Quandt, Emil - Der Brief St. Pauli an die Philipper - VII. Leben oder Sterben, was ist besser?

Quandt, Emil - Der Brief St. Pauli an die Philipper - VII. Leben oder Sterben, was ist besser?

Am Totenfest.

Kap. 1, 21-26.
Denn Christus ist mein Leben, und Sterben ist mein Gewinn. Sintemal aber im Fleisch leben dienet mehr Frucht zu schaffen; so weiß ich nicht, welches ich erwählen soll. Denn es liegt mir beides hart an: Ich habe Lust, abzuscheiden, und bei Christo zu sein, welches auch viel besser wäre; aber es ist nötiger, im Fleisch bleiben, um euretwillen. Und in guter Zuversicht weiß ich, dass ich bleiben, und bei euch allen sein werde, euch zur Förderung und zur Freude des Glaubens; auf dass ihr euch sehr rühmen mögt in Christo Jesu an mir, durch meine Zukunft wieder zu euch. Amen.

Leben oder Sterben, was ist besser? Das ist die große Frage, die Paulus in dem verlesenen Abschnitt behandelt. Und zwar behandelt er sie in offener Aussprache vor seinen geliebten Philippern als eine Frage, die er sich selber vorlegt, die ihn selber tief bewegt, als eine persönliche Frage. Christus ist sein Leben: Was Paulus lebt, lebt er im Glauben des Sohnes Gottes und in seiner Liebe, die ihn drängt, das Wort, den Glauben zu predigen und Frucht zu schaffen für das Reich Gottes; solches Leben erscheint ihm in hohem Grade lebenswert. Aber andererseits ist ihm das Sterben Gewinn, eben weil Christus sein Leben ist. Das Sterben bringt dem Manne, dem Christus alles ist, das Allerhöchste, das von aller irdischen Plage und Klage losgelöste Ruhen der Seele in Christi Arm und Schoß; daher ist ihm auch das Sterben im höchsten Grade wünschenswert, er hat Lust abzuscheiden und bei Christo zu sein. So schwankt die Wage seiner Gedanken hin und her. Ich weiß nicht, sagt der teure Apostel in köstlicher Aufrichtigkeit, ich weiß nicht, was ich erwählen soll; denn es liegt mir beides hart an, ich werde von dem Einen, wie von dem Andern angezogen und festgehalten. Die Lust zu leben und die Lust abzuscheiden, berühren sich in seiner Seele, er ist zum Leben wie zum Sterben gleich bereit und für beides gleich gefasst. Gott aber, in dessen Hände er demütig sein Leben und Sterben legt, macht es ihm innerlich gewiss, dass es jetzt für ihn noch nötiger sei, im Fleisch zu bleiben, den Philippern und nicht nur ihnen allein zur Förderung und Freude des Glaubens; und so schließt der Apostel seine Erwägungen mit dem Ausdruck der Hoffnung auf ein baldiges Wiedersehen.

Leben oder Sterben, was ist besser? Wir entkleiden diese wichtige Frage des persönlichen Gewandes, das sie an unsrer Schriftstelle trägt, und machen sie zum Thema unsrer heutigen Predigtbetrachtung, uns daran zu erbauen und unsern Glauben zu stärken. Die Jahreszeit, in der wir stehen, die Kirchenzeit nicht minder, legt eine Betrachtung über Leben und Sterben uns allen nahe. Dem sommerlichen Leben der Natur ist das herbstliche Ersterben gefolgt, und bald bricht der bleichende Winter herein. Das Kirchenjahr geht mit dem heutigen Sonntage auf die Neige; und es ist alte Sitte, am Ende des Kirchenjahres an das Ende aller Dinge zu denken. Schließlich ist es für einen Christenmenschen zu jeder Zeit zeitgemäß, über Leben und Sterben nachzudenken; denn mitten wir im Leben sind von dem Tod umfangen. So treten wir denn ein in die Frage:

Leben oder Sterben, was ist besser?

1. Das Leben ist schön, wenn Christus in uns lebt.
2. Aber Sterben ist Gewinn, weil wir zu Christo kommen.
3. Darum ist es christlich, Heimweh und Pilgerfreude zu verbinden.

Herr Jesu, dir leb' ich. Herr Jesu, dir sterb' ich. Herr Jesu, dein bin ich tot und lebendig. Amen.

1.

Das Leben ist schön, wenn Christus in uns lebt. Das ist die erste goldene Wahrheit, die Paulus in den verlesenen Versen predigt. Sie steht im innigsten Zusammenhang mit seiner ganzen christlichen Weltanschauung. Das Leben an sich ist ihm eine Gottesgabe, wie er den Athenern predigte, dass Gott jedermann Leben und Odem gibt; aber das von Gott gegebene Leben ist ihm durch die Sünde verkümmert und verdorben und nur in Christo wird und ist es wieder geheilt und hergestellt. Weil Christus, den er im Glauben aufgenommen hat, in ihm lebt, weil Christus durch ihn wirkt und Frucht schafft, darum freut sich Paulus seines Lebens, darum hält er das Leben des Lebens wert. Wollen wir seine Nachfolger sein, und wir wollen es ja alle gerne sein als Christen und zumal als evangelische Christen, so dürfen wir keine Schwarzseher sein, die dem Leben den Wert einer Gottesgabe absprechen, noch weniger Gottlose, die das Leben schön finden ohne Christum, sondern wir müssen uns des von Gott gegebenen Lebens freuen in Christo, im Glauben an Christum und im Wirken für ihn.

Es ist ein alter, trauriger Irrtum, in dem Menschenleben auf Erden nichts weiter zu sehen als ein rätselhaftes, wandelndes Schattenbild, als ein flüchtiges Dasein voller Leid und Last, als ein Ding, das, wenn man es verlieren soll, festzuhalten Torheit wäre. Diese düstere Weltanschauung stammt aus der Zeit der Götter Griechenlands; es ist ein griechischer Ausspruch, dass es das höchste Glück sei, nie geboren zu sein, und wenn geboren, sobald als möglich zu sterben. Seitdem hat diese trübe Unterschätzung des Lebens zu allen Zeiten Vertreter gefunden, und auch in unserer Zeit bezeugen nicht nur die vielen Selbstmorde, dass der alte Wahn nicht ausgestorben ist, sondern auch eine falschberühmte Weisheit wird nicht müde, die Gedanken zu verwirren mit der Predigt: Das Leben ist nur ein Halm, der manche Träne trinkt, bis er in tiefe Erde sinkt, ein Funken, der im Dunkeln glüht, bis er in Flämmchen sich versprüht. Eine solche halb frivole, halb melancholische Unterschätzung des Lebens bleibe den Jüngern Jesu Christi fern. Gott hat uns das Leben gegeben; von Gott kommt nur gute und vollkommene Gabe; Gott hat uns mit dem Leben nichts Schlechtes gegeben; darum wer Gott fürchtet und liebt, soll auch das Leben ehrerbietig als Gottesgabe betrachten und es lieben und mit dem treuherzigen sächsischen Sänger sprechen: „Herr, der du mir das Leben bis diesen Tag gegeben, dich bet' ich kindlich an.“

Freilich das Leben ohne Gott, ohne Zusammenhang und Versöhnung mit Gott, das Leben ohne Glauben an die Versöhnung in Jesu Christo, ist nicht schön, denn es ist das Leben in der Sünde, und die Sünde ist das Hässlichste, was es gibt. Das ist auch ein alter Irrtum, der wieder und wieder sich erneut, dass ein Leben, welches auf den Himmel verzichtet und die Erde, nur die Erde, aber diese Erde ganz in Anspruch nimmt, das beste sei, was der Mensch haben könne. Als ob die paar Lebensjahre in lauter Lust, sei sie die feine, sei sie die gemeine, oder in lauter Arbeit, sei es die mit der Hand, sei es die mit dem Haupte, oder in täglicher Wiederholung von Arbeit und Lust das Menschenherz befriedigen könnte, das auf Gott angelegt ist, auf den Sohn Gottes und auf die göttliche Versöhnung! O, wir sind viel zu hoch angelegt, als dass die Arbeit der Welt mit ihrem wechselnden Laufe, als dass die Lust der Welt mit ihrem rauschenden Geleite uns die Seele füllen, uns das Genüge geben könnte. Nein, so lange wir Sünder dahin leben ohne Vergebung der Sünden, so lange uns Gott fehlt, weil uns Christus fehlt, der all Sünd' hat getragen, sonst müssten wir verzagen, so lange ist das Leben im Staube, auch im vergoldeten Staube, nicht schön, sondern hässlich und traurig wie das Leben des aus dem Element der freien Luft genommenen Vogels im Käfig; ob der Käfig von Holz sei oder von Messing oder von Gold, er bleibt immer ein Käfig, ein Gefängnis, ein Unglück! Aus diesem Unglück der Entbehrung des eigenen Elementes gibt es für den sündigen Menschen nur einen einzigen Befreier, Jesum Christum, den Heiland der Welt. Hat Christus sich mir kund gegeben und bin ich seiner erst gewiss, wie schnell verzehrt ein lichtes Leben die bodenlose Finsternis! O Menschenkind, bekehre dich von dem bisherigen Wandel nach der Weise der gedankenlosen Welt zu deinem Seelenfreunde Jesus Christus, dem Manne der heiligen und barmherzigen Gedanken, dann wird dir das Leben köstlich! Glaube an den Herrn Jesum Christum, so wirst du und dein Haus selig! Seliges Leben, wenn die Missetat vergeben, die Strafe erlassen ist im Blute Jesu Christi! Seliges Leben, wenn wir leben, doch nicht wir, sondern Christus lebt in uns und sein himmlisches Nahesein bringt süßen Frieden ins Herz hinein! Seliges Leben, wenn Christus seine sonnige Art ausstrahlt aus unserm kleinen Menschenleben und eine Frucht des Geistes nach der andern reift: Liebe, Freude, Friede, Geduld, Freundlichkeit, Treue, Sanftmut, Keuschheit. O, das Leben im Sonnenschein des Evangeliums von Christo ist schön, ist wunderschön. Wenn sie unsre Wonne wüssten, alle Menschen würden Christen, ließen alles andre stehen; liebten alle nur den Einen, würden alle sich vereinen und zu unserm Heiland geh‘n.

2.

Aber wenn es für den wahren Christen eine Lust zu leben ist, weil Christus in ihm und er in Christo lebt, so ist ihm doch Sterben Gewinn, wenn es ihm und weil es ihm das Sein bei Christo, das von keinen Sichtbarkeiten mehr beengte sabbatliche Feiern bei dem Herrn einbringt. Schön ist das Leben, aber Sterben ist Gewinn, weil wir zu Christo kommen.

Nicht Gewinn, sondern Verlust ist dem glaubenslosen Kinde dieser Welt das Sterben. Zwar könnte es scheinen, als ob wenigstens denjenigen Weltkindern, die in dem Leben nichts als ein nutzloses und qualvolles Ding sehen und gar sich selber das Leben nehmen, das Sterben Gewinn sei; aber es ist ja nach ihrem eigenen Wahne mit dem Tode alles aus, so verlören sie also sich selbst; nach der Lehre der Schrift aber fängt mit dem Tode Alles erst recht an auf Grund dessen, was man getan hat bei Leibes Leben, und es ist schrecklich, in die Hände des zürnenden Gottes zu fallen. In jedem Fall also ist das Sterben Verlust auch für diejenigen Weltlinge, denen das Leben ein Nichts ist. Und als Verlust gilt denjenigen Weltkindern, die in ihrer Torheit das Leben unter dieser Sonne als ihr Ein und Alles erfassen und die keine anderen Freuden kennen, als die aus dieser Erde quillen, als Verlust gilt ihnen das Sterben unter allen Umständen, sowohl wenn sie frech die Ewigkeit leugnen, als auch wenn sie sentimental klagen: Das Grab ist tief und stille und schauderhaft sein Rand; es deckt die dunkle Hülle ein unbekanntes Land. Sterben ist mein Gewinn, das konnte nur ein Paulus sagen, das kann im Geist und in der Wahrheit nur nachsprechen, wer paulinischen Glauben, paulinische Liebe, paulinische Hoffnung hat; wir haben sie, Gott gebe es, uns evangelischen Christen leuchtet dies apostolische Dreigestirn; darum haben wir heute gesungen: Christus der ist mein Leben, Sterben ist mein Gewinn; dem hab' ich mich ergeben, mit Freud' fahr ich dahin! Sterben ist uns Gewinn, weil wir zu Christo kommen.

Ich habe Lust abzuscheiden und bei Christo zu sein, welches auch viel besser wäre diese Worte, die Paulus gleichsam in Einem Atemzuge sagt, gehören auf das Engste zusammen und dürfen in keiner Weise getrennt werden. Nur dann, aber dann auch gewiss ist das Abscheiden viel besser, als das Bleiben, wenn das Abscheiden und das Sein bei Christo in eins zusammenfließt. Dem Apostel fließt es zusammen, uns auch, die wir desselbigen Glaubens leben. Das ist unser Trost am Grabe unsrer Lieben, dass, während wir den Leib begraben, an ihren Seelen sich die Verheißung des Heilandes auf Golgatha schon erfüllt hat: „Wahrlich ich sage dir, heute wirst du mit mir im Paradiese sein.“ Wenn am Grabe unserer Lieben uns die Augen übergeh'n, ist uns doch der Trost geblieben, dass die Toten Jesum seh'n. Jedes Glied der kleinen Herde gibt nur seinen Leib der Erde, doch die Seele ruht sich aus bei dem Herrn im Vaterhaus. Das ist unsere Hoffnung im Blick auf unsern eigenen Tod. Wir wissen nicht, wann wir sterben, nicht wo wir sterben, nicht wie wir sterben, aber wir wissen und vertrauen, wenn wir im Glauben sterben, ist die Mühe und Arbeit aus und die ewige Feier beginnt, ist das Stückwerk aus und die Vollendung beginnt, ist Kampf und Streit zu Ende, und jedem in Christo Vollendeten wird der Klang gesungen, der auf Erden, nur den Königen gesungen wird: Heil dir im Siegerkranz! So schön das Leben ist, wenn Christus in uns lebt, so ist doch Sterben Gewinn, weil wir zu Christo kommen.

3.

Wir treten in unsere abschließende Frage ein. Das Leben des Christen ist schön, das Sterben ist ihm Gewinn - was ist nun Christenpflicht, der christlichen Lebensfreude sich begeistert hinzugeben oder still im Kämmerlein des Herzens dem himmlischen Heimweh nachzuhangen? Meine Lieben, das Beispiel des Apostels im Text und die ganze Bibel lehrt uns, dass das rechte Christentum die Aufgabe lösen muss, Heimweh und Lebensfreude innerlich zu verbinden.

So steht doch Paulus hier vor uns, heimwehvoll und lebensvoll zugleich, mit dem Haupt im Himmel und mit beiden Füßen auf der Erde. So kennen wir alle unsern Dr. Luther, in der herrlichen Vereinigung von fröhlichem rastlosen Wirken für das Reich Gottes und von sehnsüchtigem Verlangen, dass Gott uns erlöse von allem Übel und aus diesem Jammertal zu sich in den Himmel nehme. Das haben wir an teuren, längst entschlafenen Menschen Gottes oft bewundert, dies wunderbare geheimnisvolle Ineinander von Lust am Leben und von Lust am Sterben; und es gereicht uns allezeit zum Segen und Frieden, wo wir lieben, lebendigen Jüngern des Heilandes die Hand drücken können, aus deren Augen und Angesicht beides zugleich strahlt, die Gewissheit: Ich muss wirken, so lange es Tag ist, und die Sehnsucht: Jerusalem, du hochgebaute Stadt, wollt' Gott, ich wär' in dir. Ich fühle mich nicht würdig, solchen christlichen Persönlichkeiten die Schuhriemen aufzulösen. Dass es auch eine krankhafte, weil einseitige Lust zu sterben unter den Christen gibt, wer wollte es leugnen? Es gibt ja ebenso sehr auch eine krankhafte, weil einseitige Anklammerung an das diesseitige Leben, als ob der einzelne Mensch in seinem christlichen Wirken und Walten auf Erden unabkömmlich wäre, während doch der Ocean des Lebens in seinem majestätischen Dahinrauschen durch einen Tropfen oder eine Welle weniger nicht im Geringsten gestört wird. Worauf es eben für uns ankommt, ist, diese Einseitigkeiten aufzuheben in der gesunden Harmonie der Freudigkeit zu sterben und der Liebe zum Leben. Das ist keine leichte Aufgabe, auch Paulus hat sie nicht im Nu gelöst. Das irdische Christentum steht im Werden, nicht im Sein. Aber wir werden die Aufgabe immer besser lösen in der Kraft des Heiligen Geistes, je fleißiger wir beten um den heiligen Geist, je andächtiger wir uns versenken in die kindlich großen Geheimnisse, die uns in der Bibel geoffenbart sind, je inniger wir mit Gottes Freunden Freundschaft pflegen, Freundschaft, die auch der Tod nicht zerschneidet, je emsiger wir der Heiligung nachjagen. So lasst uns denn, meine Lieben, dem Beispiel Pauli folgend, täglich danach ringen, der Sehnsucht nach der Ruhe, die noch vorhanden ist dem Volke Gottes in Jesu Christi, ihren vollen freien Flügelschlag zu bewahren und zugleich dem Christenberufe, den uns Gott der Herr auf Erden angewiesen hat, voll und ganz zu leben, als die Lebenden, aber wir sterben, als die Sterbenden, aber wir leben. Selig sind, die ihre Arbeit tun, denn sie empfangen den Segen von oben. Selig sind, die das Heimweh haben, denn sie werden nach Hause kommen.

Leben oder Sterben, was ist besser? Das Leben ist schön, wenn Christus in uns lebt. Aber Sterben ist Gewinn, weil wir zu Christo kommen. Darum ist es christlich, Heimweh und Pilgerlust zu verbinden. Amen.

Phil_1

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