Arndt, Johann Friedrich Wilhelm – 2. Predigt

Arndt, Johann Friedrich Wilhelm – 2. Predigt

Text: Matth. V., V. 4.

Selig sind, die da Leide tragen, denn sie sollen getröstet werden.

Am Bußtage hatten wir aus der Gegenwart uns losgewunden und uns im Geiste versetzt auf jenen Berg in Galiläa, auf welchem der Herr Seinen Mund aufthat und sprach: „Selig sind, die da geistlich arm sind; denn das Himmelreich ist ihr.“ Dort stehen wir auch heute wieder; das erste Selig in seiner reichen und tiefen Bedeutung hat uns gedemüthigt und erhoben zugleich, durch Demüthigung und Erhebung uns aber gespannt, das zweite Selig aus Seinem Munde zu vernehmen. Es lautet: „Selig sind, die da Leide tragen; denn sie sollen getröstet werden.“ Es knüpft sich unmittelbar an das erste an. Des Segens jener Betrachtung voll, sammeln wir uns um dieses Wort, und schauen heute die Leidtragenden an, welche Jesus selig preist. Was sind das für Leidtragende? und warum preist Jesus sie selig? dies sind die beiden Fragen, deren nähere Beantwortung uns obliegt.

I.

Selig sind, die da Leide tragen. Offenbar, Geliebte, meint Jesus nicht alle und jede Leidtragenden; denn es giebt ein Gott mißfälliges Leidtragen, und das kann der Herr nicht selig preisen. Es giebt Unzufriedene, denen es Niemand, auch Gott nicht, Recht machen kann, weil sie vom Leben zu viel verlangen, lauter Freude, lauter Genuß, und die dann gegen Gott murren, wenn Er sie einmal mit Prüfungen und Drangsalen heimsucht. Es giebt Selbstsüchtige, deren Augen voll Thränen und deren Lippen voll Klagen sind, wenn ihre Wünsche nicht befriedigt, ihre Hoffnungen getäuscht werden, und es ihnen nicht geht nach ihrem Willen und Gutdünken, sondern nach Gottes weiser und gnädiger Führung. Es giebt Verblendete, die den Grund ihrer Leiden immer außer sich suchen; im Schicksal, in andern Menschen, in ihrer Bestimmung, - und nun als Ankläger ihres Looses und ihrer Brüder auftreten. Es giebt Kleinmüthige, die gleich verzagen und verzweifeln, alles Vertrauen daran geben, sich mit Zweifeln, Furcht und Sorgen aufreiben und sich selbst um allen Segen des Kreuzes bringen, den es unter andern Umständen für sie entwickeln würde. Diese Alle sind offenbar nicht gemeint von dem Herrn, wenn Er spricht: „Selig sind, die da Leide tragen:“ Ueberhaupt ist keine Trauer über irdische Entbehrungen und Verluste als solche gemeint; vielmehr handelt der ganze Zusammenhang von einer tieferen Herzenstrauer, von einer Beziehung des Schmerzes auf geistliche Entbehrungen und Verluste. Denn unmittelbar vorher sprach der Herr: „Selig sind, die da geistlich arm sind: denn das Himmelreich ist ihr!“ und gleich hinterher: „Selig sind die Sanftmüthigen; denn sie werden das Erdreich besitzen.“ Offenbar ist in dieser Stellung der Textesworte eine Steigerung unverkennbar. Zunächst preist Jesus selig diejenigen, die sich in ihrer geistlichen Armuth erkennen; dann diejenigen, die über diesen ihren Zustand Leide tragen; es soll nicht blos bei der Einsicht in ihr Elend bleiben, vielmehr soll die Einsicht zum Eindruck sich gestalten, das Wissen Gefühl, die Erkenntniß Schmerz werden. Selig sind, die da Leide tragen über ihren geistigen und sittlichen Zustand vor dem Herrn!

Es giebt nun eine dreifache Stufenfolge in der Entwickelung dieses Leidtragens: zuerst fühlt der Mensch Schmerz über die Folgen der Sünde; dann über die Sünde selbst; endlich über die Quelle der Sünde.

Da leben wir hin in unserm Glücke; das Loos des Verderbens ist uns gefallen auf’s Lieblichste; gesellige und freundschaftliche Kreise versüßen uns die Tage, die Gott uns schenkt; ein Sonnenstrahl der Freude lächelt uns an nach dem andern. Aber ist der Genuß dieses Glücks ein vollkommner bei irgend Einem unter uns? Eilen in der Regel die frohen Stunden nicht dahin, als flögen sie davon? Bricht ihr Ende nicht immer urplötzlich und unvermuthet herein, wenn wir auch nicht die leiseste Ahnung haben? Blieben auch alle Trübungen und Störungen unserer Heiterkeit fern: schon daß die Zeit so schnell flieht, daß wir weder das Leben genießen, noch das in unserm Berufe leisten und erreichen können, was wir gern möchten, daß die unbewußte Kindheit, dann der Schlaf, endlich die Erschlaffung der Kräfte, das Alter und, ach, die Trägheit so viel hinwegnimmt: ist das nicht im höchsten Grade bejammernswerth? ist diese Flüchtigkeit der Zeit, diese Nichtigkeit aller unserer Werke und Thaten, diese Vergänglichkeit und Unbeständigkeit alles Irdischen, nicht ein Zeichen unseres tiefen Falles? – Dann kommen die Stürme, die Ungewitter, die düstern Wintertage des Daseins, die Krankheiten, die Verluste, die Mühseligkeiten, Sorgen, Beschwerden, bittern Erfahrungen, Kränkungen der Menschen, die Wüsten des Lebens: o wenn so eine selbstgemachte Hoffnung nach der andern, ein liebes, süßes Herz nach dem andern zu Grabe geht und die ganze, weite Erde sich in ein Leichengewand hüllt, lauter Grabhügel, lauter Trümmer: fühlen wir es da nicht oft recht schwer, daß wir hienieden keine bleibende Stätte haben, sondern die zukünftige suchen, daß wir hier Pilger und Fremdlinge sind? stimmen wir da nicht unwillkürlich unsere Harfen zu weicheren Tönen? rufen wir da nicht aus mit Hiob: „Muß nicht der Mensch immer im Streit sein auf Erden, und seine Tage sind wie eines Tagelöhners? Wie ein Knecht sich sehnet nach dem Schatten, und ein Tagelöhner, daß seine Arbeit aus sei: also habe ich wohl ganze Monde vergeblich gearbeitet, und elender Nächte sind mir viel worden.“ (7,1-3.); mit Jacob: „Wenig und böse ist die Zeit meines Lebens, und langet nicht an die Zeit meiner Väter in ihrer Wallfahrt.“ (1. Mos. 47,9.); mit Moses: „Unser Leben währet siebenzig Jahre, und wenn es hoch kommt, so sind es achtzig Jahre, und wenn es köstlich gewesen ist, so ist es Mühe und Arbeit gewesen.“ (Ps. 90,10.); mit David: „Siehe, meine Tage sind einer Handbreit bei Dir und mein Leben ist wie nichts vor Dir. Wie gar nichts sind alle Menschen, die doch so sicher leben! (Ps. 39,6.); mit Sirach: „Es ist ein elend jämmerlich Ding um aller Menschen Leben, von Mutterleibe an, bis sie wieder zur Erde werden, die unser Aller Mutter ist; da ist nichts als Sorge, Furcht, Hoffnung, und zuletzt der Tod.“ (40,1-3.) Wahrlich, die Erde ist kein Himmel; die den hienieden erwarten, sind Thoren!

Woher aber diese Flucht unserer Tage, diese Unbeständigkeit des Glücks, diese Fülle von Trübsal, diese Bitterkeit des Todes? Ist das immer so gewesen? Gehören diese Erscheinungen zum Wesen der menschlichen Natur, oder des Erdenlebens? Nein, einst stand es anders um uns und um die Welt; Seligkeit, Engelverkehr, ewiger Frühling in der Natur und in dem Herzen, Gottesgemeinschaft war da das Gepräge der Menschheit. Die Sehnsucht nach etwas Höherem und Besserem, das Heimweh, das wir in uns tragen, ist der Gottesbürge und das Unterpfand dieses unvergleichlich herrlichen Zustandes am Anfange der Tage. Aber wodurch ist es verloren gegangen, jenes selige Ursein der Menschheit? Ach, durch eine einzige düstere Stunde, durch einen Ungehorsam, eine Verletzung göttlicher Gebote; denn sie war das erste Glied einer unabsehbaren Kette von Sünden. „Durch einen Menschen ist die Sünde gekommen in die Welt, und der Tod durch die Sünde, und ist also der Tod zu Allen hindurchgedrungen, dieweil sie Alle gesündigt haben“ (Röm. 5,12.) Daß es so traurig um uns bestellt ist, daß uns nichts hienieden genügt, die ganze Welt uns nicht befriedigt, wir uns auf die Dauer hin immer unbehaglicher, mißvergnügter, unzufriedener mit uns selbst und mit unserem Schicksale fühlen: das ist die Folge unserer Sünde. „Was murren denn die Leute im Leben also?“ ruft Jeremias aus; „ein Jeglicher murre wider seine Sünde.“ Die Sünde ist der Leute Verderben! Die Sünde ist aller Leiden und alles Todes alleinige Ursach. Die Sünde ist die Schlagen, die unsterbliche Menschenseelen vergiftet und sie um ihren zeitlichen und ewigen Frieden zu bringen sucht. Die Sünde ist das alleinige Uebel in der Welt; jedes Uebel, auch das größte, wäre zu ertragen, wenn das Schuldgefühl es nicht vergällte; ja, es wäre kein Uebel, keine Krankheit, kein Schmerz, kein Tod in der Welt, wenn keine Sünde da wäre. Wohlan, ihr Leidetragenden, trauert nicht über eure Leiden, trauert über eure Sünden; zerreißet nicht eure Kleider, zerreißet eure Herzen; sprechet nimmer: ich habe zu viel zu leiden; sprechet immer: ich habe viel mehr verdient. Denn ach, eure Sünden sind groß: so viel Tage, Stunden, Minuten, ich ohne Gott und Christum gelebt habt, so viel Sünden habt ihr begangen; denn Alles, was nicht aus dem Glauben kommt, ist Sünde. Eure Sünden sind schwer; denn sie sind Empörungen der Creatur gegen ihren Schöpfer und höchsten Wohlthäter, Frevel an dem Allbarmherzigen. Eure Sünden sind tief; denn alle Glieder eures Leibes, eure Augen, Ohren, Lippen, Hände, Füße sind Sündenglieder; alle Kräfte eurer Seele, euer Verstand, euer Gedächtniß, euer Gefühl, euer Begehren, euer Wollen, sind mit der Sünde durchzogen. Eure Sünden sind mächtig; denn alle Alter, alle Zustände, alle Lagen eures Lebens haben sie sich unterworfen. Eure Sünden sind eure Ankläger vor Gottes Gericht; denn sie sind eure Schuld! Weg mit allen Entschuldigungen, weg mit den Ausflüchten, die das falsche Herz so gern aufsucht; weg mit den Verkleinerungen und Beschönigungen unserer Missethaten: vor Gott gelten sie alle nichts, Er zerreißt sie wie Spinneweben.

Doch ihr habt trauern gelernt über die Folgen eurer Sünde und über eure Sünde selbst: warum, Geliebte, wirkt diese Traurigkeit nicht kräftiger auf eure Heiligung und Besserung ein? Warum bewährt sich an euch Salomo’s Wort nicht: Trauern ist besser, denn Lachen; denn durch Trauern wird das Herz gebessert? Warum bleibt es trotz eurer redlichsten Bemühungen und heißesten Kämpfe immer beim Alten, immer auf derselben Stelle und bei demselben Wort: „Nicht, daß ich’s schon ergriffen habe oder schon vollkommen sei, ich jage ihm aber nach, ob ich’s ergreifen möchte, nachdem ich von Christo Jesu ergriffen bin?“ und die Stunde kommt nicht und will nicht kommen, wo ihr sagen dürftet: „Jetzt halte ich, o Herr, Deine Gebote von ganzem Herzen, jetzt stehe ich am Ziele?“ Der Grund liegt wiederum in euch selbst, in eurem eigenen Herzen; denn aus dem Herzen kommen arge Gedanken, Mord, Ehebruch, Hurerei, Dieberei, falsche Zeugnisse, Lästerung. (Matth. 15,19.) Was vom Fleisch geboren ist, das ist Fleisch, und ein fauler Baum kann nicht gute Früchte bringen. (Joh. 3,6. Matth. 7,18.) Der Grund liegt in eurem Unglauben, welcher trotz der mannichfachsten Offenbarungen der göttlichen Gnade dem Herrn nicht folgen mag; in eurer Selbstsucht, die oft sogar dann, wenn sie Gottes Ehre zu suchen scheint, doch wesentlich sich selbst sucht; in eurer Reizbarkeit und Empfänglichkeit, in eurem Mangel an Wachsamkeit, Einfalt und Treue, in eurer angeborenen bösen Lust; denn die Lust, wenn sie empfangen hat, gebieret sie die Sünde, die Sünde aber, wenn sie vollendet ist, gebieret sie den Tod. (Jac. 1,15.) Der Grund liegt in eurer Lieblingssünde, sei sie Sinnlichkeit oder Ehrgeiz oder Habsucht, welche immer von neuem ihre Angriffe auf euch versucht. So erkennt denn in der allgemeinen Sündhaftigkeit der menschlichen Natur eure besondere Sünde, und laßt euch strafen und überführen durch den heiligen Geist von eurer Sünde, daß ihr nicht glaubet an Christum, daß es Stunden und Tage giebt, wo Sein Bild aus eurem Herzen weicht, und ihr kaltherzig vergessen könnt, was der Herr für euch gethan hat, daß der Sieg des Evangeliums über euch kein vollendeter und allumfassender ist. Traget Leide darüber und fühlet es stets unauslöschlich tief, daß das menschliche Herz ein trotzig und verzagt Ding ist, das Niemand ergründen kann.

Das Worüber unserer Trauer ist also klar, meine Lieben; nur das Wie bleibt noch zu erwägen. Wie wollt ihr Leide tragen über die Folgen eurer Sünde, über eure Sünde selbst, und über den Quell derselben? Wollt ihr es etwa bloß thun an Bußtagen, an Communiontagen, wenn die vorhergehende Selbstprüfung euch eure Sündhaftigkeit zum Bewußtsein bringt? Nein, jeder Tag eures Lebens soll ein Bußtag sein; an jedem Tage soll es heißen: „Vergieb uns unsre Schuld; heute, so ihr Gottes Stimme höret, verstocket eure Herzen nicht.“ Oder wollt ihr es bloß thun in der Kirche, wenn der Prediger gerade davon redet, sonst aber gedankenlos dahingehen, als drückte euch nichts? Dann müßte man auf euch anwenden das Wort: Einmal ist Keinmal! Nicht die Kirche allein; das Haus vielmehr, die Betkammer, der Schauplatz des täglichen Lebens, die Stätte eurer Sünde soll auch die Stätte eurer Buße sein. oder wollt ihr Leide tragen bloß darum, weil Gott es fordert? Dann wäre euer Schmerz ein gemachter, ein künstlicher Schmerz, kein wahrer und natürlicher, und es träfe euch das Wort: „Dies Volk nahet sich mir mit seinen Lippen, aber ihr Herz ist ferne von mir.“ (Matth. 15,8.) Nein, nein, das Alles wäre kein rechtes Leidetragen über euch selbst. Das wahre Leidetragen besteht darin, Buße zu thun über seine Buße, seine Schmerzensthränen selbst waschen zu lassen im Meere der Gnade, mit Augustinus zu flehen: „Vergieb mir meine guten Werke“; denn Alles ist unrein und befleckt an uns, selbst der Schmerz über unsern Abfall vom Herrn ist nicht rein, nicht wahr, nicht tief, nicht nachhaltig, nicht durchdringend genug.

II.

Wie kann Jesus aber nun sagen: Selig sind, die da Leide tragen? Ist denn der Schmerz an sich etwas Beseligendes, daß man ihn aufsuchen und in ihm wühlen müßte, um seiner ganz theilhaftig zu werden? hat die Welt Recht, wenn sie von einer Wonne der Wehmuth singt und die Glücklichen beneidet, die da weinen können? Gewiß nicht. Man hat nicht selten den Schmerz von dieser Seite betrachtet, und, unnatürlich genug, ihn um sein selbst willen liebgewonnen, in ihm etwas Verdienstliches gefunden, und aus dieser gesetzlichen übertriebenen Ansicht zu Fasten, Büßungen, Kasteiungen, sich verleiten lassen, um dadurch ein Anrecht an die Heiligen Gottes und an die höheren Stufen des Himmels zu gewinnen. Unser Text weiß davon nichts. Er sagt nicht: Selig sind, die da Leide tragen; denn dieses Leiden ist ihre Krone und ihr Ruhm. Er führt ein anderes Denn herbei: Denn sie sollen getröstet werden. Um des Trostes willen also; weil der Schmerz die Trauernden antreibt, den Herrn zu suchen und zu finden; um der göttlichen That, nicht um des menschlichen Gefühls willen; um der reichen Befriedigung willen preist der Herr das Bedürfniß selig.

Was ist das aber für ein Trost, den Jesus meint, wenn Er spricht: “Sie sollen getröstet werden“? meint Er jenen allbekannten Trost der Welt, welcher lautet: Zerstreue dich, vergiß deine Traurigkeit, setze dich über dein Elend hinweg, und trage das Unvermeidliche mit Würde? Nein, meine Lieben, ein solcher Gedanke wäre alles Andere in der Welt, nur Trost dürfte er nicht genannt werden. Selbsttäuschung wäre das, keine Beruhigung. Künstliche Abwendung des Auges vom Schmerz wäre es, keine Anwendung desselben zum Heile der Seele. Lüge wäre es, denn man läugnete damit des Schmerzes Nothwendigkeit, und indem man diese Nothwendigkeit läugnete, läugnete man die Weisheit und Heiligkeit Gottes, und indem man die Weisheit und Heiligkeit Gottes aufhöbe, läugnete man zuletzt seine Sünde, verkleinerte, verdeckte sie und kehrte alle Verhältnisse um. Gott will, wir sollen es uns tief durch’s Herz gehen lassen, daß wir gefallene Wesen sind: die Welt aber will, wir sollen uns dagegen abstumpfen, wir sollen eilen, darüber hinweg zu kommen, und bietet uns deßhalb ihre Genüsse und Zerstreuungen dar. O fliehet die Zauberin, die euch Leben vorgaukelt und Tod bringt! Sie ist mir ihren Liebkosungen eine Delila, die schon manchen Simson gestürzt hat. Der wahre Trost will den Schmerz nicht zudecken; im Gegentheil, er will ihn zum Bewußtsein bringen, er will die Wunde erst weit aufreißen, um sie besser auszureinigen, und dann nicht bloß theilweise erleichtern, sondern ganz und durchaus Trauer in Freude verwandeln. Der wahre Trost ist immer Hülfe zugleich! er beruhigt und er heilt.

Wie kann nun aber das Leidetragen über die Sünde beruhigt werden? Nur durch die Gewißheit der Vergebung. Wie kann es geheilt werden? Nur durch die Aussicht auf Erlösung. Gewißheit der Vergebung, vollkommene Erlösung: das, das sind die wahren, ewigen Trostesquellen. O fließt in unsere Seelen, ihr himmlischen Quellen: unsere Augen thränen euch entgegen; unsere Füße eilen, euch zu suchen; unsere Fragen, unsere Seufzer, unsere sehnsuchtsvollen Wünsche meinen euch; himmlische Trostesquellen, öffnet euch, strömet uns zu, kühlet ab den brennenden Schmerz über unser böses Herz und unser verlorenes Leben, bereitet uns heilenden Balsam für unsere Gewissenwunden! Wir fragen: Wo finden wir diese Gewißheit der Vergebung und der Erlösung? Da tönt uns eine Stimme entgegen: “Bessere dich, und Gott wird dir vergeben.“ Unseliger Trost! Können wir uns denn wahrhaft bessern, Geliebte? Sind nicht alle Kräfte unrein, mit denen wir uns bessern müßten? und wenn Gott nur so viel vergiebt, als wir uns bessern; wenn Er uns nicht ganz und vollkommen vergiebt, nicht um unsert-, sondern um Seinetwillen: so ist das eine Lehre zur Verzweiflung! Da tönt eine andere Stimme: „Tritt ein in unsere alleinseligmachende Kirche; wir haben Gnadenspenden, wie keine andere Kirche und Religion sie hat; beichte unsern Priestern, denn sie haben das Amt der Schlüssel, zu lösen und zu binden, vom Herrn überkommen, der ihnen die ausdrückliche Vollmacht gegeben hat: Welchen ihr die Sünden erlasset, denen sind sie erlassen, und welchen ihr sie behaltet, denen sind sie behalten.“ (Joh. 20,23.) Ungenügender Trost! Was der Herr Seinen Aposteln verliehen, das hat Er nicht euch verliehen; sonst hätte Er als Beglaubigungsformel euch auch mit der Gabe, Wunder zu thun, in fremden Sprachen und mit Zungen zu reden, ausgestattet. Was der Herr Seiner ganzen Kirche übertragen hat, hat Er keinem einzelnen Stande, als solchem, überwiesen. Und warum lehret ihr denn, daß kein Mensch in diesem Leben gewiß werden könne seiner ewigen Seligkeit? Warum ängstiget ihr denn die euch anvertrauten Gemüther mit Büßungen, Kasteiungen, Wallfahrten, Opfern? warum quält ihr denn die Sterbenden noch mit der Furcht vor dem Fegefeuer? warum habt ihr denn noch so viel Menschenbeiwerk ersonnen und erfunden, um nachzuhelfen? warum genügt euch denn nicht Christi Verdienst, die Menschen zu beseligen, sondern bedarf dieses noch ihres Zuthuns durch ihre Werke? Darum, weil ihr es fühlt, daß alle menschlichen Einrichtungen eurer Kirche nicht ausreichen zur Seligkeit, zur Gewißheit der Vergebung und zur Erlösung. Menschen können nicht vergeben, weder sich selbst, noch Andern; sondern Gott allein! Weg denn mit jenen verführerischen Stimmen, die wahren Trost versprechen, und nur halben Trost, nur einen Scheintrost geben können; die die Leiden nur vermehren, statt die zerschlagenen Herzen ihres Trostes freudig gewiß zu machen! Zu Dir fliehen wir, Herr Jesu, der Du gesprochen hast: „Selig sind, die da Leide tragen; denn sie sollen getröstet werden.“ Sage Du uns, worin dieser Dein Trost besteht; verschaffe Du uns Vergebung, verschaffe uns Erlösung.

Und siehe, sie ist das, die befriedigende Antwort auf alle Fragen. Drei Bürgschaften giebt uns der Herr, und nur eine Bedingung fordert Er. Drei Bürgschaften! Die erste ist: Sein Gotteswort, das uns Vergebung zusagt und verspricht: „Ich, ich tilge deine Uebertretung um meinetwillen, und gedenke deiner Sünden nicht. (Jes. 43,25.) Ich vertilge deine Missethat wie eine Wolke, und deine Sünde wie den Nebel. Kehre dich zu mir, denn ich erlöse dich. (44,22.) Wenn eure Sünde gleich blutroth ist, so soll sie doch schneeweiß werden, und wenn sie gleich ist wie Rosinfarbe, soll sie doch wie Wolle werden. (1,18.) Ich will meinen Bund mit dir aufrichten, daß du erfahren sollst, daß ich der Herr sei; auf daß du daran gedenkest und dich schämest und vor Schande nicht mehr deinen Mund aufthun dürfest, wenn ich dir Alles vergeben werden, was du gethan hast, spricht der Herr Herr.“ (Ezech. 16,62.63.) Schon dieses Gotteswort müßte uns genügen, um uns sowohl über jeden Zweifel, als über jede Furcht hinauszusetzen; denn was der Wahrhaftige zusagt, das hält Er gewiß. Weil aber Gott wußte, daß es dem verzagten menschlichen Herzen nicht genügte, hat Er zum Worte die That hinzugefügt, und Christus hat durch Seinen heiligen sündlosen Tod, den Er stellvertretend für uns übernahm, uns Vergebung der Sünden feierlich erworben, so daß um Seinetwillen wir vor Gott gerecht werden und die von Ihm freiwillig übernommene Strafe unserer Sünden uns so zugerechnet werden soll, als ob wir selbst die Strafe erduldet hätten. „Also hat Gott die Welt geliebt, daß Er Seinen eingeborenen Sohn gab, auf daß Alle, die an Ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben. An Ihm haben wir die Erlösung durch Sein Blut, nämlich die Vergebung der Sünden. Gott hat Den, der von keiner Sünde wußte, für uns zur Sünde gemacht, auf daß wir würden in Ihm die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt.“ (Joh. 3,16.; Col. 1,14.; 2- Cor. 5,21.) O wenn Er, der heilige Gottessohn, für uns den schreckenvollen Tod auf Golgatha litt, wenn Er für uns duldete, kämpfte, starb in des Wortes höchster und umfassendster Bedeutung: so ist unser Schuldbuch zerrissen, so ruht auf einem Gottesfelsen die Gewißheit unserer Vergebung, und die erlösete Seele darf singen: „Herr Jesu Christ, Dein theures Blut ist meiner Seele höchstes Gut; das stärkt, das labt, das macht allein das Herz von allen Sünden rein.“ Endlich aber, damit gar kein Zweifel obwalten möchte an Seinem Ernste, uns wohlzuthun und zu segnen, setzte Er das heilige Abendmahl ein, um uns in diesem herrlichen Sacramente die durch sein Wort uns verheißene und am Kreuze uns erworbene Vergebung zuzueignen, und ruft in demselbigen, so oft wir es genießen, uns zu: „Nehmet hin und trinket, so oft wir es genießen, uns zu: „Nehmet hin und trinket, dieser Kelch ist das neue Testament in meinem Blute, das für euch und für Viele vergossen wird zur Vergebung der Sünden.“ Diesen großen Bürgschaften gegenüber fordert der Herr nur eine Bedingung: daß wir sie glauben und im Glauben uns aneignen. Kann man Größeres geben? kann man Geringeres fordern? Treibt nicht schon das Schmerzgefühl und der Wunsch, von demselben befreit zu werden, uns hin zum Glauben? Und wenn nun noch Hunderte, Tausende, Millionen von Leidtragenden, die in dieser Gewißheit Ruhe und Trost gefunden haben; wenn nun noch alle die Gichtbrüchigen, die Marien Magdalenen, die Zöllner, die Zachäus, die Schächer am Kreuz, die Märtyrer, die Reformatoren als Zeugen auftreten, daß sie die Gewißheit der Sündenvergebung kraft des Verheißungswortes Gottes, kraft des stellvertretenden Todes Jesu Christi und kraft des heiligen Abendmahls an ihrem Herzen erfahren haben: ist es uns da nicht, als sänke auch bei uns die centnerschwere Last unserer Schuld von unsern Schultern nieder, als könnten, als dürften wir nicht mehr in Sorgen schweben, als müßte es auch bei uns heißen: „Nun wir denn sind gerecht worden durch den Glauben, haben wir Friede mit Gott durch unsern Herrn Jesum Christum. (Röm. 5,1.) Es ist nichts Verdammliches an denen, die in Christo Jesu sind, die nicht nach dem Fleische wandeln, sondern nach dem Geiste.“ (8,1). „Wohl dem Menschen, dem der Herr die Sünde vergiebt, dem ER die Missethat nicht zurechnet, und in deß Geiste kein Falsch ist?“ Wer nun noch anstehen wollte, Gottes Gnade mehr Gutes zuzutrauen, als seine Sünde Strafe verdient hat: der müßte an Allem zweifeln, was es Gewisses im Himmel und auf Erden giebt; für den wäre es auch nicht einmal gewiß, ob die Sonne am Himmel steht, oder ob es einen Gott giebt, ob der Mensch eine Seele hat und diese Seele ewig lebt. Dürfen wir aber glauben das Große, Wunderbare der göttlichen Gnadenführung: dann sind wir auch vollkommen getröstet, und sind wir vollkommen getröstet, so sind wir auch getrost, und sind wir getrost, so sind wir auch selig, und es bleibt bei dem Worte des Erlösers im Texte: „Selig sind, die da Leide tragen; denn sie sollen getröstet werden.“ Der Schmerz ruht noch auf dem Grunde des Herzens, weil die Sünde bleibt; aber er ist verklärt, und auf dem dunkeln Grunde desselben erhebt sich lieblich und heiter die Freude über des Herrn unendliche und ewige Barmherzigkeit. Mit dem Schmerze über die Sünde ist dann aber auch jeder andere Schmerz überwunden; innerlich getröstet über unsern Abfall von Gott, sind wir zugleich getröstet über jedes Leiden der Erde, das uns sonst drückt. Es ist nicht mehr Strafe, es ist ein Gnadenkreuz. Es kommt nicht mehr von Gottes Gerechtigkeit, es kommt von Seiner Liebe, und wir dürfen dem Apostel sein Zeugniß nachsprechen: „Wie wir des Leidens Christi viel haben, also werden wir auch reichlich getröstet durch Christum.“ (2. Cor. 1,5.) „Wir sind erfüllet mit Trost, wir sind überschwänglich in Freuden in allem unserm Trübsal.“ (7,4.) Daß so Viele unter uns sich im Leiden trostlos verhalten, kommt lediglich daher, weil sie noch nie vom äußern Leiden zum innern, vom Leiden des Leibes zum Leiden der Seele übergegangen sind, noch nie ihre geistliche Armuth erkannt, noch nie Traurigkeit gefühlt haben über ihre Sünde, vielmehr oft im Leiden sich durch Trotz erst recht wieder versündigen und sich nicht wollen trösten lassen. Oder wie, Geliebte? Fragt euch einmal ernstlich vor Gott: Habt ihr schon über eine Sünde geweint? Ueber Anderes gewiß genug; aber auch schon über eine Sünde? Ach, wer nie über sich weint, der weint entweder über Andere und über das Böse, das sie ihm zufügen, oder er weint über die schlechten Zeiten, über seine Noth und Armuth, die er, wie er denkt, unverschuldet tragen müsse; damit weint er aber eigentlich über Gott, der Beides zuläßt, ihn dadurch zu prüfen. Weinet denn über euch selbst, damit ihr euch freuen könnet über den Herrn und über Seine Gnade, und eure Trauer hier schon theilweise, dereinst aber ganz in Freude verwandelt werde. Wie das dereinst geschehen wird, ob mit der Trennung des Leibes von der Seele auch die Sünde sich trennen wird von demselben, oder ob mit dem Aufhören der Versuchungen auch die Neigung zur Versuchung, die Erbsünde, aufhören, oder ob noch auf andere Weise jene große Verwandlung vor sich gehen wird: das wissen wir nicht, dies ist des Herrn Sache, und Er wird sie hinausführen. Genug, dann wird die gläubige Seele schauen, und im Schauen ganz rein und selig sein! Die Thränen sind versiegt, und die Freudenernte ist groß und unermeßlich, wir ernten dann, wie die Schrift sagt, ohne Aufhören.

Fliehet denn nicht, Geliebte, den Schmerz und die Thränen: sie sind die Quellen einer unaussprechlichen Freude. Der Mensch ist ein unglücklicher Mensch, der noch nie über sich geweint hat; derjenige aber ist beneidenswerth, der sich anschaut, wie er gestaltet ist, und sich nicht schämt, seinen Jammer vor Gott auszuweinen. Selig sind, die da Leide tragen; denn sie sollen getröstet werden.

Selig sind, die Leide tragen,
Göttlich trauern über sich,
Die beseufzen und beklagen
Ihre Sünden inniglich;
Die für sich und Andre flehn,
Und vor Gott mit Thränen stehn;
Diese sollen noch auf Erden,
Und einst dort getröstet werden.

Amen.

Cookies helfen bei der Bereitstellung von Inhalten. Diese Website verwendet Cookies. Mit der Nutzung der Website erklären Sie sich damit einverstanden, dass Cookies auf Ihrem Computer gespeichert werden. Außerdem bestätigen Sie, dass Sie unsere Datenschutzerklärung gelesen und verstanden haben. Wenn Sie nicht einverstanden sind, verlassen Sie die Website.Weitere Information
autoren/a/arndt_f/arnd-zweite_predigt.txt · Zuletzt geändert: von 127.0.0.1
Public Domain Falls nicht anders bezeichnet, ist der Inhalt dieses Wikis unter der folgenden Lizenz veröffentlicht: Public Domain