Arndt, Johann Friedrich Wilhelm – 3. Predigt

Arndt, Johann Friedrich Wilhelm – 3. Predigt

Text: Matth. V, V. 5.

Selig sind die Sanftmüthigen; denn sie werden das Erdreich besitzen.

So lautet die dritte Seligpreisung in der Bergpredigt, oder die dritte Stufe in der Entwickelung des Reiches Gottes im menschlichen Herzen. Die Grundlage des Ganzen ist die Erkenntniß seiner geistlichen Armuth, aus der geistlichen Armuth entwickelt sich das Leidetragen über dieselbe, und aus dieser wieder die Sanftmüthigkeit. Wir beschäftigen uns demnach heute mit der dritten Seligpreisung, und sehen, 1) an wen sie gerichtet ist, und 2) was sie verheißt.

I.

Selig sind die Sanftmüthigen. Auf den ersten Anblick erscheint es schwierig, zu bestimmen, was denn der Herr eigentlich unter Sanftmüthigkeit verstehe. Gewöhnlich denken wir bei dem Worte an eine sittliche Tugend, an die Gelindigkeit und Gefügigkeit im Umgange mit andern Menschen. Diese Bedeutung paßt aber in keiner Beziehung in den Zusammenhang unserer Textworte, sintemal in den vier ersten Seligpreisungen nicht von sittlichen Tugenden, sondern von Gnadengaben, von Früchten des Geistes Gottes die Rede ist; nicht Verhältnisse zu Andern, sondern das Grundverhältniß des Menschen zu Gott dargestellt wird. Mit der fünften Seligpreisung beginnen erst die Gesinnungen des gläubig gewordenen Christen gegen seine Mitmenschen. Noch schwieriger erscheint die Auslegung unseres Textworts, wenn wir die Stellung desselben in’s Auge fassen. Voran geht: „Selig sind, die da Leide tragen; denn sie sollen getröstet werden;“ hinterher folgt: „Selig sind, die da hungert und durstet nach der Gerechtigkeit; denn sie sollen satt werden.“ Man hätte meinen sollen, natürlicher wäre die umgekehrte Ordnung gewesen, daß unmittelbar auf das Leidetragen über die Sünde gefolgt wäre das Hungern nach der Gerechtigkeit, und dann erst die Sanftmüthigkeit des Herzens. Indessen dem Herrn hat es gefallen, gerade diese Ordnung zu wählen; erst: „Selig sind, die da Leide tragen, denn sie sollen getröstet werden;“ dann: „Selig sind die Sanftmüthigen, denn sie werden das Erdreich besitzen;“ und zuletzt: „Selig sind, die da hungert und durstet nach der Gerechtigkeit, denn sie sollen satt werden.“ Demnach muß Er unter den Sanftmüthigen einen Zwischenzustand des Herzens zwischen der göttlichen Traurigkeit über die Sünde und dem Verlangen nach vollkommener Gerechtigkeit verstanden haben, und dieser Zwischenzustand leuchtet auch ein, sobald wir auf unsere bisherigen Betrachtungen zurückgehen. Das Himmelreich beginnt mit der Erkenntniß der geistlichen Armuth; diese Erkenntniß kann aber nicht unserm Geiste aufgehen, ohne sofort unser ganzes Gefühl zu durchdringen und sich als ein Leidetragen über die Sünde zu offenbaren. Aber damit ist das Wesen des Menschen noch nicht erneuert. Die erworbene Einsicht des Verstandes, das empfundene Gefühl des Herzens theilt sich endlich auch dem Willen des Menschen mit, und sobald das geschieht, ist die Sanftmüthigkeit gegen Gott vorhanden. Sie besteht in der stillen, gebeugten Hingebung des Herzens an den Herrn, in dem gebrochenen Eigenwillen, in dem Aufhören zu widerstreben, und in der Neigung, sich Alles gefallen zu lassen, was der Herr will, den ganzen Weg der Gnade, die ganze Heilsordnung. – Diese Gemüths- und Willensstellung ist zunächst gemeint, wenn Jesus sagt: „Selig sind die Sanftmüthigen.“ Laßt sie uns nun näher in’s Einzelne verfolgen.

Die heilige Schrift stellt jeden Menschen von Natur dar als begriffen in der Feindschaft gegen Gott. Sie sagt: „Was vom Fleisch geboren ist, das ist Fleisch. Die aber fleischlich sind, die sind fleischlich gesinnet. Fleischlich gesinnt sein ist der Tod. Fleischlich gesinnet sein ist eine Feindschaft wider Gott, sintemal es dem Gesetz nicht unterthan ist, denn es vermag es auch nicht. Die fleischlich sind, mögen Gott nicht gefallen.“ (Röm. 8,5-8.) Die Seligkeit des Paradieses bestand im Einklage des menschlichen Willens mit dem göttlichen; der Sündenfall dagegen in der Trennung und Losreißung des Menschlichen vom Göttlichen. Seitdem der Mensch von Gott abgefallen ist, ist er auch mit Ihm zerfallen und das innerste Wesen seiner Natur ein Widerstreben seines Willens gegen den göttlichen. Geschehe dies unbewußt oder bewußt, geschehe es absichtlich oder unwillkürlich, geschehe es durch schwere Vergehungen in Worte und Thaten, oder auch nur innerlich im Herzen durch Gesinnungen, Neigungen, Gedanken: gleichviel, das innerste Wesen seines Benehmens gegen Gott ist Widerstreben. Gott hat die große Gnade gegen uns gehabt, uns in unsere geistliche Nacht und Blindheit hinein seine heilige Offenbarung zu geben, damit wir an derselben eine Leuchte gewönnen für unsern irdischen Pilgerlauf und wüßten, woran wir wären für Diesseits und Jenseits, für Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, für Freude und Leid, für Leben und Tod; nehmen wir diese Offenbarung dankbar und mit voller Zustimmung unserer Seele an? glauben wir ihr auf’s Wort, was sie uns mittheilt? unterwerfen wir ihr gern und freudig unsere Meinungen und Vorurtheile und lassen sie berichtigen und aufhellen durch die ewige göttliche Wahrheit? Mit nichten! Wir wissen es besser, und wollen die göttliche Offenbarung berichtigen und aufhellen durch unsere Vorurtheile und selbstgebildeten Meinungen. Worin sie mit denselben übereinstimmt, pflichten wir ihr bei; wo sie Neues, Widerstreitendes vorbringt, verwerfen wir sie. Ihre Moral lassen wir uns noch im Allgemeinen gefallen, ihre Glaubenslehren aber sind uns durchaus ein Gegenstand des Hasses und des Aergernisses. Wenn sie sagt: „Selig sind, die geistlich arm sind, denn das Himmelreich ist ihr,“ so schreien wir: Das ist eine harte Rede, wer kann die hören? Wenn sie behauptet, die Geheimnisse der unsichtbaren Welt seien Gegenstände des Glaubens, so entgegnen wir: Was ich nicht begreifen kann, kann ich auch nicht glauben. Wenn sie die gänzliche Sündhaftigkeit des Menschen lehrt, reden wir von unserm guten Herzen und von unsern Verdiensten. Wenn sie auf Bekehrung und Wiedergeburt dringt, lassen wir das gelten von groben Verbrechern und Missethätern; eine Zumuthung der Art aber an uns halten wir für grobe Beleidigung. Wenn sie vom Glauben an Christum redet, als dem einzigen Mittel zur Seligkeit, erklären wir solche Behauptung für gefährlich und sittenverderblich. Kurz, die Bibel mag kommen, mit welcher Wahrheit sie will: wir sind von Natur eher geneigt, ihr zu widersprechen, als ihr zu glauben. Wie ungezogene Kinder, die zu viel freien Willen haben und deren Wille nie gebrochen worden ist, gern ihren Eltern zu widersprechen pflegen: so ist das auch unsere entsetzliche Unart und Unnatur in Beziehung auf Gott, und darum erklärt die heilige Schrift geradezu: „Der natürliche Mensch vernimmt nichts vom Geiste Gottes; es ist ihm eine Thorheit, und kann es nicht erkennen, denn es muß geistlich gerichtet sein“ (1. Cor. 2,14.) und verlangt: „Niemand betrüge sich selbst; welcher sich unter euch dünkt weise zu sein, der werde ein Narr in dieser Welt, daß er möge weise sein.“ (1. Cor. 3,18.) – Gott hat uns ferner die große Gnade erwiesen, und Sein Gesetz zu geben, um uns klar und bestimmt wissen zu lassen, was Sein Wille an uns ist, was wir thun und lassen sollen, um nicht nur Seines Wohlgefallens gewiß, sondern auch glücklich zu werden. Aber, ich bitte euch, sind wir geneigt, auf Seine Wünsche und Gebote einzugehen? Er hat uns geboten: „Ich bin der Herr, dein Gott, du sollst nicht andere Götter haben neben mir;“ aber bauen wir nicht täglich dem Mammon, der Lust, der Eitelkeit, dem Ehrgeiz Altäre auf in unserem Herzen? Er hat uns geboten, den Namen und den Tag des Herrn heilig zu halten; aber machen wir uns wohl ein Gewissen daraus, Seinen Namen zu mißbrauchen und den Tag des Herrn durch unnöthige Arbeit und unmäßige Sinnenlust zu entweihen? Gott hat uns geboten, unsern Nächsten zu lieben wie uns selbst; aber sind wir nicht stets darauf bedacht, selbstsüchtig das Unsere zu fördern, uns in Andern zu lieben, und durch Neid, Hochmuth, Selbstgefälligkeit, Selbsterhebung, Zorn, Ungeduld, Unversöhnlichkeit, jedes Verhältniß zu Andern zu stören und zu lösen? Selbst wo wir uns äußerlich gesetzmäßig betragen: geschieht es da wohl aus Liebe zu Gott? oder sträubt sich nicht unser ganzes Wesen innerlich gegen die ihm immer lästiger werdenden Gebote des Herrn? Und warum sind wir sogleich bereit, uns zu entschuldigen, unsere Sünden zu verkleinern, unsere geringen Leistungen über alle Maßen zu vergrößern, mit der Berufung auf Gottes Liebe uns den Rücken zu decken; warum hören wir von Natur so ungern sprechen von der Sünde, von der Bekehrung, vom Tode, von der Ewigkeit und Verdammniß, wenn wir wirklich mit Gott und nicht wider Gott unsere Straße zögen? Ach, wir erblicken in Gott den Räuber unserer Lust, der uns lauter Dinge zumuthet, die unsern innersten Neigungen und Begierden widerstreben: wir könnten wir da Seine Freunde sein? Mögen wir auch noch so sehr von unserer Frömmigkeit und von unserm guten Willen, des Herrn Gebot zu thun, sprechen und träumen: was hilft alles Sprechen davon, wenn das Herz durch Sein Verfahren unaufhörlich unsern Mund Lügen straft? Darum erklärt die heilige Schrift auch geradezu: „Das Tichten und Trachten des menschlichen Herzens ist böse von Jugend auf!“ und verlangt, daß wir uns selbst verläugnen, dem alten Menschen absterben, unsern Willen brechen und ihn ganz in den göttlichen Willen sollen aufgehen, den Willen Gottes ganz an die Stelle des unsrigen sollen treten lassen. – Gott hat uns endlich die Gnade erwiesen, selbst die Zügel unserer Führung und Erziehung in die Hände zu nehmen, und Er sendet uns daher zu unserer Bewährung und Prüfung Trübsal und Leiden: wie? beugen wir uns da gern unter Seine gewaltige Hand? erkennen wir sogleich in Allem, was Er thut, die Liebe, mit der Er unser ewiges Heil bezweckt? gehen wir willig ein in Seine Führungen, und leiden gern, was Er uns auflegt? Wenn Er unser Hab und Gut nimmt, sprechen wir mit Hiob: „Der Herr hat es gegeben, der Herr hat’s genommen, der Name des Herrn sei gelobet?“ (Hiob 1,21.) Wenn er unsere Ehre nimmt, sprechen wir mit David: „Werde ich Gnade finden vor dem Herrn, so wird Er mich wieder holen; spricht Er aber also: ich habe nicht Lust zu dir; siehe, hier bin ich, Er mache es mit mir, wie es Ihm wohlgefällt.“ (2. Sam. 15,25.26.)? Wenn Er uns alle unsere Lieben nimmt, Einen nach dem Andern, sprechen wir mit Assaph: „Wenn ich nur Dich habe, o Herr, so frage ich nichts nach Himmel und Erde, und wenn mir gleich Leib und Seele verschmachtet, so bist Du doch allezeit meines Herzens Trost und mein Theil.“ (Ps. 73,25.26.)? Wenn Er uns krank, verleumdet, verstoßen, freudeleer unsere Wege führt, sprechen wir mit Paulus: „Ich bin gutes Muths in Schwachheiten, in Schmach, in Nöthen, in Verfolgungen, in Aengsten um Christus willen.“ (2. Cor. 12,10.)? Wahrlich, der Mensch soll noch geboren werden, der diese Proben bestände. Nein, nein, schauet, wohin ihr wollet: unsere Stellung gegen Gott ist von Natur eine feindliche. Wir mögen’s zugeben oder nicht, wir mögen sie verdecken oder enthüllen: sie ist eine feindliche. Im besten Falle ist sie eine gleichgültige, laue, halbe; aber Lauheit ist auch Feindschaft, wer nicht mit dem Herrn ist, der ist wider Ihn, und Pauli Wort steht unumstößlich fest: „Ich weiß, daß in mir, d.i. in meinem Fleische, wohnet nichts Gutes. Wollen habe ich wohl, aber Vollbringen des Guten finde ich nicht. Die aber fleischlich sind, mögen Gott nicht gefallen.“ (Röm. 7,18; 8,7.)

Dieses Widerstreben aber hört sofort auf, als wir uns, durch Gottes heiligen Geist erweckt, für geistlich arm erkannt haben und über solchen unsern Zustand Leide tragen. Denn dann sehen wir ein, daß unser Wille ein verkehrter, unser Herz ein trotzig und verzagt Ding, die Quelle alles Uebels und Leides ist; wie könnten wir ihm noch folgen wollen? noch folgen mögen? Dann sehen wir ein: so viel Eigenwille, so viel Elend; so viel Gotteswille, so viel Seligkeit; - wie könnten wir so grausam sein gegen uns selbst, unser Elend und Verderben uns zu bereiten? Ermüdet und erschöpft von der nutzlosesten Arbeit der Welt, sind wir mißtrauisch gegen uns geworden; wir gewahren, daß wir mit eigener Kraft uns aus dem Abgrunde nicht herausarbeiten können, daß wir auch nicht einmal wissen, wie uns geholfen werden kann und soll: darum blicken wir, gebeugten und zerschlagenen Herzens, empor zu dem Herrn, und fragen: „Herr, was soll ich thun, daß ich selig werde? unterweise mich, ich will hören; führe mich, ich will folgen; stärke mich, ich will still halten; beuge mich noch tiefer, oder tröste mich wieder, ich will mir Alles gefallen lassen, nur nicht mehr mein, Dein Wille allein soll geschehen; ich will nicht, was mein Wille will, nur Deinen Willen fromm und still mir stets zur Richtschnur ausersehen, will nicht auf eignen Wegen gehen, ich will geführt von Deinen Händen, beginnen, fortgehn und vollenden.“ Dieses Nichtwiderstreben, dieses sich Alles vom Herrn gefallen lassen, ist die Sanftmüthigkeit, die Jesus im Texte fordert, die Folge und die andere Seite der Demuth, die Weisheit von Oben her, von der Jacobus schreibt: „sie ist auf’s Erste keusch, danach friedsam, gelinde, läßt ihr sagen, voll Barmherzigkeit und guter Früchte, unparteiisch und ohne Heuchelei.“ (Jac. 3,17.) Ihr sehet sie am deutlichsten hervortreten bei Saulus. Wie hatte er doch im wilden Eifer dem Willen des Herrn widerstrebt! Wie wüthend und schnaubend mit Morden und Dräuen wider die Jünger Jesu Christi war er nach Damascus gezogen, um Männer und Weiber, die er des evangelischen Weges fände, gebunden nach Jerusalem zu führen! Da, mitten auf dem Wege seiner Sünden, schlägt ihm die entscheidende Stunde. Kein Vernunftschluß, kein Beweis, keine Gründe, keine lange Vorstellung: wenige Worte kehren den ganzen Grund seiner Seele um, und zeugen lauter neue Gedanken und Entschlüsse. Schauet hin: da liegt er zerschmettert am Boden. Er widerstrebet nicht mehr; er mag nicht mehr seinem eigenen Verstande folgen, er fragt: Herr, wer bist Du? Er mag nicht mehr seinen eigenen Willen durchsetzen; er fragt: Herr, was willst Du, daß ich thun soll? Er hat nicht mehr Wohlgefallen an seinen Thaten und Leistungen, an seinen Unternehmungen und Plänen: drei Tage ißt und trinkt er nichts vor lauter Seelenschmerz. Er ist nicht mehr unempfänglich für die Wahrheit des Evangeliums: als Ananias ihn besucht und ihm Christum predigt, ist er der gelehrigste, der aufmerksamste unter allen seinen Schülern, und nach wenigen Tagen predigt er selbst noch in Damascus Christum, daß derselbige Gottes Sohn sei. So völlig umgewandelt ist er, daß er von Gott und von Menschen sanftmüthig Alles annimmt, was sie ihm Gutes bringen. Der Löwe ist ein Lamm, der Tiger ist eine Taube, der Winter ist Frühling, der Waldstrom ist ein stiller Bach, das Ungewitter ist klarer Himmel geworden.

Die natürliche Folge solcher Sanftmüthigkeit gegen den Herrn ist dann aber auch Sanftmuth gegen Menschen. Strenge gegen sich, ist man milder geworden gegen Andere; unzufrieden mit sich, freut man sich desto mehr an Andern und weiß mehr ihr Gutes herauszufinden, als ihr Böses; auch wird man nicht mehr irre, nicht mehr leidenschaftlich erregt durch ihre Fehler, denn man findet bei ihnen nur dieselbe Geistesarmuth und Ohnmacht zum Guten, wie an sich selbst; ja, man gewahrt in Anderer Auge nur Splitter, im eigenen Auge aber Balken. Keiner, spricht man zu sich selbst, kann so tief gefallen, so kalt gegen Gottes Gnade, so unempfindlich und widerstrebend sein, wie ich; ich bin der vornehmste unter allen Sündern. Darum entschuldigt man bei Andern gern, trägt mit Liebe, Geduld und Schonung, wie man des Herrn Geduld achtet für seine Seligkeit, nimmt Beleidigungen hin, ohne heftig und bitter zu werden; weiß sich zu beherrschen und Ebbe und Fluth im Innern zum Schweigen zu bringen. Wolltet ihr nun aber meinen, solche Sanftmuth gegen Andere, die Alles übersieht und trägt, sei doch eine große Schwäche und keine Offenbarung von Leben und Kraft: so wäret ihr im Irrthum. Das kann sie schon darum nicht sein, weil sie aus Selbstverläugnung und Selbstbeherrschung hervorgeht; Selbstbeherrschung aber offenbar die größte Festigkeit und Entschiedenheit des Charakters ausmacht. Eigensinn und Eigenwille ist Schwäche, aber Kampf gegen sich selbst, Sieg über sich selbst ist Stärke. So ist denn auch die Sanftmuth keineswegs Gleichgültigkeit, phlegmatisches Temperament, Weichlichkeit, oder Schlaffheit, Schweigen zu Allem, Lächeln zu Allem, Dulden von Allem, noch weniger Schmeichelei aus Blödigkeit und Furchtsamkeit: das wäre innere Verarmung und Verzerrung; sie ist ein stehender milder Ernst, eine Herrschaft über die Andern, wie über sich selbst, sie ist, was ihr Name sagt, ein sanfter Muth, ein Muth, der der Leidenschaften Herr ist, voll Kraft und voll Liebe zugleich, voll Kraft des Willens und voll Liebe des Herzens, Beides engverschwistert zu einer Stimmung und Gemüthsrichtung. Wer war sanftmüthiger, als Jesus Christus sowohl gegen Seine unverständigen Jünger, als gegen das ungläubige Volk und dessen boshafte und bitterfeindliche Obersten; wer konnte mit mehr Recht sagen: „Lernt von mir, denn ich bin sanftmüthig und von Herzen demüthig,“ und verstand zugleich ernster die Geißel zu schwingen und nachdrücklicher das Wehe zu rufen gegen die Sünde und die Heuchelei, als Er!

II.

Diese Sanftmüthigkeit gegen Gott, diese Sanftmuth gegen den Nächsten preist Jesus nun selig. Warum? “Selig sind die Sanftmüthigen; denn sie werden das Erdreich besitzen.“ Befremdliche Verheißung und Aussage! Wenn es hieße: „sie würden das Himmelreich besitzen,“ so wäre das verständlich; aber das Erdreich? was will Jesus damit sagen? Viele Ausleger der heiligen Schrift, denen der unmittelbare Wortverstand nicht einleuchten wollte, nahmen zur Erklärung die Stelle: (2. Petri 3,13.) „Wir warten eines neuen Himmels und einer neuen Erde, nach seiner Verheißung, in denen Gerechtigkeit wohnt“ zu Hülfe, und dachten an den zukünftigen Antheil der Sanftmüthigen an der Verherrlichung der Kinder Gottes, an dem himmlischen Jerusalem, an der Hütte Gottes bei den Menschen, (Offb. 21,1-3.) an dem Reiche, das den Gesegneten des Vaters bereitet ist von Anbeginn der Welt (Matth. 25,34.); dachten sich auch wohl, jene neue Erde, in welcher Gerechtigkeit wohnt, sei vielleicht gegenwärtig schon da, vielleicht ein bestimmter Theil der unsichtbaren Welt, eine gewisse Gegend in irgend einem Himmel, der diesen Namen trage. Aber offenbar ist diese Erklärung weit hergeholt und gekünstelt; hätte Jesus das gemeint, so hätte Er gewiß gesagt: „denn das Himmelreich ist ihr;“ auch wird bei solcher Erklärung der Zusammenhang zwischen Sanftmüthigkeit und das Erdreich besitzen nicht klar. Bei dem Worte „Erdreich“ können wir unbefangen und natürlich nur an diese unsere Erde denken; von einer schon vorhandenen sonstigen Erde im unsichtbaren Reiche Gottes sagt uns die Schrift nichts. Wir bleiben also stehen bei der einfachsten und nächsten Auffassung der Worte: denn sie werden das Erdreich besitzen, und fragen: Was wollen diese Worte in solcher Auffassung sagen? inwiefern besitzt die Sanftmüthigkeit gegen Gott und inwiefern die Sanftmuth gegen die Menschen das Erdreich?

Auf den ersten Blick scheint es, als möchten die Sanftmüthigen gar nichts besitzen, als wären gerade sie die Uebersehenen, die Verachteten, die Verfolgten, die von einem Orte zum andern Vertriebenen, und als gälte in der Welt nur Kraft, Charaktergröße, Geltendmachung seiner selbst. Näher betrachtet verhält es sich jedoch anders und so, wie unser Text es behauptet. Vergleich wir die bisherigen Seligpreisungen, so finden wir bei jeder einzelnen eine eigenthümliche Verheißung. Den geistlich Armen wurde das Himmelreich, den Leidetragenden Trost zugesagt, den Sanftmüthigen das Erdreich. Unverkennbar wird die Verheißung geringer und beschränkter; denn Trost ist weniger, als Himmelreich, und Erdreich wieder weniger, als Trost. Woher diese Abnahme der Verheißungen? Daher, meine Brüder, weil der Mensch, je mehr er sich selbst erkennt in seinem Elende und in seiner Verschuldung, desto weniger Ansprüche macht an Gott, an den Himmel, an das Leben, an die Erde; er wird mit jeder neuen Stufe demüthiger; er fühlt zuletzt, daß er nichts, gar nichts verdient, sondern Alles nur Gnade ist; er verlangt nicht mehr ferne, weite, großartige Aussichten in die Zukunft, sondern versöhnt sich vollkommen mit der Gegenwart. Darum werden die Verheißungen äußerlich scheinbar geringer und unbedeutender, innerlich aber nehmen sie zu an Lieblichkeit, Fülle und Segen. Offenbar hat der mehr Frieden und Seligkeit, der sich genügen läßt an der Gegenwart und dem Alles recht ist, was sie bringt, als derjenige, der sich verzehrt in sehnsuchtsvollen Blicken in’s Weite hinaus und sich in seiner Umgebung unbehaglich fühlt. – Die Sanftmüthigen besitzen aber das Erdreich in zweifacher Hinsicht, nämlich geistlich und buchstäblich, je nachdem sie mehr Sanftmüthigkeit gegen Gott oder Sanftmuth gegen die Menschen beweisen. Die Sanftmüthigkeit gegen Gott besitzt das Erdreich geistlich; denn sie hat Gott, und in Gott hat sie auch auf Erden Alles wahrhaft und wesentlich. So schreibt Paulus: „Es ist Alles euer, es sei Paulus oder Apolle, es sei Kephas oder die Welt, es sei das Leben oder der Tod, es sei das Gegenwärtige oder das Zukünftige, Alles ist euer; ihr aber seid Christi, Christus aber ist Gottes. (1. Cor. 3,21-23.) Wir wissen, daß denen, die Gott lieben, alle Dinge zum Besten dienen.“ (Röm. 8,28.) So besitzt sie denn die Güter der Erde; denn wer ist wahrhaft reich unter den Menschen? Nicht der, welcher viel hat; sondern der, welcher wenig bedarf: der Sanftmüthige aber, der sich ganz dem Herrn hingiebt und sich Alles von Ihm gefallen läßt, ist der Zufriedenste und darum der Reichste von Allen. Sie besitzt die Ehren der Erde; denn wer ist wahrhaft geehrt und geachtet unter den Menschen? Nicht der, der viele Titel besitzt und mit Orden aller Art geschmückt ist; nicht der, welcher von hoher Geburt abstammt oder Krone und Scepter trägt: ach, wie oft hängen schwere Sünden und Ungerechtigkeiten an solchen Auszeichnungen; sondern der ist der wahrhaft Ehrenwerthe und Ehrenvolle, der sich im Besitz der göttlichen Gnade fühlt, von Gott geboren ist und das Siegel des heiligen Geistes im Herzen trägt, der ein Herr ist über Teufel, Hölle, Welt und Sünde, und das ist das Gepräge der Sanftmüthigkeit. Sie besitzt die Freuden und Genüsse der Erde; denn wer genießt wirklich und eigentlich das Leben? Nicht der, welcher alle Tage herrlich und in Sinnenfreuden lebt, denn die vergehen wie der Wind; nicht der, welcher von einem Gastmahl zum andern, aus einer Gesellschaft in die andere, aus einem Vergnügen in das andere übergeht; sondern der, welcher seine Freude hat an dem Herrn und an Seinen Werken: gerade das ist ja aber das Eigenthümliche der Sanftmüthigkeit, daß sie nichts will, als was Gott will. Darum kann sie bekennen: „Ich habe gelernt, bei welchem ich bin, mir genügen zu lassen; ich kann niedrig sein und kann hoch sein; ich bin in allen Dingen und bei allen geschickt, beide satt sein und hungern, beide übrig haben und Mangel leiden; ich vermag Alles durch Den, der mich mächtig macht, Christus.“ (Phil. 4,12-14.) „Darum sind die Sanftmüthigen die Traurigen, aber allezeit fröhlich; die Armen, aber die da Viele reich machen; die nichts inne haben, und die doch Alles haben.“ (2. Cor. 6,10.) „Darum verstehen sie die schwere Kunst, zu weinen, als weinten sie nicht; sich zu freuen, als freuten sie sich nicht; zu kaufen, als besäßen sie nicht, und die Welt zu brauchen, ohne derselbigen zu mißbrauchen.“ (1. Cor. 7,29-31.) Darum können sie über die Erde gehen, sich laben an der Pracht des Frühlings, und bewundern den Glanz der Sterne mit dem herzerhebenden Gefühle: „Das Alles ist meines Gottes, darum ist es auch mein!“ – Aber können Solches nicht Alle sagen, auch diejenigen, die nicht sanftmüthig sind? Keineswegs! Allerdings ist Allen das Erdreich und die ganze Welt bestimmt; aber nicht Alle haben das zartsinnige, theilnehmende Wesen, und darum genießen sie Nichts in der Welt, und gehört ihnen Nichts an. Ja, die Gottlosen, welche die Natur und deren Geschöpfe allezeit mißbrauchen, sind nur unrechtmäßige Besitzer des Erdreichs, und wird ihnen Alles zum Fluch, was die göttliche Güte zum Segen verordnet hat. Besitzen heißt recht genießen und gebrauchen; wahrhaft genossen und gebraucht wird die Welt nur von denen, die in ihr Gott suchen und finden, von den Sanftmüthigen. Sie werden ihres Lebens und seiner Güter allein wahrhaft froh; sie sehen das paradiesische Reich des Friedens und der Liebe in ihrem Herzen wieder neu und unvergänglich aufblühen; sie wohnen auf Erden wie in Canaan, dem gelobten Lande der Ruhe und der Erquickung, und haben die Herrschaft wieder erlangt über die Erde, welche durch die Sünde verloren gegangen war.

Aber auch noch in anderer Beziehung, meine Lieben, besitzen die Sanftmüthigen das Erdreich, insofern nämlich die Sanftmuth gegen die Menschen buchstäblich die ganze Welt erobert. Oder sagt selbst: welches ist die geheime Zaubergewalt, die den mächtigsten Einfluß ausübt auf die Herzen der Andern, die alle Bessergesinnten für sich einnimmt, die die allgemeine Achtung und das allgemeine Zutrauen gewinnt, die Allen innere Herzensruhe und äußern Glücksbesitz sichert, die den Zorn bändigt, den Ungestüm entwaffnet, den Streit beilegt, die getrennten Gemüther versöhnt, Heiterkeit und Frohsinn, Genügsamkeit und Friedlichkeit verbreitet? Es ist die Sanftmuth! Sie gleicht dem milden Regen, der allmählig in die Tiefen der Erde dringt, und die kleinste Pflanze, wie die stärkste Wurzel labet; während die Heftigkeit dem Platzregen gleich ist, der die schwachen Pflanzen zu Boden schlägt und sich selbst durch seinen Ungestüm den Weg in die Tiefe verschließt. Wo ist der Mensch, der widerstehen könnte, wenn Liebe und Herzensgüte ihn ansprechen, und müßte sie nicht mit Liebe erwiedern? Ja, wer mag noch zügellosen Leidenschaften sich überlassen, wo ihn das Glück heiterer Gemüthsruhe von sanftmüthigen Mienen anlächelt? Die Sanftmuth hat und übt aber solche Zauberkraft aus, weil sie Gottes Gewalt ist; denn der Herr ist nicht im Erdbeben, nicht im Feuer, nicht im Sturme, sondern im stillen, sanften Sausen. Selbst im theilweisen Unterliegen bleibt ihr der endliche Sieg gewiß, und indem sie zu gehorchen und nachzugeben scheint, herrscht sie allüberall mit unwiderstehlicher Kraft.

O Du Sanftmüthiger unter allen Sanftmüthigen, mache uns sanftmüthig, damit auch wir das Erdreich besitzen und selig sind!

Selig sind die frommen Herzen,
Die, mit Sanftmuth angethan,
Willig Hohn und Trotz verschmerzen,
Welchen gerne Jedermann;
Die, von Zorn und Rache fern,
Alles stellen heim dem Herrn;
Diese will der Herr so schützen,
Daß sie noch das Land besitzen.

Amen.

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