Vinet, Alexandre - Der Mensch, alles Ruhmes vor Gott mangelnd - Erste Rede.

Vinet, Alexandre - Der Mensch, alles Ruhmes vor Gott mangelnd - Erste Rede.

Röm. III,23.
Denn es ist hier kein Unterschied; sie sind allzumal Sünder, und mangeln des Ruhmes, den sie an Gott haben sollen.

Die beiden Wahrheiten, deren Verkündiger wir heute sind, haben nicht gleiches Glück in der Welt gemacht. Die erstere wird nicht bestritten; es gibt niemand, der nicht eingestehe, dass alle Menschen gesündigt haben; aber wenige sind geneigt, zuzugestehen, dass der Mensch alles Anspruchs auf Ruhm vor Gott mangele.

Es ist eine solche Übereinstimmung in Bezug auf die erstere dieser Behauptungen, dass man sich nicht dabei aufhalten würde, wenn nicht die, welche einstimmig sind, sie anzunehmen, auf eine sonderbare Art über die Stärke und den Sinn dieser Erklärung von einander abwichen und zuweilen mit sich selbst darüber uneinig wären. Für die Einen ist die Sünde in ihrem Wesen etwas Negatives, eine Abwesenheit, ein Mangel, eine Ohnmacht; nach ihnen hat kein Element eines positiven Übels in dem Herzen des Menschen seinen Sitz. Für die Andern, im Gegenteil, besteht die Sünde in einem direkten Vorziehen des Bösen vor dem Guten; das Laster im Menschen ist nicht eine Schwäche, sondern eine entartete Kraft; der Wille ist nicht verführt, sondern verderbt.

Hier hört Ihr die Sünde so erklären, als sei sie ein zufälliges Unglück der menschlichen Natur, das Resultat der Einwirkung äußerer Umstände auf die Seele; nach ihnen geht das Übel nicht von der Seele aus, sondern es kommt zu ihr; sie nimmt es auf, aber sie bringt es nicht hervor. Dort hört Ihr behaupten, dass der Keim der Sünde in der Seele ist; dass er nach außen Gelegenheiten sucht; dass ihm, nach Bedürfnis, alles zur Gelegenheit wird, und dass der Mensch nicht durch Zufall, sondern von Natur Sünder ist. Die Einen, in dem Herzen des Menschen eine Neigung zum Bösen erkennend, sehen diese Neigung als ein primitives Gesetz seines Wesens an, als eine innere, mit dem moralischen Elemente wetteifernde Kraft, welche diesem Gelegenheit gibt, seine Kraft zu entwickeln, und mit um so mehr Verdienst und Ehre zu triumphieren. Die Andern halten die Meinung fest, dass Gott nicht das Böse gemacht hat; dass ein Gegner von Außen gekommen ist und die unreine Spreu unter unseren Weizen gesät hat, und dass die Harmonie, und nicht der Kampf, der regelmäßige, der gesunde Zustand jeder Seele ist.

Die Vernunft wirft sehr wenig Licht auf alle diese Fragen; wie viele Philosophen und tiefe Denker haben sie nicht schon außer Gefecht gesetzt! Nichts desto weniger ist allen Fallstricken der Dialektik und den Händen aller Sophisten immer eine Wahrheit entschlüpft, eine unangefochtene, ganze und unbesiegbare Wahrheit; es ist die: dass die Menschen gesündigt haben; dass alle mehr oder weniger in der Zerrüttung leben, dass, so lange sie im Fleische sind, sie in der Sünde verwickelt sind, und dass, durch einen unerklärlichen Kontrast, mit dem Bewusstsein ihrer Knechtschaft oder ihrer Gefangenschaft ein dunkles Gefühl von Schuld und Verantwortlichkeit verbunden ist.

Was eine vollere Kenntnis der Natur, der Ausdehnung und der Folgen der Sünde anbetrifft, so wird man diese nie erhalten, es sei denn, dass man zur christlichen Offenbarung seine Zuflucht nehme. Diese Offenbarung beschränkt sich nicht darauf, uns zu sagen, dass alle Menschen gesündigt haben; sie wirft ein helles Licht auf diesen Ausspruch durch die Worte, welche meinen Text beenden: „Sie mangeln alle jedes Anspruchs auf Ruhm vor Gott.“ Für den, welcher diesen zweiten Ausspruch annimmt, wird der Sinn des ersteren vollkommen klar und bestimmt. Daher also müssen wir uns zu beweisen bemühen, dass der Mensch keinen Anspruch auf Ruhm vor Gott hat.

Wir haben es schon gesagt: diese Erklärung findet viel mehr Gegner, als die erstere. Was bedeutet sie in der Tat? Dass der Mensch nichts in sich hat, woraus er sich in den Augen Gottes ein Verdienst, eine Berechtigung, eine Stütze machen könnte; nichts, wodurch Gott befriedigt sein, nichts, was, für sich selbst, uns sein Wohlwollen zusichern könnte. Wird diese Wahrheit nicht bestritten?

Wir bestreiten sie nicht, werden Einige sagen; denn es ist ganz klar, dass wir Alles, was wir sind, Gott verdanken; unsere guten Eigenschaften sind sein Werk, und in dieser Beziehung ist auf den tugendhaftesten Menschen, wie auf alle Anderen, dieser Ausspruch anzuwenden: „Sie haben Alle keinen Anspruch auf Ruhm vor Gott.“

Wir gestehen es gerne zu, meine teuren Zuhörer, und das Evangelium lehrt uns ja ganz dasselbe. Die Apostel sagten zu den ersten Christen: „Alle gute Gabe und alle vollkommene Gabe kommt vom Vater des Lichts; er allein schafft in uns das Wollen und Vollbringen nach seinem Wohlgefallen. Was haben wir, das wir nicht von ihm empfangen hätten? und so wir es empfangen haben, warum uns dessen rühmen, als ob wir es nicht empfangen hätten?“ Aber es ist klar, dass St. Paulus in dem Kapitel unsers Textes von einem andern Gesichtspunkte ausgeht, und dass unser Text selbst einen andern Sinn hat, als den, auf welchen man ihn beschränken möchte.

Es ist nicht einfach eine Huldigung, welche der Apostel dem Urheber aller guten Gabe hat darbringen wollen; es ist eine Verdammung, welche er hat aussprechen wollen; über wen? über den Menschen in jedem Zustande? Nein; aber über den nicht wiedergeborenen, über den tierischen Menschen. Und das Wort des Apostels bedeutet augenscheinlich, dass, so lange der Mensch die Wohltat der Erlösung durch Jesus Christus nicht angenommen hat, er sich, in Bezug auf Gott, in einem Zustand der Verwerfung befindet, dem ihn nichts von dem, was in ihm ist, allein entreißen kann. Diese Behauptung, glaube ich, wird viele Widersacher finden.

Wir wollen sie nicht auf etwas ausdehnen, was augenscheinlich ihr nicht angehört. Wir wollen nicht zwei von einander geschiedene Sphären verwechseln. Dem Menschen, dem ihm gleichen Wesen gegenüber, ist der Mensch nicht durchaus ohne Ruhm. Der Mensch kann dem Menschen etwas zu bewundern, zu loben, wenigstens zu achten geben. Es hieße sogar vorsätzlich lügen und eine unhaltbare Stellung einnehmen, wollten wir in allen Fällen der Handlungsweise unserer Nebenmenschen ein Gefühl des Beifalls versagen. Mit andern Worten, der Mensch ist oft gezwungen, in dem Menschen etwas anzuerkennen, was er gezwungen ist, Tugend zu nennen.

Er entdeckt und erkennt die Tugend nicht bloß in dem Christen, dessen moralische Natur durch das Evangelium erneuert worden ist. Weit entfernt, dass jede Bewunderung sich nach dieser Seite wende, wird die Bewunderung der Menschen, ich sage selbst der Christen, oft nach dem natürlichen oder nicht wiedergeborenen Menschen hingerichtet. Welches auch die scharfen Versicherungen einer schlecht verstandenen Orthodoxie sein mögen, es ist gewiss, dass der Christ, welcher am meisten geneigt ist, den menschlichen Tugenden, in der Theorie, jede Realität und jeden Wert zu verweigern, sich in der Praxis in jedem Augenblick widerspricht. Eine von einem seiner Mitmenschen empfangene Wohltat bewegt sein Herz; er spricht von Erkenntlichkeit, er ist erkenntlich in der Tat, das heißt, er erkennt seinem Wohltäter eine wohlwollende und uneigennützige Absicht zu; das heißt, er legt der Handlung, deren er sich zu erfreuen hat, einen andern Wert bei, als den persönlichen Vorteil, welchen er daraus zieht, einen inneren, einen moralischen Wert. Sein Wohltäter ist in seinen Augen etwas anderes, als ein gut gepflanzter Baum, welcher unwillkürlich gute Früchte trägt; es ist ein großmütiger Wille, der, ohne von Außen hervorgerufen zu sein, von seinen Kräften und seinen Mitteln Gebrauch gemacht hat, um einer fühlenden Kreatur einen Vorteil zu verschaffen. Ich weiß wohl, dass auf die Länge ein enges Lehrsystem auf eine Seele zurückwirken und sie auf das Maß zurückführen kann, welches es selbst hat; aber es geht nicht so weit, der Seele Instinkte zu entreißen, welche darin so fest gepflanzt sind; und alles, was ein System über die innerste Natur des menschlichen Herzens vermag, besteht darin, dass es diese Natur zum Stillschweigen bringt, aber nicht, dass es sie erstickt.

Zu Gunsten der Realität der menschlichen Tugenden, in irgend einem Grade, rufen wir kühn das Zeugnis aller Menschen an, wenn auch nicht ihr ausdrückliches und freiwilliges Zeugnis, doch wenigstens dies Zeugnis der Überraschung, welches man den Ausruf der Natur nennen kann. Wir werden selbst von ihrer Seite noch ein deutlicheres Zeugnis erhalten, wenn sie sich für einen Augenblick mit uns auf den Kampfplatz begeben wollen, wo, sie zu bekämpfen, Taten ihrer warten. Von diesen Taten überlassen wir ihnen noch ohne Zögern eine große Anzahl. Wir geben zu, dass man aus der Sphäre der lobenswerten Handlungen alle die gänzlich entferne, welche sich aus der Gewohnheit oder aus dem Vorurteil erklären lassen; alle die, wobei das Interesse, sei es hoch oder niedrig, eine Rolle hat spielen können; alle die, denen der Beifall der Menschen folgen konnte oder sollte.

Mögen sie mit diesen Handlungen machen, was ihnen beliebt; wir verteidigen sie nicht; unsere Sache kann sie entbehren. Aber, was die betrifft, wo die Tugend sich nur durch die Tugend erklären lässt, die fern von den Blicken der Menschen vollbracht werden, und ohne vernünftige Hoffnung jemals ihre Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen; die, welche, weit entfernt, auf ihren Beifall zählen zu können, nur ihre Verachtung voraussehen ließen; die, bei denen die Schande sich nicht durch die enthusiastische Beistimmung einer gewissen Anzahl von Anhängern in Ruhm verwandeln konnte; die, mit einem Wort, welche niemals hätten stattfinden können, wenn nicht in dem Herzen ihrer Urheber eine Idee von Pflicht oder ein uneigennütziges Gefühl gewesen wäre; was diese da betrifft, meine Brüder, so müssen sie sie uns lassen; und, so gering auch ihre Zahl sein mag, und wären sie selbst durch große Entfernungen auf der Erde und durch Jahrhunderte in der Zeit getrennt, so glauben wir doch, dass sie hinreichend gegen ein eitles Ableugnen protestieren, und dass sie in ihrer traurigen Seltenheit das Vorhandensein und das fortwährende Wirken eines moralischen Prinzips in dem Schoß des Menschengeschlechts feststellen.

Wir haben in dieser Sache das Evangelium selbst für uns. Man sieht darin dieselben Männer, welche uns den vollständigen Verfall des Menschen und seine Verdammnis gelehrt haben, den menschlichen Tugenden ohne Schwanken Lobeserhebungen bewilligen, die sie ihnen nicht in dem Lehrsysteme zugestanden haben würden, welches den Handlungen des Menschen jeden moralischen Wert abspricht. Nachdem sie erklärt haben, dass es keinen Gerechten gibt, auch nicht einen einzigen; dass es keinen gibt, der das Gute tue; dass alles Fleisch seinen Weg verderbet hat, rühmen dieselben Männer einen barbarischen Volksstamm, der sie nach einem Schiffbruche mit vieler Menschenfreundlichkeit aufgenommen; sie zollen der freundlichen Sorgfalt eines Menschen Dank, welcher, ohne sie zu kennen und ohne etwas von ihnen zu erwarten, ihnen all das Gute tat, welches ihre Lage erheischte; und St. Paulus, derselbe, der dem Menschen, er sei, welcher er wolle, jeden Grund, sich vor Gott zu rühmen, entreißt, erkennt in seiner Epistel an die Römer an, dass die Heiden von Natur, wenigstens in einem gewissen Grade, die Werke tun, welche nach dem Gesetz sind, und dadurch beweisen, dass das, was im Gesetze geschrieben steht, auch in ihren Herzen beschrieben ist.

Es hat, nach diesen Zeugnissen, für den Christen keine Schwierigkeit, in dem Menschen ein Prinzip des Handelns anzunehmen, welches dem Eigennutze fremd ist; und ist dieses Prinzip einmal anerkannt und bezeichnet, dann kommt wenig auf den Namen an, welchen man ihm beilegen wird.

Wie sonderbar! Es ist unter den Anhängern der christlichen Lehre, und unter ihnen allein, wo unser Satz Widersacher finden sollte; und dennoch sehen wir in den entgegengesetzten Reihen sich gegen ihn eine eben so große Anzahl von Gegnern erheben! Es ist zuweilen gegen den natürlichen Menschen, dass wir die Realität der natürlichen Tugenden zu verteidigen haben, es ist vor dem Menschen selbst, dass der Mensch Mühe hat, Gnade zu finden; es ist der Mensch, welcher dem Menschen diesen Anspruch auf Ruhm verweigert, welchen wir ihm zu bewilligen keinen Anstand nehmen. Dieselben Personen, welche das Christentum der Menschenfeindschaft und der Übertreibung zeihen, sobald es das Nichts der menschlichen Tugenden verkündet, sind oft in der Praxis des Lebens die, welche am wenigsten an irgend eine Tugend glauben. Man sieht sie das Gebäude Stein vor Stein zerstören, mit dem Vorbehalt, es in der Eile wieder aufzubauen, wenn es sich darum handeln wird, einen Schutz gegen die niederdrückenden Behauptungen des Evangeliums zu finden. Bereit, gegen dasselbe, im Allgemeinen, die Güte, selbst die Vortrefflichkeit unserer Natur zu behaupten, widersprechen sie sich, im Einzelnen, auf die auffallendste Weise. Für sie sind alle Menschen gut, aber ist jeder Mensch schlecht. Ihr Misstrauen und ihre Verstimmung lässt keiner Handlung, keinem Menschen Gnade wiederfahren; nichts Schönes, noch Gutes wird von der beißenden Schärfe ihrer grausamen Beurteilung verschont; sie haben für jede schöne Handlung eine erniedrigende und bittere Auslegung in Bereitschaft; und wenn eine schöne Frucht unter ihre Hände fällt, so ist ihr erster Gedanke, nicht sich davon zu nähren, sondern den Wurm darin zu finden, welcher dieselbe innerlich zernagt. So straft ihre tägliche Praxis ihre Theorie Lügen. Und was soll man von denen sagen, die in ihrem Geiste zwei sich widersprechende Theorien aufnehmen? von denen, welche dem Christentum die Härte seiner Lehren vorwerfend, auf ihre eigene Rechnung ganz eben so harte und vielleicht noch härtere angenommen haben? von denen, welche, das menschliche Herz analysierend, sich schmeicheln, entdeckt zu haben - glückliche Entdeckung! dass alle seine Fibern in die des Egoismus auslaufen? welche die Menschheit bewegen möchten, mit ihnen das Urteil zu unterzeichnen, das dieselbe entehrt? und welche Ruhm für sich verlangen, zum Ersatz für den, welchen sie uns genommen haben? Es gibt sogar Zeiten, wo diese bittere Verachtung der menschlichen Natur, dieses Ableugnen jedes moralischen Wertes im Menschen, ein allgemeiner Glaube und fast ein förmlicher Volks-Instinkt wird. Dies tritt besonders in der Folge von großen und grausamen Täuschungen der Gesellschaft ein, wenn sie, nachdem sie, auf den Glauben ihrer Leiter hin, ihre Zustimmung zu verführerischen, durch überwältigende Worte verbürgten, Ideen gegeben, die Entdeckung macht, dass sie getäuscht worden ist, und nun, in dem Ekel, welcher dem Rausche unmittelbar folgt, allen Glaubensbekenntnissen, allen Beteuerungen von Wohlwollen, von Gerechtigkeit und von Hingebung mit ein und derselben Verachtung begegnet. Die Entweihung der Worte führt die Verachtung der Dinge herbei, und in der Moral so gut, wie in der Religion, ist der Unglaube der notwendige Rückschlag der Heuchelei. In der Folge der Religionskriege kommt gewöhnlich der religiöse Skeptizismus, und die Meinungskriege endigen, nach einer ungeheuren Verschwendung von Grundsätzen, Deklamationen und Schwüren, damit, den moralischen Skeptizismus zu gebären.

Diese Art von Ekel, welcher sich nach großen sozialen Bewegungen ganz natürlich einstellt, bringen wir, in gewöhnlichen ruhigen Zeiten, durch die allgemeine Betrachtung der Gesellschaft und durch das Studium der Geschichte, nach Gefallen, in uns hervor. Diejenigen selbst, welche ihre individuellen Verbindungen dahin geführt hätten, der Menschheit einige Achtung zu gewähren, ändern unwillkürlich ihre Ansicht, wenn sie von den Individuen zur Gattung übergehen. Es ist selten, dass sich bei diesem Anblicke nicht das Gefühl der Entartung der menschlichen Natur ihrer Seele mit Gewalt bemächtige. Dieses Gefühl ist um so schmerzlicher, als sie, indem sie sich alsdann, so zu sagen, mit dem Gewissen des ganzen Menschengeschlechts identifizieren, gleichsam an seiner Stelle einen ungeheuren Gewissensbiss empfinden. Die Schuld der ganzen menschlichen Familie häuft sich auf ihrem Gewissen wie auf dem eines Mitschuldigen auf; ihr Stolz gibt sich wider ihren Willen zu dieser demütigenden Bürgschaft her, weil sie, bei dem Anblicke von so vielen Freveltaten, und im eignen Herzen den verborgenen Keim gewahrend, woraus unglückliche Umstände dieselben Missetaten hätten hervorgehen lassen können, sich durch die Verbrechen der Gesellschaft verdammt, in der Entartung derselben entartet, in der Schande derselben erniedrigt fühlen.

Das ist nicht Alles. Wie, sagen sie sich dunkel, wie können edle Säfte in einem Baume zirkulieren, dessen Mark so vergiftet ist? Und wenn man, nicht bloß in derselben Nation, sondern in demselben Individuum, neben den verabscheuungswürdigsten Lastern sich gleichzeitig die höchsten Tugenden ausbilden steht, neben den unnatürlichsten Gefühlen die edelsten Bewegungen, wird man da nicht fortgerissen, an dem wirklichen Vorhandensein des Guten, inmitten so vieles Schlechten, zu zweifeln? und ist es, bei dem Anblicke dieser im Schmutz verirrten Goldteilchen, nicht erlaubt, anzunehmen, dass dieses edle Metall nicht da ist, sondern dass ein eigentümliches Spiel des himmlischen Lichtes zuweilen einigen Teilen dieses Schmutzes das Ansehen und den Glanz des Goldes gegeben hat? Dann prüft, dann analysiert man und ist erstaunt, zu sehen, wie viel Tugenden durchaus falsch, wie viele an sich gute Handlungen durch ein unreines Motiv, wie viele andere durch eine schimpfliche Mischung befleckt sind. Man fordert von sich selbst Rechenschaft über seine Bewunderung; man würdigt das Prinzip derselben herab, was dahin führt, dass man den Gegenstand derselben herabwürdigt. Man fragt sich, ob der Enthusiasmus, den man bei dem Anblicke einiger großen historischen Tugenden empfunden hat, ein recht reiner Enthusiasmus war, und ob er nicht viel weniger die Liebe der Tugend, als die Liebe des Ruhmes zum Prinzip hatte. Man fragt sich, ob die Tugend, welche von jedem poetischen Nebenumstande entblößt, welche auf eine ausdauernde, aber einförmige, eifrige, aber dunkle Beobachtung beschränkt ist, von Pflichten, die aus einer niedrigen Stellung hervorgehen, ob die Tugend, in dieser, doch am wenigsten verdächtigen, Form uns nicht ein im Vergleich sehr schwaches Interesse einflößt, und ob es ein ganz moralisches Gefühl war, welches uns von diesem dunklen und trüben Horizonte zu einem blendenden Horizonte hinzog, wo große Erlebnisse, große intellektuelle Kräfte die Eigenschaften der großen Herzen in unsern Augen höher stellten. Wenn unsere Bewunderung sich so hat bestechen lassen, wird unsere Tugend unbestechlich sein? Wenn der Ruhm unsern Enthusiasmus verfälscht hat, hat er die großen Handlungen mehr verschont, welche ihn in uns hervorgerufen haben? und muss man nicht auf seine Rechnung einen Teil, ach! einen großen Teil der Tugenden setzen, welche wir bewundern?

Ihr seht, meine teuren Zuhörer, dass, wenn die Opposition von Seiten der religiösen Menschen dem Verteidiger der menschlichen Tugenden etwas zu tun gibt, die Opposition einer andern Klasse von Gegnern ihm eine nicht geringere Verlegenheit bereitet. Und wir gestehen, für unsern Teil, dass, nach der Kenntnis, welche wir von der menschlichen Natur erlangt haben, wir heute sehr in Sorge sein würden, wollten wir etwas Anderes tun, als dem Schiffbruche einige Trümmer zu entreißen. Denn wir glauben an den Schiffbruch der Menschheit; wir glauben, dass ihr unglückliches Schiff untergegangen ist; die Trümmer dieser großen Katastrophe irren auf den Wellen umher; einige davon sind noch zu etwas nütze; aber keines kann den kleinsten Passagier zum Ufer tragen. Nur, so überzeugt wir von dem Fall der Menschheit sind, gestehen wir nicht zu, dass sie jedem moralischen Gefühl fremd geworden sei; wir glauben, hinter ihrer Verderbnis Spuren von Gerechtigkeit und Wohlwollen wahrzunehmen, Spuren, die zuweilen glänzend sind, denen man Bewunderung nicht versagen kann; mit einem Wort, wir glauben, dass der Mensch nicht von jedem Anspruch auf Ruhm vor dem Menschen entblößt ist.

Der Mensch mag mit uns zufrieden sein, wir haben ihm seinen Teil gegeben. Er mag sich mit diesen glänzenden Lumpen umgeben; er mag sie bewundern, er mag es versuchen, damit seine Nacktheit zu bekleiden und zu schmücken; wir geben es zu; wir gehen noch weiter: wir achten diese Lumpen, und wir wissen, warum. Aber er, wie hoch er auch seine stolze Bettelhaftigkeit anschlage, welchen Frieden kann ihm diese unzusammenhängende und widersprechende Vereinigung der verschiedenartigsten moralischen Elemente geben, dieser Wille, welcher das Gesetz erkennt und es mit Füßen tritt, welcher die Pflicht liebt und zugleich hasst, dieses Herz, welches mit derselben Gunst die brutalsten Leidenschaften und die heroischste Hingebung in sich aufnimmt und zusammen erwärmt?

Wird er sich überreden, dass alles gut in ihm ist? oder dass das Gute das Schlechte aufwiegen kann? oder dass diese Mischung die eigentliche Ordnung bildet, und dass Gott das Schlechte wie das Gute will? Ein Bedürfnis nach Einheit, stärker als alle Schlussfolgerungen, ruft ihm das Gegenteil zu. Eine Angst, stärker als alle Tröstungen einer falschen Weisheit, wiederholt ihm, dass es nur in der Einheit Sicherheit gibt; ein dunkles Gefühl sagt ihm, dass ein Gutes, welches das Schlechte nicht übersteigt, nicht das wahre Gute ist, und dass eine Tugend, welche das Laster neben sich wohnen lässt, nicht die wahre Tugend ist; dass die wahre Tugend, im Mittelpunkte der Seele ihren Sitz habend, durch ihre bloße Gegenwart Alles ausschließen würde, was nicht sie ist; dass also das, was er mit diesem Namen beehrt hat, nicht wirklich die Tugend ist, sondern ihre Abspiegelung, ihr Schein, ihre Erinnerung; und eine Stimme der Verdammung tönt während seines ganzen Lebens dumpf durch alle Beifallsbezeugungen hindurch, welche er bald sich selbst spendet, bald von Andern empfängt. Grausame Zweifel! schreckbare Finsternis! wer wird euch verscheuchen? Wer wird am Ende dieses düstern Weges einen tröstenden Schimmer leuchten lassen? Meine Brüder, das Licht, welches im Stande sein wird, die Vergangenheit aufzuklären, wird auch allein die Zukunft erleuchten können; derjenige, welcher im Stande sein wird, das Übel zu erklären, wird auch allein die Heilung versprechen können; unter den Ruinen unserer alten Wohnung ist es, wo man die Fundamente der neuen zu suchen hat. Einheit, Licht, Zukunft, wir finden Alles zusammen in dem Wort, welches zu allen Menschen ohne Unterschied gesagt hat: „Ihr mangelt alles Anspruchs auf Ruhm vor Gott.“ Gehen wir jetzt gemeinschaftlich an die Betrachtung dieser großen Wahrheit.

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