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Psalm 139

Psalm 139

139:1 Ein Psalm Davids, vorzusingen. HERR, Du erforschest mich und kennest mich.
Gott hat nicht nöthig, nach und nach durch Fragen oder angestellte Versuche etwas zu erforschen, denn es ist Alles bloß und entdeckt vor Seinen Augen; wenn aber Seine Erkenntniß sich auf dasjenige beziehet, das sonst den Menschen, ja allen Geschöpfen verborgen ist, und überdieß Sein Licht dasjenige, das verborgen gewesen war, den Geschöpfen entdeckt und offenbaret, so wird es ein Erforschen genannt. Kein Mensch kennt sich selber so, wie Gott ihn kennt. Es gibt aber Augenblicke, Stunden und Tage, wo Gott das wesentliche Licht in der Seele helle macht, und derselben etwas von Seiner Erkenntniß mittheilt. Alsdann thut der Mensch Blicke auf sich selbst. Alsdann wird ihm der Rath seines eigenen Herzens in Ansehung seiner Worte und Werke offenbar. Er fühlt zugleich entweder das freundliche Wohlgefallen oder den scheltenden Ernst des HErrn. Er wird gebeugt, klein, demüthig vor dem HErrn, und die Eigenliebe und Weltliebe wird von seinen Werken genauer als vorher weggeschmelzt. Dieses ist das Strafen und Züchtigen, wovon der HErr Jesus Off. Joh. 3,19., oder das Rechnen und Rechten, wovon Er Matth. 18,23. und Jes. 1,18. redet. So etwas hatte David erfahren, und sagte deßwegen: HErr, Du hast mich erforschet, Du hast das Verborgene meiner Seele mit Deinem Licht beleuchtet und aufgedeckt, und hast mich erkannt, und mir den rechten Bescheid über meinen Zustand gegeben. Er wünscht aber, eben dieses noch mehr zu erfahren, und bat deßwegen in den letzten Versen dieses Psalmen darum.
Bei einem solchen göttlichen Erforschen muß der Mensch freilich stehen, und nicht fliehen, aufmerken, und sich nicht zerstreuen. Wenn auch ein scharfes Rügen damit verbunden wäre, und die Angst seines Herzens groß würde, so soll er doch nicht meinen, daß nun über seine Person ein unabänderliches Urtheil der Verdammung gesprochen werde. Muß er sich auch als einen Gottlosen und als einen Heuchler ansehen: wohlan, die Gnadenzeit währet noch: er kann noch Gnade finden, es ist im Reich Gottes für ihn noch Raum da. Bei den Gerechtfertigten aber ergeht die göttliche Strenge nicht über ihre Personen oder über ihren ganzen Zustand, sondern nur über die Unreinigkeit, die ohne ihr Wissen noch in ihnen ist, und auch an ihren Worten und Werken klebt. Der HErr schilt sie, wie man ein Kind schilt, dessen Untugenden man haßt, das man aber zugleich doch liebt, und durch das Schelten nicht verderben, sondern bessern will.
Bei der herrlichen Zukunft des HErrn wird ein Jeder in seiner eigentlichen sittlichen Gestalt offenbar werden. Der HErr bewahre uns, daß wir alsdann nicht zu Schanden werden, und erforsche und läutere uns in der Gnadenzeit nach Seiner großen Barmherzigkeit. Laßt uns also nur darauf bedacht sein, daß wir vor Ihm Gnade finden, und Ihm wohlgefallen, übrigens aber in der Welt im Angedenken des HErrn Jesu und nach dem Beispiel Seiner theueresten Knechte mit einer stillen Gelassenheit durch Ehre und Schande, durch böse und gute Gerüchte gehen. Der HErr kenn uns: der HErr ist’s, der uns richtet. Dieses soll uns nicht schrecklich sein, denn es ist besser, in die Hände des HErrn fallen, als in die Hände der Menschen, weil Er barmherzig ist, die Menschen aber das rechte Maß nie treffen. Er ist uns aber auch nahe. Er ist allenthalben um uns. Wenn etwas Gutes von uns geschieht, so schafft Er’s durch Seinen Geist: Ihm gebührt also die Ehre, auch hält Er bei den täglichen Gefahren, denen unser leibliches und geistliches Leben ausgesetzt ist, Seine Hand über uns, und schützet uns. Gebt unserm Gott die Ehre! (Magnus Friedrich Roos)

139:2 Ich sitze oder stehe auf, so weißt du es; du verstehst meine Gedanken von ferne.

139:3 Ich gehe oder liege, so bist du um mich und siehst alle meine Wege.

139:4 Denn siehe, es ist kein Wort auf meiner Zunge, das du, HERR, nicht alles wissest.

139:5 Von allen Seiten umgibst du mich und hältst deine Hand über mir.
Nachdem David von der Allwissenheit und Allgegenwart Gottes Ps. 139. herrliche Zeugnisse abgelegt hatte, so redet er auch V. 5. von der Kraft Gottes, welche das Thun des Menschen schaffe, und ihn schütze. Es ist freilich hier nicht von dem Thun die Rede, insofern es sündlich ist; denn der heilige und gerechte Gott ist nie ein Urheber oder Schöpfer der Sünde. Insofern aber das Thun des Menschen rechtmäßig und in der Regierung Gottes brauchbar ist, insofern wird es von Gott geschaffen. Gott ist nicht nur der Schöpfer des Menschen, sondern Er ist auch ein Schöpfer seines Thuns. Gott hat dem Menschen nicht nur Kräfte gegeben, etwas zu thun, und siehet nicht nur gleichsam von ferne zu, wie er diese Kräfte anwende, sondern Er schafft auch dieses sein Thun. Er schafft es aber so, daß es doch das Thun des Menschen bleibt; weßwegen David sagen konnte: Du, o Gott, schaffest es, was ich vor oder hernach thue. Wie nun bei diesem göttlichen Schaffen das Thun, das Er schafft, doch des Menschen Thun sei und bleibe, ist unerklärlich, so lange die Natur der Seele so verborgen ist, wie sie ist. Nur wissen wir, daß Gott nicht nur den Menschen des Gesetzes Werk, das sie zu Vielem antreibt, in die Herzen geschrieben, und sie noch weiter durch Sein Wort unterweise, sondern daß Er auch ihnen die Herzen lenke, und ihren Geist erwecke, wenn Er etwas durch sie gethan oder nicht gethan haben will. Wir wissen ferner, daß, wenn der Mensch nach vielen wirksamen Gnadenzügen Gottes wiedergeboren wird, der Geist Gottes ihn erleuchte, führe und treibe, ja daß Christus in ihm wohne und lebe, und Gott in ihm das Wollen und Vollbringen alles Guten schaffe. Wir wissen und empfinden aber auch, daß der Mensch hiebei kein Klotz ist, der ohne sein Wissen und wollen fortgestoßen wird. Wir wissen, daß Gott den Willen der Seele durch Sein Wirken nicht vertilge, ja wir wissen, daß Gott Seine schöpferische Kraft meistens so sanft anwende, daß man ihr sogar auch widerstreben kann. Ja das Gewissen und das Wort Gottes lehrt uns, daß alle guten Thaten, ob sie schon von Gott geschaffen werden, dennoch des Menschen Thaten seien, und deßwegen ihm zum Lob und zur Belohnung zugerechnet werden. Alles dieses ist wahr, wie es aber zusammenfließe und zusammen zu reimen sei, habe ich nicht nöthig im Zustand meiner irdischen Kindheit zu wissen; denn David sagt V. 6. selber: solches Erkenntniß ist mir zu wunderlich und zu hoch, ich kann’s nicht begreifen. Mir liegt nur ob, mich Gott hinzugeben und zu überlassen, daß Er, was ich vor oder hernach thun solle, nämlich Eins nach dem Andern zu Seiner Ehre in mir schaffe, und mich dessen zu trösten, daß Er Seine Hand zu meiner Erhaltung und zu meinem Schutz über mir halte. Es ist sündlich, wenn man das Thun des Menschen nur dem Menschen zuschreibt, und bei demselben der schöpferischen Kraft Gottes vergißt, folglich auch Gott das Lob und den Dank versagt, die Ihm gebühren; es wäre aber auch thöricht, wenn man unter dem Vorwand, daß Gott alles Thun schaffe, faul und blos leidend sein wollte. Wenn Gott wirkt, so macht Er den Menschen thätig, munter und fleißig. Nur diejenige Geschäftigkeit muß zernichtet werden, welche nicht von Gottes Geist erregt und unterhalten wird. Lasset uns in der Abhängigkeit von Gott fleißig sein, und Ihm ohne Furcht dienen, weil Er Seine allmächtige Hand über uns hält! (Magnus Friedrich Roos)

139:6 Solche Erkenntnis ist mir zu wunderbar und zu hoch; ich kann sie nicht begreifen.

139:7 Wo soll ich hin gehen vor deinem Geist, und wo soll ich hin fliehen vor deinem Angesicht?

139:8 Führe ich gen Himmel, so bist du da. Bettete ich mir in die Hölle, siehe, so bist du auch da.

139:9 Nähme ich Flügel der Morgenröte und bliebe am äußersten Meer,

139:10 so würde mich doch deine Hand daselbst führen und deine Rechte mich halten.
Auf der Flucht vor Gott sind wir Menschen alle. Der eine flieht hinein in das Gewimmel der Menschen, in den Tumult der Wirtschaft und des Staats, um im Erwerben und Genießen Gott zu vergessen. Ein anderer flüchtet sich zur Natur, um zu singen, wie der Vogel singt, der in den Zweigen wohnt, und um zu rauben, wie das Raubtier raubt, das seinen Hunger füllt. Ein dritter flieht in das Gemach des Denkers, der sich aus seinen Gedanken eine eigene Welt aufbaut, oder in die Zelle des Büßers, der seine Frömmigkeit als seine Decke über sich ieht. Ihnen allen sagt der Psalmist, was sie gewinnen: und wenn ich wie das Morgenrot mich über die weiteste Ferne schwänge, so bliebe ich von deiner Hand gefaßt. Wohin soll ich denn fliehen, wenn es mir bange ist vor Gott? Zu ihm. Das ist die einzige Flucht vor Gott, die uns rettet. Mit all dem, womit uns Gott erschreckt, lockt er uns zu ihm. Die unabänderliche Festigkeit der Natur, die uns so oft weh tut, verwirrt und erschreckt uns. Sieh, sagt mir Gott, wie fest meine Ordnung ist; du beugst sie nicht; unterwirf dich mir und traue mir. Sein Gebot erschreckt uns, das unsern Willen verwerflich heißt, und wer steht nicht unter seinem verdammenden Spruch? Sieh, sagt mir Gott, ich bin das Gute und darum dem Bösen feind; nun weißt du, daß du meiner Güte trauen sollst. Siehst du an deiner Bosheit, daß ihr Lohn Tod ist, so weißt du, was dir der gibt, dessen Güte Wahrheit ist in Ewigkeit. Führt uns unser Weg zum Kreuz, so überfällt uns ein tiefes Erschrecken. Ist das Gottes Wahrzeichen, dies die Erscheinung seiner Liebe? Gibt es denn keine Versöhntheit mit Gott als durch den Tod seines Sohnes, und keinen Weg ins Leben als das Auferstehen? Damit lockt uns aber Gott zu sich. Sieh, sagt er mir, auf dieses von mir errichtete Kreuz; da siehst du den, der dich tot für deine Sünde macht. Hast du ihn nicht nötig? Und hier siehst du den, der dich ins Leben führt; willst du nicht nach dem Leben streben? Fleisch und Blut erlangen es nicht. Es ist die Gabe dessen, der gestorben und auferstanden ist. Flieh nicht von ihm weg; flieh zu ihm; flieh zu mir.
Vor dir, heiliger und ewiger Gott, fliehe ich, weil ich vor mir fliehe. Vor dem, was ich bin und mache, kann ich mich nur so retten, daß ich mich zu dir flüchte, und ich darf mich zu dir flüchten; denn du bist unsere Zuflucht für und für. Amen. (Adolf Schlatter)

139:11 Spräche ich: Finsternis möge mich decken! so muß die Nacht auch Licht um mich sein.

139:12 Denn auch Finsternis ist nicht finster bei dir, und die Nacht leuchtet wie der Tag, Finsternis ist wie das Licht.

139:13 Denn du hast meine Nieren bereitet und hast mich gebildet im Mutterleib.

139:14 Ich danke dir dafür, daß ich wunderbar gemacht bin; wunderbar sind deine Werke, und das erkennt meine Seele wohl.
Die Weisheit, Güte und Allmacht Gottes ist zwar an allen Werken der Schöpfung zu ersehen, wenn man sie mit einiger Aufmerksamkeit betrachtet. Das kleinste Würmlein ist eben sowohl ein Zeuge von den herrlichen Eigenschaften des Schöpfers aller Dinge, als der unermeßliche Raum des Himmels, woran die prächtige Sonne strahlet, die den ganzen Erdkreis erwärmt und erleuchtet. Wir werden daher in der heil. Schrift selbst je und je zur Bewunderung der Werke Gottes in der Natur aufgerufen, wie z.B. Ps. 104. ausführlich geschieht; und Röm. 1,20. wird es sogar den Heiden als eine strafbare Nachläßigkeit angerechnet, wenn sie nicht an den Werken, nämlich an der Schöpfung der Welt, Gottes unsichtbares Wesen, das ist Seine ewige Kraft und Gottheit, erkennen und preisen lernen.
Das höchste und vornehmste Meisterstück des Schöpfers aber ist der Mensch selbst, insofern er aus einer vernünftigen Seele und aus einem künstlich gebauten Leib besteht. Wir mögen auf die Natur, Kräfte und Wirkungen unserer Seele, oder auf die Einrichtung unsers Körpers und seiner Theile sammt ihren Verrichtungen sehen, so sind wir uns selbst ein erstaunenswürdiges Räthsel.
Die scharfsinnigsten Naturforscher müssen bei den sorgfältigen Untersuchungen, die sie angestellt haben und noch anstellen, immerhin bekennen, daß die Zeugung und Empfängniß, die nach und nach fortschreitende Entwicklung und Bildung im Mutterleibe, die Nährung der Leibesfrucht, so lang sie noch im Verborgenen ist, und die darauf erfolgende Geburt, lauter unbegreifliche Wunder der göttlichen Weisheit und Allmacht sind. Man hat z.B. in Ansehung der Bildung bemerkt, daß in vierzehn Tagen nach der Empfängniß der Kopf schon unterschieden werden kann, die Nase die Gestalt von einem hohen Faden hat, die Augen zwei schwarze Flecklein, und die Ohren zwei kleine Löchlein vorstellen. Nach drei Wochen sieht man den Anfang zu den Schenkeln, Händen und Füßen, die Arme wachsen besser, und die Finger lösen sich eher von einander, als die Zehen; die Knochen sind wie ausgebreitete Fäden, die Rippen neigen sich gegen dem Rückgrate. Nach einem Monat sieht man den Riß des Körpers genau ausgemalt, die Hüfte und der Bauch sind erhoben, die Finger und Zehen getrennt, die Eingeweide ein kleiner Pack von durchschlungenen Fäserchen, die Haut ganz dünn, und die Knochen noch ein Gallert. Nach sechs Wochen zeigt sich schon die erste Bewegung des Herzens; und nach zwei Monaten erscheint der Anfang zu den Knochen an den Armen, Schenkeln und Füßen, und an der Spitze des untern Kiefers u.s.w. Ganz eigentlich drückt sich also David V. 15. des obigen Psalmen aus, da er (im Grundtext) sagt: Deine Augen sahen mich, da ich im tiefsten Ort, vergleichen die Abgründe der Erde sind, wie mit der Stricknadel gestalt worden bin. So wenig der Landmann, wenn er seinen Samen auf den Acker ausstreuet, zur Bildung der daraus hervorkeimenden Früchte durch eigene Kunst etwas beiträgt: so wenig hängt die bewundernswürdige Bildung eines menschlichen Körpers von der Kunst oder Willkür der Eltern ab. Sie sit ganz und gar ein Werk des Schöpfers, dem jeder mit dankbarer Ehrfurcht bekennen muß: Deine Hände haben mich bereitet. Ja möchten wir uns fleißig erinnern, daß nach der Absicht der kostbaren Erlösung, die durch Christum geschehen ist, unser Leib ein Tempel des Heiligen Geistes sein, - und, wenn er das ist und bleibt, einst in der Aehnlichkeit mit dem verklärten Leibe unsers Erlösers wieder hervortreten solle!(Magnus Friedrich Roos)

139:15 Es war dir mein Gebein nicht verhohlen, da ich im Verborgenen gemacht ward, da ich gebildet ward unten in der Erde.
Wir bringen viel aus dem Mutterschoß mit. Was wir hernach in eigener Kraft erwerben, ist wenig neben dem, was uns mitgegeben wird, und jeder eigene Erwerb wird uns nur durch das möglich, was von Anfang an uns verliehen war. Verletzt das meinen Stolz? Das wäre ein Zeichen, wie gottlos ich mich selbst in die Höhe strecke und in mir den suche, den ich verehren möchte. Nur so kommt es zu dem wahnsinnigen Gedanken, dass nur das ein wertvolles und richtiges Eigentum sei, was ich mir selber erworben habe. Um zu erwerben, brauche ich ein Kapital. Das gilt nicht nur vom Ertrag der natürlichen Arbeit, sondern auch vom inwendigen Bilden und Erwerben. Wo nichts ist, wird nichts, und wer hat, erwirbt. Das ist Gottes Ordnung, die uns sichtbar macht, dass wir von dem leben, was Gott uns gab. Für das erleuchtete Auge des Psalmisten haftet am Zusammenhang seines Lebens mit dem, was vor seinem Bewusstsein und vor seiner Entschließung lag, nichts Schreckliches. Denn Gottes Wirken vollzog sich durch das, was seine Eltern ihm mitgaben. Hat er recht? Bringen wir nicht aus dem Mutterschoß die schweren Lasten mit heraus, die uns zeitlebens quälen? Wie bitter kann uns Ererbtes demütigen, das wir nicht von uns wegbringen, eben weil es ererbt und schon im Mutterschoß entstanden ist! Nie ist das uns gegebene Erbe nur Kraft; immer ist auch Schwächung dabei. Dennoch erschrickt der Psalmist vor dem Erbgang nicht; denn du, sagt er, warst dabei. Ich bekam meine Gestaltung nicht ohne dich. Ist dies ein Trost oder wird etwa die ererbte Last dadurch erst recht schwer? Habe ich nun nicht das Recht, nicht bloß die Natur zu schelten, sondern auch Gott, der den natürlichen Vorgang in seinen Händen hält? Gott schelten! Wollte ich das, so wäre es Wahnsinn und Gottlosigkeit. Der Töpfer macht das Gefäß nach seinem eigenen Willen, und dies ist ein starker, voll tröstender Trost, dass ich auch vom Erbgang mit allen seinen Folgen weiß, dass er nach Gottes Willen vor sich geht. Jede Last wird leicht, wenn ich sie aus Gottes Hand empfange.
Was Du gibst, Herr Gott, das nehme ich. Ist es Kraft, so dient sie mir. Ist es Schwachheit, so preist sie Dich, weil Du durch Deine Kraft auch Dein schwaches Kind bewahrst. Ich kann an mir nicht teilen, was ich ererbt und was ich erworben habe; denn die Wurzeln meines Lebens sind in einer Tiefe verborgen, die Du allein kennst. Was ich wissen muss, ist das Eine: Du kennst mich. Das ist mein Trost. Amen. (Adolf Schlatter)

139:16 Deine Augen sahen mich, da ich noch unbereitet war, und alle Tage waren auf dein Buch geschrieben, die noch werden sollten, als derselben keiner da war.
Die Tage eines Menschen verfließen schnell und unvermerkt, und Gott hat die Erkenntniß desselben so eingeschränkt, daß er an keinem Morgen weiß, was ihm am selbigen Tag begegnen werde, und an keinem Anfang einer Woche oder eines Jahres, was ihm in selbiger Woche oder in demselben Jahre widerfahren werde, ja es führt oft eine Stunde, eine Minute, oder ein Augenblick etwas Neues mit sich, das man in der vorhergehenden Stunde, Minute oder Augenblick nicht vermuthet hätte; weßwegen auch meistentheils die angenehme Hoffnung, mit welcher man auf zufällige, künftige Freuden wartet, oder die Angst, mit welcher man ein künftiges Unglück fürchtet, vergeblich ist. Ein Mensch kann das Werk nicht finden, das unter der Sonne geschieht; und je mehr der Mensch arbeitet zu suchen, je weniger er findet; wenn er gleich spricht: ich bin weise, und weiß es, so kann er’s doch nicht finden, Pred. Sal. 8,17. Was man aber mit seinem Verstand nicht finden kann, kommt von einem Augenblick zum andern, von einem Tag zum andern an’s Licht. Gott aber sind alle Seine Werke bewußt von der Welt her, Ap. Gesch. 15,18. Es ist Alles bloß und entdeckt vor Seinen Augen, Hebr. 4,13. Es waren, da wir noch unbereitet im Mutterleibe lagen, alle unsere Tage auf Sein Buch geschrieben, die noch werden sollten, da derselben noch keiner da war. Ohne Zweifel ist dasjenige, was hier von unsern Tagen gesagt wird, nicht nur von der Anzahl der Tage, sondern auch von allen Zufällen zu verstehen, welche in allen unsern Tagen vorkommen. Auch diese waren Gott vorher bekannt, und zwar sowohl diejenigen, welche ohne der Menschen Willen von Ihm verhängt werden, als auch diejenigen, welche unter Gottes Wohlgefallen oder Zulassung von der Menschen Weisheit oder Thorheit, Treue oder Untreue, Liebe oder Haß bestimmt werden. Man bedenke, wie viele solche Begebenheiten der Heilige Geist den Propheten geoffenbart habe, und vorher verkündigen lassen; da man dann den richtigen Schluß machen kann: wenn Gott diese Begebenheiten vorher gewußt hat, so hat Er auch alle die übrigen, die nicht vorher verkündigt worden, gewußt, da ohnehin Alles in der Welt zusammenhängt. Gott hat diejenigen, die selig werden, erwählt, ehe der Welt Grund gelegt war, folglich hat Er sie selbst und ihren ausharrenden Glauben schon damals erkannt.
Wenn wir auf unsere verflossenen Lebenstage zurücksehen, so haben wir Gott Vieles abzubitten, und für Vieles zu danken. Es ist kein Weiser, der sich nicht seiner ehemaligen Thorheit schämen, und kein Heiliger, der nicht begangene Sünden bereuen müßte. Wenn die Weisheit und Heiligkeit in dem Menschen anfängt reif zu werden, so ist er seinem Uebergang in die selige Ewigkeit nahe; neben ihm aber fangen Andere ihren Lauf mit einem kindischen Unverstand an, oder setzen ihn mit einem jugendlichen Leichtsinn fort: und deßwegen kann die Erde nie etwas Vollkommenes aufweisen, und muß immer ein Schauplatz einer mannigfaltigen Thorheit und eines drückenden Elends bleiben. Dank sei aber dem großen Gott für Seine Geduld und Langmuth, womit Er die armen Menschen trägt. Dank sei Ihm für die Wohlthaten, die Er ihnen an Einem fort erzeiget. Der glücklichste Tag in unserem Leben ist der Tag unserer Begnadigung; unser Todestag aber soll besser sein als der Tag unserer Geburt.(Magnus Friedrich Roos)

139:17 Aber wie köstlich sind vor mir, Gott, deine Gedanken! Wie ist ihrer so eine große Summe!
Gottes Allwissenheit gewährt dem Gemüte des Gottlosen keinen Trost, aber dem Kinde Gottes spendet sie Ströme von süßer Zuversicht. Gott denkt allezeit an uns, Er wendet sein Gemüt nie von uns ab, Er hat uns beständig unter seinen Augen; und das ist es gerade, was wir brauchen, denn es wäre schrecklich, wenn wir auch nur einen Augenblick von der Obhut unsers himmlischen Vaters ausgeschlossen wären. Seine Gedanken sind immer zärtlich, liebevoll, weise, umsichtig, fernblickend, und sie gewähren uns unsägliche Segnungen: darum ist es eine auserwählte Freude, darüber nachdenken zu dürfen. Der Herr hat stets seine Gedanken auf sein Volk gerichtet gehabt: daher ihre Erwählung und der Gnadenbund, durch welchen ihre Erlösung besiegelt wird; Er wird ihrer auch stets eingedenk bleiben: daher ihr Beharren bis ans Ende, dadurch sie wohlbewahrt zu ihrer letzten Ruhe eingehen dürfen. In all unsern Verirrungen ist der wachsame Blick des ewigen Hüters unabwendbar auf uns gerichtet, wir können uns nie aus des guten Hirten Aufsicht verlieren. In unsern Ängsten beobachtet Er uns unausgesetzt, Ihm entgeht auch kein einziger Seufzer; in all unserm Streit achtet Er auf unser Ermatten und verzeichnet in seinem Buch jeden Kampf seiner Getreuen. Diese Gedanken des Herrn begleiten uns auf allen unsern Wegen und durchdringen unser innerstes Wesen. Kein Nerv und kein Muskel, keine Fiber und keine Ader unsers kunstreich gebauten Leibes ist sich selbst überlassen, über alle kleinsten Teile unsrer kleinen Welt wacht der Gedanke unsers großen Gottes. Liebe Seele, ist dieser Gedanke dir teuer? dann halte ihn fest. Laß dich nimmer verführen von den weltklugen Toren, die einen unpersönlichen Gott verkündigen und von einer ewigen, sich selbst bestimmenden toten Materie reden. Der Herr lebt und ist unser eingedenk; das ist eine Wahrheit, die viel zu köstlich für uns ist, als daß wir sie uns so leichten Kaufs rauben ließen. Wer eines Vornehmen Aufmerksamkeit auf sich zieht, schätzt sich glücklich und hält sein Glück für gesichert; aber was ist doch das gegen die Obhut des Königs der Könige! Wenn der Herr an uns denkt, so ist es ganz gut, und wir freuen uns des ohn' Ende. (Charles Haddon Spurgeon)

139:18 Sollte ich sie zählen, so würde ihrer mehr sein denn des Sandes. Wenn ich aufwache, bin ich noch bei dir.

139:19 Ach Gott, daß du tötetest die Gottlosen, und die Blutgierigen von mir weichen müßten!

139:20 Denn sie reden von dir lästerlich, und deine Feinde erheben sich ohne Ursache.

139:21 Ich hasse ja, HERR, die dich hassen, und es verdrießt mich an ihnen, daß sie sich wider dich setzen.

139:22 Ich hasse sie im rechten Ernst; sie sind mir zu Feinden geworden.

139:23 Erforsche mich, Gott, und erfahre mein Herz; prüfe mich und erfahre, wie ich's meine.

139:24 Und siehe, ob ich auf bösem Wege bin, und leite mich auf ewigem Wege.
Gott, Du erfüllest mit Deiner heiligen Gegenwart Himmel und Erde. Wo sollen wir hingehen vor Deinem Geist? Lehre uns doch zu Dir beten in wahrem Glauben an Deine heilige und gnädige Gegenwart. Ach, wir bekennen vor Deinen heiligen Augen, daß wir nicht würdig gehandelt haben dem hohen Beruf und den großen Absichten, die Du mit uns hast. O Herr, wie haben wir nicht so zerstreut, so unachtsam, so abgewichen von Dir so manche Stunde zugebracht! Du hast Dich über uns erbarmt und uns aus vielen Banden gerissen, und Deine Gnade in Christo erfahren lassen. O daß wir uns Deiner Gunst hinfüro durch nichts weiter verlustig machten! Erneuere in uns den Glauben an Deine gnädige Gegenwart. Laß diese Deine Gegenwart einen beständigen Grund sein zum Frieden, zum Vertrauen, zum Muth auf unserm Pilgerwege. Hast Du Dich zu uns geneigt in Gnaden, o so neige uns doch auch zu Dir, daß wir Dich im Glauben mögen gegenwärtig sehen und gegenwärtig behalten in einem andächtigen und liebenden Herzen! O Herr, laß die Welt je länger je mehr aus unsern Sinnen und Gedanken verschinden, daß wir von allen nichtigen Dingen mögen absehen. Deine gnädige Gegenwart nehme unser ganzes Herz ein, daß wir mit Dir uns beschäftigen und Dich niemals vermissen mögen. Wir gewöhnen uns nicht genug an Dich: o mache uns doch andächtiger; laß unser Herz unverwandter bei Dir bleiben, daß die Gedanken an Deine Gegenwart und das Gespräch unseres Herzens mit Dir uns immerdar so begleiten, daß wir Deiner weder lebend noch sterbend vergessen können. – Bringe uns zum wahren Herzensgebet. lehre uns auf Deine Stimme lauschen und Deines Geistes Wirkungen Raum geben. Laß uns vor Dir als ein recht priesterliches Geschlecht wandeln. Gieb Gnade, daß wir unser Liebstes nirgend scheuen, sondern alles unsrige Dir gern zum Opfer bringen. O laß Alles verzehret und vernichtet werden in unsern Herzen, was nicht von Dir und von Deiner Gnade herrührt, daß endlich nichts in uns lebe, als Du allein. Ist doch unser Herz von Dir erkauft, berufen und erwählt, daß es dir sollte zum Tempel und Heiligthum werden. Nun komm, wir bringen Dir unser armes Herz zum Opfer. Komm und erfülle Dein Heiligthum, und laß ewig nichts Unreines hineinkommen. Amen. (Johann Friedrich Wilhelm Arndt)


Diese Bitte sprach der Psalmist in der Gewissheit, dass sie erhört sei; denn er beginnt mit den Worten: „Herr, du erforschest mich und kennest mich“, und er preist den Blick Gottes, der ihn in allen seinen Lagen begleitet und auch dann über ihm war, als ihn noch kein menschliches Auge sah, schon damals, als er im Mutterschoß bereitet wurde. Indem er aber um das bittet, was Gott tut, macht er aus dem, was Gott tut, sein eigenes Verlangen und bekennt sich mit entschlossenem Willen dazu, dass er als der stets und völlig von Gott Gekannte sein Leben führt. Es ergibt einen großen Unterschied, ob wir das, was Gott ist und tut, nur wissen oder ob wir uns mit Willen und Liebe dazu bekennen und uns mit ihm einigen. Die Gewissheit, dass wir von Gott gekannt sind, kann das Sträuben in uns erwecken, das sich ihm entziehen möchte. Wir wissen zwar, dass dieses Sträuben Torheit ist, weil es keinen Erfolg haben kann, und doch zwingt uns die Furcht vor Gott dazu, diese Erkenntnis von uns abzuschütteln. Das ist jener Kampf gegen die Wahrheit, von dem Paulus gesagt hat, er bringe Gottes Zorn auf uns herab. Anders macht es der Psalmist mit der ihm geschenkten Erkenntnis, dass nichts in ihm vor Gott verborgen ist. Er verdrängt sie nicht, sondern macht sie zu seinem Begehren und begründet mit ihr seine Bitte: Herr, erforsche mich; das ist mein Heil, dass dein Licht mich durchleuchtet und dein Urteil mir vernehmlich wird. Jede Bitte hat das Geständnis unseres eigenen Unvermögens in sich, und dies gilt auch von diesem Gebet. Wie kann ich mich selbst erkennen, mich selbst erforschen? Ich bleibe für mich ein Geheimnis, das ich nicht aufschließen kann. Vor dir sind aber alle Wurzeln meines Lebens aufgedeckt. Schuld und Unschuld, was ich sollte und was ich konnte, was die anderen aus mir machten und was ich selbst aus mir machte, alles liegt klar vor dir. Unser Unvermögen, uns richtig zu beurteilen, kann uns schwer ängstigen; aber was uns ängstigt, wird uns dadurch zum Segen, dass es uns zu Gott hintreibt. Über unserer Unwissenheit steht sein göttlich klares Wissen und über unserem schwankenden Urteil, das uns heute Zuversicht gibt und morgen uns anklagt, sein unfehlbares Gericht, das ohne Trübung der Wahrheit dient. Der im Glauben an Gott gerichteten Bitte wird auch die Erhörung nicht versagt. Gottes Urteil über das, was wir sind und tun, bleibt uns nicht verborgen. Sein Gericht enthüllt, was wir verstecken, und seine Gnade gibt uns durch seinen Geist das Zeugnis, dass wir Gottes Kinder sind.
Mit dem Psalmisten betet Deine ganze Schar: Herr, erforsche mich. Sie haben es alle gelernt, die Wahrheit lieb zu haben, weil Du, Herr Christus, unser Weg bist, der Du die Wahrheit bist. Mein Schutz gegen alles, was mich blendet und mich über mich täuscht, bist Du, Herr, allein. Amen. (Adolf Schlatter)


Dies ist ein Dankpsalm, worin David Gott preiset, daß Er ihn so wunderbar versehen hat und noch regieret in allen seinen Werken, Worten und Gedanken, - ja daß, wo er stehe, gehe, schlafe oder wache, und sogar im Mutterleibe, ehe er erschaffen war, Gott bei ihm gewesen sey und geordnet habe, wie er gebildet werden, und wie lange er leben solle; als wollte er sagen: Es stehet ja in keines Menschen Kunst noch Macht, wie er leben, thun, reden, denken, - wo und wann, woher und wohin er kommen soll, - sondern es ist alles lauter Gotteswerk und Gotteskunst.
Aber - was machen denn die Gottlosen, die solches nicht glauben, sondern mit ihren eiteln Werken selbst alles richten und thun wollen? Sie wollend gethan haben, was sie thun, - und wollen noch dazu Verdienst, Ruhm und Ehre bei Gott davon haben, - während sie doch nicht Ein Wort aus sich selbst reden und nicht Einen Gedanken für sich selbst fassen können; - sie wissen dazu nicht, was sie machen, - wie sie geschaffen seyen, - wie sie leben, reden und denken.
So nun aber alles, was wir sind und thun, Gottes Werk und Kunst ist, was vermessen sich dann die Menschen dieses hohen Werks, daß sie sich selbst fromm machen, - freien Willen haben - und von Sünden und Tod sich loswirken können und wollen? Solche können nicht recht von Gott und Seinen Werken reden.
Es wird fast nirgends in der ganzen heiligen Schrift auf Ein Mal so viel Treffliches von Gott und Seinen Eigenschaften gesagt, wie in diesem Psalm.
Denn gleich im Anfang wird mit großem Staunen eine schöne Betrachtung über die Allwissenheit Gottes, über Seine Allgegenwart und über Seine - sowohl allgemeine als besondere - Vorsehung und Vorsorge vor uns angestellt.
Darnach wird die wundervolle Schöpferkraft Gottes herausgestrichen, nach welcher Er uns im Mutterleib geschaffen, gebildet, belebt, - aus dem mütterlichen Leib gezogen - und uns Zeit und Tage, wie lange wir auf Erden leben sollen, bestimmet hat - und solches noch an einem jeden thut.
In andächtiger Erwägung dessen folgt darauf ein billiger und heftiger Eifer über alle diejenigen, welche Gott und solche Seine Eigenschaften nicht erkennen wollen - oder wohl gar ihnen widersprechen - und daher in aller Ruchlosigkeit ihr Leben zubringen.
Ach, behüte Du uns, HErr, davor, - leite uns zu Deiner lebendigen Erkenntniß - und erhalte uns bei derselben, - auf daß wir Dich allein fürchten und lieben, Dir aber auch aus wahrem Glauben vertrauen - und auf dem rechten Weg bleiben, der ewiglich bestehet, - durch Jesum Christum. Amen. (Veit Dieterich)

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