Wirth, Johann Zwingli-- Das Heiligtum der Weihnachtsgeschichte.
Weihnachtspredigt über Luk. 2. 6-14, gehalten am Weihnachtsfeste 1851, Nachmittags, in St. Gallen,
von Zwingli Wirth, Pfarrer in Wattwil.
Festfeiernde Christen!
Eine alte, sehr alte Geschichte, die ich euch soeben vorgelesen habe und die den Gegenstand unseres heutigen Festes bildet, aber nichtsdestoweniger eine immer wieder neue und herrliche Geschichte! Es ist niemand in dieser ganzen Versammlung, der nicht jedes Mal wieder gerne den wohlbekannten Klängen der Weihnachtsgeschichte lauschte und ihrer sich freute. Wie hätte sich wohl ein Solcher hierher verloren heute, wo in allen Tempeln der Christenheit in lautem, fröhlichem Chore es erschallt: „Dies ist der Tag, den Gott gemacht!“ Überhaupt ist das Weihnachtsfest dasjenige, welches unter allen christlichen Festen wohl am meisten von Alt und Jung willkommen geheißen wird, wohl am meisten überall hin, in jedes Haus und jede Hütte hinein einen Glanz festlicher Freude trägt. Da wird Jeder, Greis und Kind, Arm und Reich, empor gehoben über das Einerlei des Alltagslebens und in ein höheres Element hinein versetzt! es ist eine festlichere Luft, die uns rings umweht; von „Weihnachtsfreuden“, „Weihnachtsgaben“ hört man überall: ein Beweis, dass dieses Fest mehr als irgendein anderes hinein gedrungen ist auch ins häusliche und gesellige Leben, und auch diejenigen noch davon berührt sind, die sonst mit dem Leben der Kirche in keiner Verbindung mehr stehen.
Damit ist freilich nicht gesagt, dass es nach der ganzen Tiefe seiner Bedeutung also hinein gedrungen sei in die häuslichen und geselligen Kreise, dass jedes Haus und jedes Herz erfüllt sei vom wahren Weihnachtsglanze und von der wahren Weihnachtsfreude. Auch hier, wie überall, bleiben eben Viele nur beim Äußeren stehen, bei den Ausläufern, Zeichen, Sinnbildern der Weihnachtsfreuden, bei den in Sitte und Gewohnheit wurzelnden Familienfestlichkeiten, die diese Tage mit sich bringen, oder bei einer bloß gemütlich - poetischen Auffassung des Festes, ohne mit Herz und Gemüt hinein zu dringen in seine ewige, heilige Bedeutung. Und doch hat auch schon diese äußere Weihnachtsfeier, der ganze festliche Glanz und Zauber, der über diesen Tagen ausgebreitet liegt, seinen tieferen Grund. Oder woher kommt es, dass diese Zeit, diese kalte, winterliche, eine so liebliche und freudenreiche ist, als hätte der Frühling seinen Blüten- und Farbenschmuck über die Erde gestreut; dass die Weihnachtsgeschichte, diese alte, längst bekannte, einem jeglichen immer wieder so wohl gefällt und so freundlich ihn anspricht? Kommt es nicht daher, weil uns in dieser Zeit und in dieser Geschichte ein Ereignis entgegen tritt, dessen große, ewig segensreiche Bedeutung niemand verleugnen kann, von dem wir sehen und fühlen, dass es eine neue Zeit in der Menschheit herauf geführt hat, und dass es sich wohl verlohne, von da aus die Jahre der Geschichte zu zählen; ein Ereignis, von dem eines jeden innere Stimme sagt, dass es den alten und immer neuen Bedürfnissen des menschlichen Herzens entspreche, und das darum seine Macht über die Gemüter niemals verlieren kann.
Ja, sie ist ein Heiligtum, diese Weihnachts-Geschichte, das wir nie anders als mit Gefühlen der Andacht und festlicher Freude betreten können; es ist ein geweihter Boden, auf den die Weihnachtserinnerungen uns hinstellen; „zeuch deine Schutze aus“, so schallt's auch uns da entgegen, „denn der Ort, da du stehst, ist heiliges Land!“ Treten wir denn auch jetzt hinein, in das Heiligtum der Weihnachtsgeschichte,
und betrachten wir es mit frommem Sinne. Wir vernehmen da den Liebesgruß aus dem Vaterherzen Gottes an die müde Welt; wir schauen da den Paradiesesglanz der wiederhergestellten Menschheit.
I.
Es war stille geworden in Bethlehem. Verstummt war das Gewühl des Tages und die Unruhe der Fremdlinge, die bis spät am Abend angekommen waren, um nach des Kaisers Befehl sich schätzen zu lassen, und in dem Städtchen ein ungewöhnliches Leben und Treiben verursacht hatten. Die Nacht hatte sich leise hernieder gesenkt und die Unruhe des Tages in tiefe Stille aufgelöst; kein Laut ließ sich hören; in tiefem Schweigen lag die Erde, als harrte sie erwartungsvoll des Großen, das nun geschehen sollte.
Nur einige Hirten noch wachten einsam draußen auf dem Felde, „die hüteten des Nachts ihrer Herde.“ Siehe, da bricht ein Glanz vom Himmel durch die dunkle Nacht, die Klarheit des Herrn umleuchtet sie, und eines Engels Stimme ruft den Erschrockenen zu: „Fürchtet euch nicht, ich verkündige euch eine große Freude“, und in tausendstimmigem Chore schallt des Himmels Loblied über der schweigenden Erde: „Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden und an den Menschen ein Wohlgefallen!“
Ja wir fühlen's: es ist ein Heiligtum, das diese Geschichte uns ausschließt, und zwar zuerst darum, weil wir da den Liebesgruß vernehmen aus dem Vaterherzen Gottes an die müde, schweigende Welt.
O es war nicht zufällig und bedeutungslos, dass nächtliche Stille auf Bethlehems Fluren lag; es drückte sich darin der damalige Zustand der Menschheit aus. Die Welt war müde geworden ihres vergeblichen Suchens - und schwieg. Das alte Heidentum war in tiefem Zerfall; die Zeit seiner Blüte war längst schon vorüber und der Glanz seiner Dichter und Weisen erbleicht.
Der alte Götterglaube war wankend geworden, die alte Größe dahin, das Volksleben immer mehr vom Wurme des Verderbens zerfressen und der inneren Auflösung, und in den besten Gemütern lebte ein Gefühl der Unbefriedigtheit und Leerheit, ein Gefühl der Vergeblichkeit und Ohnmacht aller bisherigen Bestrebungen, die Wahrheit zu finden. Und nicht viel besser sah es damals in Israel aus. Das Gesetz hatte keine wahre Gerechtigkeit, die Opfer und Brandopfer keine wahre Versöhnung zu Stande gebracht. Gott war dem Volke nicht völlig nahe gekommen, er war immer noch getrennt von ihm, ferne von ihm in unnahbarer Majestät. Die Kluft war nicht ausgefüllt. Und zudem waren in jener Zeit die Prophetenstimmen verstummt und der Strom der Offenbarung versiegt, und die Sterne erloschen, die in früheren Zeiten dem Volke geleuchtet. Es war Nacht geworden auch in Israel; die Masse des Volkes lag erstarrt in toter Äußerlichkeit und leerem Formenwesen, und die Bessern sehnten sich nach einer neuen Gottesoffenbarung, nach Licht und Hilfe von oben herab.
Ja, die alte Welt hatte sich ausgelebt. Sie hatte in Rom den Höhepunkt ihrer Macht erstiegen, hatte in Griechenland die Schätze ihrer Weisheit und Kunst, allen Glanz und alle Herrlichkeit des irdischen Daseins entfaltet, hatte in Israel nach Gerechtigkeit und Gemeinschaft mit Gott gestrebt; - und dennoch ging sie ihrem inneren und äußeren Zerfalle entgegen; dennoch blieb sie unbefriedigt und ungesättigt; dennoch blieb der Himmel verschlossen über ihnen und die Herrlichkeit Gottes ihren Augen verhüllt. Eine schwere, tiefe Ermattung hatte sich über die Menschheit gelagert; sie war müde geworden ob ihrem vergeblichen Ringen und Suchen, todesmüde; Alles schwieg!
Aber siehe, als die Welt schlummermüde, todesmatt, unmächtig, Licht und Wahrheit und ewiges Leben vom Himmel herab zu holen, in tiefem nächtlichen Schweigen lag; da kam der rettende Liebesgruß aus dem göttlichen Vaterherzen; da brach von oben her der Morgenstern einer neuen Zeit durch die dunkle Nacht und schallte die Engelsbotschaft über der müden schweigenden Erde: „Ich verkündige euch eine große Freude!“ Die Hand Gottes griff hinab durch die Wolken und zerriss den lange verschlossenen Himmel; Er neigte sich hernieder zu den Menschenkindern in erbarmender Liebe und kam ihnen nahe; „das Wort war Fleisch und wohnte unter den Menschen, und sie sahen seine Herrlichkeit!“ Was die Menschheit nicht hatte finden können in Jahrhunderten langer Entwicklung, wonach sie sich gesehnt hatte in den besten ihrer Glieder, Gemeinschaft mit Gott, Wahrheit aus Gott, Leben aus Gott; das wurde ihr zugesichert in jener Heiligen Nacht, wurde ihr zugebracht in dem Kindlein, das dort in der Krippe lag.
Und dieser Gruß der Liebe, mit welchem Gott die Welt einst grüßte in seinem Sohne, ergibt sich ja auch jedem einzelnen Menschen, der ihn hören will.
Freilich, so lange du die Welt als ein blinder Heide vergötterst mit ihren Gütern und Freuden, oder als ein stolzer Jude mit äußerlicher Gerechtigkeit dich befriedigst; so lange du noch in brausendem Eigenmut ein Herr der Erde dich dünkst und die Welt und das Schicksal in deiner Hand zu haben meinst; so lange du in sicherem Selbstvertrauen glaubst, mit deiner Klugheit und Kraft allen Stürmen gewachsen zu sein, mit deiner Weisheit Himmel und Erde, Gott und Welt ergründen zu können, mit deiner Tugend die Schrecken des Todes und die Schauer des Gerichtes siegreich überwinden zu können, überhaupt dein eigener Helfer und Tröster und Heiland zu sein im Leben und im Sterben; - so lange kann freilich die herablassende, rettende, erlösende Gottesgnade dir nicht beikommen; du brauchst sie ja nicht. Aber es können auch andere Zeiten für dich kommen und andere Stimmungen, und wohl dir wenn sie kommen! da du müde geworden bist und zerschlagen; sei's, dass schwere Schicksalsschläge dich in den Staub warfen und deine Ohnmacht dir offenbarten; sei's, dass die Erfahrungen des Lebens deiner Weisheit über den Kopf wuchsen und dich lehrten, wie kurzsichtig der Mensch sei und wie beschränkt in all seinem Wissen und Können; oder dass dein inwendiger Mensch mit seinen ewigen Bedürfnissen aus dem Schlafe erwachte und das eitle Weltleben dir verleidete, und die Augen dir aufgingen über deine innere Leerheit, und du erschrakst vor deinem Zustande und vor dem Richter in dir und über dir. Und wenn du einmal innerlich so herab gedrückt bist und zerschlagen; hattest Befriedigung gesucht im Glück der Erde, und es verwelkte wie die Blume des Feldes; hattest Befriedigung gesucht in den Genüssen und Zerstreuungen der Welt, - und sie waren Schaum und Eitelkeit und ließen dich leer; Befriedigung gesucht in irdischer Weisheit und Bildung, und sie gab dir keine Antwort auf die tiefsten Fragen deines Herzens, Befriedigung in deiner Pflichterfüllung und Rechtschaffenheit, und du musstest sehen, dass sie voller Flecken und Blößen war, und bist nun müde geworden deines vergeblichen Suchens, müde deines fruchtlosen Strebens, so dass du die Augen aufhebst zu den Bergen, von dannen dir Licht und Trost und Kraft und Hilfe kommt; und nächtliche Stille in dein Gemüt sich senkt, die Stille der Demut, die Stille der Sehnsucht: - ja, dann wird auch über dir, wie einst über Bethlehems Fluren, der Himmel sich auftun und ein Gottesbote „die große Freude“ verkünden: Auch dir ist ein Heiland geboren, der dein müdes Herz durchströmen will mit Trost und Kraft eines höheren Lebens!
Liegt nicht auch in unserer Zeit, trotz all ihrer Rührigkeit und Kraftanstrengung auf den mehr äußeren Lebensgebieten, noch auf Unzähligen das drückende Gefühl der Fruchtlosigkeit aller Bestrebungen, auf äußerlichem Wege ein Himmelreich auf die Erde zu zaubern, ein Gefühl innerer Unbefriedigtheit und Ermattung? - O dass daraus jene Weihnachtsstille der Sehnsucht hervorginge, die das Kommen dessen verkündigt, der heute noch, wie einst, der müden Welt und jedem müden Herzen den Gruß und die Tat der rettenden Liebe bringt!
II.
Die Weihnachtsgeschichte ist aber auch darum ein Heiligtum, weil wir da den Paradiesesglanz der wiederhergestellten Menschheit schauen.
Wenn uns von den Hirten, die in jener Nacht draußen auf dem Felde bei ihrem stillen Geschäfte überrascht wurden von der himmlischen Erscheinung und umleuchtet von der Klarheit des Herrn, erzählt wird: „Und sie fürchteten sich sehr“; - o so wissen wir wohl, was das bedeutet. Es war nicht bloß das Ungewöhnliche und Unerwartete der Erscheinung, sondern es war das Hereintreten der überhimmlischen Welt in ihren Gesichtskreis, es war die Nähe Gottes, vor der sie erschraken. Der Mensch muss sich fürchten vor Gott. Das deutet hin auf eine Verkehrtheit, auf eine Störung des rechten Verhältnisses; denn von Haus aus und von Anfang an konnte das edelste Geschöpf der Erde nicht im Zwiespalte mit seinem Schöpfer sein. Nein, „zu seinem Bilde“ war es geschaffen; seinen ewigen Geist hatte er ihm eingehaucht; zu seiner Gemeinschaft war es berufen; das Auge Gottes ruhte mit Wohlgefallen auf dem Menschen, in dessen Seele Ewigkeit und Zeit, Himmel und Erde in schönem Bunde sich vermählen sollten. Aber dieser Bund wurde gelöst. Eine finstere Macht trat hinein in die Menschheit, und wies sie heraus aus der Bahn ihrer natürlichen Entwicklung.
Der Mensch verkaufte sein Erstgeburtsrecht um den Betrug der Sünde; der Adelsbrief seiner höheren Herkunft ward zerrissen und die Krone des göttlichen Bildes in den Staub getreten.
Aus einem Herrn der Erde ward er ein Sklave der Erde, aus einem freien Königssohne ein dienstbarer Knecht. Vom wahren Lebensquell und Lebensmittelpunkt der Gottesgemeinschaft losgerissen, drang das Verderben in alle Seiten der menschlichen Natur; das Gotteslicht der Vernunft wurde verdüstert und umnebelt von Aberglauben und Wahn; das Gemüt wurde aller Leidenschaften fähig, der Wille geknechtet von der Macht der Sinnlichkeit, das Gewissen verhärtet gegen die Stimme der Wahrheit. Und durch alle Äste und Zweige des Baumes der Menschheit schlug das Gift der Sünde; durch alle Glieder dieses großen Leibes drang der Krankheitsstoff; „sie sind allzumal abgewichen“, sagt der Apostel, „und untüchtig geworden; da ist Keiner der Gutes tue, auch nicht Einer!“ Und im Gefolge der Sünde kam auch tausendfaches Elend ins Menschenleben, inneres und äußeres, und die Last der Schuld und der Stachel des göttlichen Missfallens und des Todes Bitterkeit und Schrecken.
Oder ist es etwa nicht so? O ihr Weisen unserer Tage, die ihr meint, die Welt müsse sich nach euren Systemen richten, und was in euren Begriffen keinen Platz habe, habe darum auch keinen in der Wirklichkeit; ihr Gutmütigen, die ihr in schönen Idealen schwärmt und in luftigen Träumen; ihr Leichtsinnigen, die ihr nur auf der Oberfläche des Lebens herum tanzt und nie hinein schaut in seine verborgenen Tiefen; ihr Alle, die ihr den Menschen vergöttert und die Lehre von einer Verderbnis seiner Natur, die durch alle Adamskinder schleiche, für einen finstern Wahn vergangener Zeiten haltet: - o ihr könnt dennoch die Macht der Sünde mit all euerer Weisheit nicht aus der Welt wegphilosophieren, mit euerer Gutmütigkeit sie nicht wegträumen, mit euerem Leichtsinn sie nicht wegspaßen. Sie ist einmal da, und wenn ihr hinein schauen könntet oder wolltet in das Elend der Heidenwelt, oder in die Nachtseiten der zivilisierten Völker, in jene dunklen Quartiere der großen Städte, wo die Höhlen des Lasters und der Schande sind, oder in die Herrlichkeit der großen Welt, wo hinter Gold und Seide und dem Glanze der Verfeinerung oft so viel Selbstsucht, Hohlheit, Fäulnis verborgen ist; wenn ihr hinblicken könntet in alle zerrütteten Chen und Familien, in alle friedelosen Herzen, und zählen könntet alle Tränen, die um der Sünde willen, eigener oder fremder, geweint worden, und hören alle Seufzer, die sie auspresst, und überschauen mit einem Blicke allen Jammer, den sie gebracht: - wahrlich, dann würdet ihr verstummen mit euren schönen Phrasen und die Oberflächlichkeit euerer Weltbetrachtung erkennen, und gestehen: Ja, ja, es sind Mächte der Finsternis hinein gedrungen in die gottgeschaffene Menschennatur, und haben das schöne Gottesbild entstellt und getrübt; es liegt ein Bann auf ihr, der ihre anerschaffene Herrlichkeit tief in den Staub gedrückt und alles Schöne und Gute, Edle und Große, das sich in der menschlichen Natur allerdings auch findet, vermag aus sich selber nicht diesen Bann zu lösen und die Menschheit empor zu ziehen zu ihrer ewigen Bestimmung. Nein, nicht umsonst klang schon durch die alte Heidenwelt die dunkle Sage von einem „goldenen Zeitalter“, von einem „verlorenen Paradiese“; nicht umsonst ertönen solche Klagestimmen je und je in jeder Menschenbrust!
Aber nun kommet, meine Andächtigen, lasst uns von diesem düsteren Gemälde hinein treten ins Heiligtum der Weihnachtsgeschichte und zur Krippe des Neugeborenen. Da sehen wir ein schöneres Bild; wir schauen da den Paradiesesglanz der wiederhergestellten Menschheit.
Wieso das? fragst du. Nun siehe, da liegt ein Kind, ein armes, schwaches Menschenkind; im dunklen Stalle fängt seine Laufbahn an, am Kreuze endigt sie; es ist allem Kampf und Elend, aller Mühseligkeit und Plage, allen Versuchungen des Menschenlebens ausgesetzt, ist uns in Allem, Allem gleich, ausgenommen - die Sünde! Und weil er in diesem Stücke ausgenommen ist von der Kette der Adamskinder, so erblicken wir also in ihm den reinen, vollkommenen Menschen, den Gottes- und Menschensohn; sehen in ihm das reine Urbild der Menschheit, das lange entstellte, umdunkelte, getrübte Gottesbild in der Menschennatur in hellem Glanze uns wieder entgegen leuchten. Aber was er ist, das ist er nicht nur für sich, sondern für Alle; „er schämt sich nicht, uns seine Brüder zu heißen“; er ist als ein göttliches Reis eingepfropft worden in den kranken, verwilderten Stamm der Menschheit, damit von ihm aus ein neues, göttliches Leben in all' seine Äste und Zweige ströme; er ist unser Einer geworden, damit wir die Seinen würden, seines Lebens teilhaftig, in sein Bild verklärt. Drum schallte der Jubelgesang über seiner Krippe: „Friede auf Erden und an den Menschen ein Wohlgefallen“; denn wer ihn nun annimmt und sich ihm hingibt, der steht vor Gott nicht mehr als ein Glied der natürlichen, sündlichen Menschheit da, sondern als Eins geworden mit Christo, und das göttliche Wohlgefallen, das auf ihm ruht, ruht nun auch auf Allen, die durch ihn Kinder Gottes werden. So erblicken wir denn also weiter in ihm „den zweiten Adam“, den geistigen Stammvater eines neuen Geschlechtes; wir sehen in diesem göttlichen Kinde die menschliche Natur erneuert, sehen in dem Glanze, der sein Antlitz verklärt, den Paradiesesglanz der wiederhergestellten Menschheit.
Und nun schauen wir mit andern Augen hinein in die Welt und ins wogende Meer des Menschenlebens. Nun ist die Erde nicht mehr ein Jammertal und ein fluchbeladener Dornenacker, sondern ein Schauplatz göttlicher Liebestaten und ein Saatfeld, auf dem neben vielem Unkraut auch Saaten für die Ewigkeit reifen; nun ist die Geschichte uns nicht mehr bloß ein Gewebe menschlicher Torheiten und Leidenschaften, sondern eine Verwirklichung göttlicher Ratschlüsse und die Entwicklungsbahn des göttlichen Reiches; nun ist die Menschheit nicht mehr nur das gefallene, sündige, hinfällige Adamsgeschlecht, sondern sie trägt einen Schatz ewigen Lebens, göttlichen Geistes in ihrem Schoß, der sie hinan führt auf der Bahn großer Entwicklung, auf der Bahn zu dem höchsten Ziele, ein Volk Gottes zu werden und ein Leib des Herrn. Und wenn wir klagen müssen über die Nacht und Finsternis, die noch in der Welt ist, über so viel Verkehrtheit und Sünde, und wenn wir verzagen wollen beim Hinblick auf so viel Jammer und Elend der Menschen: an der Krippe des heiligen Kindes, zu der das Weihnachtsfest uns führt, schöpfen wir wieder Mut und Hoffnung und den frohen Glauben, dass die göttlichen Heils- und Friedensgedanken mit der Menschheit dennoch an ihr werde vollendet werden. Ja, nun gilt es: „Und jeder der Geborenen erfreue sich Mensch zu sein, und jeder der Verlorenen rühm' es erlöst zu sein“; nun gilt es: „Jauchzet dem Herrn! aus Gottes Höhen bringt er uns den Friedensbund; Paradieseslüfte wehen wieder neu durchs Erdenrund!“
Aber nun noch die Frage: wehen diese Paradieseslüfte auch durch dein Gemüt? gehörst auch du in Wahrheit zu dem Orden der neuen Menschheit, den Christus gestiftet? lässt du sie auch in dir wirken, die Wiederherstellungs- und Genesungskräfte, die er in die Welt gebracht? Ist das nicht der Fall, ach, dann weißt du noch nichts von der rechten Weihnachtsfreude; dann bist du eben noch ein Adamskind, auf dessen Haupte der Fluch der Sünde und die Furcht des Todes liegen; es lastet noch ein schwerer Druck auf deinem Leben, und finstere Todesschatten umnachten es, und der Wurm des Unfriedens zernagt es. Deine Lebensfreude ist eitel und vergeht wie ein Traum; dein Arbeiten und Schaffen ist ein Taglöhnerdienst der Vergänglichkeit; deine Leiden und Trübsale sind doppelt bitter durch das Gefühl der Entfernung von Gott; dein ganzes Leben ist ein unruhiges Getriebe der Eitelkeit, ohne göttlichen Gehalt, ohne höhere Hoffnung, ohne ein ewiges Ziel! Und doch trägst du auch in deiner Brust die dunkle Ahnung von einem verlorenen Paradiese und ein verborgenes Heimweh darnach; trägst auch in dir das Gefühl, dass du abgefallen seiest von deiner wahren Bestimmung und ein leises Sehnen, sie wieder zu finden, ein Sehnen nach Freiheit und Frieden und höherem, göttlichem Leben. O so komm denn und betrachte es nicht nur von außen, das Heiligtum der Weihnachtsgeschichte und den Glanz der wiederhergestellten Menschheit, der aus diesem Kinde dir entgegen blickt, sondern öffne dein Herz diesem Glanze; suche ihn und gib dich ihm hin, dem großen Erneuerer der Menschheit, und lass von seinen Lebenskräften dich durchströmen, dass du genest, dass Paradiesesluft du atmest und dir die große, große Freude werde, die allem Volke widerfahren soll.
Und ist sie dir schon geworden, diese Freude; bist du durch Christum ein Glied der neuen Menschheit, auf welcher Gottes Wohlgefallen ruht: o dann danke ihm dafür dein Leben lang; dann sprich: „Lobe den Herrn, meine Seele, und Alles, was in mir ist, seinen heiligen Namen; lobe den Herrn, meine Seele, und vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat!“ - Amen.