Arndt, Johann Friedrich Wilhelm - 25. Predigt.

Arndt, Johann Friedrich Wilhelm - 25. Predigt.

Text: Matth. VII., V. 1-5.

Richtet nicht, auf daß ihr nicht gerichtet werdet! Denn mit welcherlei Gericht ihr richtet, werdet ihr gerichtet werden; und mit welcherlei Maaß ihr messet, wird euch gemessen werden. Was siehest du aber den Splitter in deines Bruders Auge, und wirst nicht gewahr den Balken in deinem Auge? Oder wie darfst du sagen zu deinem Bruder: Halt, ich will dir den Splitter aus deinem Auge ziehen? und siehe, ein Balke ist in deinem Auge. Du Heuchler, ziehe am Ersten den Balken aus deinem Auge; darnach besiehe, wie du den Splitter aus deines Bruders Auge ziehest.

Mit diesen Worten oder mit dem siebenten Kapitel Matthäi beginnt endlich der dritte und letzte Theil der Bergpredigt. Nachdem der Herr die großen Pflichten und die erhabenen Rechte Seiner wahren Jünger ausführlich dargestellt hat, fügt Er zum Schlusse noch einige Ermahnungen und Warnungen vor Abirrungen und Gemüthsfehlern hinzu, welche nur zu leicht ihren neuen Standpunkt beflecken und entstellen. Dahin rechnet Er vor allem das Richten Anderer, und es liegt uns daher heute ob, zu erforschen: 1) welches Richten Jesus verbietet? und 2) warum Er es verbietet? Ueber das Eine, wie das Andere, belehrt uns unser Text und der ganze Zusammenhang der heiligen Schrift.

I.

Richtet nicht, auf daß ihr nicht gerichtet werdet! Offenbar verbietet Jesus damit nicht das Urtheilen über Andere überhaupt; denn der Mensch würde aufhören, ein vernünftiges und sittliches Wesen zu sein, wenn er nicht mehr urtheilen könnte. Eine angeborene, von Gott selbst uns gegebene Gabe unseres Geistes ist die Urtheilskraft: würde Er sie uns wohl gegeben haben, wenn wir sie nicht anwenden dürften? würde nicht unser gemeinschaftliches Zusammenleben mit Anderen und die gegenseitige Mittheilung unserer Gedanken und Empfindungen allen Reiz, ja allen Werth verlieren, wenn jedes Urtheil verbannt sein sollte aus unsern Gesprächen? Ist doch, genau genommen, jede Aeußerung unseres Mundes, jeder Gedanke unseres Geistes, ein Urtheil. Sind wir doch allen Verführungen preisgegeben und alle unsere Handlungen gehaltlos, wenn wir nicht mehr unterscheiden könnten zwischen dem, was gut und was böse, was zu thun und was zu lassen sei. Giebt es doch sogar gewisse Berufskreise und Stellungen im Leben, wie die der Obrigkeiten, der Eltern, der Lehrer, denen das Richten Anderer zur Lebensaufgabe und Pflicht gemacht ist. Und ist doch die heilige Schrift so reich an Ermahnungen und Vorschriften über das Richten, wie wenn es heißt: „Prüfet Alles, und das Gute behaltet! Prüfet die Geister, ob sie aus Gott sind; denn es sind viel falscher Propheten ausgegangen in die Welt. Habet nicht Gemeinschaft mit den unfruchtbaren Werken der Finsterniß, strafet sie aber vielmehr.“ (1. Thess. 5,21. 1. Joh. 4,1. Eph. 5,11.) Jesus überträgt sogar der Kirche das Recht, zu binden und zu lösen, die Sünden zu vergeben und zu behalten: wie hätte Er das thun können, wenn Er nicht das Vermögen, zu urtheilen, gebilligt und vorausgesetzt hätte? Das Richten und Urtheilen an sich ist also so wenig etwas verwerfliches, daß es vielmehr von der Natur des menschlichen Geistes, von den Aufgaben des Lebens und von den Aussprüchen der heiligen Schrift gefordert wird.

Ebensowenig ist das Richten über Personen an sich Sünde. Man hat mitunter den Grundsatz aufgestellt: daß es wohl erlaubt sei, über Sachen, Handlungen, Werke zu urtheilen, aber nicht erlaubt, Personen zum Gegenstande seines Gerichts zu machen. Aber offenbar ist diese Unterscheidung unhaltbar und unausführbar. Indem du die Thaten Anderer tadelst, tadelst du die Person selbst, welche jene Thaten sich hat zu Schulden kommen lassen. Wohl kann eine böse Handlung mancherlei Entschuldigungen zulassen, die in der Eigenthümlichkeit, Erziehung und Umgebung der Andern ihren Grund haben; nichtsdestoweniger bleibt sie immer das Eigenthum und die That des Andern, und war sie böse, die böse That seines bösen Herzens. Wie reich ist auch die heilige Schrift an Urtheilen, nicht allein über die Handlungen, sondern auch über die Personen der Menschen!

Endlich ist auch Jesu Meinung im Texte nicht, daß wir über Andere nie ein mißbilligendes und tadelndes Urtheil fällen sollen, sondern allezeit nur ein mildes, entschuldigendes, lobendes und anerkennendes, und daß wir in den Fällen, wo wir scharf richten und verurtheilen, ja verdammen müßten, lieber uns alles Urtheils enthalten und schweigen sollten. Keineswegs! Was böse ist, muß auch als böse dargestellt und verworfen werden. „Wehe denen“, ruft im Gegentheil der Prophet (Jes. 5,22.), „die Böses gut und Gutes böse heißen, die aus Finsterniß Licht und aus Licht Finsterniß, die aus süß sauer und aus sauer süß machen!“ „Wer den Gottlosen recht spricht und den Gerechten verdammet, die sind Beide dem Herrn ein Gräuel.“ (Spr. 17,15.) „Richtet nicht nach Ansehen, sondern richtet ein recht Gericht.“ (Joh. 7,24.) Jesus verlangt selbst: „Richtet ein recht Gericht!“ (Joh. 7,24.) und der Apostel sagt: „Der geistliche Mensch richtet Alles.“ (1. Kor. 2,15.) Wie scharf hat nicht der Mildeste und Liebevollste unter allen Menschen, Jesus Christus, geurtheilt, wenn Er Wehe ausrief über die Pharisäer und Schriftgelehrten und sie Schlangen- und Ottergezücht nannte und Kinder des Teufels! Wie scharf und entschieden haben nicht Seine Apostel jeden nähern Umgang mit Solchen verboten, die unordentlich wandeln, die den Schein eines gottseligen Wesens haben, aber die Kraft desselben verläugnen, die da Werke der Finsterniß ausüben, Spaltungen und Trennungen anrichten und Aergerniß geben! Was Gott verabscheut und verwirft, das dürfen, das sollen auch wir verabscheuen und verwerfen. Wir würden die Wahrheit verläugnen und verachten, wenn wir schweigen oder gar beschönigen wollten, was unrecht und verdammlich ist. Es giebt eine Duldsamkeit in der Welt, die durch ihre Gleichgültigkeit und Kälte gegen Gutes und Böses geradezu Haß und Feindschaft des Guten wird.

Nein, es gilt vom Richten, was vom Gebet, Almosen und Fasten galt. Das Richten an sich ist etwas Gutes; böse wird es nur durch die Art und weise, wie es geübt wird. Das Richten wird nämlich Sünde, wenn es grundlos, lieblos und gottlos geschieht.

Verwerflich ist zunächst das grundlose Richten. Das ist dasjenige, wenn wir über Dinge richten, die wir nicht verstehen, und über Personen, die wir nicht genau genug kennen, um ein gerechtes Urtheil darüber zu fällen; wenn wir von einer einzelnen Handlung, die sie begingen, gleich auf ihr Herz, von einem Augenblick auf ihr ganzes Leben schließen, und, wie man zu sagen pflegt, das Kind mit dem Bade ausschütten; wenn wir durch den ersten oberflächlichen Eindruck uns bestimmen lassen zur Abneigung gegen sie, und nun auch nichts Gutes mehr an ihnen anerkennen mögen; wenn wir, ohne die innern oder äußern Beweggründe, ohne die Gesinnungen und Grundsätze der Andern erforscht zu haben, ohne die entschuldigenden Umstände zu berücksichtigen, ohne das Für ebenso gut wie das Wider zu beleuchten, gleich in hastiger, unbesonnener Uebereilung mit einem ungerechten und beschränkten Urtheile bei der Hand sind, und die Sparsamkeit Anderer Geiz, ihre Gerechtigkeitsliebe Härte, ihre Nachgiebigkeit Schwäche und Heuchelei, ihre Weisheit und Besonnenheit Lauheit und Charakterlosigkeit, ihre Abweichung von unserer Art zu denken, zu fühlen und zu handeln, Verschrobenheit und Beschränktheit nennen! O wie oft wird in der Beziehung furchtbar schwer gesündigt! Wie oft wird auf diese Weise der Beste in der Welt verkleinert und der Unschuldigste gebrandmarkt und um seinen guten Ruf gebracht! Der Apostel sagt: „Richtet nicht vor der Zeit!“ (1. Cor. 4,5.)

Verwerflich ist sodann das lieblose Richten, Das ist dasjenige, wo wir absichtlich darauf ausgehen, Andere herabzusetzen, ihre Splitter und kleinen Fehler zu vergrößern, ihren Werth zu verkleinern, die Achtung ihrer Brüder gegen sie zu schwächen, und mit Selbsterhebung, mit Haß und Bitterkeit, aus bloßer Tadelsucht, ihnen wehe zu thun. Oder wie? ist das nicht der Charakter unserer meisten Gesellschaften? suchen sie nicht einen besondern Reiz darin, Jedermann zu tadeln und zu schmähen? wird der nicht für den besten Gesellschafter gehalten, der die elende Kunst versteht, bloß um zu unterhalten und der Eitelkeit der Gegenwärtigen zu schmeicheln, die Abwesenden zur Zielscheibe seines fadesten Witzes zu machen und ihre Thaten, ihre Worte, ihre Schicksale, ihre Eigenthümlichkeiten dem allgemeinen Gelächter preiszugeben? Statt ihnen zu helfen und sie zu bessern in ächter christlicher Liebe, legt man es nur darauf an, ihnen zu schaden; achtet weder auf die Stimme der Wahrheit, noch der Liebe, hebt einseitig nur die Schattenseiten hervor, stellt die gehässigsten Vermuthungen auf, und speit insgeheim und öffentlich das Gift des Spottes und der Verläumdung aus. Entsetzliche Lieblosigkeit! Und das unter Christen, die vom Geiste der Liebe in allen ihren Urtheilen und Handlungen sich sollten regieren lassen, und nie vergessen, was der Herr sagt: „Seid barmherzig gegen Andere, wie auch euer Vater im Himmel gegen euch barmherzig ist!“

Verwerflich ist endlich das gottlose Richten. Das ist dasjenige, wo wir es wagen, in frechem, geistlichen Stolze Andern die höchsten Güter, den wahren Glauben und die ewige Seligkeit, abzusprechen; und dieses heillose Splitterrichten, dieses Verdammen Anderer ist gerade eine der häufigsten Sünden der Gläubigen und Frommen, und ein Abweg, auf den mehr oder weniger Jeder geräth, der zur Erkenntniß des Sohnes Gottes durchgedrungen ist. Ja, diese Verirrung zeigt sich nicht nur bei den Anfängern im Christenthum, die, kaum halb bekehrt, sich schon weit besser dünken, als Andere, und, weil sie einige Laser und grobe Unarten sich abgewöhnt haben, schon Heilige Gottes zu sein glauben; sondern auch bei geförderteren Christen, die am meisten von Selbstverläugnung reden und sich in vielen Stücken wirklich selbst verläugnet haben, und doch in diesem Stücke ihre Lieblosigkeit und geistliche Aufgeblasenheit nicht verläugnen können. Wie heillos wird da oft unter Christen gesündigt! Ohne im mindesten auf den Standpunkt oder die Führungen Anderer Rücksicht zu nehmen, ohne Wesentliches oder Unwesentliches, Geist und Buchstaben, Inneres und Aeußeres zu unterscheiden, sind sie gleich fertig, entweder öffentlich bei Andern, oder doch bei sich selbst in ihrem Herzen, sie zu richten und zu verurtheilen, ihre Aufrichtigkeit und ihren ganzen Gnadenstand in Zweifel zu ziehen, oder gar ihnen das wahre Christenthum abzusprechen und zu verdächtigen.

Solches grundlose, lieblose, gottlose Splitterrichten, solches unverständige und unbefugte Bessern- und Meisternwollen ist dem Herrn durch und durch ein Gräuel. Er verwirft das Richten an sich nicht; aber er verlangt, daß es gerecht, liebevoll und gottesfürchtig sei. „Richtet, aber richtet ein recht Gerichte!“ sagt der Herr. Das christliche Richten ist ein Richten in der Wahrheit und Liebe zugleich. Es urtheilt nicht vorschnell, nicht befangen, nicht anmaßend oder bitter; es urtheilt so schonend und behutsam, als die Umstände es zulassen; es entschuldigt und deutet zum Besten, wo es nur irgend kann; es glaubt und hofft und deckt mit dem Mantel der Liebe zu, so lange die Wahrheit es irgend gestattet; es wählt, wenn es wählen muß, unter allen wahrscheinlichen bösen Absichten die mindest böse als die wahre. Hat diese Liebe in der Wahrheit und diese Wahrheit in der Liebe einmal an ihrem Nächsten einige Spuren der Gnade gesehen, die sie zu einer andern Zeit nicht mehr so gewahr wird: sie wirft ihn darum nicht weg, der Herr kann ihn wohl wieder aufrichten; sie fleht vielmehr für ihn zu dem Herrn und hilft ihm wieder zurecht mit sanftmüthigem Geiste, wenn sie dazu Anlaß und Gelegenheit findet. Gesetzt aber auch, sie urtheilte einmal von Diesem oder Jenem zu milde, und fände sich nachher von ihm betrogen: sie behielte dabei doch ein freudiges Gewissen; während sie im Gegentheil bei einem übereilten, lieblosen Urtheil hinterher sich beugen und schämen müßte. So sieht sie fremde Tugenden immer in vollem, fremde Fehler immer in gebrochenem Lichte. So betrachtet sie sich als lebendiges Glied der christlichen Gemeinschaft, in welcher sie sowohl am Gewinne, wie am Verluste ihren Antheil hat. An dem Guten Anderer erfreut sie sich, wie am eigenen Besitze, und die Fehler Anderer betrauert sie, als wären es die ihrigen.

II.

Jesus giebt uns indeß auch die Gründe an, warum wahre Christen, die das Salz der Erde und das Licht der Welt sein wollen, nicht grundlos, lieblos und gottlos richten dürfen; indem Er nämlich sowohl das Recht zu solchem Richten ihnen vollkommen abspricht, als auch an die Gefahren erinnert, welche es nach sich zieht.

Wir haben kein Recht, Andere zu richten, meine Lieben; denn wir sind selbst nicht frei vom Bösen. Jesus sagt: “Was siehest du den Splitter in deines Bruders Auge, und wirst nicht gewahr des Balkens in deinem Auge? Oder, wie darfst du sagen zu deinem Bruder: Halt, ich will dir den Splitter aus deinem Auge ziehen? und siehe, ein Balken ist in deinem Auge. Du Heuchler, ziehe am Ersten den Balken aus deinem Auge; darnach besiehe, wie du den Splitter aus deines Bruders Auge ziehest. Das lieblose Splitterrichten setzt den größten Mangel an Selbsterkenntniß und Demuth voraus und ist nur möglich in einem Herzen, das sich gänzlich überschätzt. Es ist zugleich nichts als schnöde Heuchelei, weil man durch das Richten fleckenlos und fehlerfrei erscheinen will, als sei man durch vorzügliche Frömmigkeit und Tugend ganz besonders befähigt und berufen, über Andere zu urtheilen. Es thut unserm Fleisch und Blute gar zu wohl, den Schein der Gewissenhaftigkeit und des Ernstes zu gewinnen, in welchem man sogar über geringe Fehler Anderer mit bedachtsamer Miene seufzen kann. Es ist endlich um so empörender, wenn man am Ende dieselben Sünden begeht, die man an Andern tadelt, und das Böse an sich duldet, gegen welches man bei Andern eifert, wie Paulus den Juden seiner Zeit Schuld gab: „Du lehrest Andere, und lehrest dich selber nicht. Du predigest: man solle nicht stehlen, und du stiehlest. Du sprichst: man solle nicht ehebrechen, und du brichst die Ehe. Dir gräuelt vor den Götzen, und raubest Gott, was Sein ist. Du rühmest dich des Gesetzes, und schändest Gott durch Uebertretung des Gesetzes.“ (Röm. 2,21-23.) – Nein, wir sind weder fähig, noch berufen, Andere zu richten!

Nicht fähig! Wohl können wir unsern Bruder fallen und Fehler begehen sehen; aber sehen wir auch die Macht der Versuchung, die ihn zu diesem Falle gebracht hat? sehen wir auch seinen Kampf und sein Widerstreben gegen die Versuchung, und nach dem Fall seine tiefe Beugung, seine Angst, seine Verlegenheit, seine herzliche Traurigkeit, sein Bitten, sein Flehen zu Gott um Vergebung im Verborgenen? ja, wissen wir, aus welchen Ursachen Gott nach Seiner Weisheit diesen Fall zugelassen hat, und wie Er ihn zu seinem Besten mitwirken läßt? – und wir wollen richten? richten, das heißt, Gottes Werk an seiner Seele hindern? richten, das heißt, uns und Andere abhalten, ihn wieder aufzurichten und zum Stehen zu bringen? richten, wir, die wir ihn gar nicht kennen, die wir in sein Inneres nicht hineinschauen, und durch Nichts befähigt sind zu solchem Gerichte? O wie unverantwortlich!

Zumal da wir gar nicht berufen sind zu solchem Gerichte. Denn hätten wir an des gefallenen Bruders Platze gestanden, wer weiß, wir wären vielleicht noch viel schwerer und tiefer gefallen. Uns kommt es zu, vornämlich bei uns selbst mit dem Gerichte anzufangen, ehe wir uns vermessen, über Andere ein liebloses Urtheil zu fällen. Uns kommt es zu, vornämlich auf das zu sehen, was dem großen Gott an uns mißfällt, ehe wir uns anmaßen, an das zu denken, was uns an Andern mißfällig ist. Uns kommt es zu, streng zu sein gegen uns und mild gegen Andere; im eigenen Auge die Balken zuerst wahrzunehmen und auszureißen, ehe wir uns über die Splitter Anderer hermachen, um sie zu vertilgen; Alles genauer mit uns zu nehmen, als mit Andern; nichts Unrechtes, auch nicht den Schein einiges Unrechts, zu übersehen und keinen Fehler unabgelegt zu lassen. thun wir das nicht, richten wir vielmehr Andere, statt uns selbst, finden wir in eitler Selbstgefälligkeit bei uns Alles gut, bei Andern Alles schlecht, und lassen wir uns fortreißen von Lieblosigkeit und Schadenfreude: so ist das ein offenbares Zeichen, daß wir uns gar nicht kennen in unserer Sündhaftigkeit und Erbärmlichkeit, daß unser ganzes Wesen verdreht und verschroben ist, und dies lieblose Splitterrichten ist dann vornämlich der Balken, der große Balken, welchen wir zuerst aus unserm Herzen herauszureißen haben. Und welch ein verweg’ner Eingriff ist es in Gottes heiliges und allgerechtes Richteramt; welch eine Anmaßung, als wären wir allwissend, heilig und gerecht, und als hätte Er uns zu sich auf Seinen Thron erhoben! O darum prüfe dich selbst, ehe du richtest; frage dich, an welchen Fehlern und Gebrechen deiner Brüder schonungslos rügest; frage dich, ob du nicht vielleicht selbst die Gesinnung im Herzen trägst, die du an Andern tadelst; ob du nicht vielleicht aus denselben Beweggründen handelst, wie du Jene handeln siehst; ob du nicht dieselben Genüsse, Vergnügungen und Freuden, dasselbe Weltleben, dieselbe Trägheit und Lauheit im Christenthume beweisest, wie Jene, nur auf deine Weise gestaltet und deiner Herzensneigung mehr angepaßt; höre die Frage des Apostels: „Wer bist du, daß du einen fremden Knecht richtest? Er steht und fällt seinem Herrn. Er mag wohl aufgerichtet werden, denn Gott kann ihn wohl aufrichten: (Röm. 14,4.) – und du wirst Balken über Balken in deinem eigenen Auge wahrnehmen, und diese Balken im eigenen Auge werden ein Band werden für deine Zunge, welches die Schärfe des Gifts ihr raubt. Um über Andere gerecht zu urtheilen, müssen wir ohne Sünde sein, wie Gott und Christus. Die eigene Sündhaftigkeit raubt uns den freien geistigen Blick. Darum sei unser Urtheil über Andere immer schonend, behutsam, milde, und am rechten Orte.

Bedenklicher aber noch als der Gemüthszustand, aus welchem das lieblose Splitterrichten hervorgeht, ist die Gefahr, welche es nach sich zieht. Wenn Jesus sagt: “Was siehest du den Splitter in deines Bruders Auge?“ so will die Frage ebensoviel sagen, als wenn sie gelautet hätte: wozu siehst du auf den Splitter in deines Bruders Auge? welch ein Vortheil soll aus diesem Eifer erwachsen, den du gegen deinen Nächsten bezeigest? Für Andere erwächst sicherlich kein Vortheil daraus; denn das ungerechte Richten schadet wohl, aber es frommt nicht, erbittert wohl, aber bessert nicht. Und wenn nun in Folge deines über ihn gefällten Urtheils dein Bruder, statt zum Herrn hin, von Ihm abgeführt wird, oder wenn er dadurch um die Liebe und Achtung seiner Mitmenschen gebracht wird, wenn nun sein guter Name verloren geht, vielleicht für immer, wenn nun Andere noch übler ihm auslegen, was du Nachtheiliges über ihn verkündet hast, und jeden Umgang mit ihm abbrechen und mit Argwohn jedes seiner Worte und Handlungen auf die Wagschale legen, und er, der vielleicht völlig Unschuldige und nur Verläumdete, von Allen verkannt und verlassen, eine Beute wird des Trübsinns und der Verzweiflung, ein Opfer wird der Sünde und des Lasters, dem er sich nun in die Arme wirft, und mit seinen Seufzern und Thränen die Rache des gerechten Richters über dich herabruft: wie? kannst du alle diese Folgen verantworten, welche dein verkehrtes Richteramt nach sich zieht? kannst du je wieder an das traurige Loos deines Mitbruders denken, ohne dich anzuklagen: Das habe ich verschuldet? Ach, kein Schwerdt schneidet so scharf, kein Pfeil dringt so tief, keine Wunde schmerzt so empfindlich, als der Stachel der Verläumdung. – Noch mehr! Auch dir selbst erwächst kein Vortheil durch dein Splitterrichten Anderer. Denn gesetzt, es gelänge dir, alle möglichen Splitter aus aller Menschen Augen herauszuziehen: was würde dieser Erfolg dir für einen Nutzen bringen, so lange der Balken zurückbleibt in deinem eigenen Auge? Nicht Nutzen, Schaden nur kannst du dir bereiten durch deine Lieblosigkeit! Denn was wird die unmittelbare, nächste Folge deines Richtens sein? Jesus sagt: Richtet nicht, so werdet ihr nicht gerichtet; denn mit welcherlei Gericht ihr richtet, werdet ihr gerichtet werden, und mit welcherlei Maß ihr messet, wird euch gemessen werden. Wie du einen Nächsten leichter beobachtest, als dich selbst, weil er dir gegenständlich ist. so geht es auch deinem Nächsten wieder mit dir. Auch er beobachtet dich mit geringerer Mühe, als sich selbst. Und wenn du nun, trotz des Balkens im eigenen Auge, dennoch es wagst, den Splitter im fremden Auge zu erspähen: um wie viel gewisser wird der Andere, dem nur ein leichter Splitter im Auge haftet, Sehkraft genug besitzen, um den Balken in deinem Auge zu entdecken. Ja, forderst du ihn mit deinem Richten nicht geradezu auf, dich wieder zu richten? berechtigst du ihn nicht damit, dir zuzurufen: Arzt, hilf dir selber!? und kannst du dich beklagen, es widerführe dir ein Unrecht, wenn Alle nun in ungezügelter Leidenschaftlichkeit über dich herfallen, und ebenso grundlos, ebenso lieblos, ebenso gottlos über dich urtheilen, wie du über sie, ebenso schnell über dich den Stab brechen, ebenso fertig alle deine Handlungen aus den unlautersten Quellen ableiten, ebenso hart dir Böses mit Bösem, Bitterkeit mit Bitterkeit vergelten? Du erndtest ja nur, was du gesäet hast, und wie der Same giftig war, den du ausgestreut, so sind die Früchte auch wieder giftig, die du dir einsammelst. Und wenn du dann in jeder Verläumdung der Welt das Vergeltungsrecht des Herrn anerkennen mußt; wenn du erfährst, daß Niemand in der Welt mehr gerichtet und verläumdet wird, als wer Andere gern richtet und verläumdet; wenn du dir sagen mußt: ich habe meinen Bruder betrübet, nun betrübt mich mein Herr wieder: welch’ eine bittere Selbstanklage, welch’ ein unerträglicher Vorwurf würde das für dich sein! – Indeß die Worte: “Richtet nicht, so werdet ihr nicht gerichtet!“ reichen noch weiter, als in unsere irdische Zukunft hinein, sie reichen in die Ewigkeit hinüber; denn die Schrift sagt: „Ein unbarmherzig Gericht wird einst über die ergehen, die nicht Barmherzigkeit gethan haben.“ (Jac. 2,13.) Einst, am Tage des Gerichts, wird der Herr an’s Licht bringen, was hier unten im Finstern verborgen war, und den Rath der Herzen offenbaren. Dann werden, die sich selbst in Demuth hienieden gerichtet haben, nicht gerichtet werden, sondern frei und ungerichtet in ihre Herrlichkeit eingehen; die aber sich selbst nicht richten wollten, werden dann nach Gottes Wort gerichtet und verdammt werden. Dann wird, was sie nur an Andern tadelten, vor den Augen der ganzen Welt als ihr innerstes Eigenthum und Wesen sich enthüllen; dann wird, was sie immer an sich entschuldigten, vor den Augen aller Seligen und aller Engel von dem ewigen Richter, der da Augen hat wie Feuerflammen, verurtheilt und verdammt werden.

Richtet denn immerhin, meine Lieben; aber richtet nach der Wahrheit und nach der Liebe. Vor Allem und zuerst richtet euch selbst; fragt euch bei jedem Urtheilsspruch, den ihr über Andere aussprechet: Kann ich, darf ich auch richten? Richtet euch selbst alle Tage, so unerbittlich streng, wie ihr auf eurem Todtenbette, wie ihr vor Gottes ewigem Gerichte euch einmal richten werdet. Dann werdet ihr durch solches Selbstgericht die Liebe lernen gegen Andere, die sich nicht erbittern läßt, die sich nicht aufblähet, die nicht das Ihre sucht, sondern Alles verträgt, Alles glaubet, Alles hoffet, Alles duldet, und auch der Sünden Menge zudeckt, die nicht mit dem Sagen anfängt, sondern dem Bruder lieber wo möglich hilft von seinem Splitter, ohne daß er ihre Hand und ihren Willen dabei merkt, die es ihm erst nachher sagt oder gar nicht, und die Balken und die Splitter durch Demuth und dienende Hülfe ganz abthut. Und so ist und bleibt denn immer die Liebe die Haupteigenschaft wahrer Jünger Jesu Christi und die Bewahrerin vor allen Mißgriffen, welche die Selbstsucht und Eigenliebe sich allerwege zu Schulden kommen läßt. Sie ist auch in diesem Stücke das Band der Vollkommenheit und des Gesetzes Erfüllung, und der Himmel auf Erden. Ohne sie ist der reichste Mensch arm, durch sie wird der Aermste reich. Ohne sie ist der Vornehmste verlassen und elend, durch sie ist der Niedrigste begnadigt mit der Würde der Engel. Ohne sie bringen die rauschendsten Freuden nichts als Leere und Reue, durch sie werden die Traurigsten getrost und fröhlich. Ohne sie ist alles Leben grauser Tod, durch sie wird der Tod selbst heiteres, fröhliches Leben. Amen.

Cookies helfen bei der Bereitstellung von Inhalten. Diese Website verwendet Cookies. Mit der Nutzung der Website erklären Sie sich damit einverstanden, dass Cookies auf Ihrem Computer gespeichert werden. Außerdem bestätigen Sie, dass Sie unsere Datenschutzerklärung gelesen und verstanden haben. Wenn Sie nicht einverstanden sind, verlassen Sie die Website.Weitere Information
autoren/a/arndt_f/arnd-fuenfundwanzigste_predigt.txt · Zuletzt geändert: von 127.0.0.1
Public Domain Falls nicht anders bezeichnet, ist der Inhalt dieses Wikis unter der folgenden Lizenz veröffentlicht: Public Domain