Reinhard, Franz Volkmar --Ob jeder Mensch seinen Preis habe, für den er sich weggibt?

Reinhard, Franz Volkmar --Ob jeder Mensch seinen Preis habe, für den er sich weggibt?

Predigt am 9. Sonntage nach Trinitatis 1796 über Luk. 16, 1-9.

Die Gnade unsers Herrn Jesu Christi sei mit euch Allen. Amen.

Das man von allen Gleichnisreden unsers Herrn, von allen den lehrreichen Erzählungen sagen kann, meine Zuhörer, deren er sich bei seinem Unterrichte so gern zu bedienen pflegte, dass sie der kunstlosen Einfalt ungeachtet, durch welche sie sich so merklich auszeichnen, voll Bedeutung und Kraft sind, und dem, der in sie einzudringen weiß, überall Anlass zu den wichtigsten Betrachtungen geben können, das gilt vorzüglich von derjenigen Erzählung, welche den Inhalt des heutigen Evangelii ausmacht. Die große Lehre, dass man die Güter dieses Lebens als Gegenstände betrachten müsse, durch deren weise Behandlung und treue Anwendung man sich Eigenschaften und Vorteile für ein besseres Leben erwerben könne, ist, wie Jesus selbst bemerkt, der Hauptsatz, welchen das Gleichnis vom ungerechten Haushalter darstellen und einschärfen soll. Aber welchen Reichtum wichtiger Gedanken hat Jesus mit dieser Hauptlehre zu verbinden, und in diese leichte natürliche Erzählung zu legen gewusst! Welche tiefe Kenntnis des menschlichen Herzens; welche Bemerkungen über die seltsame Mischung des Guten und Bösen in den Gesinnungen und dem Betragen der Menschen; welche Erläuterungen über die Fehler, die bei der Ausübung des Guten und in Verlegenheiten aller Art begangen werden; welche Winke über den Unterschied der Klugheit und List, über die Verwandtschaft der menschlichen Laster, und über ihre ansteckende Kraft, findet man in dieser kurzen lehrreichen Dichtung, und wie viel Zeit würde man nötig haben, wenn man Alles entwickeln wollte, was Jesus durch die ganze Einrichtung seiner Erzählung andeutet und dem Aufmerksamen zu überlegen gibt.

Ich kann indessen nicht leugnen, meine Zuhörer, dass bei der großen Menge von Betrachtungen, auf welche dieses Evangelium führt, insonderheit eine mein Nachdenken stets ganz vorzüglich beschäftigt und sehr wehmütige Empfindungen in mir rege gemacht hat. Jesus lässt nämlich den betrügerischen Haushalter bei Ausführung des Bubenstücks, mit welchem er seine Verwaltung beschließen und sich seinen künftigen Unterhalt verschaffen will, fast gar keine Schwierigkeit finden. Er bietet den Schuldnern seines Herrn gewisse Vorteile an und sie sind alle bereit, in die Verfälschung ihrer Verschreibungen einzuwilligen; nicht Einer von ihnen hat etwas dagegen einzuwenden; nicht Einer erschrickt über den schändlichen Betrug, an welchem er Teil nehmen soll; nicht Einer ist unbestechlich, und stark genug, der Versuchung zu widerstehen; der schlaue Haushalter kennt seine Leute so gut, dass er genau weiß, wie viel er Jedem bieten muss, wenn er ihm zu willen sein soll; er richtet sich nach dem Grundsatz, der noch immer das Glaubensbekenntnis aller Verführer und aller derer ist, welche die menschliche Natur ganz erforscht haben wollen, dass jeder Mensch seinen Preis habe, für welchen er sich weggebe.

Welch eine Behauptung meine Zuhörer, welch ein Grundsatz! Wie, Keiner von Allen, die auf Erden leben, wäre ganz unzugänglich für die Macht der Verführung; Alle ohne Ausnahme widerstünden nur bis zu einem gewissen Punkt und gäben nach, sobald man weiter in sie dringt; es wäre für Jeden eine Lockspeise ausfindig zu machen, durch die man ihn fangen und in die Netze des Lasters verwickeln kann? Töricht würde es sein, meine Zuhörer, wenn wir eine Behauptung von solcher Wichtigkeit entweder ohne Umstände verwerfen und von uns weisen oder ihr sogleich beitreten wollten. Lasst sie uns also, da uns Allen so unendlich viel daran liegen muss, zu wissen, was man von ihr zu halten habe, in eine Frage verwandeln; lasst sie uns zum Gegenstand einer genaueren und unparteiischen Untersuchung machen. Aber ach, mit schwerem Herzen geh ich dieser Untersuchung entgegen, meine Brüder! Es gibt Wahrheiten, die man gern vor sich selbst verbürge, weil sie unangenehm, weil sie demütigend und fürchterlich sind. Wie sehr ist zu besorgen, dass wir heute auf eine solche traurige Wahrheit stoßen, dass uns heute Schwachheiten und Verderbnisse unsrer Natur sichtbar werden möchten, die uns notwendig mit Wehmut erfüllen müssen! Doch was sich uns auch zeigen mag, lasst uns dem Winke dessen folgen, der dazu gekommen ist, die Wahrheit zu lehren, und Liebe zur Wahrheit allen seinen Bekennern einzuflößen. Und wenn die Beschaffenheit unsers Herzens auch noch so traurig, wenn die Schwachheit unsrer Natur auch noch so groß, wenn die Gewalt des Lasters auch noch so fürchterlich sein sollte: Er ist auf Erden erschienen, uns einen höheren Beistand zu verkündigen und anzubieten; wir werden unter seiner Anführung, und unterstützt von seinem Geiste, um so gewisser und glücklicher siegen, je genauer wir uns von unserm wahren Zustande unterrichtet, und unser Bedürfnis kennen gelernt haben. Zu ihm, dem Retter von der Sünde und von aller Gewalt des Bösen, wollen wir uns also wenden in stiller Andacht.

Evangelium, Luk. 16, 1-9.

Für so und so viel Tonnen Öls, für so und so viel Malter Weizen waren also die Schuldner des Herrn in dem vorgelesenen Evangelio bereit, meine Zuhörer, die Hände zu einem schändlichen Betrug zu bieten, und an der Treulosigkeit des Haushalters Teil zu nehmen. Der Preis, welcher ihnen geboten wird, ist nicht völlig derselbe; der schlaue Bösewicht weiß es, dass er dem Einen viel, nämlich die Hälfte der Schuld erlassen muss, wenn er ihm zu Willen sein soll; daher sagt er dem, der hundert Tonnen Öls schuldig war: nimm deinen Brief und schreib fünfzig. Aber eben so richtig sieht er ein, dass Andere wohlfeiler zu haben sind, und schon einer kleineren Versuchung nachgeben; daher heißt es bei dem, der hundert Malter Weizen zu entrichten hatte: nimm deinen Brief und schreib achtzig. Sollte die Lehre, welche in dieser Erzählung liegt, wohl eine allgemeine Wahrheit sein, meine Zuhörer? Dass es Menschen genug gibt, die um einen gewissen Preis gleichsam feil sind und sich zu allem nur Möglichen erkaufen lassen, kann nicht geleugnet werden. Man kann noch weiter gehen, man kann einräumen, dass bei weitem die Meisten schwach genug sind, gewissen Arten der Verführung zu erliegen und durch die Aussicht auf mancherlei Vorteile sich zum Bösen reizen zu lassen. Aber sollte diese traurige Schwachheit Allen ohne Ausnahme eigen sein; sollte sie der menschlichen Natur selbst anhängen; sollte es Arten der Versuchung geben, die nie ihren Endzweck verfehlten? Sehet da die Sache, deren Aufklärung wir heute suchen. Mit der Frage wollten wir uns beschäftigen: ob jeder Mensch seinen Preis hat, für welchen er sich weggibt? Dreierlei wird uns hierbei obliegen; wir werden, um allem Missverstande vorzubeugen, vor allen Dingen den Sinn dieser Frage bestimmen und sie erklären müssen; hernach wollen wir sie nach den Gründen, die sich hier brauchen lassen, beantworten; zuletzt aber aus dieser Antwort einige Folgen für unser Verhalten und Leben ableiten.

Ob jeder Mensch seinen Preis hat, für welchen er sich weggibt? Lasst uns, um den Sinn dieser Frage so bestimmt als möglich zu fassen, bei jedem Ausdrucke derselben stehen bleiben, meine Zuhörer Lasst uns bemerken, was das heiße: der Mensch gebe sich weg; was unter dem Preise zu verstehen sei, von welchem die Frage redet; und wiefern dies von jedem Menschen gelten soll.

Was heißt also in der vorgelegten Frage: der Mensch gibt sich weg? Wir sind unser Eigentum, meine Zuhörer, wir sind freie, selbstständige, keiner fremden Gewalt unterworfene Geschöpfe, so lange wir uns bloß nach dem richten, was Vernunft und Gewissen für pflichtmäßig und recht erklären. Es sind dann unsre eignen Überzeugungen, denen wir folgen; wir behaupten dann die Würde unsers Wesens, und die Herrschaft, die unsrer Vernunft gebührt; wir sind dann über Alles erhoben, was uns erniedrigen, was uns Vorwürfen und Strafen aussehen könnte. Sobald wir uns hingegen verleiten lassen, dem untreu zu werden, was wir für Pflicht erkennen, und unserm Gewissen entgegenzuhandeln, so unterwerfen wir uns einer fremden Macht; wir folgen nämlich dann dem Zuge unordentlicher Neigungen und Lüste; wir gestatten dann andern Menschen einen Einfluss auf unser Verhalten, der uns entehrt; wir erniedrigen uns dann zu elenden Werkzeugen einer fremden. Willkür; wir geben uns mit einem Worte weg. Freie und immer noch achtungswerte Menschen würden die Schuldner im Evangelio gewesen sein, wenn sie die Einladungen des Verschwenders zum Betrug, ihrer Pflicht gemäß, von sich gewiesen hätten. Aber es war um ihre Unabhängigkeit geschehen, sobald sie seine Mitschuldigen geworden waren; nun hatte er die Oberhand gewonnen; nun mussten sie sich seine Zumutungen gefallen lassen, wenn sie nicht von ihm verraten sein wollten; nun waren sie, wie er sich auch gleich Anfangs versprochen hatte, gezwungen, ihn nach seiner Entsetzung vom Amte in ihre Häuser aufzunehmen, weil sie gewissermaßen seine Schuldner geworden waren. Trauriger Zustand dessen, der sich zu etwas Bösem verführen lässt. Er ist von diesem Augenblicke an Sklave; er hat Andern eine schädliche Gewalt über sich eingeräumt; er ist aus einem freien, selbsttätigen Geschöpf ein verächtliches Werkzeug geworden. Der Mensch gibt sich weg, wenn er schwach genug ist, sich zu Handlungen hinreißen zu lassen, die Pflicht und Gewissen verletzen.

Umsonst geschieht dies nie, meine Zuhörer Zu mächtig gebietet die Stimme der Vernunft, zu groß ist der Einfluss des Gewissens, als dass man ihnen ohne dringende Einladung entgegen handeln sollte. Sehet da den Begriff des Preises, von welchem die Frage redet; man versteht darunter jeden Vorteil, durch welchen sich Jemand zu einer pflichtwidrigen Tat bestimmen lässt. Unsre Vernunft würde unumschränkt herrschen, meine Zuhörer, wir würden ihrem Gebote mit jener untadelhaften Heiligkeit und mit jener Zwanglosigkeit gehorchen, mit welcher Gott selbst den Gesetzen der höchsten Vollkommenheit folgt, wenn dem edleren Teil unsers Wesens nicht ein sinnlicher, mit mancherlei Neigungen und Trieben, beigefügt wäre. Diese Neigungen sind so stark und streben so begierig nach jeder Art der Befriedigung, dass man sich nur an sie wenden, dass man ihnen nur die Güter zeigen darf, welche sie suchen, um uns wider unsre eigne Vernunft zu bestechen, dass wir für diesen Preis Jedem gleichsam feil stehen. Freilich ist dieser Preis nicht bei einzelnen Menschen derselbe; der Eine ist unempfindlich gegen die Art des Gewinns, welcher die Schuldner im Evangelio reizte; aber dagegen ist ihm durch Vergnügen und Wollust beizukommen. Ein Anderer verschmäht die Reizungen der Wollust, aber desto leichter lässt er sich durch Schmeicheleien, durch Lobsprüche, durch Ehrenbezeugungen behandeln. Wiederum ein Anderer ist über den Einfluss des Geldes, der Wollust und der Eitelkeit ziemlich erhoben; aber er liebt seine Freiheit und sein Leben so sehr, dass man ihn durch Drohungen und Gewalt zu Allem bringen kann. Noch ein Anderer scheint gewaffnet gegen alle Güter der Sinnlichkeit, aber es gelingt dem Heuchler, ihn durch die falsche Münze des Aberglaubens und einer unechten Religiosität zu Allem zu erkaufen, wozu er ihn nötig hat. Wenn wir also sagen, der Mensch habe einen Preis, für welchen er sich weggebe, so soll dies nichts anders heißen, als er sei allzu empfindlich gegen eine gewisse Art von sinnlichen Vorteilen und Gütern, und diese schwache Seite dürfe man nur wissen, diese Güter und Vorteile dürfe man ihm nur in dem Grad, in welchem er sie wünscht, entweder wirklich verschaffen, oder doch versprechen, um ihn zu berücken, um Alles aus ihm zu machen, was man wolle, und zu jeder Vergehung ihn hinzureißen.

Und nun wird sich auch der letzte Umstand, der von unsrer Frage noch übrig ist, leicht bestimmen lassen, nämlich: wiefern dies von jedem Menschen gelten soll? Die feile Nachgiebigkeit gegen Versuchungen zum Bösen, welche bisher beschrieben worden ist, könnte nämlich etwas bloß Zufälliges sein, und ihren Grund keineswegs in der Einrichtung unsers Wesens haben; sie könnte aber auch mit unsrer Natur und ihrer gegenwärtigen Beschaffenheit wirklich zusammenhängen. Im ersten Falle wäre sie nicht allgemein; nur manche Menschen würden beim Zusammenfluss nachteiliger Umstände dahin gebracht werden, sich durch dargebotene Vorteile locken und erkaufen zu lassen; nur die verdorbensten Geschöpfe würden sich auf diese Art weggeben. Aber gesetzt, es wäre eine Eigenheit unsrer Natur, gegen sinnliche Vorteile ein allzu reges Gefühl zu haben, und sich am liebsten auf die Seite zu neigen, wo sie zu finden sind; so würde die Schwachheit, sich für das Böse durch irgendeinen Preis gewinnen zu lassen, mit der größten Allgemeinheit anzunehmen sein, wir würden sie bei jedem gewöhnlichen Menschen, bei Jedem, der nicht durch höhere Mittel, durch einen besonderen Beistand Gottes verbessert und gestärkt ist, voraussehen müssen. Der Sinn der Frage: ob jeder Mensch seinen Preis hat, für welchen er sich weggibt, ist nun sehr deutlich. Man will wissen, ob es für alle Menschen ohne Ausnahme, vermöge der Einrichtung ihrer Natur, gewisse sinnliche Vorteile gibt, deren Reiz sie nicht widerstehen können, wenn sie nicht einen höheren Beistand genießen; Vorteile, durch die man sie dahinbringen kann, ihren Pflichten untreu zu werden, und das Böse zu wählen.

Wäre mir darum zu tun, meine Zuhörer, euch nie etwas Unangenehmes zu sagen, und raue Wahrheiten vor euch zu verbergen, o ich würde mich gehütet haben, die jetzt erklärte Frage aufzuwerfen; ich würde wenigstens der Notwendigkeit, sie ohne Zurückhaltung und deutlich beantworten zu müssen, möglichst ausgewichen sein. Denn, ach, es ist hart, es ist demütigend für unsre Eigenliebe, es ist dem ersten Anblick nach sehr grausam und lieblos, was ich jetzt zu sagen, was ich zu beweisen habe. Aber was kann ich wider die Macht der Wahrheit? Was vermag ich wider die Kraft einleuchtender Gründe? Ich beantworte die Frage: ob jeder Mensch seinen Preis habe, für welchen er sich weggebe, mit Ja; hört mich unparteiisch, lasst euer Herz und euer Gewissen reden, und urteilt dann selbst.

Ich berufe mich, um diese Antwort zu rechtfertigen, zuerst auf das Ansehen der Schrift; sie beschreibt die menschliche Natur nicht vorteilhafter, als ich sie hier vorstelle. Erklärt sie nicht alle Menschen ohne Ausnahme für Sünder; sagt sie nicht ausdrücklich, dass sie Alle des Ruhms mangeln, den sie an Gott haben sollen? Wie wäre es möglich, dass nach diesem Ausspruche auch nicht Einer von so vielen Millionen untadelhaft und rein bleiben sollte, wenn die Schwachheit, sich hinreißen und zum Bösen verleiten zu lassen, nicht mit zu unsrer Natur gehörte, wenn nicht Jeder gegen gewisse Arten der Verführung allzu reizbar wäre? Sagt sie nicht ausdrücklich: was vom Fleisch geboren sei, sei Fleisch; ist Fleisch nicht der gewöhnliche Ausdruck, mit welchem sie die Beschaffenheit der menschlichen Natur bezeichnet? Bedeutet aber diese Redensart etwas anders, als ein schwaches, sinnliches Geschöpf, das mehr seinen Neigungen folgt, als dem Gebote der Pflicht; das weit lebhafter von tierischer Lust gerührt wird, als von den Aussprüchen seiner Vernunft, bei welchem bald eine, bald mehrere Begierden die Oberherrschaft haben und überall den Ausschlag geben? Kann man's folglich deutlicher und bestimmter sagen, der Mensch sei schon von Natur aufgelegt, sich durch sinnliche Vorteile zum Bösen erkaufen zu lassen, als es die Schrift tut, wenn sie ihn Fleisch nennt? Kann man diese Verdorbenheit mehr mit der größten Allgemeinheit behaupten, als sie, da sie alle Menschen ohne Ausnahme für Fleisch erklärt? Behauptet sie nicht selbst von denen, die bereits angefangen haben, sich zu bessern, das Fleisch streite bei ihnen wider den Geist, und der Geist wider das Fleisch, und beide seien wider einander? Dauert also nach ihrer Belehrung nicht selbst bei dem, der bereits daran arbeitet, sich von der schimpflichen Sklaverei der Lüste loszureißen, die Möglichkeit fort, von ihnen überwunden, und durch eine allzu starke Versuchung von Neuem besiegt zu werden? Fordert sie nicht eben daher selbst die Besten zu einer angestrengten, immerwährenden Wachsamkeit auf, und schärft denen, die da stehen, auf das Nachdrücklichste ein, wohl zuzusehen, dass sie nicht fallen? Sehr wenig Ansehen müssten die Aussprüche der Schrift bei uns haben, meine Zuhörer, wenn wir's leugnen wollten, dass sie uns Alle ohne Ausnahme als Geschöpfe vorstellt, bei denen die sinnlichen Begierden viel zu viel Gewalt behaupten, für die sich daher leicht ein Preis ausfindig machen lässt, um welchen sie sich weggeben.

Und o, wie wahr dies sei, wird noch deutlicher, wenn wir die Beschaffenheit unsrer Begierden und Triebe und ihr Verhältnis gegen die Vernunft in Erwägung ziehen. Denn aus dieser Beschaffenheit, aus diesem Verhältnis ist es offenbar, dass jeder Mensch eine schwache Seite hat, dass sein Gefühl für gewisse Güter und Vorteile zu lebhaft ist, und dass man ihn also nur bei diesem Gefühle fassen darf, um ihn nachgiebig zu machen und zu gewinnen. Haben unsre sinnlichen Triebe nicht schon von Natur eine große Gewalt und ein unleugbares Übergewicht über unsre Vernunft? Würde es jene unverkennbare Mischungen, welche man Temperamente nennt, geben können, wenn wir nicht gleich bei unsrer Entstehung eine Einrichtung erhielten, nach welcher bald dieser, bald jener sinnliche Hang in uns das Herrschende ist? Muss die Gewalt der sinnlichen Triebe nicht ungemein zunehmen, da sie das Erste sind, was sich bei uns regt und bildet? Sind sie nicht bereits in voller Bewegung und Wirksamkeit, wenn die Vernunft erst anfängt zu erwachen? Sind wir nicht die Jahre der Kindheit über tierische Geschöpfe und lernen unsre höheren Kräfte erst brauchen, wenn unsre Neigungen bereits zu stark geworden sind? Trägt nicht überdies unsre Erziehung oft sehr viel bei, diesen Neigungen eine unglückliche Richtung zu geben, sie noch mehr zu empören, und uns zur Nachgiebigkeit gegen dieselben zu gewöhnen? Sind die äußeren Umstände, unter denen wir aufwachsen, sind die Verbindungen, in denen wir leben, sind die Schicksale, die wir erfahren, nicht oft so beschaffen, dass sie bald den Hang zum Vergnügen und zur Weichlichkeit, bald die Begierde nach Besitzungen und Reichtum, bald den Wunsch nach Ehre, Macht und Ansehen, bald irgendeine andre Neigung ganz vorzüglich begünstigen, und ihr nach und nach zu einer schädlichen Herrschaft verhelfen? Gibt es nicht, wie bei dem Haushalter und bei den Schuldnern im Evangelio, zuweilen dringende Bedürfnisse, Gefahren und Gelegenheiten, wo wir, um uns zu helfen oder einen großen Vorteil zu erhalten, auch den ungerechtesten Vorschlägen Gehör geben und uns, von Not gedrungen, zu Allem erkaufen lassen? Darf man sich bei solchen Umständen wundern, dass Jeder, der nicht durch eine höhere Kraft gebessert und gestärkt ist, eine Gewalt sinnlicher Triebe fühlt, dass er nicht immer genug widerstehen kann; dass er also zu erkaufen sein wird, wenn man nur seine herrschende Neigung kennen lernt und ihr so viel bietet, als sie verlangt? Ach, ich berühre hier die Seite unsers Herzens, der wir uns am meisten zu schämen haben, meine Brüder! Aber Jeder prüfe sich vor Gott; Jeder werfe einen Blick auf sein bisheriges Tun; Jeder sehe zu, welcher von seinen Trieben am wirksamsten zu sein pflegt; und frage sich dann, ob er stark genug sein würde, jeden Preis auszuschlagen, den man seiner Lieblingsneigung bieten könnte; er erinnere sich, er erinnere sich an die unzähligen Fälle, wo er, von ihr getrieben, sich schon für eine Kleinigkeit weggegeben hat!

Denn so ist's, meine Zuhörer. Mit dem, was ich jetzt von der Beschaffenheit unsrer Neigungen und ihrem Verhältnis gegen die Vernunft gesagt habe, stimmt endlich auch die Erfahrung überein. Forscht nach, wie es zugegangen ist, dass dieser oder jener bewogen werden konnte, sich zu entehren, Teil an verabscheuungswürdigen Handlungen zu nehmen, und seiner Pflicht untreu zu werden; ihr werdet finden, man hat seine Leidenschaften in Bewegung zu sehen, man hat ihnen zu bieten gewusst, was sie suchten. Forscht nach, wodurch kluge Köpfe Alles für sich einnehmen, Alles für die Absichten gewinnen, welche sie ausführen wollen, und selbst die widrigsten Gesinnungen der Menschen glücklich besiegen; ihr werdet finden, sie fassen Jeden bei der Seite, wo er am empfindlichsten und schwächsten ist, und erkaufen ihn durch das, wofür man ihn haben kann. Forscht nach, wodurch schlaue Verführer so viel ausrichten, wie es zugeht, dass sie oft so unglaublichen Fortgang haben, dass oft selbst die in ihre Schlingen fallen, von denen man's am wenigsten erwartet hätte; ihr werdet finden, sie rechnen darauf, dass Jeder seine Schwachheit habe, und dass man diese nur wissen, sich nach dieser nur bequemen dürfe, um seiner habhaft zu werden. Forscht nach, wodurch nach dem Zeugnis der Geschichte die schändlichsten Bubenstücke, die niederträchtigsten Verrätereien, die schrecklichsten Pläne ausgeführt worden sind; ihr werdet finden, dass oft Kleinigkeiten, über die man erröten muss, der schimpfliche Preis waren, wodurch bald die Eitelkeit, bald der Geiz, bald die Wollust, bald die Trägheit, bald der Aberglaube und die Frömmelei schwacher Menschen sich zum Werkzeug der Bosheit erhandeln und missbrauchen ließ. Nehmet das tägliche Leben zu Hilfe, beobachtet etwas genauer, durch welche Mittel, die tausend pflichtwidrigen Gefälligkeiten erkauft werden, welche die Menschen unaufhörlich einander erzeigen; wodurch sie denn eigentlich so willig werden, bald heimlich, bald öffentlich jeder Zumutung nachzugeben; ach, ihr werdet es mit Erstaunen bemerken, dass oft schon ein kleiner Gewinn, eine elende Schmeichelei, ein unbedeutender Lobspruch, ein freundlicher Blick, eine eitle Hoffnung hinreichend ist, die Schwachheit derer zu bezahlen, die man nötig hat; ihr werdet nicht umhin können, Beispiele dieser Art in eurem eignen Leben wahrzunehmen, es mit Scham und Widerwillen zu bemerken, wie wohlfeil ihr euch zuweilen weggegeben habt. Immerhin mag es also eine harte, eine traurige Wahrheit sein, dass jeder Mensch seinen Preis hat, für welchen er sich weggibt; die Schrift bezeugt sie, die Beschaffenheit unsrer Natur bestätigt sie und die Erfahrung macht sie in unzähligen Beispielen anschaulich.

Was könnte es helfen, solchen Gründen zu widersprechen; lasst uns, statt eitle Entschuldigungen aufzusuchen, lieber auf die Folgen sehen, die für unser Verhalten und Leben aus dieser Beantwortung der vorgelegten Frage fließen. Und hier fällt es denn sogleich in die Augen, dass uns die Wahrheit, welche jetzt bewiesen worden ist, zu einem gelinden Urteil über die Fehler unsrer Brüder verbindet. Denn ist es nach den bisherigen Beweisen nicht offenbar, dass die Menschen im Grunde mehr schwach, als böse sind, dass sie gereizt von einem gegenwärtigen Vergnügen, gelockt von sinnlichen Vorteilen und hingerissen von gewaltigen Begierden weit öfter fündigen, als aus vorsätzlicher Bosheit? Ist es nicht offenbar, dass diese Schwachheit mit zur gegenwärtigen Einrichtung ihrer Natur gehört, dass sie durch eine Menge von Umständen und Ursachen, für die sie nichts können, noch mehr verdorben werden, und dass die Gewalt sinnlicher Lüste sich gemeiniglich schon in ihnen festgesetzt hat, noch ehe sie fähig werden, über ihre sittliche Verfassung vernünftig nachzudenken? Der du über den Unglücklichen, welcher gefallen ist, so streng urteilest, der du ihn so kühn und unbarmherzig verdammst, Stolzer, kennst du auch den Abgrund seiner Natur und die Macht seiner Neigungen; hast du auch den Weg erforscht, den er bisher hat gehen müssen, und die Ursachen berechnet, durch die sein fehlerhaftes Naturell noch mehr verschlimmert worden ist; bist du eingedrungen in das unglückliche Gewebe der Umstände, in welchen er gesündigt hat, und in die verführerischen Reizungen, die damit verknüpft waren; kannst du ohne Unverschämtheit behaupten, dass du mit seinen Neigungen, und an seinem Platze, und so gelockt, wie er, es besser gemacht haben würdest; sollte es dir, wenn du nur hören, wenn du nur unparteiisch aufmerken wolltest, nicht dein eignes Gewissen sagen, dass du für einen etwas höheren, oder doch für einen andern, deinen Neigungen mehr angemessenen Preis ebenso sicher zu haben wärst; sollte es mehr sein, als ein glücklicher Zufall, dass du dich nicht schon längst auf eine ähnliche Weise weggegeben hast? Es sei fern von mir, meine Zuhörer, irgend eine Begehung, irgend eine Sünde zu entschuldigen und als geringfügig vorstellen zu wollen; aber kann es uns, die wir Alle in gleicher Gefahr sind, kann es Geschöpfen, die dem, der es versteht, für diesen oder jenen Preis Alle feil stehen, geziemen, mit Verachtung einander anzusehen, wenn sie fehlen; sollten sie nicht, ihrer eignen Schwachheit eingedenk, einander mit Nachsicht und Geduld tragen; sollten sie sich nicht Alle den Ausspruch des Apostels vorhalten: „Wer bist du, dass du einen fremden Knecht richtest; er steht oder fällt seinem Herrn?“ Zu einem gelinden Urteil über die Fehler unsrer Brüder muss uns die traurige Wahrheit ermuntern, dass jeder Mensch seinen Preis hat, für den er sich weggibt.

Eben daher muss es aber auch Pflicht sein, mit der größten Sorgfalt die Seite unsers Herzens zu erforschen, welche bei uns die schwächste ist. Denn wer du auch sein, wie sehr du dich auch über die Verdorbenheit unzähliger Menschen erhoben dünken magst, wage es nicht, dich für fehlerfrei zu halten; auch in deiner Brust schlägt ein Herz, das seine Schwachheiten hat, dem auf irgendeine Art beizukommen ist. Wehe dem Elenden, der diese unverwahrte Seite seines Herzens nicht einmal kennt, der nicht einmal darüber nachgedacht hat, wie und wodurch man ihn am leichtesten gewinnen kann. Wollt ihr nicht unbekannt mit euch selbst, wollt ihr nicht unaufhörlich den größten Gefahren aller Art ausgesetzt sein, so forscht nach diesen Schwächen, so viel ihr könnet; so merkt es euerm Herzen sorgfältig ab, welchen Versuchungen es am leichtesten nachgibt. Und, o es kann euch diese Untersuchung unmöglich schwer

werden, wenn ihr nur prüfen wollt, welche Neigung bei euch am wirksamsten ist und am eifrigsten nach Befriedigung strebet; wenn ihr nur überlegen wollt, welchen Genuss ihr am meisten suchet und welchen Vorteilen ihr am begierigsten nachjagt; wenn ihr nur bemerken wollt, welche Vorstellungen euch am meisten rühren und welche Gegenstände des gemeinen Lebens die tiefsten Eindrücke auf euch machen; wenn ihr endlich nur zusehen wollt, welche Leidenschaften in euch vorhanden sind und wodurch sie am leichtesten in Bewegung geraten. Da, wo die stärkste Neigung wohnt, wo die heftigste Begierde schmachtet, wo die größte Empfindlichkeit ihren Sitz hat, und eine Leidenschaft regiert, da ist euer Herz am schwächsten. Da der gefährliche Platz, wo ihr zugänglich seid; ihr werdet hören, ihr werdet nachgiebig und gefällig werden, ihr werdet euch behandeln lassen und euch weggeben, sobald die Befriedigung eurer Leidenschaft der Preis ist, den man euch bietet. Wollt ihr nicht mit der unverantwortlichsten Sorglosigkeit handeln, so erforscht genau, welche Seite eures Herzens bei euch die schwächste ist.

Gleichsam von selbst entspringt hieraus die Pflicht, mit verdoppelter Aufmerksamkeit über diese schwache Seite zu wachen. Denn denkt nicht, dass sie von Andern unbemerkt bleibt. O ihr seid überall mit Menschen umringt, denen daran liegt, zu wissen, wodurch man euch erkaufen kann; mit Menschen, die sich eurer bedienen, und euch zu den Werkzeugen ihrer Absichten machen wollen; mit Menschen, die sich recht darauf geübt haben, die Schwachheiten Andrer auszuspähen, und aus dieser Entdeckung Vorteile zu ziehen. Wozu wird man euch brauchen, wie grausam wird man eurer spotten, zu welchen Vergehungen wird man euch hinreißen, welch ein verächtliches Spielwerk schlauer Betrüger und schändlicher Verführer werdet ihr werden, wenn ihr nicht auf eurer Hut seid, wenn eure Aufmerksamkeit nicht unablässig auf die unverwahrte Seite eures Herzens gerichtet ist! Lasst euch nicht dadurch sicher machen, dass ihr dieser oder jener Versuchung glücklich widerstanden, dass ihr diesen oder jenen Preis, durch den man euch erkaufen wollte, mit Widerwillen zurückgewiesen habt. Ach, vielleicht war es gerade der nicht, für welchen ihr nach dem Stand eures Herzens feil steht; vielleicht war er noch nicht groß und verführerisch genug; vielleicht wurde er euch unter Umständen angeboten, die den Eindruck desselben ohne euer Zutun verminderten. Seid ihr auch eurer Schwachheit nicht stets bewusst, seid ihr nicht immer darauf bedacht, euch gegen jeden Angriff in Sicherheit zu sehen, so werdet ihr betört sein, ehe ihr's denkt, so werdet ihr's zu spät erfahren, dass auch ihr euern Preis hattet, für den ihr euch weggabt.

Vornehmlich aber arbeitet daran, unter dem Beistande Gottes die Verdorbenheit eures Herzens ganz und gründlich zu verbessern. Denn so wahr es auch ist, dass jeder Mensch von Natur der Versuchung offen steht und leicht von ihr hingerissen werden kann; so sehr es auch in die Augen fällt, dass es in unsrer Macht nicht ist, eine Verdorbenheit abzuändern, die ihren Grund in der gegenwärtigen Einrichtung unsrer Natur hat, so gewiss ist es doch auch, dass es uns bei der höheren Unterstützung, die uns das Christentum verspricht, gelingen muss, die Gewalt des Bösen nach und nach ganz zu besiegen. Eine neue Kreatur sollen wir werden, meine Brüder, einen neuen nach dem Bilde Gottes geschaffenen Menschen sollen wir anziehen, wenn wir Christen sind; wir sollen unter dem Einfluss des Geistes Gottes die Triebe unsrer Natur beherrschen und sie dem Gebote der Pflicht unterwerfen lernen; wir sollen es im Gehorsam gegen dieselbe und in der Liebe zum Guten zu einer Festigkeit bringen, die durch keinen Preis der Ungerechtigkeit, durch keinen Angriff der Versuchung weiter gerührt und erschüttert werden kann. Denkt nicht, dahin könne unsre Schwachheit es nicht bringen. Ach, wäre sie sich selbst überlassen, sollte sie allein und mit den schwachen Kräften kämpfen, die ihr noch übrig sind, so würde sie freilich vergeblich ringen. „Aber ich vermag Alles,“ sagt der Apostel, „durch den, der mich mächtig macht: Christum“; wir dürfen auf eine höhere Unterstützung rechnen, meine Brüder, wenn es unser Ernst ist, gut zu werden. Hat das Christentum nicht schon genug Edle gebildet, die Alles verschmähten, wodurch man sie zum Bösen erkaufen wollte, die stark genug waren, die Reizungen der Wollust von sich zu weisen, die Schätze der Erde zu verachten, den Glanz der Ehre vor Menschen gering zu schätzen und selbst Marter und Tod nicht zu scheuen; die, weit erhoben über alle Gewalt der Verführung, treu blieben, und Glauben hielten, und überwanden? Siehe das Ziel, meine Brüder, das wir erreichen sollen, das wir erreichen können, wenn wir im Vertrauen auf den, der in uns wirken kann beide, das Wollen und das Vollbringen, mit Ernst an unsrer Besserung arbeiten. Denn der Gott aller Gnaden, der uns berufen hat zu seiner ewigen Herrlichkeit in Christo Jesu, der wird euch vorbereiten, stärken, kräftigen und gründen; demselbigen sei Ehre und Macht von Ewigkeit zu Ewigkeit. Amen.

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