Leonhardi, Gustav - Das Geheimnis der Bosheit.

Leonhardi, Gustav - Das Geheimnis der Bosheit.

Bußtagspredigt über 2. Thess. 2, 11-17

von Lic. theol. G. Leonhardi, Pfarrer in Zschaitz.

Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserm Vater, und unserm Herrn Herrn Jesu Christo.

Text: 2. Thess. 2, 11-17.

Darum wird ihnen Gott kräftige Irrtümer senden, dass sie glauben der Lüge; auf dass gerichtet werden alle, die der Wahrheit nicht glauben, sondern haben Lust an der Ungerechtigkeit. Wir aber sollen Gott danken allezeit um euch, geliebte Brüder von dem Herrn, dass euch Gott erwählt hat von Anfang zur Seligkeit, in der Heiligung des Geistes und im Glauben der Wahrheit. Darein er euch berufen hat durch unser Evangelium, zum herrlichen Eigentum unsers Herrn Jesu Christi. So steht nun, liebe Brüder, und haltet an den Satzungen, die ihr gelehrt seid, es sei durch unser Wort, oder Epistel. Er aber, unser Herr Jesus Christus, und Gott unser Vater, der uns hat geliebt, und gegeben einen ewigen Trost, und eine gute Hoffnung, durch Gnade, der ermahne eure Herzen, und stärke euch in allerlei Lehre und gutem Werk.

In Christo geliebte Gemeinde! Welch ein Bußtagsbild, das der Apostel Paulus in den verlesenen Textworten vor uns aufrollt! Um es ganz zu verstehen, müssen wir den dunklen Hintergrund betrachten, auf welchem dies Bild ruht. Der Apostel schildert in den vorhergehenden Worten das hereinbrechende Verderben der letzten Zeiten, den immer weiter sich verbreitenden Abfall vom christlichen Glauben, die zunehmende Feindschaft wider das Christentum, die sich steigert bis zur Gottesleugnung und Gotteslästerung, bis zu dem offenbar werdenden Geheimnis der Bosheit, in der der Mensch der Sünde, das Kind des Verderbens sich überhebt über alles, was Gott und Gottesdienst heißt (V. 3-7), und zeigt, wie in dem allen und über dem allen das Gericht Gottes sich vollzieht: fürwahr, ein Bußtagsbild sondergleichen, getaucht in die Farben der Abendröte im Reiche Gottes, der hereinbrechenden Dämmerung, der letzten Zeiten. Wie, muss ein solches prophetisches Bild nicht auch ein Spiegelbild unsrer Zeit und unsers Volkes werden; als ein solches lasst es uns anschauen.

Das Geheimnis der Bosheit in unsern Tagen sei das Thema unsrer Bußtagsbetrachtung.

Wir betrachten:

1. Die kräftigen Irrtümer, in denen es sich enthüllt;
2. das Gericht Gottes, das sich darin vollzieht;
3. die Macht des Glaubens, die es überwindet.

1.

Darum wird ihnen Gott kräftige Irrtümer senden, dass sie glauben der Lüge“ (V. 11). Irrlehren und Irrtümer hat es wohl zu allen Zeiten des Christentums gegeben: aber das ist die wirksame Kraft, die verführerische Macht der Irrlehren und Irrtümer unsrer Tage, dass sie ein vollständiges System der Lügen, eine alles höhere geistige Leben leugnende Weltanschauung bilden, eine Dogmatik des Unglaubens, die in den drei Sätzen gipfelt: „Es gibt keinen Gott; es gibt keine sittliche Freiheit; es gibt kein ewiges Leben.“

Es gibt keinen Gott: sagt man. Was ihr die Schöpfung nennt: das ist nur ein zufälliges Spiel der natürlichen Kräfte, ein sich Finden, Fliehen und Wiederanziehen der Atome des Weltalls, die aus dem Urkeime entstanden. Während die größten Naturforscher vor den Schöpfergedanken Gottes, seiner Allmacht und Weisheit, in den Gesetzen Himmels und der Erde, den Gestalten, Ordnungen und Einrichtungen alles organischen Lebens, voll tiefer Demut und Ehrfurcht sich beugen, spottet ein leichtfertiger Franzose: „Ich habe Himmel und Erde mit dem Senkblei durchforscht und Gott nicht gefunden.“ Und doch leuchtet Gottes unsichtbares Wesen, seine ewige Kraft und Gottheit aus allen Werken der Schöpfung uns entgegen. Oder kann der Zufall je der Schöpfer eines Werkes voll höchster Weisheit und planmäßiger Ordnung sein. Mag der Sturm Millionen Sandkörnlein in der Wüste zusammenfegen: aus solchem zufälligen Spiel natürlicher Kräfte entsteht kein Haus von Menschenhänden erbaut, von Menschengeist ersonnen und durchdacht, geschweige denn das von Gottes Geist erschaffene, beseelte und durchdrungene Weltgebäude. „Aber du siehst Gott nicht“, spottest du, „du kannst ihn nicht sehen“. O der blinden Torheit, so sehe ich auch deinen Geist nicht, obwohl er in Worten und Werken zu mir redet.

Es gibt keinen Gott: so gibt es auch keine göttliche Weltregierung in der Geschichte, keine sittliche Freiheit im Leben der Menschen, sondern nur ein unabänderliches Schicksal, eine tote stumme Naturnotwendigkeit. Der Mensch ist in seinem Denken, Wollen und Handeln gebunden, gebunden durch die Reizungen der Nerven und des Blutes, durch den Bau seines Gehirns, durch die Organe und Anlagen seiner leiblichen Natur; so ist er auch nicht verantwortlich für seine Taten. Wo bleibt das Gewissen? Diese Prophetenstimme des heiligen, diese Majestätserklärung des gerechten Gottes in unserm innersten Herzen? Wo bleibt die sittliche Verantwortung für unsere Taten vor Gottes und der Menschen Angesicht? Was richtet ihr noch den Verbrecher? Warum bestraft ihr noch den Diebstahl, den Meineid, den Betrug, den Mord, wenn es nicht wahr ist, dass der Mensch, trotz der Sünde Gesetz in seinen Gliedern, frei ist in seinen Entschließungen für das Gute oder Böse, frei aus Gottes Geist und Kraft „und wäre er in Ketten geboren“.

Es gibt keinen Gott so lautet die Schlussfolgerung der kräftigen Irrtümer so gibt es keine sittliche Freiheit; so gibt es kein ewiges Leben: so schreibt nur über den Eingang zu den Kirchhöfen: „Unsterblichkeit ein süßer Traum“ aber zuvor reißt aus dem Menschenherzen die inwohnende Sehnsucht nach der Ewigkeit, vertilgt in ihm den letzten Funken des Gottesbewusstseins, erniedrigt ihn zum vernunftlosen Tiere, das für den Staub der Erde lebt und im Staube der Erde untergeht, und dann gesteht es nur, dem Menschen wird aller Wert geraubt, wenn er nicht an die drei Worte glaubt: Gott, sittliche Freiheit, ewiges Leben.

2.

Seht, das sind die kräftigen Irrtümer, in denen das Geheimnis des Abfalls, der Bosheit in unsern Tagen sich enthüllt; aber beachten wir wohl, wie darin nicht nur menschliche Torheit und Sünde, sondern auch ein göttliches Gericht, und zwar ein dreifaches Gericht, ein Gericht der Verblendung, der Verstockung, der Verführung sich vollzieht.

Ein Gericht der Verblendung zuerst: „Darum wird ihnen Gott kräftige Irrtümer senden, dass sie glauben der Lüge, auf dass gerichtet werden alle, die der Wahrheit nicht glauben, sondern haben Lust an der Ungerechtigkeit“ (V. 12). Es ist ein altes lateinisches Sprichwort: „Wen Gott verderben will, den verblendet er.“ Blindheit kommt vor dem Verderben und Untergang, wie das Abendgewölk vor der Nacht. „Ich bin auf diese Welt gekommen,“ spricht Jesus, „zum Gericht, dass die Blinden sehend und die Sehenden, d. h. die in ihrem Unglauben sich sehend dünken, blind werden.“ Wer aus Lust zur Ungerechtigkeit, aus Liebe zur Finsternis sich der Wahrheit verschließt, der fällt dem Gerichte der Verblendung anheim. Wer nicht an die Wahrheit glauben will, der muss, wie der Apostel sagt, der Lüge glauben. welche Blindheit, die ganze Kreise unsers Volkes gefangen hält, dass sie lieber den Lügenworten der falschen Propheten glauben und auf die Trugschlüsse menschlicher Weisheit bauen, als dass sie glauben dem Worte der ewigen Wahrheit, darauf sie gegründet sind.

Und mit dem Gerichte der Verblendung geht das Gericht der Verstockung Hand in Hand. Man wird kalt und gefühllos gegen alle Eindrücke der göttlichen Gnade und Wahrheit, gegen alle Regungen des göttlichen Geistes im Herzen und Gewissen. Mit der Liebe und Dankbarkeit gegen Gott schwindet auch die dankbare Liebe, die Ehrfurcht und Gehorsam gegen Eltern, Lehrer und Herren. Die Liebe erkaltet in der Selbstsucht und in der Lust an der Ungerechtigkeit. Es tritt eine Verhärtung und Verrohung des Gemütes ein, in der man sich nicht scheut, seinen Lüsten und Begierden, der Habsucht und Genusssucht, der Gewinnsucht und Fleischeslust das Glück anderer, das Wohl ganzer Familien zu opfern und zuletzt in seinen Fall und Zusammenbruch tausend andre nach sich zu ziehen. Oder soll ich erinnern, welch einen Abgrund sittlicher Verworfenheit in den höheren und niederen Kreisen unsers Volkes die jüngste Vergangenheit vor uns aufgetan? Soll ich erinnern, dass auch unter der heranwachsenden Jugend die Verbrechen wider Religion und Sittlichkeit während der letzten Jahre um 60% gewachsen sind? Wie? Sind das die Früchte einer Bildung, die man von ihrer Wurzel, vom Christentum, losgelöst? Ist das noch unser deutsches Volk, das Volk des frommen, innigen und sittlichen Gemüts? Geht nicht ein heimliches Zittern und Entsetzen durch die Herzen aller, welche sehen, wie mit dem Gerichte der Verblendung im Geist, der Verhärtung und Verstockung im Gemüt auch das Gericht der Verführung über ganze Kreise und Klassen unsers Volkes sich vollzieht.

Von oben ist die Verführung in das Volk gedrungen. Aus seinem Studierzimmer verkündet der glaubenslose Forscher, dass der Mensch nur eine höhere Spielart der Tierwelt sei, ohne Geist, ohne Gott, ohne Gewissen, ohne Freiheit, ohne Hoffnung auf das ewige Leben, und von der Straße herauf antwortet das Pöbelgeschrei: „So ist's. Wohlan: Tier gegen Tier. Der Mord oder Selbstmord soll den Kampf um das Dasein, um das Glück und die Güter der Erde entscheiden.“ - Wie? wird es nicht endlich klar, dass eine Menschheit, der man den letzten Funken des Göttlichen geraubt, zur Bestialität herabsinkt? Die Offenbarung St. Johannis schildert die letzten Zeiten unter dem Zeichen des Tieres, das aus dem Abgrund steiget. Wie? soll sich auch darin das Gericht Gottes über unser Volk vollziehen? Ist es nicht Zeit, unser Volk zur Buße zu rufen, zur Umkehr von seinen kräftigen Irrtümern, von seinem gottlosen Wesen, ehe das Tier im Menschen zur völligen Erscheinung kommt, ehe das sittliche Verderben wie eine Sintflut über unser Volk und Land sich ergießt und die heiligen Ordnungen Gottes in Staat und Kirche, Haus und Familie völlig unterwühlt und begräbt? - Es gibt nur eine Macht, das Geheimnis der Bosheit in unsern Tagen zu überwinden: das ist die Macht des Glaubens, von welcher der Apostel Paulus im andern Teile unsers Textes redet: des Glaubens an die Liebe des Vaters, an die Erlösung durch Christum, an die Gewissheit des ewigen Lebens.

3.

Wir aber sollen Gott danken allezeit um euch, geliebte Brüder vor dem Herrn, dass euch Gott erwählt hat von Anfang zur Seligkeit, in der Heiligung des Geistes und im Glauben der Wahrheit, darin er euch berufen hat durch unser Evangelium zum herrlichen Eigentum unsers Herrn Jesu Christi.“ (V. 13. 14.)

Wahrlich, Gott danken, täglich auf den Knien Gott danken soll jeder Christ, der den trostlosen Mächten des Unglaubens und der Finsternis gegenüber sich und die Seinen noch umfangen weiß von der Liebe Gottes, die uns von Anfang, ehe die Welt war, „zur Seligkeit in Christo“ hat berufen und erwählt, von der Liebe eines Vaters, der uns errettet hat von der Obrigkeit der Finsternis und „zum herrlichen Eigentum unsers Herrn Jesu Christi“ durch sein Blut hat erworben und erlöst, der uns in aller Schwachheit und Sünde nicht verloren gibt, sondern durch seinen Geist uns heiligen, stärken und erhalten will im rechten Glauben bis ans Ende. wahrlich, danken, täglich auf den Knien danken sollten wir Gott für solche unaussprechliche Gnade. Oder ist's nicht etwas Großes und Herrliches, mitten unter dem Wogen und Schwanken menschlicher Meinungen, mitten unter den Anfechtungen und Versuchungen zum Abfall, feststehen zu können auf dem Grunde der ewigen Wahrheit und mit dem Apostel sprechen zu dürfen: „Ich weiß, an wen ich glaube; ich bin gewiss, dass weder Tod noch Leben, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Hohes noch Tiefes noch keine andre Kreatur mich scheiden kann von der Liebe Gottes, die da ist in Christo Jesu, unserm Herrn.“ In dem allen überwinden wir weit um deswillen, der uns geliebt hat.

Ach, so prüft euch doch, Geliebte in dem Herrn, die ihr die Liebe zur Wahrheit angenommen, ob ihr in solchem Glauben noch feststeht und nicht wanket, und wo ihr fühlt, dass der Geist des Abfalls, der da herrscht in den Kindern des Unglaubens, auch in euren Herzen Raum gewonnen, euch lass und träge gemacht in der Heiligung und im Gebet, matt und lau in der Liebe zu Gott, zu Gottes Wort, zu Gottes Hause, zu Gottes Dienste, da lasst euch von dem Apostel mahnen und erinnern: „So steht nun, liebe Brüder, und haltet an den Satzungen, die ihr gelehrt seid“ (V. 15). Wacht, steht im Glauben, seid männlich und seid stark.

Die Zeit ist ernst, die Macht der Versuchung ist groß: es wird und muss sich entscheiden, ob wir von denen sind, die da weichen und verloren gehen oder von denen, die da glauben und ihre Seelen retten. So lasst euch zur Entscheidung drängen. Was werdet ihr einst, wenn es zum Sterben geht, bereuen müssen: dem Evangelium von Christo gehorsam gewesen zu sein oder nicht, geglaubt zu haben oder nicht? Ach, der Unglaube hat noch keinen Menschen getröstet und aufgerichtet, besser und frömmer, zufrieden, glücklich und selig gemacht. „Könnte ich doch glauben“: hören wir oft klagen von dem Munde der Glaubenslosen; aber das ist das Gericht Gottes, dass wer nicht glauben will, zuletzt nicht glauben kann.

Darum heute, so ihr Gottes Stimme hört, verstocket eure Herzen nicht. Sucht den Herrn, wo er sich finden lässt, in dem Worte seiner Gnade, in seinem Hause, an seinem Altar: so werdet ihr leben. Haltet über dem Worte der Wahrheit, darinnen ihr gelehrt seid, so werdet ihr feststehen wider alle Lügenkräfte und Mächte der Finsternis, auch wenn das Geheimnis der Bosheit und des Abfalls von Christo vor unsern Augen sich enthüllt. „Er aber“ so lautet der Segensgruß des Apostels, mit dem ich betend schließe „Er aber, unser Herr Jesus Christus und Gott und unser Vater, der uns hat geliebt und gegeben einen ewigen Trost und eine gute Hoffnung durch Gnade, der ermahne eure Herzen und stärke euch in allerlei Lehre und gutem Werke (V. 16-17): so werdet ihr aus Gottes Macht durch den Glauben bewahrt werden zum ewigen Leben.“ Amen.

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autoren/l/leonhardi/leonhardi_-_das_geheimnis_der_bosheit.txt · Zuletzt geändert: von aj
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