Ahlfeld, Johann Friedrich - Der gute Hirt und seine Herde.

Ahlfeld, Johann Friedrich - Der gute Hirt und seine Herde.

(2. Sonnt, n. Ostern Miseric. Dom. 1848.)

Die Gnade unseres Herrn und Heilandes Jesu Christi, die Liebe Gottes des Vaters, und die Gemeinschaft des heiligen Geistes sei mit euch Allen. Amen.

Text: Ev. Joh. 10. V. 12-16.
Ich bin ein guter Hirte. Ein guter Hirte lässt sein Leben für die Schafe. Ein Mietling aber, der nicht Hirte ist. des die Schafe nicht eigen sind, sieht den Wolf kommen und verlässt die Schafe und flieht; und der Wolf erhascht und zerstreut die Schafe. Der Mietling aber flieht; denn er ist ein Mietling und achtet der Schafe nicht. Ich bin ein guter Hirte und erkenne die Meinen und bin bekannt den Meinen; wie mich mein Vater kennt, und ich kenne den Vater. Und ich lasse mein Leben für die Schafe. Und ich habe noch andere Schafe, die sind nicht aus diesem Stall. Und dieselbigen muss ich herführen, und sie werden meine Stimme hören, und wird eine Herde und ein Hirte werden.

In Christo Jesu geliebte Gemeinde. In Allem, was hell, lauter und durchsichtig ist, spiegelt sich die Sonne und trägt ihr Bild hinein: in den Tautropfen, in Fluss und Bach, in Glas und Kristall und das Menschenauge. Sie prallt aber ab von Allem, was von Natur schwarz und finster ist. Sie erleuchtet es wohl auf der Oberfläche, aber man sieht ihr Bild nicht darin. So spiegelt sich der Herr Christus, die Sonne der Gnade, ab in allen Herzen, die hell und lauter und durchsichtig sind für das himmlische Licht. Die finsteren und verschlossenen werden in Heuchelschein wohl eine Weile äußerlich erhellt, aber sein Bild steht nicht darin. So spiegelt sich der Herr Christus ab in den Ständen und Berufen des menschlichen Lebens. Er greift mit seinen Gleichnissen in den einen und den anderen, am meisten aber in die, welche mit seiner Heilandsarbeit die meiste Ähnlichkeit haben. Er redet von einem Fischer, der sein Netz auswirft und gute und schlechte Fische fängt. Unter dem Fischer versteht er sich selbst, unter dem Netz die Kirche, unter den schlechten und guten Fischen die, welche bloß berufen, und die, welche auch auserwählt sind. Er redet oft von Ackersleuten und Weingärtnern. Er ist der Herr des Ackers oder Weinberges, die Kirche ist der Acker oder Weinberg, seine Apostel und die Diener am Wort sind die Arbeiter darin. Alle Christen sind Pflanzen auf diesem Boden, die Gläubigen Weizen und Weinstöcke; die aber die Taufe des neuen Lebens nicht erfahren haben und nicht erfahren wollen, sind Unkraut. -

Am liebsten, möchten wir fast sagen, spiegelt er sich ab in dem Hirtenstand. Er war in dem alten Bund durch fromme Vorbilder aus diesem Stand vorbedeutet. Abraham, Isaak, Jakob und David, die die klarste Weissagung auf ihn empfangen haben, weideten ihre Herden. Er stammte selbst nach dem Fleisch von diesen Hirten ab. In den Psalmen und Propheten ist der Herr so oft mit einem guten Hirten verglichen, dass wir die lange Reihe dieser teuren Weissagungen nicht durchgehen können. „Der Herr ist mein Hirte,“ singt David im 23sten Psalm. „Er wird seine Herde weiden wie ein Hirte, er wird die Lämmer in seine Arme sammeln und in seinem Busen tragen und die Schafmütter führen,“ spricht Jesaias im 40. Kap. Das ganze 34. Kap. des Propheten Ezechiel ist voll von solchen schönen Vorbildern. So spricht der Herr Herr: „Ich will mich meiner Herde selbst annehmen und sie suchen. Wie ein Hirte seine Schafe sucht, wenn sie von der Herde verirrt sind, also will ich meine Schafe suchen, und will sie erretten von allen Örtern, dahin sie verstreut waren.“ Wie er nun überhaupt der gewesen ist, auf den die Propheten geweissagt haben, so nimmt er auch ihr Hirtengleichnis so gern wieder auf. Er redet von dem verlorenen Schaf und von dem Herrn, der es sucht. Der Herr ist er. Er redet hier von dem guten Hirten. Der Hirt ist er. Er redet von seiner Herde. Die Herde ist seine Kirche. Wir wollen stehen bleiben bei dem Wort:

Der gute Hirt und seine Herde.

Für seine Herde sorgt und stirbt der gute Hirt, Die Herde hört und folgt, dass keines sich verirrt, Er führt die Herde heim, wenn es einst Abend wird. Herr Jesu Christ, du guter Hirte, sammle uns heute recht um dich auf der grünen Au deines heiligen Wortes. Gib unsern Seelen eine gesunde Nahrung. Tue uns Herz und Ohren auf, dass wir deine Stimme hören. Treibe von uns alle Lockungen der Welt, dass wir einmal so recht bei dir sind und herzliche Lust gewinnen, immer bei dir zu bleiben. Amen.

l. Für seine Herde sorgt und stirbt der gute Hirt.

„Ich bin ein guter Hirte,“ spricht Christus. Aber genau übersetzt heißt es: „Ich bin der gute Hirte.“ Es gibt nur einen guten Hirten, und der ist er. Er sagt auch von sich: „Ich bin das Licht der Welt,“ nicht ein Licht. Es hat neben ihm kein anderes Licht Geltung. „ Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben.“ Es gibt neben ihm keinen anderen Weg, keine andere Wahrheit, kein anderes Leben. Es kommt Niemand zum Vater, denn durch ihn. Den guten Hirten nennt er sich. Fürwahr, er greift nicht leicht und eilig nach Titeln und Ehrennamen, Wenn Einer einen Titel und Ehrennamen verdient, verdient er den des guten Hirten. Er handelt in dem Evangelio nicht die Ruhezeiten des Hirten durch. Er redet nicht davon, wie der Hirte im Schein der Frühsonne seine Herde ausführt; nicht davon, wie er sie am Mittag lagern lässt an frischen Wassern, und er selber säße daneben unter schattigem Baum. Er redet nicht davon, wie er sie am Abend gemächlich heimführt vom Feld und sein Lied dazu singt oder seine Flöte dazu bläst. Er hat sich gerade die Notzeiten ausgewählt, um sich als den guten Hirten darzustellen. Da muss er sich besonders als solchen bewähren. Er redet von den Stunden, wo der Wolf in die Herde eindringt. Wen meint Christus unter dem Wolf? Er meint den Fürsten dieser Welt. Dieser bricht in die Herde des Herrn ein damit, dass er Unglauben unter sie aussät. Er bricht in sie ein damit, dass er ihre Glieder verfolgt mit Schimpf und Schmach, mit Marter und Tod. Wenn wir bei dem Bild vom Wolf und Hirten im weltlichen Sinne stehen bleiben, da gibt es in unserm Vaterland keine Wölfe mehr, da können die Herden ganz sicher weiden. Sehen wir aber die Herde des Herrn an, die Gemeinde der Gläubigen, welche festhalten an dem geoffenbarten Wort Gottes, an Jesu Christo dem eingeborenen Sohn Gottes und an den heiligen Sakramenten: gegen diese stürmen in unseren Tagen mehr Wölfe an, als einst gegen die Herden, da unser Vaterland noch mit Wald und Wildnis überdeckt war. Mit Wort und Schrift, mit Verlockung aller Art, mit Spott und Gewalt geht man auf die Herde des Herrn los. Einmal geht der Wolf einher in Schafkleidern, und zur anderen Zeit kehrt er wieder die ganze Wolfsgestalt heraus. Er will die Herde zersprengen und zerstreuen; er will den neuen Menschen, das Schäflein Jesu Christi in jedem Einzelnen zerreißen und töten. -

Aber Gott sei Lob und Dank in Ewigkeit, dass wir einen solchen guten Hirten haben. O sehet doch, er ist kein Mietling. Die Herde ist sein. Er hat sie erworben. Er ist umhergezogen und hat sie zusammengerufen und gelockt aus den Hecken und Wüsten dieser Welt. Er hat sie sich vollends erkauft und erworben nicht mit Gold oder Silber, sondern mit seinem heiligen, teuren Blut. - Seht doch, er ist kein Mietling, er dient nicht um Lohn. Niemand hat ihm Etwas zuvor gegeben, das ihm werde wieder vergolten. Niemand kann ihm Etwas geben, denn Alles, was wir haben, ist erst eine Gnade und ein Leben aus seiner Hand. Was er aber von den Menschen empfangen hat, das ist kein Lohn eines Mietlings. Denn mit Geißelschlägen, Dornenkrone und Kreuzesnägeln lässt sich kein Hirte dieser Welt mieten. Er hat nicht das Seine gesucht, sondern das Unsere. Er gehört nicht zu jenen Hirten, von denen Ezechiel schreibt: „Wehe den Hirten, die sich selbst weiden. Sollen nicht die Hirten die Herden weiden?“ Damit seine Herde auf grüner Au weide, hat er sich selber weiden lassen auf der Schädelstätte zu Golgatha. Seine Weide war Essig mit Galle vermischt, und Todesschmerz, dass er ausrief: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen!“ -

Als der Wolf andrang in jener Nacht im Garten Gethsemane, da stand der Hirte für die Herde, da sprach er: „Wenn ihr mich sucht, so lasst diese,“ die Jünger, „gehen.“ Dass diese lebten, und dass wir leben, ist er gestorben. Er bleibt aber nun in Ewigkeit ein guter Hirte. Er weidet von der Rechten seines Vaters herab seine Herde. Seinen Hirtenstab reckt er hin über alle Teile der Erde. Er führt auf grüne Auen und zu frischen Wassern. Er steht bei uns im Kampf; er ficht immer noch für seine Herde, und er wird es auch ausfechten zum Sieg. -

Treu ist Jakob gewesen in seinem Hirtenamt, als er Labans Herden hütete. Er sagt selbst: „Des Tages verschmachtete ich vor Hitze und des Nachts vor Frost, und es kam kein Schlaf in meine Augen.“ Aber treuer ist der, der auch an dem Kreuz seine Herde nicht vergaß, der nun noch beständig fürbittet für sie mit unaussprechlichen Seufzern. Er kennt jedes einzelne Schäflein. Er kennt seine Not, er weiß, was seiner Seele fehlt. Kühn ist David, der Sohn Isais, als Hirte und König gewesen. Als er in den Kampf mit dem Riesen Goliath gehen wollte, und Saul Bedenken trug, den Jüngling dem riesigen Feind entgegen zu schicken, erzählt er dem König: „Dein Knecht hütete die Schafe seines Vaters, und es kam ein Löwe und ein Bär und trug ein Schaf weg von der Herde. Und ich lief nach und schlug ihn und errettete es aus seinem Maul. Und da er sich über mich machte, ergriff ich ihn bei seinem Bart und schlug ihn und tötete ihn.“ Aber kühner ist unser guter Hirte. Er wusste, dass er nur im Sterben siegen könnte. Er hat sein Leben gelassen für seine Schafe. Und diese Treue, dieser Todesmut ist gekrönt worden, so dass er nun herrscht und herrschen wird über alle seine Feinde. -

Wenn wir zu diesem guten Hirten hinauf sehen, steigt ein doppelter Wunsch in unsern Seelen auf. Der erste gehört denen, die der Herr gesetzt hat zu seinen Arbeitern, zu seinen Knechten, dass sie seine Herden weiden hie und da. Der erste Wunsch gehört denen an, die nach diesem Erzhirten Hirten oder Pastoren genannt sind. Er lautet: „Ach dass wir doch auch die Treue unsers Herrn hätten, dass wir doch, wie er, keine Mietlinge wären! Dass wir nicht dienten um Lohn, um täglich Brot, um Ehre und Beifall der Welt, sondern als die Knechte Christi, dass wir solchen Willen Gottes täten von Herzen mit gutem Willen! Dass wir doch auch wie er zufrieden wären, wenn der Lohn unserer Mühe Schmach und Verfolgung, Dornenkrone und Tod wäre! Dass es uns auch nicht zu tun wäre um ein gemächliches und bequemes Leben, sondern vor allen Dingen um die Herde, die er uns anvertrauet hat! Dass wir auch jeder einzelnen Seele so nachgingen, wie er den verlorenen Schafen, auch jedem einzelnen, nachgegangen ist!“ Wir haben erst vor acht Tagen gehört, wie er den Thomas aufsuchte in der Wildnis des Unglaubens, Wir lesen in den Evangelien, wie er den Petrus aufsucht, wie er ihm in seine Verirrung nachgeht mit der dreimaligen Frage: „Simon Johanna, hast du mich lieber, denn mich diese haben? hast du mich lieb? hast du mich lieb?“ Die alte apostolische Kirche hat solche Hirten gehabt, die evangelische Kirche hat sie in ihren Gnadenzeugen auch gehabt. In der ersten Pestzeit, die Luther zu Wittenberg durchgemacht hat, schreibt er an seinen Freund, den Augustinerprior Johannes Lange zu Erfurt: „Die Pest ist da und fängt hier hart und plötzlich an, absonderlich an der lieben Jugend. Ihr ratet mir, dass ich fliehen soll. Ich hoffe, die Welt wird nicht einfallen, wenn gleich Bruder Martin stirbt. Ich bin hierher gesetzt. Wegen meines Gehorsams darf ich nicht fliehen, bis es mir der Gehorsam, der mich hierher berufen, wiederum befiehlt.“ Und so hat er drei Pestzeiten dort in seinem Amt mit der Gemeinde ausgestanden und sie in denselben als guter Hirte getröstet und geweidet. Valerius Herberger in Fraustadt in Posen hat in dem Pestjahre 1613, in dem über 2000 Bürger dieser Stadt starben, mehr denn 300 an der Pest Verstorbene zu Grab geleitet. Aber es war, sagt er, wie wenn ein Engel Gottes mit blankem Schwert mein Haus umlagert hätte, dass mir kein Leid widerfahren dürfte. Im vorigen Jahrhundert stand unter den Indianern in Nordamerika ein Missionar, Namens Gottlieb Büttner. Er hatte sich aus den Eingebornen des Landes eine kleine Herde gesammelt. Sie hatten abgelassen von ihrem wilden Wald- und Jagdleben und hatten sich um ihn angebaut. Zuweilen jedoch kam die alte Esaunatur bei etlichen wieder empor. Sie gingen wieder hinaus in die Wälder, streiften und jagten, kamen nicht wieder, vergaßen Gott und Jesum Christum. Solchen Verirrten ging Büttner wochenlang nach durch das Dickicht der Wälder, bis er sie fand. Einst hatte sich ein Indianer, Namens Jonathan, so in Welt und Wald verlaufen. Büttner suchte ihn in weiter Ferne. Er fand ihn. Als der Indianer den Missionar von ferne kommen sah, stand er, wie vom Blitz gerührt, unbeweglich da. Büttner redete ihn freundlich an, nannte ihm die Absicht seines Besuchs und sagte ihm, wenn er auch noch so weit davonfliehen wollte, er würde ihm doch nachfolgen. - Stammelnd entgegnete der Gefundene: „Wie! denkt Bruder Büttner noch an mich? Bist du einzig darum gekommen, mich aufzusuchen?“ Und jetzt fing er bitterlich an zu weinen. Der Missionar umarmte seinen verlorenen Sohn und vergaß über der Freude des Wiederfindens alle Mühe des weiten Weges. Als er den Jonathan nach Hause zurückgebracht hatte, schrieb er an den Bischof Spangenberg: „Freue dich mit mir, denn ich habe das Schaf gefunden, das verloren war. Jonathan ist wieder mein Bruder geworden.“ Wenn der Herr uns doch allzumal rüsten wollte mit dieser Treue! - Der zweite Wunsch geht die ganze Gemeinde an. Er lautet: Dass wir doch Alle unter der Hut dieses guten Hirten ständen! dass wir doch Alle Schafe seiner Herde waren! Sind wir's denn nicht? Prüft selber. Wir kommen zu unserm anderen Teil.

II. Die Herde hört und folgt, dass keines sich verirrt.

Die Herde ist die ganze Christenheit. Er vergleicht sie mit Schafen, weil sie sanftmütig und von Herzen demütig sein soll, weil sie nicht streitet mit fleischlichen Waffen. Was verlangt der Herr von seiner Herde? Ich bin bekannt den Meinen. Was heißt das, was versteht Christus unter dieser Bekanntschaft? Du weißt, dass er in Bethlehem geboren, in Nazareth erzogen ist. Du weißt, dass er drei Jahre Seelen zu suchen durchs jüdische Land gegangen ist, dass er auf Golgatha gekreuzigt ist. Nun wirst du sagen: „Das ist ja genug, er ist mir bekannt.“ - Das ist nicht die Bekanntschaft, die er meint, das wissen die Juden auch. - Du hast sein Bild gesehen, wie er in der Krippe liegt, und der Stern der Weisen auf das Kind herniederscheint, wie er die Dornenkrone trägt, wie er am Kreuz hängt. Das ist doch keine Bekanntschaft. Seine Mörder haben noch mehr gesehen als du. Sie sahen nicht das Bild, sie sahen ihn selbst am Kreuz. Das ist nicht die rechte Bekanntschaft. Die wahrhaftige Bekanntschaft ist die, die ich inwendig gemacht habe. Dass er in dir geboren werde, Und dass du stirbst dieser Erde und lebst ihm, nur dieses ja Ist Bethlehem und Golgatha. Bekannt ist er dir, wenn du in dir sein Leben und Sterben erfahren hast; wenn seine Geschichte durch deine Seele gegangen ist; wenn auch in dir ein Golgatha des alten Menschen, ein Bethlehem des neuen zu finden ist; wenn du nicht allein weißt, dass er der Erlöser ist, sondern auch, dass er dein Erlöser ist; wenn du in dir fühlst: auch in mir ist das Erlösungswerk vollbracht. Bekannt ist er dir, wenn du durch Glauben und Gebet in täglichem Umgang mit ihm stehst. Wem er so bekannt ist, von dem gilt auch das zweite Wort: Meine Schafe hören meine Stimme. Hörst du sie? Hören und Hören ist zweierlei. An den Kreuzen hingen neben ihm zwei Schächer. Die hörten sie alle beide. Aber Hören und Hören ist zweierlei. Der eine hörte sie wie ein Fels, von dem ein totes, spottendes Echo wiederklingt; der andere wie ein Mann, dem sein Gott die Ohren durchbohrt hat, dass sie bis ins Herz hinunter dringt, dass jeder Ruf darinnen festsitzt wie ein Pfeil mit Widerhaken, der sich nicht wieder herausreißen lässt. Hörst du sie so? Wenn er dir bekannt ist, musst du sie hören. -

Nun frage dich, wie viel Stücke, wie viel Predigten aus dem Worte Gottes so in dir sitzen? - Hast du die Heilswahrheiten des Evangeliums so gehört, dass sie in dir Leben und Wesen, Fleisch und Blut geworden sind, dann findet sich an dir das dritte Merkmal der Schafe Christi: „Und ich kenne sie.“ Wie zwischen unserm Hören ist aber auch zwischen seinem Kennen ein Unterschied. Er kannte den Judas auch. Er kennt aber in dem rechten Sinn die, in denen er selbst eine Gestalt gewonnen hat. So ich vor Jemand stehe und ihm in die Augen sehe, so sehe ich mich in diesen Augen. Die Augen sind des Leibes Licht. Glaube und Liebe sind der Seele Augen, sind der Seele Licht. Wenn der Herr vor uns steht und uns in diese Augen sieht, will er sich darin sehen. Und in welchem er sich sieht, von dem sagt er: „Ich kenne dich.“ Er ist selbst in ihm, darum kennt er ihn. - Nun erforsche dein Herz und stelle Christum davor. Wenn er Nichts von sich sieht, dann bist du am inwendigen Menschen tot. Tod ist aber hier nicht ein gleichgültiger Zustand, sondern ein verkehrter. Christus sieht sein Spottbild darin. Dann kennt er dich nicht. Dann sagt er einst von dir: „Ich habe dich noch nie erkannt, weiche von mir, du Übeltäter.“ - Ist er dir bekannt, hörst du seine Stimme, kennt er dich, so musst du ihm auch folgen. Musst ihm mit Freuden folgen, denn der Christus in dir hat keinen lieberen Freund und Führer, denn den Christus außer dir. Wie ein Kind dem Vater nach will, will er ihm nach. „Und sie folgen mir,“ spricht Christus von seinen Schafen. Hier schlage an deine Brust, hier schaue hinter dich auf deinen bisherigen Lebensweg. Bist du denn deinem Herrn gefolgt? Ich frage uns allzumal: Wem ist denn Christus, dieser Anfänger und Vorgänger, dieser Herzog des Lebens, sein Wegweiser gewesen? Mammon, Lebensfreude, behagliche und gemächliche Ruhe, das waren deine Herzöge, Und wenn deren Führung so etwa mit Christi Führung zusammenfiel oder zusammenzufallen schien, dann war es dir recht. Wenn es aber nicht se war, dann kümmerte es dich auch nicht groß. Du musst ihn also auch noch nicht recht kennen. Du musst immer noch den heiligen Geist bitten: „Mach ihn mir recht bekannt!“ - Wenn der Hirte von dem letzten Baum, unter dem er ruhte, einen grünen Zweig abgebrochen hat und den hinter sich hält, dann folgt die Herde. Wenn er sich umkehrt und sie lockt mit freundlicher Stimme, dann folgt sie auch. Aber sie folgt auch, wenn er sich nicht nach ihr umsieht, sondern still und fest seinen Schritt vorwärts geht. Du willst wohl folgen, wenn Christus dir Tag für Tag vom Baum der Gnade grüne Zweige herunterbricht. Du willst folgen, wenn er dich lockt mit der süßen Stimme seiner Freundlichkeit, wenn er dir gibt, wonach deinem Herzen gelüstet. Das ist aber nicht genug. Wenn er still vorangeht, als ob er dich vergessen hätte, wenn du Tage und Wochen und Monate lang keinen Blick seiner Gnade erhältst, dann sollst du auch folgen. Es hat Männer genug in der Kirche gegeben, denen in ihrem Herzen keine Antwort geworden ist im heiligen Geist, dass sie Gottes Kinder sind, denen auch äußerlich weder Friede noch Freude gelächelt hat, und sie sind doch gefolgt. Ging's auch inwendig und auswendig durch Dornen und Hecken, sie blieben doch auf seinen Spuren. Das ist erst seine rechte Herde. So sollst du ihm auch folgen lernen. -

O dies Folgen, dies unbedingte Folgen, er führe wie er wolle, das wird eine rechte Ausgabe unserer Zeit werden! Gerade wenn es dunkelt, sollst du dich recht an den guten Hirten halten. Denn in den Zeiten des Kreuzes und der Sorge lauert der Wolf an allen Stegen. Gerade in der Zeit soll sich der Christ recht zu seinem Hirten und der Herde halten, denn jedes Vereinzelte wird leicht eine Beute des Feindes. Gerade in dieser Zeit soll man die Lämmer - die Jugend in Jesu Christo - recht zu ihm halten, denn sie sind noch nicht fest gewöhnt an seine Nachfolge. Sie sind weggelockt, man weiß nicht wie. Wer sich und die Seinen so zu ihm hält, der kann getrost sein, wenn es auch Abend wird.

III. Er führt die Herde heim, wenn es einst Abend wird.

Wenn die Sonne zur Rüste geht, wenn die Schatten lang werden, wenn die Abendglocken läuten, und die Abendwinde wehen, dann führt der Hirt seine Herde heim, damit sie die Schrecken der Nacht draußen nicht überfallen. So macht es unser guter Hirte auch. Aber es ist eigen in unserm Kapitel. Jesus hat sich so lange im Gleichnis gehalten. Nun er herankommt an den Abend, geht er plötzlich heraus aus dem Gleichnis, und es heißt: „Und ich gebe ihnen das ewige Leben, und sie werden nimmermehr umkommen, und Niemand wird sie mir aus meiner Hand reißen.“ Christ, warum redet dein Herr hier plötzlich ohne Gleichnis? Siehe, er kommt heran an deine heiligste Hoffnung, an dein teuerstes Gut. Da will er auch nicht den geringsten Zweifel lassen, da will er keiner falschen Deutung und Auslegung Raum geben. Darum sagt er es dir gleich selbst: „Ich gebe dir das ewige Leben, du sollst nimmermehr umkommen, und Niemand wird dich aus meiner Hand reißen.“ Er kommt heran an die Zeiten, wo wir nicht mehr schauen im dunkeln Wort, sondern ihn erkennen, wie er uns erkannt hat. Darum redet er hier ohne Sprichwort und Gleichnis. Aus der Liebe an dem Abend dieses Gleichnisses magst du schon erkennen die Liebe, mit der er dich an deinem Abend zur Ruhe bringen will. Es gibt auf dem letzten Heimweg auch noch Feinde und Seelenmörder. Aber er ist mit den Seinen, er gibt dann wunderbare Kräfte, er weckt den ganzen Glauben auf. Sie sollen nimmermehr umkommen, und Niemand soll sie ihm aus seiner Hand reißen. -

Bist du aber da hindurch, dann bist du auch ganz durch die Wüste. Dann lauerst du nicht mehr auf seine Gnadenblicke, dann fällt dir nicht hier und dort einzeln einer zu; du ruhst in seiner Gnade.

Kein Durst noch Hunger wird sie schwächen,
Denn die Erquickungszeit ist da;
Die Sonne wird sie nicht mehr stechen,
Das Lamm ist seinem Volk nah.
Es will selbst unter ihnen wohnen
Und ihre Treue wohl belohnen
Mit Licht und Trost, mit Ehr und Preis.
Voll Wonne werden wir ihm dienen,
Der große Sabbat ist erschienen,
Da man von keiner Last mehr weiß.
Da ist dann Hirt und Herde eins.

Die Herde ruhet in Ewigkeit unter dem Lebensbaum, der aufwuchs aus der Wurzel Jesse. -

Es kann keinen bessern Hirten geben als den, der dich auf grüner Aue weidet; als den, der selbst am Kreuz für dich leidet; der allewege wacker für dich streitet und dich am Abend in die Ruhe leitet. Wenn du das bedenkst, wenn du ihn so erkennst, wirst du bitten: „Herr, nimm mich ganz in deine Herde. Ich bin zufrieden, wie du mich führst, sei Du auch in ein guter Hirte!“ Ja, lieber Christ,

Gib Hab und Gut,
Gib Leib und Blut,
Gib Seel und Mut
In seine Hut:
Du hast es gut. Amen.

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