Tischendorf, Constantin von - Die Anfechtungen der Sinai-Bibel.

Tischendorf, Constantin von - Die Anfechtungen der Sinai-Bibel.

„Denn wir können nichts wider die Wahrheit, sondern für die Wahrheit.“

Leipzig, Verlag von Carl. Fr. Fleischer. 1863.

Grosse Thatsachen in der Wissenschaft lassen selten den Widerspruch in ihrem Gefolge vermissen; ja es lässt sich zu den charakteristischen Merkmalen derselben zählen, dass sie den Widerspruch hervorrufen. In die Reihe solcher Thatsachen wagen wir das Hervortreten der Sinaitischen Bibelhandschrift zu stellen: es müsste denn ein Irrthum sein, dass wir sie zur ältesten aller Urkunden für den Originaltext der Apostel erklären und dass wir ihr den massgebendsten Einfluss auf die Vergewisserung und Wiederherstellung des Textes des heiligsten und wichtigsten Buches der Menschheit zuschreiben. Beide Annahmen haben sich in den letzten vier Jahren in der christlichen Welt beider Hemisphären unter den Gebildeten wie unter den Gelehrten verbreitet; öffentliche Blätter und gelehrte Schriften in den verschiedensten Sprachen bezeugen es; selbst bei manchen dogmatischen Untersuchungen in Deutschland wie in England hielt man es für nöthig sich brieflich bei mir Auskunft über den Sinaitext zu holen. Die ausserordentliche Spannung auf das Erscheinen der Handschrift im Drucke, die sich von allen Seiten kund gab, war nicht der geringste Hebel zur Beschleunigung der Herausgabe. Gegenüber der Herausgabe des Alten Testaments im Codex Alexandrinus, welche trotz „herkulischer“ Arbeit volle 14 Jahre (1814 bis 828) verlangte, wurde die des Codex Sinaiticus mit 22 Büchern des Alten Testaments und dem ganzen Neuen Testamente nebst Barnabas und Hermas in 4 Foliobänden innerhalb dreier Jahre vollendet. Im October vorigen Jahres ging das ganze Werk, das sich für ein typographisch-kritisches Meisterwerk ausgibt, von Leipzig nach Petersburg; es fand dort die auszeichnendste Aufnahme; auch werden seitdem im Unterrichtsministerium daselbst die kaiserlichen Geschenke an alle grossen wissenschaftlichen Institute vorbereitet, während die dem Herausgeber zur Verbreitung überlassenen Exemplare bereits nach mehreren Seiten ausgegangen sind.

Da plötzlich läuft durch die Welt die Kunde von zwei schmerzlichen Entdeckungen; zwei Blitze, einer aus Westen, einer aus Osten, zucken vernichtend nieder auf die Herrlichkeit des Kleinods vom Sinai; bei der Verschiedenheit ihrer Natur theilen sie sich vorläufig in die kostbare Beute. Auf englischem Grund und Boden ist es zu Tage getreten, dass die Handschrift, wie sie leibt und lebt, nichts anders ist als das feine Machwerk eines griechischen Jünglings aus dem Jahre des Heils 1839; an der Newa aber hat ein russischer Mönch ausfindig gemacht, dass die alte Handschrift nur die unglückselige Ablagerung primitiver Kezereien sei, wie sie bei Phantasien der frühesten Jahrhunderte im Schwange gingen.

Wir müssen den erschütternden Thatsachen näher treten. In England also, wo der berühmte Textkritiker Tregelles trotz früherer gröblicher Gegnerschaft seinen Leipziger Collegen der Sinaitischen Handschrift halber nach dem Erscheinen der Notitia editionis codicis bibliorum Sinaitici mit dem siegreichen Wellington auf der Pyrenäischen Halbinsel verglich (Additions to the 4 vol. of the Introduction to the Holy Script. S. 781. London. Nov. 1860), wo der nächstberühmte Bibelkritiker Scrivener nach genauer Erörterung des Codex Sinaiticus und der gesammten biblisch-kritischen Literatur den „ersten Bibelkritiker Europas“ mit den Worten feierte: By the unflinching exertions and persevering labour of full twenty years Constantine Tischendorf has well earned – and long may he live to enjoy – the name of THE FIRST BIBLICAL CRITIC IN EUROPE (A plain Introduction to the criticism of the N.T. Cambridge. 1864. S. 346), eben dort also erklang an den Letzteren das Schreckenswort: Hier sollen sich legen deine stolzen Wellen? So sind denn die deutschen und die englischen Fachgelehrten und alle anderen die sich mit ihnen weise dünkten urplötzlich zu Narren geworden? Oder aber hat etwa gar nur ein verschmizter Fuchs, ein kluger Gauner das leichtgläubige Völkchen unwissender Träumer und bodenloser Schwätzer an sein eigenes Narrenseil gespannt?

Der Mann, der den westlichen Blitz geschleudert, heisst Simonides. Es ist derselbe der 1847 und 1848 in Athen den versammelten Gelehrten handschriftliche Entdeckungen vorlegte, aber als Betrüger erkannt und beseitigt wurde; derselbe der bald darauf zu Constantinopel grossartige Ausgrabungen unternahm, bei welchen eine Flasche mit den seltensten Pergamenten ausgegraben wurde, nur dass die der Flasche anklebende fremdartige Erdmasse zum Verräther des Possenspiels wurde; derselbe der 1855 und 1856 durch zwei Palimseste mit Uranios und Hermas Leipziger und Berliner Gelehrte in höchliches Erstaunen versetzte, bis ich durch den Nachweis der inneren paläographischen Unmöglichkeit beider Produkte den schmachvollen Handel, der schon mit 2500 Berliner Banknoten als Angeld realisirt war, störte und die auch in Berlin gewonnene bessere Einsicht den bewunderten Künstler ins Gefängniss führte; derselbe der erst unlängst in Liverpool Papyrusrollen mit Matthäusfragmenten aus dem ersten Jahrhundert zum Vorschein brachte, in denen endlich das Kamel, das durch ein Nadelöhr gehen soll, nachdem es lang genug die Gelehrten behelligt, zum schmiegsamen Tau metamorphisirt war; derselbe der die Photographie als eine griechische Erfindung des 15. Jahrhunderts dargethan, die Typographie aber, die Taucherglocke, die Dampfschiffe, die Feuergeschosse aus einer alten Handschrift als Erfindungen der Symäer, seiner Landsleute, nachgewiesen. Dieser talent- und kenntnissreiche Mann also trat im September 1862 im Guardian mit der Erklärung auf, dass er 1839 auf dem Berg Athos im Auftrage seines Onkels eine Bibelhandschrift unter der genausten bis auf die Tinte sich erstreckenden Nachahmung der ältesten Urkunden, obschon der Athos dergleichen nicht eben besitzt, zum Geschenk für Kaiser Nikolaus angefertigt habe, die keine andere gewesen sei als der durch die ganze Welt gepriesene Tischendorf’sche Codex Sinaiticus.

Aber ist dies nicht von Haus aus, zumal im Munde eines solchen längst zum Betrüger gestempelten literarischen Abenteurers, das lächerlichste Ammenmärchen, dem kein vernünftiger Mensch einen Augenblick Glauben beimisst? Weit gefehlt! Allerdings liegen mir Massen von englischen Artikeln vor Augen, die das Simonidische Histörchen trotz mancher fein gesponnener Fäden „zur Entrüstung wie zur Belustigung“ (some indignation, some amusement) verfasst sein lassen; ein Cambridger Bibliothekar, der den Codex mit eigenen Augen gesehen, schrieb, er sei von der Aechtheit desselben so fest überzeugt wie von seiner eigenen Existenz; wer’s nicht sei, möge statt tollen Geschwätzes nach Petersburg, möge nach Leipzig gehen; Simonides selber, stehe er vor dem Codex, werde erschreckt seinen Humbug zurücknehmen (The Guardian Nr. 895); von anderer Seite wurde mir geschrieben: „Wenn Sie glauben, dass Simonides unter Leuten die etwas von der Sache verstehen Anhänger hat, so sind sie im Irrthum; wenn unsere Journale das ungedroschene Zeug, das er und seine Freunde schreiben, abdrucken, so geschieht dies nur, damit auch die Anwälte des grössten Schuften nicht zu klagen haben dass man sie nicht gehört habe.“ Auch erlaubt’ ich mir meinerseits bereits im Sept. 1862 in der A. A. Zeitung die Bemerkung, man könne sich die Theilnahme englischer Blätter an dem neuesten Schwindel des berüchtigten Fälschers nur aus der Sympathie erklären, welche die Söhne Albions noch immer für die Narrenfigur in den Shakespeareschen Dramen hegen. Aber gerade zur Vergeltung für so anmasslichen Ritt auf hohem Rosse sprengte ganz neulich auf die dröhnende Bühne ein schauerlich gewappneter Ritter mit geschlossenem Visir und erklärte, hier sei alles in Frage zu stellen. Wer sei der Betrüger? Wer sei der Betrogene? Die gelehrtesten englischen Reisenden und Forscher sollten nichts gesehen, nichts gefunden haben, T. aber aus einem „Lappen“ seine Perle hervorgeholt haben? (Der „Lappen“ ist der Uebersetzung des lateinischen Wortes pannus = Tuch, zu verdanken.) Die Beschäftigung mit dem „untergeordneten“ Fache der Paläographie solle bei einer Angelegenheit von so immenser Tragweite, wie eine Bibel des 4. Jahrhunderts, zur Entscheidung führen? Was sei ein bis 1859 unbekannt gebliebener Mann gegen einen Dindorf, einen Lepsius, welche beide betrogen worden seien? War nicht die Versuchung für den armen Unbekannten ungeheuer, plötzlich in ganz Europa genannt zu werden?

Das sind mit wörtlicher Treue wiedergegebene Ausfälle des englischen Parthenon-Ritters. Vielleicht kömmt jemand ein Zweifel darüber an, ob hier ein unschuldiger ironischer Versuch gegen bornirte Gentlemen oder der pure bittere Ernst gegen den verwegenen Unbekannten vorliege. Aber genug, der Funke hat gezündet, und der neue Don Quixote der britischen Inseln hat nicht nur zwischen aufstäubenden gehörten Heeresmassen seinen siegestrunkenen Einzug in die Leipziger „Grenzboten“ gehalten, sondern er hat schon mehr als Einen Sancho Pansa zu Esel – solch ritterliche Gelegenheit war allzu verführerisch – auf dem Continente, in der gepriesenen Heimath der Intelligenz gefunden.

Heisst dies aber nicht wieder die ernsteste Frage vom hohen Ross herab wie eine Spielerei behandeln, während nicht nur die Steine sondern die Spatzen auf den Dächern entrüstet schreien möchten: Die Ehre der deutschen Wissenschaft ist verpfändet, lös’t das verlorne Palladium ein?

Ich bitte den Fragesteller tausendmal um Entschuldigung und stehe sofort zu seinen Diensten. Als ich im Jahre 1844 die erste Entdeckung der Handschrift auf dem Sinai machte, und zwar in einem Korbe mit weggeworfenen Pergamenten, der leider mit dem „Lappen“ und den „Lederhosen“ des Causidicus und der Grenzboten in Concurrenz geräth, gelang es nur Alttestamentliche Fragmente in 43 Blättern zu erwerben. Im Januar 1845 nach Leipzig überbracht, wurden sie vom alten Gottfried Hermann und anderen Leipziger Gelehrten mit Bewunderung betrachtet, nach dem seligen Könige von Sachsen als Codex Friderico-Augustanus benannt und 1846 als „älteste aller in Europa vorhandenen griechischen Pergamenthandschriften“ durchgängig facsimilirt von mir herausgegeben. Sie mögen desshalb wohl im Laufe der vergangenen 17 Jahre zur Kenntniss mancher Gelehrten gelangt sein; ihr öfters commentirter ganz eigenthümlicher Text ist sogar sei 13 Jahren stereotypirt in meine in der ganzen Kirche verbreiteten Ausgaben der Septuaginta übergegangen. Von der geringsten Fälschung desselben hat demohngeachtet noch nie ein Wörtlein verlautet. Das Original selbst aber gehört seit 18 Jahren der Leipziger Universitätsbibliothek an, wo es als erstes und grösstes Schaustück glänzt, auch sogar von Simonides während seines langen Leipziger Aufenthalts harmlos gesehen wurde. Dass dasselbe den ersten Theil des Codex Sinaiticus bildet und dass er es folglich eigenhändig geschrieben hatte, das war ihm dem vergesslichen Verfasser seltsamer Weise nicht im Traume eingefallen bis in den December 1862; ja er hatte ungeschickter Weise in seiner Septemberhistorie erzählt, er habe anno 1852 auf dem Sinai von seinem Buche nichts vermisst als seine vorangestellte Dedikation an den russischen Kaiser. Nachdem er jedoch die unangenehme Störung erfahren, brachte er zur Entschädigung seiner wissbegierigen Leser einen Brief aus Alexandrien zum Vorschein, der das Versäumte durch die genauesten Details aus dem Mai 1844 nachholte. Nur Ein Anstoss blieb noch übrig, nämlich der, dass ausser jenen 43 vom Alexandrinischen Freunde so genau controlirten Blättern nun auch noch zwanzig ganze Bücher des Alten Testaments, d.h. gegen 200 Folioblätter bis auf wenige durch Einbandskleister ganz entstellte neuerdings nach Petersburg gebrachte Fetzen verloren gegangen sind. Allein dieser Verlust, der leider dem Symischen Tausendkünstler bei seiner eigenen Anwesenheit auf dem Sinai 1852 so gut wie dem in jenem früheren glücklichen Monat Mai auf dem Sinai gegenwärtigen Freunde entgangen, kann durch das nächste Schreiben von befreundeter Hand nachgetragen werden; die Frage der wissenschaftlichen Ehre freilich, womit es doch auch wahrhaftig keine Eile hat, müssen die ritterlichen Freunde zu London und zu Leipzig bis dahin in suspenso lassen.

Die von mir 1859 nach Europa überbrachte Handschrift aber ist seitdem nicht nur Kaisern und Königen und anderen dem „untergeordneten“ Felde der Paläographie möglichst weit entrückten Personen vorgezeigt, sondern auch Tage und Wochen lang vor Gelehrten und Ungelehrten in Leipzig wie in Petersburg ausgestellt, ja selbst der Akademie der Wissenschaften zu Berlin sowie den versammelten Hunderten von Philologen und Orientalisten zu Augsburg als die älteste aller griechischen Pergamenthandschriften vorgelegt worden. Nichtsdestoweniger blieb, soweit mein Gedächtniss reicht, der Zweifel an der Aechtheit dem britischen Rosinanten-Ritter und seinen würdigen Eselsknappen dort und hier vorbehalten. Aber was hilft dies alles? Was hilft’s auch wenn ich versichere, dass nur die Zöglinge eines Blindeninstituts die Handschrift, seien es die Leipziger oder die Petersburger Blätter, vor Augen haben können, ohne über die Fabel des Simonides herzlich aufzulachen? Narrenspiel will Raum und Zeit haben. Warum sollten denn auch die Hunde nicht mehr den Mond anbellen dürfen? Auf die Leipziger Universitätsbibliothek gehen und sich da den Staar stechen lassen, das macht gar zu schnell allem unsinnigen Phrasenschwall ein Ende, das ist nichts für den „Menschen, der – nach Hiob – ein Greuel und schnöde ist und Unrecht säuft wie Wasser.“

Und wenn ich nun, mit Uebergehung aller aus meiner „Notitia“ bei dem Fabelschmied geflossenen Missverständnisse, weiter reden wollte von den in beiden Ueberbleibseln vorhandenen 45-48,000 alten Correcturen, die ich auf wenigstens sieben verschiedene im Zeitraum eines Jahrtausend thätige Verfasser zurückgeführt, oder davon dass die griechischen Texte von den Büchern Tobit und Judith, wie sie im Anschluss an altlateinische und syrische Urkunden im Sinaiticus stehen, bis jetzt noch gar nicht vorhanden waren, oder von den wunderbarsten Erscheinungen im Neutestamentlichen Texte, die denselben vor allen vorhandenen gedruckten und ungedruckten Texten durch die ältesten Kirchenväter als einen Zeitgenossen des Eusebius († 340) beglaubigen lassen, sogar auch ausschliesslich durch ihre eigene innere Evidenz den apostolischen Urtext herstellen: würde das vermögend sein, unwissende Schwätzer, die nun einmal das Wort ergriffen, zu beschwichtigen, die in ihrer unbequemen Löwenhaut ausser sich gerathenen Gentlemen mit und ohne Paläographie, hüben und drüben, über die Simonidische Schreckenskunde zu beruhigen?

Gelingt aber trotz alledem das fast Unglaubliche, bricht in der That sogar über die armen Blinden, denen das harte Schicksal die Ehrenrettung deutscher Wissenschaft aufgebürdet, die Sonne eines heiteren Morgens an, nun so bleiben wir noch immer und um so mehr der östlichen, der Tatarenbotschaft von der Erzkezerei des Codex Sinaiticus preisgegeben.

Die Thatsache ist in Kürze folgende. Ein russischer Archimandrit, Namens Pyophryrius Uspenski, der, wie bereits wiederholt in der Gesichte der Handschrift von mir vermeldet worden, kurz nach meiner Entdeckung vom Jahre 1844, nämlich 1845 und 1850, auf dem Sinai war, dabei die Handschrift gesehen und 1856 in einem russischen Reisewerk mit grösster Unwissenheit beschrieben hat, wesshalb er sogar einen Antheil an der Entdeckung zu haben vermeint (Die wiederholten naiven Versuche, dem deutschen Gelehrten die Ehre der Entdeckung zu schmälern, lassen sich vollkommen durch Schiller’s Worte charakterisiren: Wer sich der Pflicht des Dankes will entschlagen, Dem fehlt des Lügners freche Stirne nicht.), liess Anfang Januar eine russische Broschüre erscheinen, worin er nach einem höchst possirlichen Versuche, das Alter der Handschrift aufs Jahr 462 zurückzuführen (Ganz abgesehen von dem russischen Archimandriten und seiner seltsamen obgleich dem Geschmack der deutschen Petersburger Zeitung entsprechenden Art, das Alter einer Handschrift zu bestimmen, mach’ ich bei dieser Gelegenheit darauf aufmerksam, wie wenig eine allgemeine Beschäftigung mit griechischen Handschriften zu einer Beurtheilung, einer Feststellung des Alters unserer ältesten (biblischen) Unzialhandschriften befähigt. So hält z.B. Ed. von Muralt, dessen allerdings unglaubliche gänzliche Unfähigkeit in textkritischen Arbeiten, zur Abwehr neuer Verwirrungen, die Prolegomena des Novum Testamentum Sinaiticum mit Beispielen belegen, die Vatikanische Handschrift blos deshalb für älter als die Sinaitische, weil die Buchstaben der erstern ein wenig kleiner sind, trotzdem dass Herkulanische Unzialpapyrus aus einem und demselben 4. Jahrh. bald grössere bald kleinere Schrift aufweisen, wie beigegebene Facsimiles auch dem Unkundigen vor Augen stellen. Zur Entscheidung einer solchen Frage gehört vor allem die vollste Vertrautheit mit den vorhandenen vergleichbaren Handschriften und das ernsteste Studium der Sache selber. Dazu muss diejenige Geistesklarheit treten, die überhaupt zum Bewusstsein wissenschaftlicher Evidenz nöthig ist. Was die Sinai-Handschrift anlangt, so gibt es meines Wissens keine einzige ähnliche, deren höchstes Alter durch so zwingende Beweisgründe gestützt wäre. Wer dieser Behauptung mit Recht widersprechen will, der muss die vorgebrachten Beweise durch klare und bestimmte Gegenbeweise zu entkräften wissen.), über ihren Text den Aufschluss gibt, dass nach demselben „Christus weder der Sohn der Jungfrau Maria, noch der Sohn Gottes sei, auch nicht habe was der Vater hat, dass er nicht der Sünderin verziehen habe und nicht gen Himmel gefahren sei.“

Woher hat Pyophyrius diese Summe entsetzlicher Aufschlüsse? Nicht etwa aus meiner Ausgabe des Codex selbst; denn am 24. Jan. schrieb er an mich (tanquam re bene gesta) „à Son Eminence“: „Mon cher ami“ – „De gràce dites-moi quand sera publié Votre édition du codes Sinaitique en miniature? Avec impatience je désire l’acheter, parce que je n’espère point procurer isi ni même voir l’edition brillante que Vous avez dedié(e) à notre Auguste Empereur“. Also ohne nur eine Einsicht in den schon publicirten oder doch auf dem Petersburger Unterrichtsministerium in zweihundert Exemplaren vorliegenden Text abzuwarten, ein Vernichtsurtheil über denselben? Nun hat er wenigstens aus meiner oft genannten „Notitia“ vom Jahre 1860 geschöpft, wo alle von ihm in Betracht gezogenen Stellen mit Ausnahme eines übersprungenen Verses verzeichnet stehen. Eben diese „Notitia“ haben nicht nur die orthodoxen Engländer ohne jegliche Ahnung der aufgefundenen Schrecknisse gebraucht und besprochen, selbst Pius IX. hat die Uebersendung derselben mit einem warmen Dank- und Gratulations-Handschreiben an mich beantwortet; ja selbst gelehrte Pariser Jesuiten, die sich in ihren Etudes de théologie et d’histoire ganz ausführlich über das évenément scientifique d’une si haute gravité verbreitet, haben nichts gewittert, nichts gesehen. Wie kam nun der scharfsichtige Russe in seiner einsamen Zelle im Newski-Kloster zu seiner schlimmen Entdeckung?

Wollte es jemand kurzweg als bigotten Unverstand auffassen, so würde er sich dem Verdachte aussetzen, er sympathisire selber mit dem uralten Kezer. Haben doch gewisse Leute schon längst gemeint, die ganze kritische Wissenschaft sei nichts als eine Kezerei; aus den alten vergilbten Pergamenten könne nichts Gutes kommen; denn bringen sie was wir schon haben, wozu brauchen wir sie? Bringen sie aber etwas anderes, so sind sie nach Omars Grundsätzen am besten im Feuer aufgehoben. Ist’s doch in der That auch viel bequemer, sich eine von Jahrhundert zu Jahrhundert fortgeschleppte Krankheit gefallen zu lassen, als im Staube der Bibliotheken von Ost und West, von Nord und Süd so bedenkliche Heilkräfte aufzuspüren.

Fassen wir aber die Lästerungen des Codex schärfer und ganz unparteiisch ins Auge, so ergibt sich, was der gelehrten Petersburger Zeitung, die am 11/23. Januar zum glücklichen Herold der Kezerei geworden, ganz unglaublich erscheinen wird, das Resultat, dass die Sinaitische Handschrift nicht nur mit frommen ehrlichen Leuten von heute und gestern, sondern mit den gefeiertsten Heiligen der griechischen und der römischen Kirche auf völlig gleicher Stufe der Rechtgläubigkeit steht. Nr. 1 nämlich vom „Sohn der Jungfrau Maria“ bezieht sich auf Matth. 1,25., an welcher Stelle nach der Sinaitischen Urkunde in der That eine Differenz des Ausdrucks mit Luc. 2,7. vorliegt. Während es bei Lucas heisst: „und sie gebar ihren erstgebornen Sohn“, heisst es bei Matthäus: „er erkannte sie nicht bis sie einen Sohn gebar“. Wahrscheinlich wurde der Matthäustext aus Lucas vervollständigt, was bei parallelen Stellen und Ausdrücken der Evangelien schon nach dem Zeugnisse des Hieronymus unzählige Male geschehen. Mit der Sinaitischen Urkunde stimmen denn nun auch an der Matthäusstelle nicht nur die zwei nächstältesten griechischen Handschriften überein, sondern auch fünf altlateinische, der älteste syrische und die beiden koptischen Texte, ja selbst der heilige Ambrosius nebst anderen Heiligen. Wie übrigens dieser aus dem höchsten Alterthume beglaubigteste Text des Matthäus gegen den Sohn der Jungfrau Maria gedeutet werden könne, während er im Gegentheil der dogmatischen Fürsorge für die Jungfrau-Mutter verdächtigt worden, das muss der Mönch selbst ausführlicher darlegen; denn gewöhnlicher Scharfsinn reicht schwerlich zu solchem Verständniss aus.

Was zweitens den Ausdruck „Sohn Gottes“ anlangt, so fehlt er allerdings Marc. 1,1. was zum Steine des Anstosses geworden. Aber mit dem Sinaiticus stimmen der heil. Hieronymus und Andere überein. Bei seiner Entdeckung vom Codex hat Porphyrius also zugleich entdeckt, dass diese altehrwürdigen Säulen des Glaubens nichts Geringeres als die göttliche Sohnschaft geleugnet haben. Wie in einem solchen Falle zu helfen sein sollte, das mag er selbst erwägen; für den Codex ist die Rettung leicht gefunden, den Joh. 1,18. lies’t er, wie auch manche der alten Väter: „der eingeborne Gott, der in des Vaters Schooss war.“ Einen stärkeren Ausdruck für die göttliche Sohnschaft hat weder die ganze heilige Schrift noch die ganze christliche Kirche aufzuweisen. Der gute Mönch durfte daher nur die nächste Seite der „Notitia“ ansehen, so fand er trotz seines unglücklichen Auges dieses Uebermass von Beruhigung.

Wir kommen drittens zu Joh. 16,15. wo der Ausgang zweier Verse mit drei gleichlautenden Wörtern den Ausfall des einen Verses von erster Hand veranlasst hat, was Porphyrius sogar selbst im Codex bemerkt hat; denn die „Notitia“ hat von dieser gewöhnlichsten und allen alten Handschriften eigenen Art von Fehlern keinen Gebrauch gemacht. Diese Beobachtung brachte den russischen Archimandriten auf den originellen Gedanken, dass die gottlose Handschrift dem Sohne nicht gönne was der Vater hat; glücklicher Weise macht sie aber, was der Archimandrit leider übersehen, den offenbaren Schreibfehler dadurch unschädlich, dass sie an so vielen anderen Stellen dieselbe Herrlichkeit des Sohnes ohne Beeinträchtigung ausdrückt.

Hingegen fehlt „die schöne Erzählung von der Verzeihung, die Christus der Ehebrecherin angedeihen lässt“ (Joh. 7,53-8,12), wirklich ganz und gar in der Sinaibibel. Die Sache erscheint auf den ersten Anblick um so bedenklicher, weil schon der heilige Augustin argwöhnte, die Glaubensschwächlinge möchten aus Sorgniss für die Familienkeuschheit die ganze Stelle gestrichen haben. Dass die Heiligen immer auch in der Textkritik den Nagel auf den Kopf getroffen, werden wir ihnen schwerlich nachsagen oder auch zumuthen. Und in unserem Falle entscheidet eine grossartige kirchenväterliche Majorität gegen Augustin: wir nennen nur Origenes, Chrysostomus, Basilius, Cyrill, Cyprian, Tertullian, Juvencus, welche sämmtliche ganz wider ihre Gewohnheit die Stelle nirgends gebraucht, zum Theil auch offenbar übergangen oder verworfen haben. Ausserdem stimmen mit dem Sinaiticus nicht weniger als 60 alte griechische Handschriften, darunter die ältesten alle, nebst der altlateinischen, koptischen, syrischen, armenischen, gothischen Version in mehreren alten Urkunden überein. Ueber alle diese Grössen ein summarisches Kezergericht von Seiten des russischen Mönchs eröffnen zu wollen, das überträfe alle bisherigen Thatsachen der Kirchen- und Profan-Geschichte.

Und so sind wir zum letzten Anklagepunkt gelangt, dem von der Leugnung der Himmelfahrt, basirt auf Marc. 16,9 ff. und Luc. 24,51. Die Abwesenheit der erstern Stelle, die das Aergerniss gegeben, bezeugen ausser Anderen im 4. Jahrhundert Eusebius und Hieronymus von „fast allen genauen Handschriften“, also ohne die geringste Glaubensverdächtigung, wohl aber unter Hervorhebung der Genauigkeit, der Zuverlässigkeit der Dokumente. Das ist eine wichtige Thatsache. Uebrigens schliessen sich an die hieraus so klar ersichtliche Textgewohnheit des Eusebischen Zeitalters mit dem Sinaiticus nur noch der Vaticanus nebst Handschriften der altlateinischen, armenischen, äthiopischen, arabischen Version an. Die Nichterwähnung der Himmelfahrt an der zweiten Stelle aber fällt ausser den fünf ältesten lateinischen Handschriften niemand Geringerem als dem heiligen Augustin zur Last, der bis jetzt für völlig rechtgläubig gegolten. Stände nun der glorreiche Abschied des Herrn von der Erde nicht ganz ausführlich zu Anfange der Apostelgeschichte, anderer Stellen nicht zu gedenken, so stände er wirklich nicht im Codex. Sollte aber Prophyrius dafür, dass der Codex jene Stelle der Apostelgeschichte beseitigt habe, obwohl ich sie in aller Ordnung vorfand und herausgab, den genügenden Nachweis nachzuliefern im Stande sein, so wüsste ich vor der Hand nicht wie zu helfen wäre.

Was sagt nun der geduldige Leser zu den Entdeckungen des russischen Archimandriten? Sollten sie durch die nähere Berührung ihren Nimbus oder ihre elektrische Kraft verloren haben, so darf ich zum Beleg ihrer erstaunlichen Wichtigkeit nur darauf hinweisen, dass die deutsche Petersburger Zeitung, welcher die gelehrten Akademiker von deutschem Blute sehr nahe stehen, und auch das französische Journal de St. Pétersbourg sich beeilt haben sie zur öffentlichen Kenntniss zu bringen. Sie vergassen dabei auch nicht Aeusserungen des würdigen Mannes über mich selbst zu wiederholen, denen zufolge ich z.B. die Einfalt der guten Leute, als sie bei der Ausstellung in Petersburg das vermeintliche Kleinod inbrünstig geküsst, herzlich verlacht haben soll. Auf die mir hiermit zugeschriebene Ehre, die Kezerei der Handschrift sogar vor Porphyrius entdeckt zu haben, muss ich nach Recht und Pflicht gänzlich verzichten. Diese Entdeckung des Witzes oder Aberwitzes, das Urtheil stehe beim verehrlichen Leser, muss ihm ausschliesslich und unbestritten bleiben; sie wird muthmasslich seinem Namen in der Kezergeschichte der Gegenwart einen wohlverdienten Ehrenplatz sichern. Ich weiss nicht ob gleiche Ehre auch die übrigen Petersburger Freunde der Wahrheit errungen haben mögen, deren überschwänglicher Eifer bis ins Herz des deutschen Vaterlandes gedrungen, so dass selbst ein bescheidenes sächsisches Provinzialblatt („Annaberger Tageblatt und Anzeiger“, 12. Febr.) als Correspondenz vom 28. Jan. aus Petersburg eine ausführliche Mittheilung oder lieber einen Weheruf darüber brachte, dass der für die früheren „Warnungsstimmen der deutschen Gelehrten der Petersburger Akademie“ taube Professor die vielen Tausende von Rubeln sammt dem Generalmajors-Orden, für die Bereicherung der Welt mit einem kezerischen Bibeltexte erhalten habe.

Was sagt aber ihrerseits die russische Kirche zu dem neuen Apostel, der ihr so wichtige Aufklärungen gebracht? Nicht etwa der kezerische Codex, wohl aber die Schrift des Porphyrius ist sofort unsichtbar geworden. Dies mag mit der Meldung zusammenhängen „que le vénérable Métropolitain de Moscou Philaréte s’est declae ouvertement contre Porphyrius.“ Die Ehre der russischen Kirche darf daher nicht im Geringsten nach dem Armuthszeugnisse eines von ihr selbst gemissbilligten Archimandriten beurtheilt werden. Steht mir doch auch noch ein eminentes Mitglied des heiligen Synod vor Augen, ein edler hochgebildeter mit der höchsten Beaufsichtigung der Schulen in dem unermesslichen Reiche betrauter Fürst, der seinem Uebermasse nachsichtiger Anerkennung meiner Ausgabe der Sinaibibel mit den Worten einen Ausdruck gab: Sept voyages en Sibérie ne valent pas une ligne de votre ouvrage. Übrigens hatte der durch seine seltene Gelehrsamkeit berühmt gewordene frühere Unterrichtsminister Abrah. von Noroff, einer der treuesten Söhne seiner Kirche, schon unterm 6/18. Januar, und zwar ganz von seinem Standpunkt aus, eine russische Schrift zur Rettung der Wahrheit unter dem Titel verfasst: „Vertheidigung der Sinaitischen Bibelhandschrift gegen die Angriffe des Archimandriten Prophyrius Uspenski, und diese mit edlem Freimuthe und voll des Dankes gegen den kaiserlichen Beschützer meiner Forschungen geschriebene Schrift ist nicht verboten worden. Diesen hier erwähnten Dank theil’ auch ich vollkommen; doch kenn’ und fühl’ ich noch einen anderen grösseren, den Dank gegen Denjenigen, dess wunderbarer Fügung das Geschenkt der Sinai-Handschrift völlig angehört, als einer Leuchte der Wahrheit, die, siegreich über jegliche Waffen der Finsterniss, leuchten wird so lange die Wahrheit, so lange die Kirche auf Erden dauert.

Doch wir werden noch einen Rückblick auf die dargebotenen Enthüllungen. Vergleichen wir jenes London-Leipziger Ritterthum, das sich „dem tollen Ross des Afterwitzes an den Schweif gebunden“, mit dem Aufschrei frömmelnden Unverstandes, der ein Echo in weiten Kreisen wachzurufen gewusst: Wem mag der Vorrang gebühren? Welche der Jammergestalten, die gegen das ehrwürdige alte Pergament geharnischt zur Fehde ausgezogen, mag dieses herrliche Zeitalter der Cultur und Aufklärung am würdigsten vertreten?

Leipzig den 16. Febr. 1863.

Druck von Breitkopf und Härtel in Leipzig.

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