Thomasius, Gottfried - Der Gedanke des Todes, der rechte Lehrer fürs Leben

Thomasius, Gottfried - Der Gedanke des Todes, der rechte Lehrer fürs Leben

Es segne uns Gott unser Gott und alle Welt fürchte ihn; er lasse sein Angesicht über uns leuchten in Frieden, daß wir auf Erden erkennen seine Wege, er behüte unsern Ausgang und Eingang von nun an bis in Ewigkeit. Amen.

Wir stehen abermals am Schlusse eines Jahres. Was die tägliche Abendandacht in jedem christlichen Hause ist, das soll der Gottesdienst am Jahresabend für die ganze Gemeinde sein: er soll ein Abendsegen sein. Beim Abendsegen blickt man noch einmal auf den vergangenen Tag zurück, danket Gott für alle Treue und Barmherzigkeit, die man im Laufe desselben erfahren hat, und betet ein Vater Unser über die Sünden, die man begangen hat; dann sieht man hinaus in die Nacht und befiehlt sich mit Leib und Seele dem Hüter Israels an; man denkt an die lange Todesnacht, die auf das irdische Leben folgt und an die ewige Ruhe nach dem mühsamen Tagewerk. So haben es wenigstens unsere Väter gehalten. Wenn der Abend kam und die Betglocke läutete, legten sie ihre Hände zusammen und sprachen mit den Ihrigen:

Der Tag ist nun vergangen. Die goldnen Sternlein prangen
Am blauen Himmelssaal:
Also werd' ich auch stehen,
Wann mich wird heißen gehen
Mein Gott aus diesem Jammerthal.

Da war denn jeder Abend eine Vorbereitung auf den letzten irdischen Abend, und weil ihnen so der Gedanke an den Tod stets zur Seite stand, fehlte auch ihrem Leben die rechte Weisheit nicht. Was meinet Ihr, Andächtige, wenn wir denselben Gedanken, den Gedanken des Todes, unseren Prediger sein ließen in dieser Abendstunde? Ich denke, er könnte uns eine fruchtbare und erweckliche Predigt halten. Aber Ihr sagt vielleicht: nein; du Bote Gottes, hast du doch so viel liebliche, tröstliche Sprüche in deiner Bibel, warum wollen wir uns denn mit diesem traurigen Gedanken den Jahresschluß trüben, warum nicht lieber fröhlich hinübergehen in das neue? O meine Lieben, wem unter Euch der Gedanke an den Tod etwas Störendes hatte, wer sich ihn vielleicht mit Fleiß das ganze Jahr hindurch ferne gehalten hat, für den ist es um so nothwendiger, daß er wenigstens am Ende eines Jahres vor ihn hinträte, - wer aber mit ihm schon vertraut ist, der heißt ihn sicherlich auch heute willkommen. Darum legen wir unserer Abendandacht folgende Schriftstelle zu Grunde:

Psalm 39, 5-8.
5, Aber, Herr, lehre doch mich, daß es ein Ende mit mir haben muß, und mein Leben ein Ziel hat, und ich davon muß.
6. Siehe, meine Tage sind einer Hand breit bei dir, und mein Leben ist wie nichts vor dir. Wie gar nichts sind alle Menschen, die doch so sicher leben!
7. Sie gehen daher wie ein Schemen, und machen ihnen viel vergebliche Unruhe; sie sammeln, und wissen nicht, wer es kriegen wird.
8. Nun, Herr, weß soll ich mich trösten? Ich hoffe auf dich.

Es ist nicht meine Absicht, die vorgelesene Psalmstelle Euch im Einzelnen auszulegen, sie soll nur der Leitstern zu unserer Abendandacht sein, sie soll uns den Gedanken des Todes recht lehrreich und heilsam für's Leben machen, und wolle uns Gott auch zu dieser Betrachtung die Gnade seines Heiligen Geistes verleihen. Ich sage:

Der Gedanke des Todes, der rechte Lehrer für's Leben.

I.

Denn er erinnert uns an den schuldigen Dank für die Erhaltung des Lebens.

„Ach Herr, lehre mich doch, daß es ein Ende mit mir haben muß, daß mein Leben ein Ziel hat, und ich davon muß,“ betet der Psalmist, und ich tonnte heute gewiß nichts überflüssigeres thun, als wenn ich Euch diese seine Worte erst erklären oder beweisen wollte. Denn ein vergangenes Jahr ist ja ohnehin die lauteste, thatsächliche Predigt von der unaufhaltsamen Eile, mit der das menschliche Leben seinem Ziele zueilt, und diese Predigt ist für Manche unter uns eine Ursache bitterer Thränen und Schmerzen gewesen. Denn wie ein gewappneter Mann schreitet der Tod durch die Welt, fragt nicht nach Jugend oder Alter, auch nicht nach den Wünschen und Klagen der Menschen, sondern reißt auseinander, was für einander da ist und mit und in einander lebt: Leib und Seele, Eltern und Kinder, Freunde und Hausgenossen, und nimmt immer auch von den Zurückbleibenden ein Stück des eigenen Lebens mit hinweg. - Aber er kommt nicht bloß von außen heran an den Menschen, wie der Schnitter mit der Sichel, er sitzt uns Allen bereits im innersten Herzen, wir tragen ihn schon bei lebendigem Leibe in uns; um der Sünde willen ist er in unsere Natur eingesenkt, und arbeitet darin wie ein zerstörender Wurm, auch wenn wir ihn noch nicht spüren. Sobald Gott der Herr seine Hand zurückzieht, bricht er hervor und der Mensch wird Staub und Asche.

Ueber uns aber hat Gott bisher seine schützende Hand gehalten, uns hat er bis auf diesen Tag das Leben gestiftet und durch sein Aufsehen unsern Odem bewahrt. Es ist das eine sonderliche Beweisung seiner Gnade an uns, die um so mehr zum Danke auffordert, als an die Erhaltung des Lebens so große und in die Ewigkeit hineinreichende Güter geknüpft sind. Wer weiß, wie oft wir dieses schuldigen Dankes im Laufe des vergangenen Jahres vergessen haben, wie oft wir uns am Abend niedergelegt und am Morgen wieder gesund aufgestanden sind, ohne dem treuen Hüter der Menschen, der über uns und unser Haus gewacht hat, dafür Lob und Preis zu sagen, nicht bloß mit dem leeren, gedankenlosen Wort des Mundes, sondern von Grund des Herzens? Solches Vergessen des schuldigen Dankes ist sündlich. So lasset uns wenigstens heute den Gedanken des Todes einen Prediger des Dantes sein. Danke dem Herrn, wer an diesem Abend im Gotteshause erscheinen konnte - es fehlen Manche, die noch vor einem Jahre hier mit uns standen; danke dem Herrn, wenn er Weib und Kind und Freunde in Gnaden erhalten hat - es thut Manchem das Herz von großem Schmerze weh, wenn er auf die Lücken sieht, die der Tod in seinen Kreis gerissen hat. Und was sind wir. Andächtige, und womit haben wir's vor Andern verdient, daß Er so an uns und an unserm Haus gethan? Es ist eitel freie Gnade, es ist seine tragende, verschonende Geduld mit dem unfruchtbaren Baum, es ist Erhörung der Fürbitte: „Laß ihn noch dieses Jahr, bis ich um ihn grabe und bedünge, ob er vielleicht Früchte bringe.“ Kennt Ihr den Fürsprecher, der so für Euch gebetet und den Vater, der solches Gebet erhöret hat - nun so danket ihm von Grund des Herzens für jeden Tag, ja für jede Stunde, die er Euch schenkte, und mit den Tagen und Stunden für alle die Wohlthaten und Gaben, die er an sie geknüpft hat, für alle die Segnungen, die er im Leiblichen und Geistlichen über Euch ausgeschüttet hat: zahllos, über Bitten und Verstehen, ohne all unser Verdienst und Würdigkeit, aus lauter väterlicher göttlicher Güte und Barmherzigkeit. Zählet auch die Leiden, die er Euch sandte, hinzu, denn auch sie gehören zu den guten Gaben, zu den gnadenreichen Heimsuchungen seiner Hand, für die wir ihm vielleicht einst in der Ewigkeit am meisten danken werden - und sprecht über das Alles mit dem Psalmisten: „Lobe den Herrn, meine Seele, und was in mir ist, seinen heiligen Namen. Lobe den Herrn, meine Seele, und vergiß nicht, was er dir Gutes gethan hat, der dir alle deine Sünde vergibt und heilet alle deine Gebrechen, der dein Leben vom Verderben erlöset, der dich krönet mit Gnade und Barmherzigkeit, der deinen Mund fröhlich macht, und du wieder jung wirst wie ein Adler“ (Ps. 103). Ja der Gedanke an den Tod mahnt uns an den Dank für die Erhaltung unseres Lebens; er predigt uns aber auch

II.

Den Ernst des Lebens.

Freilich Allen nicht. Denn was der Psalmist weiter sagt: „Siehe, meine Tage sind einer Hand breit bei Dir, und mein Leben ist wie nichts vor Dir“ - das ist eine Erkenntniß, welche nicht bloß die Weisen, sondern auch die Thoren von je besessen haben, und man sieht nicht, daß sie das Menschenleben ernster oder weiser oder besser gemacht hätte; vielmehr ist es gerade der Gedanke des Todes, der den Einen ein Antrieb wird, die Lust des vergänglichen Lebens nur um so gieriger und durstiger zu genießen, während er Andern allen Muth und alle Freudigkeit an der Arbeit des Lebens raubt. Denn da sprechen die Einen: „Unsere Zeit ist wie ein Schatten, und wenn wir weg sind, ist kein Wiederkehren; wohlher nun, so lasset uns Wohlleben, weil es da ist und unseres Leibes brauchen, weil er jung ist; lasset uns essen und trinken, wir sterben doch morgen“ - und so treibt sie der Gedanke an den leiblichen Tod auf den Weg des geistlichen Todes, da die unsterbliche Seele in der kurzen Lust des Lebens erstirbt, und mit Schmach und Sünde beladen für ihre ewige Bestimmung verloren geht. Die Andern aber, vielleicht dieselben, die zuvor den Taumelkelch der Lüste bis auf die Hefe geleert und nun schaal oder leer oder arm geworden sind, halten sich an die Klage des Predigers: „Es ist Alles eitel. Alles ganz eitel unter der Sonne,“ und stumpfen sich mit diesem Gedanken ab gegen die Zucht und Mahnung göttlicher Gerichte und gegen alle Anforderungen ihres himmlischen Berufs: Was hilft es, die Kräfte regen und die müden Hände stärken, es ist doch alle Mühe und Arbeit umsonst; und so wird ihnen das Leben zu einer leeren, ohnmächtigen Klage, und der Gedanke an den Tod zu einem Schlaftrunk, der sie in ein mattherziges Siechthum einschläfert. Den Blick auf den Boden gerichtet, die Hände lässig heruntergesunken, in die Nichtigkeit des alltäglichen Daseins verloren gehen sie dahin, ohne um Seele und Seligkeit sich zu kümmern. Das ist der Weg, über den der Psalmist mit Betrübniß ausruft: „Wie gar nichts sind alle Menschen, die doch so sicher leben!“ Wie Viele von uns, jung und alt, gehen auf diesem Todeswege dahin! - Aber, Freunde, ist es denn nicht eine wahre Schande für den Christen, wenn er sich den Gedanken an den Tod nichts anders predigen läßt, als eben nur wieder den Tod? Wissen wir denn nicht als Christen, daß der Mensch, weil er göttlichen Geschlechtes ist, zur Ewigkeit berufen ist, und daß der zeitliche Tod nur der Uebergang zu dem Leben der Ewigkeit ist? Wissen wir nicht ferner, daß dieses ewige Leben mit dem zeitlichen zusammen Ein unzertrennliches Ganze bildet, und daß sich beide zu einander verhalten nicht nur wie Anfang und Fortgang, sondern wie Aussaat und Ernte? Und wir wissen noch mehr: Es trägt die Ewigkeit eine doppelte Gestalt in ihrem dunkeln Schooß, ein Leben des Lebens und ein Leben des Todes; ein seliges Leben in der Gemeinschaft mit Gott, im Licht und Frieden Gottes und ein unseliges Leben in der Nacht und Qual des Todes-beide ewig und unendlich, beide durch eine unausfüllbare Kluft von einander geschieden. Eines oder das andere wird jedem Menschen nach dem Tode unfehlbar zu Theil; ein mittleres zwischen beiden gibt es nicht. Die Entscheidung aber - das bitte ich Euch wohl zu bedenken - die Entscheidung fällt in das Diesseits, in das zeitliche Leben; denn hier ist die Stätte, in welche die Gnadenzüge und Gnadenmittel Gottes hereingreifen, hier die Statte, da uns die große, entscheidende Wahl gestellt wird. In der Predigt des Evangeliums, in den Mahnungen unseres Gewissens, in den Führungen unseres Lebens tritt sie an uns hin: „Siehe, ich habe euch vorgelegt das Leben oder den Tod, den Segen und den Fluch“, und der Tod selbst ist nur die letzte dieser Mahnungen, der große Moment, in dem die Entscheidung für immer sich abschließt und über welchen hinaus es keine Geschichte zwischen Gott und den Menschen, keine Bekehrung zu Gott und auch keinen Abfall von Gott mehr gibt. So ist es nach der Schrift - und von diesem Gedanken aus wird das Leben ernst; denn da zeigt sich's, daß diese kurze Spanne Zeit, von der unser Psalm spricht: „Siehe, meine Tage sind einer Hand breit vor Dir, und mein Leben ist wie nichts vor Dir,“ daß diese Spanne Zeit der innern Bedeutung nach die ganze Ewigkeit aufwiegt, daß dieses irdische Dasein mit seinen dreißig, sechzig, siebenzig Jahren das ewige Leben und den ewigen Tod in seinem Schooße trägt, daß es die Schule ist, in der der Mensch für die Ewigkeit sich vorbereiten, üben, reifen soll: das Saatfeld für die Ernte. Und was Du da säest, das wirst Du ernten: „Wer auf das Fleisch säet, wird vom Fleische das Verderben ernten; wer aber auf den Geist säet, wird vom Geiste das ewige Leben ernten.“ Da wird also das Leben ernst, sehr ernst, meine Brüder; und diesen Ernst laßt Euch heute von dem Gedanken des Todes gepredigt sein. Es liegt eine unendlich heilsame Macht darin. Denn wo man diesen Ernst zu Herzen nimmt, da wacht man alsbald aus jenem tödtlichen Schlummer auf, von dem unser Psalm sagt: „Wie gar nichts sind alle Menschen, die doch so sicher leben“, da bricht man in die Frage aus: „Was muß ich thun, daß ich selig werde?“ und hat keine Rast und keine Ruhe mehr, bis man die rechte, die sichere Antwort darauf gefunden hat. Ihr wisset, wie sie lautet. Wo man diesen Ernst zu Herzen nimmt, da sieht man Zeit und Leben mit ganz andern Augen an, und beginnt das Leben auszukaufen, als die theuere, unwiederbringliche Gnadenzeit, nicht bloß im großen Ganzen, sondern jeden einzelnen Tag, jede einzelne Stunde; man weiß ja nicht, wie bald die Nacht hereinbricht, da Niemand wirken kann; es kann der Tod zu bald, zu eilend kommen, und er ist schon zu Vielen gekommen, bevor sie ihren Schuldstand vor Gott in's Reine gebracht, bevor sie das Eine, was Noth thut, ergriffen hatten,- Und hat man's ergriffen, dann nimmt das ganze weitere Leben des Menschen seine Richtung nach Oben, es wird zum Gang des Fremdlings, der nach der Heimath zieht. Da weiß man, was man soll und will: „Trachtet nach dem, was droben ist, und nicht nach dem, was auf Erden ist; schaffet Eure Seligkeit mit Furcht und Zittern, richtet auf die lässigen Hände und die müden Kniee und thut gewisse Tritte mit euren Füßen, daß nicht jemand strauchle wie ein Lahmer, sondern jaget nach dem Frieden gegen Jedermann und der Heiligung, ohne welche Niemand den Herrn sehen wird.“

Liebe Freunde! Habt Ihr in diesem Sinne die Bedeutung des irdischen Lebens aufgefaßt, ist dieses Ziel im vorigen Jahre der Gegenstand Eurer Sehnsucht, Eurer Liebe, Eures Gebetes gewesen, oder gilt Euch die Klage des Psalmisten gar nichts: „Wie gar nichts sind alle Menschen, die doch so sicher leben“: so lasset uns wenigstens heute unsere Hände aufheben und beten: „Ach Herr, lehre mich doch, daß es ein Ende mit mir haben muß, und mein Leben ein Ziel hat, und ich davon muß.“ Der Gedanke des Todes lehrt uns den Ernst des Lebens und gibt uns

III.

Den rechten Maßstab zur Beurtheilung unseres Lebens.

Es ist auch im vergangenen Jahre uns Allen Mühe und Arbeit gewesen: kein Tag ohne eine Plage, keine Woche ohne saueren Schweiß. Und so ist's auch recht und wohlgethan, „denn wenn es köstlich gewesen ist, so ist es Mühe und Arbeit gewesen.“ Was hat sie uns nun ausgetragen, diese lange, sauere, mühevolle Arbeit, welchen Gewinn an wahren und bleibenden Gütern hat sie uns gebracht? Das ist die Frage, die sich am Schluß dieses Jahres von selbst an jeden von uns richtet; ihre Beantwortung der Hauptzweck unserer heutigen Abendandacht. Der Gedanke des Todes aber gibt Dir dazu einen sichern Maßstab. Er sagt Dir: Mensch, was Du dahinten lassen mußt in der Stunde des Todes, das kann das wahre, das bleibende Gut nicht sein, - und unser Psalm setzt hinzu: „Sie gehen dahin wie ein Schemen und machen ihnen viele vergebliche Unruhe; sie sammeln und wissen nicht, wer's kriegen wird.“

Was hast Du also gesammelt und erworben mit der ganzen Lebensarbeit des vorigen Jahres? Irdischen Reichthum, Geld und Gut? Armer Mann, wenn Du sonst nichts weiter gesucht und gewonnen hast! Laß heute den Tod an Deine Thüre anklopfen, so nimmt er Dir diesen ganzen Schatz bis auf den letzten Heller ab. Du hast das vorige Jahr verloren; es wird ausgestrichen aus dem Buche des Lebens - und nicht nur verloren hast Du es, sondern Deiner Seele bittern Schaden gethan. Denn dieses rastlose und ausschließliche Sammeln irdischer Güter geht nicht ohne schwere Verwundung des Gewissens, nicht ohne mannigfache Sünden, Ungerechtigkeit und Lieblosigkeit vor sich. „Die da reich werden wollen, fallen M Versuchung und Stricke und viele thörichte schädliche Lüste, die da versenken die Menschen in's Verderben und Verdammniß, denn der Geiz ist eine Wurzel alles Nebels“, schreibt der Apostel; und abermals: „Siehe, der Arbeiter Lohn, die euer Land eingeerntet haben und von euch abgebrochen ist, das schreiet, und das Rufen der Ernter ist kommen vor die Ohren des Herrn Zebaoth“ (Jac. 5, 4). Ich weiß es nicht, aber Euer eigen Gewissen wird's Euch sagen, ob solches Geschrei im vorigen Jahr auch aus euern Häusern oder Feldern zum Himmel aufgestiegen ist.

Was hast Du also gesammelt und gewonnen? Gute Tage in behaglicher Ruhe, Lust der Welt und des Fleisches oder Ehre vor den Leuten? „Siehe, die Welt vergehet mit ihrer Lust; und nur wer den Willen Gottes thut, bleibet in Ewigkeit.“ Du hast das vergangene Jahr verloren, es wird ausgestrichen aus dem Buche des Lebens, und nicht nur verloren hast Du es, sondern Deiner Seele bittern Schaden gethan, denn Augenlust, Fleischeslust und Hoffart fressen sich als unaustilgbare Male ein in den unsterblichen Geist, und von den Sünden der Unkeuschheit stehet geschrieben: „Wer den Tempel Gottes verdirbt, den wird Gott verderben; Hurer und Ehebrecher werden das Reich Gottes nicht ererben.“ Laßt Euch's Euer Gewissen sagen, ob solche Sünden im vorigen Jahr unter Euch im Schwange gegangen sind.

Was habt ihr also gesucht und gewonnen? Ihr antwortet: Edlere Dinge, bessere Güter. Wir haben nach Erweiterung unserer Kenntnisse, wir haben nach Wissenschaft und Bildung gerungen; wir haben gesäet und gearbeitet auf dem Felde des Lehrens und Lernens, wir haben der Bereicherung unseres Geistes, dem Umgang mit gebildeten Menschen, der Freundschaft mit Andern gelebt. Wohl, meine Brüder. Aber wisset Ihr auch, wie viel ihr selbst von diesen Dingen dahinten lassen müßt in der letzten Stunde? Hört den Apostel: „Alles Fleisch ist wie Gras und alle Herrlichkeit des Fleisches wie des Grases Blume; das Gras ist verdorret und die Blume ist abgefallen, aber das Wort Gottes bleibet in Ewigkeit“, -und weil dies das Einzige ist, was da bleibt, so hat auch alles Andere nur in so weit wahren Werth, als es von diesem Worte durchdrungen ist. Das meine ich freilich nicht so, als ob nur das Wort, wie es in die Schrift gefaßt ist, bleibe, oder als ob ein Christ nicht noch auch Andres zu thun hätte, als in ihr zu forschen. Ich weiß sehr wohl, daß die Geistesarbeit auf allen, auch auf den weitesten Gebieten des menschlichen Wissens, und die Lebensarbeit in allen gottgeordneten Verhältnissen des Daseins ihr gutes Recht und auch ihre Verheißung für die Zukunft hat. Es soll von Allem, was in Wahrheit und Liebe auf Erden gesäet wird, nichts verloren gehen; es soll vielmehr auf den Feldern der Ewigkeit zur vollen, reichen Ernte gedeihen, grünen und blühen zum Schmuck und zur Zierde für die Herrlichkeit der neuen Welt. Aber Wahrheit und Liebe und Leben, ich meine die Gedanken der ewigen Wahrheit und den Geist der Liebe und die Kräfte des Lebens, die quellen in dem Wort des Henn und wollen von ihm aus unser menschliches Denken und Thun durchleuchten, und wollen es weihen, heiligen, gotteswürdig, unsterblich machen. Denn das Wort ist die Wahrheit und das Leben aller Dinge, wie ja alle Dinge durch's Wort geworden sind. In dem Worte senkt sich die ewige Welt des Geistes in diese sichtbare, irdische Welt herein, um sich aus ihr ein unvergängliches, ewiges Haus zu erbauen. Darum, lieben Freunde, hat all unsere menschliche Erkenntniß doch nur so viel wahren Werth, als sie mit diesem Worte zusammenhängt, oder doch in ihren letzten Gründen von ihm getragen wird, darum hat unsere ganze Lebensarbeit nur so viel wirtlichen Gehalt, als sie aus diesem Wort geboren ist, darum hat unsere menschliche Liebe und Freundschaft nur soweit die Bürgschaft ewiger Dauer, als sie von den Wahrheits- und Liebesgedanken dieses Wortes durchdrungen ist, und beruht der bleibende Segen in allen Verhältnissen des Lebens darauf, daß sie auf den Grund dieses Wortes gebaut sind. Denn das Wort trägt alle Dinge und hält alle Dinge und heiligt alle Dinge; es ist das einzige, was nicht vergeht, während alles Fleisch wie des Grases Blume verwelket. Darnach kann nun ein Jeder von uns sein Lebenswerk im vorigen Jahr bemessen: was man dir abnimmt in der Stunde des Todes, hat keinen bleibenden Werth; was auf das Wort gegründet, was auf den Geist gesäet ist, ist Aussaat für die Ewigkeit.

Ich überlasse die Prüfung darnach Euerm eignen Gewissen; aber Eines will ich, bevor ich zum Schlüsse eile, doch nicht verschweigen: ich meine den Schmerz, der mich so oft erfaßt, wenn ich mit der Predigt des Wortes unter Euch trete und das Ackerfeld betrachte, auf den ich den Samen für die Ewigkeit ausstreuen soll und sehe die traurige Leere unseres Gotteshauses. Das sage ich Euch, die Ihr etwa alle Jahre ein paar Mal und insonderheit am Schluß des Jahres hereinzukommen pflegt, gleich als könntet ihr durch diesen einmaligen Gang alle die zahlreichen Versäumnisse des ganzen Jahres und alle die nichtigen Entschuldigungen, durch die Ihr Euch habt abhalten lassen, wieder gut machen und abthun. Es gehört das zu den großen Sünden unserer Gemeinde und ist ein Hauptgrund ihres Ruins. Denn wenn es wahr ist, was ich vorhin von der Kraft des Wortes sagte, so läßt sich leicht erkennen, woher es kommt, daß es mit Euren Dingen nicht recht vorwärts gehen will, sondern das häusliche und öffentliche Elend nur immer zunimmt in unserer Gemeinde, und die Zerrüttung, das Elend und der Unfriede in vielen Familien im fortwährenden Steigen begriffen ist; es läßt sich begreifen, woher es kommt, daß so viel leere, friedenlose und gott-lose Gemüther unter uns sind: Es fehlen dem Worte Gottes die Hörer und die Leser, es fehlt das Wort Gottes in Herzen und Häusern; denn das Wort trägt alle Dinge, das Wort bringt den Segen in alle Dinge, die Wahrheit und den Frieden in die Herzen, und ist das Einzige, was da bleibet, während alles Fleisch wie Gras und alle Herrlichkeit des Fleisches wie des Grases Blume vergeht.

„Wie gar nichts sind alle Menschen, die doch so sicher leben! Sie machen ihnen viel verderbliche Unruhe, sie sammeln und wissen nicht, wer's kriegen wird!“ So weit meine Predigt vom Tod und vom Leben.

IV.

O meine Freunde! Und wenn ich nun von da aus noch einmal zurücksehe auf das vergangene Jahr, und denke an die zahllosen Wohlthaten, die uns Gott Allen an Leib und Seele erwiesen hat - und an den Undank, mit dem wir ihm vergolten haben; und denke an den Ernst des Lebens und an die Anforderungen des Wortes Gottes - und an die Sünden, die wir wider ihn begangen haben, zahllos wie der Sand am Meere, und sehe dann hinaus in die Zukunft, die so dunkel und schweigend vor mir liegt: so frage ich mit dem Psalmisten: „Nun Herr, weß soll ich mich trösten?“ So frage ich in meinem und in euerem Namen. Denn daß wir Trost bedürfen, daß wir ohne Trost, mit der alten Last beladen, nicht fröhlich in das neue hinübergehen, nicht getrost der Zukunft entgegenschreiten können, das fühlen wir Alle. Weß soll ich mich also trösten? Die Antwort lautet: Ich hoffe auf Dich. „Auf Dich“: wen meint der Psalmist, wie heißt der Name, in dem der Trost und die Hoffnung liegt? Ich habe ihn bisher in meiner Predigt mit Absicht verschwiegen, wie ein stilles seliges Geheimniß habe ich ihn aufbewahrt bis an's Ende, jetzt am Schluß der Abendandacht, am Schluß des Jahres geht er uns auf wie der helle Morgenstern, ja wie die lichte Sonne über der Nacht der Zukunft - beuget Eure Kniee: Er heißt Jesus Christ. In diesem Namen liegt der Trost, den wir brauchen, der Eine Trost für alle die manchfaltigen Anliegen und Sorgen, die wir auf dem Herzen haben, denn der Name bedeutet: Mittler, Tröster, Erlöser, Immanuel, das ist: Gott mit uns.

Aus diesem Namen ist uns Alles zugeflossen, was wir an guten Gaben für Leib und Seele durch Gottes milde Güte im vorigen Jahr empfangen haben: in diesen Namen, in Deinen Namen Herr Jesu, legen wir unsern Dank gegen den Vater hinein. Du hast uns gespeist mit leiblichem und geistlichem Brod, hast unserem Vaterland den Frieden erhalten, unsere Gemeinde vor schweren Heimsuchungen bewahrt, zu unserer Arbeit Dein Gedeihen, in unsere Häuser Deinen Segen gegeben. Gebet erhört, in Kreuz und Leiden durchgeholfen, erhört und errettet über Bitten und Verstehen: Herr Gott Dich loben wir, Herr Gott wir danken Dir. Nimm unser armes Lob in Jesu Namen an; in Deinen Namen, Mittler und Versöhner, legen wir's hinein, so wird es ein Opfer, das Deinem Vater wohlgefällt.

Aber Deine Güte, o Gott, ist eine Mahnung an unsere Sünden, damit wir im vorigen Jahr wider Dich gesündigt haben, wir, unsere Väter und Kinder, eine Erinnerung an die gehäufte Schuld, die auf uns liegt. Weß sollen wir uns trösten? Wir hoffen auf Dich, Herr Jesu, wir legen sie in Deinen Namen hinein; Du hast ja unsere Schuld am Kreuz getragen, o Lamm Gottes, und hast uns durch Deinen Tod mit Gott versöhnt: so laß Dein Blut bei Gott für uns reden, vertritt uns mit Deiner Fürsprache bei Deinem Vater und bei unserm Vater! Um Deines Sohnes willen bitten wir Dich, decke all unsere Schuld und Übertretung zu, sprich Deine gnädige Vergebung aus über Alles, womit wir Dich betrübt und beleidigt haben, laß Alles begraben sein in den Tod Deines lieben Sohnes, und schaffe selbst durch Deinen Geist das Amen dazu in unsern Herzen - so können wir getröstet und erleichtert heraus aus dem Alten in das Neue treten.

In dem neuen Jahre aber schenke uns neuen Glauben an das alte Wort, neuen Ernst zu dem alten Gebet, neue Treue, neue Liebe, neuen Fleiß in guten Werken: in Jesu Namen bitten wir Dich.

In diesem Namen befehlen wir Dir unsere Armen und Kranken, unsere leidtragenden Brüder und Schwestern an, die Waisen, die keinen Vater, die Wittwen, die keinen Tröster, die Verlassenen, die keinen Helfer haben; Du hast sie geschlagen, heile sie wieder; Du hast ihnen das Kreuz aufgelegt, hilf es ihnen auch tragen; Du hast gesagt: Ich will Euch nicht verlassen noch versäumen. Du hast verheißen: Ob auch Berge weichen und Hügel hinfallen, meine Gnade soll doch nicht von Dir weichen und der Bund meines Friedens soll nicht hinfallen - in Jesu Namen sind alle Deine Verheißungen Ja und Amen: thue an uns um Seinetwillen nach Deinem Wort.

Wir haben viele Bekümmernisse, viele Bitten auf unseren Herzen: um unsere Kirche, daß Du sie bei der reinen Lehre des Evangeliums und bei dem rechten Brauch der heiligen Sakramente erhaltest, daß Du ihr treue Diener erweckest, das Wort mit freudigem Aufthun ihres Mundes zu reden und viele Seelen für's ewige Leben zu gewinnen, um unser Vaterland, daß Du Deine Hand darüber haltest; um unsern König, daß Du ihn und sein königliches Haus mit Wohlfahrt erfreuest; um unsere Gemeinde, daß Du sie bauest, um unsere Häuser, daß Du in ihnen wohnest, um unsere Ehen, daß Du sie heiligest, um unsere Kinder, daß Du sie zu Deinen Kindern machest: in Jesu Namen erhöre uns. Siehe wir warten auf Dein Heil.

Unser Leben eilt, unsere Zeit vergeht; wie Manche von uns werden, wenn Deine Gemeinde dieses Jahr beschließt, bereits in ihren Gräbern ruhen; Du aber Herr Jesu bist der Ueberwinder des Todes und der Fürst des Lebens: so lehre uns denn täglich unser Ende bedenken, und schenke uns, wenn es kommt, einen friedsamen und seligen Heimgang in Deiner Gnade.

Bleibe bei uns, es will Abend werden und der Tag hat sich geneiget; behüte uns vor allem Uebel, behüte unsere Seele, behüte unsern Ausgang und Eingang von nun an bis in Ewigkeit, Amen. Solches Alles zu erlangen, laßt uns beten: Vater unser u. s. w. Amen.

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