle, so wird jede Schwierigkeit, die vielleicht beim ersten Anblick stattfinden könnte, sofort verschwinden. Der Herr beginnt diese schweren Stellen mit der Erklärung des Gebotes der Liebe gegen unsern Nächsten überhaupt, und zeigt, wie Seine wahren Jünger als das Salz der Erde und als das Licht der Welt dies Gebot üben, sowohl 1) in dem Verhältniß, in welchem sie zu Andern, als 2) in dem, in welchem Andere zu ihnen stehen.

I.

Ihr habt gehört, daß zu den Alten gesagt ist: Du sollst nicht tödten! wer aber tödtet, der soll des Gerichts schuldig sein. So nämlich legten die Pharisäer das Gesetz aus. Sie deuteten es bloß vom gemeinen Todtschlage und wiesen die Verbrecher der Art an die Untergerichte, welche in jeder Stadt aus sieben Richtern bestanden, und auf die Todesstrafe des Schwerdts erkannten. Dieser ganz verkehrten Auslegung gegenüber schließt nun Jesus den wahren Sinn des Gebots auf, wie er von Gott gemeint gewesen, und wie ihn Seine ächten Jünger verstehen müßten. Ich aber sage euch; ich, der ich die Meinung und den Willen des Vaters am besten weiß, und kein bloßer menschlicher Gesetzgeber, sondern der ewige Sohn Gottes bin; ich sage euch, nicht als etwas Neues, sondern als etwas nur Abgekommenes und Unbekanntgewordenes, das Gesetz auf Sinai verklärend: wer mit seinem Bruder zürnet; Jesus sagt nicht: wer mit seinem Bruder zürnet, um auch hier wieder theils zu zeigen, daß Er nur von Seinen wahren Jüngern rede, die alle in brüderlicher Liebe untereinander verbunden waren, theils die Sündhaftigkeit und Verwerflichkeit des Zorns recht augenscheinlich zu machen; wer mit seinem Bruder zürnt, grollt, in diesem Groll fortlebt, feindselig gegen seinen Mitchristen gesinnt ist: der ist des Gerichts schuldig, der ist ebenso strafbar, wie der, den Bruder wirklich getödtet hat; hat er doch die Liebe zu ihm im Herzen getödtet, ist doch das Bruderverhältniß durch den Haß aufgehoben; und er ist als solcher des Gerichts, d.h. der Strafe im ersten Grade, schuldig, über ihn müßte eigentlich schon jedes Untergericht das Todesurtheil mit dem Schwerdte fällen. Wer aber bei diesen innern Aufwallungen des Zorns nicht stehen bleibt, sondern sich auch zu heftigen, leidenschaftlichen Worten gegen ihn verleiten läßt, wer zu seinem Bruder sagt: Racha! d.h. Du leerer, eitler, nichtsnutziger Mensch, - ein damals im alltäglichen Leben gewöhnliches Sprüchwort – und darauf ausgeht, durch solches Wort seinem Bruder einen recht schmerzlich verwundeten Pfeil in’s Herz zu stoßen: der ist des Raths schuldig, der hat eine so schwere Sünde des Mordes begangen, daß sie, vergleichungsweise zu reden, gar nicht mehr vor ein Untergericht, sondern vor das höchste Gericht des Landes, vor den hohen Rath der Zwei und Siebenzig nach Jerusalem, hingehört und der erhöheteren Strafe der Steinigung werth ist. Endlich, wer es in seiner gehässigen Gesinnung auch dabei nicht bewenden läßt, sondern so weit geht, daß er zu seinem Bruder sagt: Du Narr! d.h. du Abtrünniger, Gottloser, Unverbesserlicher, (Weisheit wurde als aller Gottesfurcht Anfang, Thorheit gleichbedeutend mit Gottlosigkeit betrachtet.) also seinen Zorn bis zur Verfluchung und Verdammung Anderer steigert: der soll angesehen werden, als wenn er das schwärzeste Verbrechen begangen hätte, der ist nach menschlichem Maßstabe der allerhöchsten Strafe würdig, in’s Thal Hinnom nämlich, wo früher der scheußliche Molochsdienst getrieben worden war, und wo seitdem die Leichname unbeerdigt liegen blieben und endlich verbrannt wurden, geworfen zu werden; der ist des höllischen Feuers schuldig; zur ewigen Höllenstrafe. – Was dünkt euch, Geliebte: ist das nicht eine ganz andere Moral, als die, welche in der Welt gilt? Es ist wahr, vor einem Morde erzittert Alles, den Mörder verabscheut die ganze Welt, man spürt ihn auf, und Jeder überbietet den Andern in kraftvollen Reden. Nein, davor soll mich Gott bewahren, vor einer so schweren Sünde! sagen sie. Man muß das gelten lassen, und auch der wahre Christ fühlt einen innern Abscheu; denn wie gräßlich ist es, Menschenblut, Bruderblut zu vergießen, und wie tief muß ein Mensch gesunken, bis zu welchem Umfange muß die Sünde in ihm angewachsen sein, wenn er zu einer solchen Schandthat fähig wurde! Doch, nun scheiden sie sich. Dort ist ein Geschäftsmann, wie es sie in der Welt zu Tausenden giebt. Ein Anderer kommt ihm in den Weg, verursacht ihm sogar Schaden, und macht ihm Verdruß. Und es lodert augenblicklich in ihm auf, er kann sich selbst in seinem Zorne nicht bemeistern, wünscht ihm dieses oder jenes Böse, droht ihm und stößt bittere Worte aus. Das Alles kümmert ihn nicht. Er geht ruhig aus seiner Arbeitsstube Abends in die Gesellschaft oder nach Hause, als wenn nichts vorgefallen wäre. Er betet sein Abendgebet, wenn er noch betet, und legt sich mit so ruhigem Gewissen schlafen, als wenn er sich in der treuesten Erfüllung seiner Pflicht abgemüdet hätte. Wie ganz anders der wahre Jünger Jesu Christi, der die Bergpredigt gehört hat! Auch er wurde vom Zorne übereilt, und es nagt an seiner Seele. Du hast ein so schweres Verbrechen in deines Heilandes Augen begangen, als wenn du Jemand getödtet hättest; die Welt achtet es für etwas Kleines, aber du hast die unendliche Majestät deines Herrn beleidigt, und in Seiner Schule wird das Kleine groß. So klagt er sich an; so beugt er sich vor Seinem Herrn; so ruft er zu Ihm um Gnade und Vergebung. – Wir begleiten zwei Andere aus ihrer Wohnung in die Gesellschaft. Wie ziehen da die Weltkinder den guten Namen dieses oder jenes Nachbarn durch! Wie treu ist in ihnen ihr Gedächtniß, das wieder zu erzählen, was vor Jahren gesagt wurde! Wie unbarmherzig legen sie jedem Worte und jeder Handlung die böseste Deutung unter, und wie oft entfahren ihnen Redensarten, die viel mehr als Racha sagen! Und da stehen sie auf, wenn es Zeit ist, heimzugehen, und grüßen sich, und statt über ihre schweren Sünden zu klagen, danken sie einander, daß sie sich so vortrefflich unterhalten haben, und loben den als den besten Gesellschafter, der am gewandtesten sich auf die Kunst des Richtens verstanden hat; statt Gott um Vergebung zu flehen, preisen sie noch lange die Stunde als die angenehmste, die sie seit vieler Zeit erlebt; nur bitten sie einander um Verschwiegenheit, damit sie nicht übel fahren bei ihren Verläumdungen, und regt sich einmal das Gewissen, so denken sie: O das ist Kleinigkeit! Wahrlich, die Zunge ist ein kleines Glied; aber welch einen Wald zündet sie an! Ganz anders der wahre Jünger Jesu, der die Bergpredigt gelesen hat. Er weiß, daß er durch solche lieblosen Urtheile und unverantwortlichen Gespräche vor Gottes Augen sich mehr versündigen würde, als wenn er gemordet hätte, und weil er die Schwachheit seines Fleisches kennt, geht er nie in Gesellschaft, ohne vorher sich zu sammeln und Gott zu bitten, daß Er mit ihm gehen und seine Zunge im Zaum halten wolle. – Noch ein Beispiel, Geliebte, auf das uns das letzte Wort des Herrn führt. Wenn ein körperlicher Mord erzählt wird, so fühlt sich Jeder unwohl, und geheime Schauder ergreifen sein Gemüth. Aber da sitzen zwei Menschen, die sich selbst vermessen, daß sie fromm seien. Nun sprechen sie über ihre Brüder, richten scharf ihre Handlungen und Worte, nennen sie Teufelskinder, sprechen ihnen in heuchlerischer Selbstgefälligkeit alle Gnade, sprechen ihnen alles Christenthum ab, und morden ihre unsterbliche Seele. Wie? ist das auch Kleines? ist das Christenthum? ist das die Religion der Liebe, die Alles glaubt und Alles hofft? Nein, es ist nichts als Pharisäismus, der den Till, Kümmel und Münze verzehntet, aber das Wichtigste im Gesetze dahinten läßt, die Barmherzigkeit und den Glauben. Der christliche Grundsatz lautet: “Wer mit seinem Bruder zürnt, der ist des Gerichts schuldig; wer aber zu seinem Bruder sagt: Racha! der ist des Raths schuldig; wer aber sagt: Du Narr! der ist des höllischen Feuers schuldig.”

Indessen da erhebt sich ein sehr bedeutungsvoller Einwurf: Wie denn? der Herr verbietet hier das Zürnen; hat Er nicht selbst gezürnt? Als man Ihm einst am Sabbath einen Kranken mit einer verdorrten Hand zuführte, um eine Sache zu Ihm zu haben: sah Er sie nicht umher an mit Zorn und ward betrübt über ihre verstockten Herzen? (Marc. 3,5.) Hat Er nicht den Tempel gereinigt mit der Geißel und die Viehhändler alle hinausgetrieben, den Wechslern ihre Tische umgestoßen und ihr Geld verschüttet? Hat Er nicht Wehe gerufen, acht Mal hintereinander, über die Pharisäer und Schriftgelehrten? Hat Er sie nicht genannt “Narren und Blinde”? (Matth. 23,17.19.) Und Paulus, schreibt er nicht an die Epheser: “Zürnet; aber sündiget nicht, laßt die Sonne nicht über eurem Zorn untergehen?” (Eph. 4,26.) und an die Galater: “O ihr unverständigen Galater!” (3,1.) Allerdings, Andächtige! Hebt das aber das Verbot unseres Textes auf? Keinesweges; es erläutert und bestimmt nur dasselbe näher. Jesus verbietet das Zürnen und Narrsagen, welches mit dem Tödten auf gleicher Linie steht; Er verbietet aber nie das Zürnen, das, wie bei Ihm jederzeit, in Seiner Quelle, in Seinem Gegenstande, in Seinem Maße, unter dem Gesetze stand. So wenig durch das Verbot: “Du sollst nicht tödten!” das Tödten der Obrigkeit, die an Gottes Statt stehet, aufgehoben ist, so wenig ist durch das Verbot des Zürnens der rechtmäßige, heilige Zorn verboten worden. Auch dem heiligen Gott im Himmel schreibt die Bibel Alten und Neuen Testaments oft einen Zorn zu, und versteht unter demselben nichts Anderes, als die reine, unmittelbare Offenbarung Seiner Heiligkeit und Gerechtigkeit. Der Zorn an sich also ist nichts Böses; aber wohl die Art und Weise, wie er sich offenbart. Zürnest du deinem Bruder darum, weil er dein liebes Ich verletzt, deine Ehre gekränkt, deine Hoffnungen getäuscht, oder weil er dir auch nur widersprochen hat, weil er in deine Launen sich nicht fügen wollte: so ist dein Zorn ein sündhafter und eine schmähliche Frucht deiner Eigenliebe und Eitelkeit. Zürnest du ihm aber um seiner Sünde und um des Unrechts willen, das er gethan, weil er Gottes Gebot übertreten, weil er Ungerechtigkeiten sich erlaubt, der Unschuld weh gethan, die Wahrheit verletzt, Seufzer und Thränen ausgepreßt hat: so zürnest du um Gottes willen, und dein Zorn ist gerecht vor Gott. Zürnest du dem Bruder mit Heftigkeit, mit Leidenschaft, mit Schmähungen und Drohungen, mit wildem Toben und maßloser Wuth: so zittere; dein Zorn ist Mord vor Gottes Augen. Zürnest du aber ohne Bitterkeit, Leidenschaft und Groll; strafst du das Böse, weil es böse ist, ohne dich zu Ungestüm und Unwillen fortreißen zu lassen; bleibst du, auch beim tiefsten Abscheu an der That des Andern, immer deines Muthes Herr: so zittere nicht; dein Zorn ist gerecht vor Gott. Zürnest du endlich in der Absicht, deinen Muth zu kühlen, Rache zu üben, dem Andern weh zu thun, ihn zu verdächtigen, ihn herabzusetzen: so zittere; dein Zorn ist ein Mord in Gottes Augen. Zürnest du ihm aber, weil du seine Besserung wünschest, weil deine Liebe zu ihm ihn nicht länger ohne das tiefste Bedauern auf dem Irrwege kann fortgehen sehen, und weil du ihn gern zur Einkehr in sich selbst, zur Buße und Reue führen möchtest: so freue dich; dein Zorn ist gerecht vor Gott. Die Früchte werden’s auch bewähren. Der Erfolg wird deinen Zorn, der nur aus Liebe zürnete, krönen und belohnen; und bliebe er auch aus, der segnende Erfolg: da Bewußtsein wenigstens bliebe dir nicht aus, daß du deine Schuldigkeit gethan und nach Pflicht und Gewissen, nach Recht und Liebe gehandelt hast. Siehe, so zürnte Jesus, und selbst das Wehe aus Seinem Munde war mehr ein Wehe des mitleidigen Bedauerns, als des Verdammens; eine scharfe Vaterrüge mehr, als ein verurtheilender Richterspruch.

II.

Jesus giebt jedoch dem Gebote im Texte noch eine andere Wendung. Bisher hatte er bloß von dem Verhältniß gesprochen, in welchem wir zu Andern stehen; jetzt berührt Er aber auch das Verhältniß, in welchem sich die Andern zu uns befinden. Wir sollen nicht zürnen; aber wie? wenn nun Andere uns zürnen? wenn sie etwas gegen uns haben und uns wehe thun? Jesus antwortet: Darum, wenn du deine Gabe auf dem Altar opferst, und wirst allda eingedenk, daß dein Bruder etwas wider dich habe, so laß allda vor dem Altar deine Gabe, und gehe zuvor hin, und versöhne dich mit deinem Bruder, und alsdann komm und opfere deine Gabe. Also auch dann soll in unseren Herzen Liebe wohnen; eine Liebe, die nicht bloß nicht beleidigt, sondern die auch dem Beleidiger die Hand bietet, die die Flamme des Zorns in seinem Herzen auslöscht und Alles in Bewegung setzt, daß er uns nicht mehr hassen kann. Ja, diese Liebespflicht ist dem Herrn bei Seinen wahren Jüngern, die ein Salz der Erde und Licht der Welt sein wollen, so wichtig, so nothwendig, daß Er sagt: lieber solle die heiligste Handlung des Gottesdienstes aufgeschoben werden, als die Erfüllung derselben. Darum, weil ohne Liebe Niemand mein Jünger sein kann, und jede Sünde dagegen so schwer ist als ein Mord in den Augen jedes Menschen, wenn du deine Gabe auf dem Altar opferst, wenn du in das Heiligthum Gottes gegangen bist, um ein Opfer zu bringen, und der Priester es eben in Empfang nehmen will, um es Gott zu weihen, also in der heiligsten Handlung, in dem höchsten Augenblicke deiner Anbetung, oder nach unserer Art zu reden, wenn du deine Hände emporhebst zum Gebet, wenn du liesest im Worte Gottes zu deiner Erbauung, wenn du zur Beichte gehest, um Vergebung deiner Sünden zu empfangen, wenn du dem Tische des Herrn nahest, um Seinen Leib und Sein Blut zu genießen, und wirst allda eingedenk – eigentlich hätte es längst geschehen sollen, an jedem Abende bei der Selbstprüfung, du hättest die Sonne nicht sollen über deinem Zorn untergehen lassen; aber gesetzt, du hättest es im Gewühl des Lebens, unter seinen Sorgen und Arbeiten, vergessen, und es fällt dir jetzt erst, im Heiligthume des Herrn, vor Gottes Angesicht, schwer auf’s Herz, daß dein Bruder etwas wider dich habe, daß er Grund und Veranlassung hat, über dich zu klagen, weil du ihm weh gethan, ihn geringschätzig behandelt, dein Verhältniß zu ihm verändert, ihm deine Liebe entzogen hast, so laß allda vor dem Altar deine Gabe, laß deine Gabe vor dem Altar, lege sie nicht hinauf, denn sie ist noch unrein; aber laß sie da, nimm sie nicht hinweg, zum Zeichen, daß du wiederkommen werdest, daß du nicht meinst, die Versöhnung mit deinem Bruder reiche aus, ohne Versöhnung mit Gott; bete nicht weiter, gehe nicht zum Tische des Herrn, brich die wichtigste, heiligste Handlung deines Lebens ab, gehe zuvor hin und versöhne dich mit deinem Bruder, mache Alles wieder gut, stelle das alte Verhältniß ganz wieder her, bringe jedes Opfer, damit nur nicht ein Bund der Herzen, ein Christenbund, zerrissen werde; trage des Schwachen Gebrechlichkeit, und laß Alles stehen und liegen, bis du weiß, er hat nichts mehr gegen dich; ja, bis du dir selbst sagen kannst: ich habe nichts unterlassen, ihn zu beruhigen, und unser Verhältniß ist ganz, aber auch ganz das alte wieder geworden, und alsdann komm, denn jetzt erst kommst du recht, und opfere deine Gabe. Wie schrecklich wäre es doch, wenn in demselben Augenblicke, wo du vor Gottes Angesicht erschienest, flehend um Segen und Heil, oder dankend für empfangene Wohlthat und Freundlichkeit, einer deiner Mitbrüder zu demselben Throne eures gemeinschaftlichen Herrn hinträte und dich anklagte und über dich seufzte wegen deiner Lieblosigkeit, Untreue, Unbeständigkeit, oder deines kalten und gleichgültigen Betragens! Wahrlich, dein Opfer wäre sonst ein Kainsopfer, und du weißt, was von solchem Opfer in der Bibel geschrieben steht. Im Marcus (11,25.26.) sagt Jesus: “Wenn ihr stehet und betet, so vergebet, wo ihr etwas wider Jemand habet, auf daß auch euer Vater im Himmel euch vergebe eure Fehler;” im Teste geht Er noch weiter: “Wenn du deine Gabe auf dem Altar opferst und wirst allda eingedenk, daß dein Bruder etwas wider dich habe, so laß allda vor dem Altar deine Gabe, und gehe zuvor hin, und versöhne dich mit deinem Bruder.”

“Und warum soll das Alles so schnell geschehen? Warum sollen wir Alles stehen und liegen lassen, und eilen, um uns erst zu versöhnen? Wäre es nicht zweckmäßiger, da man einmal am Altare ist, erst die Gabe darzubringen, das Gebet auszubeten, das heilige Abendmahl zu feiern, und dann hinzugehen, um sich zu versöhnen? Und wenn nun der Feind viele Meilen entfernt wohnt? oder wenn er unversöhnlich bleibt? oder wenn mich in der Zwischenzeit der Tod übereilt?” Lauter Fragen des alten Menschen, des in uns steckenden Pharisäers, der gern die ewige Wahrheit durch Berechnungen und Ausflüchte entkräften möchte: aber dennoch bleibt es bei dem Worte des Herrn, und es darf kein Verzug stattfinden. Denn deine Gabe, dein Gebet, dein Abendmahl würde, mit unversöhnlichem Herzen dargebracht, Gott nur ein Gräuel sein und dir keinen Segen bringen. Paulus sagt (1. Tim. 2,8.): “Wir sollen im Gebet aufheben heilige Hände ohne Zorn und Zweifel,” und Johannes: “So Jemand spricht: ich liebe Gott, und hasset seinen Bruder, der ist ein Lügner; denn wer seinen Bruder nicht liebet, den er siehet, wie kann er Gott lieben, den er nicht siehet?” (1. Joh. 4,20.) Wie könntest du auch beten: “Vergieb uns unsere Schuld,” wenn du nicht mit gutem Gewissen hinzusetzen dürftest: “wie wir vergeben unsern Schuldigern”? Dann aber auch hat die Sache darum Eile, weil die guten Eindrücke und Entschließungen gar zu leicht wieder in uns erlöschen, und der günstige Augenblick, wo sie einmal erwacht sind, daher wahrgenommen, gepflegt und benutzt werden muß. Ach, wer weiß, ob er so günstig je wiederkommt, ob nicht bald die Menschenfurcht und die falsche Scham ihm in den Weg treten, bald störende Ueberlegungen erwachen, bald die äußern Umstände und neuen Verhältnisse das Gelingen erschweren werden! Je länger du wartest, desto schwerer wird das Werk der Versöhnung; denn nichts fällt dem Menschen schwerer, als sich selbst zu verläugnen, sich zu demütigen und vermeinten Ansprüchen zu entsagen. Es ist viel leichter, einem Bedürftigen Gutes zu erweisen, mit Rath und That Beträchtliches zu leisten, beim Anblick eines großen Elends gerührt zu werden und große Opfer und Entsagungen auf sich zu nehmen, als gespannte Verhältnisse auszugleichen und wieder herzustellen. Wie viel man auch innerlich bei der Fortdauer des Zwiespalts leidet und wie unglücklich man sich darüber fühlt; ja, wie sehr man von Herzen wünscht, daß das gestörte Verhältniß aufgehoben und alte, treue Liebe und Freundschaft so beglückend, wie ehemals, sich erneuern möchte: man kann es doch nicht über sich gewinnen, die nöthigen Schritte zu thun. Das Alles wußte der Herr, der Herzenskündiger; darum ermahnte Er, zu eilen mit der Aussöhnung, und lieber Gottesdienst, Gebet, Altar warten, lieber – o Erbarmung ohne Gleichen! – lieber Gott warten zu lassen, als den zürnenden Mitbruder; es ist ja auch keine Andacht möglich bei unversöhntem Herzen und Bitterkeit im Gemüthe. Und sollte er deine dargebotene Bruderhand nicht annehmen: nun, so hebe du sie fürbittend für ihn zum Himmel empor und bete für ihn, wie für dich, um Gnade und Barmherzigkeit. Ja, solltest du in der Zwischenzeit selbst des zeitlichen Todes sterben: immerhin, so stirbst du doch nicht des ewigen, geistigen Todes. Muß doch gerade die Unbestimmtheit deines Endes für dich ein neuer Sporn sein zur Versöhnung. Denn, womit schließt Jesus Seine Ermahnung: Er sagt: Sei willfertig deinem Widersacher bald, dieweil du noch bei ihm auf dem Wege bist, auf daß dich der Widersacher nicht dermaleinst überantworte dem Richter, und der Richter überantworte dich dem Diener, und werdest in den Kerker geworfen. Ich sage dir, wahrlich, du wirst nicht von dannen herauskommen, bis du auch den letzten Heller bezahlest, d.h. wie nach jüdischen Gesetzen keine Anklage vom Richter angehört werden durfte, ohne im Beisein des Verklagten, und daher Kläger und Angeklagter sich immer zugleich auf dem Wege zum Richter befanden: so ist auch unser Aller Leben nichts Anderes, als eine gemeinschaftliche Reise vor den Richterstuhl Gottes. Darum sei willfertig deinem Widersacher bald, dieweil du noch mit ihm auf dem Wege bist, ach, morgen kann es um ihn geschehen sein, morgen vielleicht steht er schon vor dem Richterstuhle Gottes und klagt dich der Lieblosigkeit und Härte an; morgen vielleicht liegt die Hand kalt und starr da, die heute noch den warmen Druck der Versöhnung empfangen konnte; - auf daß dich der Widersacher nicht überantworte dem Richter und der Richter überantworte dich dem Diener, d.i. dem Strafengel mit dem Flammenschwerdt, dem du nicht entrinnen kannst, und werdet in den Kerker geworfen, an den Ort, wo Finsterniß, Heulen und Zähneklappern ist ewiglich, und keine Rettung mehr, keine Erbarmung! Ich sage dir, wahrlich, - es sind keine leeren Schreckworte, um uns bange zu machen, es ist eine gewisse, ewige Wahrheit, du wirst nicht von dannen herauskommen, bis du auch den letzten Heller bezahlest; eine sprichwörtliche Redensart, die den Sinn hat: Du wirst ihn nie bezahlen, darum nie herauskommen, dein Loos ist ewiges Gefängniß, ewige Unseligkeit. Furchtbare Drohung! Daß sie uns denn treffe mit Blitzes Gewalt! Daß wir denn unsere Schritte beschleunigen; daß wir in der Abbitte und Genugthuung schnell seien, wie die Gedanken; daß wir nutzen die Gunst der Umstände, den Eindruck des göttlichen Wortes, den erwachten Herzenstrieb, um zu verhüten, was vielleicht später mit allen Thränen nicht wieder ausgelöscht werden kann, daß wir die Sonne nicht lassen über unserm Zorn untergehen! Ach, wir haben keine Zeit zu verlieren! Wollen wir das Salz der Erde und das Licht der Welt sein: laßt uns Liebe üben! Wollen wir in den Himmel eingehen und im Himmel die Seligkeit finden: laßt sie uns auf Erden schon bauen durch Liebe! In dem Punkte können wir nie zu viel thun, sondern immer zu wenig. Je mehr wir aber thun, desto besser; je demüthiger und je liebevoller wir werden, je weniger wir trachten nach hohen Dingen, sondern uns herunterhalten zu den Niedrigen, desto reicher sind wir und desto empfänglicher für neue Ströme der Gnade. Denn Gott ist die Liebe, und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm. Amen.

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