Tholuck, August - 1. Petr. 5, 6.7. "Auf Veranlassung eines beklagenswerthen Selbstmordes."

Tholuck, August - 1. Petr. 5, 6.7. "Auf Veranlassung eines beklagenswerthen Selbstmordes."

1)

Es war meine Absicht, akademische Gemeinde, am heutigen Tage euern andächtigen Blick auf den letzten Artikel unseres Glaubensbekenntnisses hinzurichten, aber das ernste, vor wenigen Tagen stattgefundene Ereigniß legt mir eine andere Pflicht auf. Einer aus eurer Mitte, Jünglinge, ist gegangen, ehe denn ihn Gott gerufen hatte; er hat der Hand Gottes hier entfliehen wollen, weil sie ihm zu schwer war und ist gegangen dahin, wo dieselbige Hand über ihm bleibt. - Das Ereigniß heißt Selbstmord, und Schauder durchrieselt unser Gebein bei dem Worte, denn es klingt aus diesem Namen das Wort Mord uns entgegen, und - wie viel auch im einzelnen Falle entschuldigen mag - das bleibt bei jedem Selbstmorde stehen: ein Mensch ist vor seinen Richter getreten, ehe denn er ihn gerufen hat. Doch ist dieser Selbstmord ein solcher, der noch andern Gefühlen als denen des Schauders Raum giebt, denn wenn Schauder die That erweckt, so erweckt hier Mitleid, ja innigstes Mitgefühl der Thäter; der, welcher gefallen ist, war ein tugendhafter Jüngling, welcher von manchem Guten unter euch mit Recht innig geliebt wurde. - Eine dreifache Klasse des Selbstmordes giebt es auf Erden, die gewiß auch im Himmel mit verschiedenem Gerichte gemessen wird; es giebt einen Selbstmord des Lasters, , einen Selbstmord des Leichtsinns, einen Selbstmord der Schwermuth. Es giebt einen Selbstmord des Lasters; da ist der Selbstmord nichts anderes als die Verzweiflung der Sünde. Von Stufe zu Stufe war der freche Sünder die furchtbare Leiter hinangeklommen und als er oben keinen Weg mehr sah, stürzte er sich herab und zerschmetterte. Sünde zeugt Sünde, Brüder! - Sünde zeugt Sünde, und auch dieser fürchterlichste Ausgang hat oftmals einen Anfang gehabt, der nicht so schrecklich däuchte! O wie mancher umfing die Sünde und buhlte mit ihr, als sie eine rosige Gestalt trug und ehe er es gemerkt hat, haben die Züge ihres Antlitzes sich verzerrt und - er hat an der Brust eines Ungeheuers gelegen! Und das Ungeheuer, mit dem er buhlte, hat ihn ergriffen und verschlungen! Der Selbstmord des Lasters weckt Schauder vor der That und Schauder vor dem Thäter. - Der Selbstmord des Leichtsinns ist der verzweiflungsvolle Abschluß eines Lebens, welches weder den Schmerz kannte noch die Trostquelle des Schmerzes und das daher hoffnungslos zusammenbrach, als sich zum ersten Mal das Gewicht des Schmerzes in seiner ganzen Größe über dasselbe legte. Hier fühlen wir Schauder vor der That, aber Mitleid mit dem Thäter. - Der Selbstmord der Schwermut!) ist der verzweiflungsvolle Ausgang eines Lebens, welches das Gewicht des Schmerzes gefühlt hat, so lange es dauerte, und zuletzt zusammengebrochen ist unter der Last, die es meinte nicht mehr tragen zu können. Zu dem zartesten Mitgefühl kann unter Umständen der Selbstmord dieser Art uns aufrufen; steht er, wie es fast immer ist, mit großen oft tief verborgenen körperlichen Leiden in Verbindung, so wird er unfreiwillig, unfreiwillig bis zu einem Grade, wo das fürchterliche Wort Mord kaum noch seine Anwendung hat! Es sind dunkle Wege Gottes, auf denen solche Jammervolle gehen, aber die Hoffnung auf ein gnädiges Herz Gottes ist dabei nicht abgeschnitten. Der Selbstmord, welcher in unserer Mitte geschehen, gehört vielleicht dieser dritten Klasse an; der äußere Frohsinn des Unglücklichen kann noch nicht dagegen ein Zeugniß ablegen; wer wüßte nicht, daß er zuweilen beim Menschen nur das Gegengewicht bildet zu einem innern Jammer? Wie manche Frucht entzückte das Auge, an deren innerstem Kern doch ein Wurm nagte I Ein verborgner Gram, vielleicht auch über anderes Leid, vornehmlich aber ein Unmuth, nicht zu seyn, was er seyn sollte, hat an dem Leben des Jünglinges gezehrt! Was aber auch der innerste Grund der dunkeln Thal war, wir - können sie nicht richten, denn des Menschen Thun ist eine Kette und über das letzte Glied mag kein sterblicher Richter ein gerechtes Gericht richten, welcher die vorhergehenden Glieder nicht kennt. Daß der, welcher gefallen ist, gefallen ist als Uebertreter eines göttlichen Gebotes, das wissen wir, das Maaß aber seiner Schuld weiß Gott, vor dem er jetzt steht!-

Auf dem hoffnungsvollen Jüngling, den wir beklagen, hat schwer die Sorge, die Sorge nicht zu seyn, was er seyn sollte, gelastet, und weil er unter die starke Hand Gottes sich nicht gedemüthiget und seine Sorge nicht auf Gott geworfen hat, so ist sein Leben gebrochen. So lasset mich denn einige Worte an euer Herz richten, auf den Ausspruch gegründet, den wir 1 Petr. 5, 6. 7. lesen: „So demüthigt euch nun unter die gewaltige Hand Gottes, auf daß er euch erhöhe zu seiner Zeit. - Alle eure Sorge werfet auf ihn, denn er sorget für euch.

Eine dreifache Ermahnung ist es, akademische Jugend, die an dich ergehet aus diesem Worte des Apostels; erstens: sorget! zweitens: demüthigt euch unter die starke Hand Gottes! drittens: werfet eure Sorge auf Gott!

I.

Sorget! so rufe zuerst ich euch zu. Wie überall, so seht auch hier die Schrift voraus, daß der Mensch nicht ohne Sorge sei auf dieser Erde und auch du, Jugend, obwohl du die sorglose heißest, darfst ohne Sorge nicht seyn auf dieser Erde. Nicht bloß für die altern Geschlechter, auch für dich soll die Erde kein Paradies mehr seyn und ist es nicht; überredest du dich anders, so ist das ein Rausch der Phantasie, das Wort Gottes aber ruft uns zu: „seid nüchtern und wachet!“ So sollst denn auch du, wenn des Allmächtigen Schläge dich treffen, dieselben wohl fühlen, Krankheit und Noth, Leid und Tod der Deinigen, es sind alles Schläge des Allmächtigen, die du als solche empfinden sollst. Es ist aber auch eine allgemeine Sorge, der ihr euch allesammt nicht entziehen dürft, es ist die Sorge, nicht zu seyn, was ihr seyn sollt. Es ist die Sorge, welche in jedem Sterblichen das Wort erwecken muß: „Was der Mensch säet, dasselbige wird er auch ärndten!“ Und wie sollte nicht dieses Wort mit doppeltem Ernste an euer Herz klingen, die ihr jetzt in einem Lebensabschnitte steht, der zunächst über eure irdische Zukunft, und sodann über eure Ewigkeit entscheidet, in einem Lebensabschnitte, der also in zwiefachem Sinne eine Zeit der Aussaat ist! O welch' ein wichtiger Lebensabschnitt ist das Jünglingsalter und insbesondere die Universitätszeit! Hängt nicht zunächst für die Meisten die äußere Stellung, welche sie im spätern Leben einnehmen, fast ganz und gar von der Anwendung dieser wenigen Jahre ab? Aber noch vielmehr, wie ist die Herzens, und Geistesrichtung des spätern Lebens in den bei weitem meisten Fällen nur das Ergebniß der Richtung, welche in diesen Jahren eurer Entscheidung gewonnen worden ist! Ihr wißt es, daß es einen breiten Weg giebt und einen schmalen, einen Weg der Welt und einen Weg zu Gott. O Jünglinge, wie so schwer ist es für den Menschen, von dem ersteren auf den letzteren zu kommen, wenn das Lebensalter vorgeschritten ist, wenn hundertfache Bande uns schon an die Welt festgeknüpft haben, wenn das Blut matter in den Adern fließt! Jünglinge, jetzt, jetzt ist die Zeit der Entscheidung für Gott - „heute, so ihr seine Stimme höret, verhärtet eure Herzen nicht!“ Wendet ihr jetzt eure Herzen zu Gott - sehet, noch liegt euer Leben offen vor euch - eure Freundschaften, euern Beruf, alle Verhältnisse eures Lebens, ihr könnt sie ordnen mit jenem heiligen Sinne, den ein Gott liebendes Herz hat. Wendet ihr eure Herzen nicht zu Gott, so knüpft ihr Bande auf Bande, die euch nur enger an die Welt knüpfen und die, wenn ihr euch dermaleinst bekehren wollt, zu ebenso vielen Fesseln werden. In diesem Lichte betrachtet, wie unaussprechlich wichtig ist die rechte Anwendung der akademischen Jahre! Wie viel ernste Sorge müsset ihr doch alle darüber haben, ob ihr seid, was ihr seyn sollt! O ob wohl viele unter euch sind, denen das Gewissen Zeugniß giebt, daß die Entscheidung, die feste Entscheidung, nicht der Welt zu leben, sondern Gott, bei ihnen bereits eingetreten fei? Seid ihr Menschen, welche die Hand an den Pflug gelegt haben und nun, ohne zurückzusehen, kein anderes Ziel mehr haben, als das Reich Gottes? O lieben Freunde! Der Grabeshügel ist ein kleiner Hügel und doch - wenn man ihn besteigt, wie sieht sich das Leben von ihm aus oft so ganz anders an! Ihr, die ihr den Unglücklichen gekannt habt, den wir beklagen, wollt ihr nicht von feinem Grabeshügel aus auf's Neue einen Blick auf die bisher von euch gewandelte Laufbahn werfen? Wie vieles wird euch anders vorkommen, wie vielmehr werdet ihr zu sorgen anfangen! O Jünglinge, lebet, wie ihr, wenn ihr sterbet, wünschen werdet, gelebt zu haben! Darum sterbet, ehe ihr sterbet, damit ihr nicht sterbet, wann ihr sterbet! Sterbet der Welt, ihrem Leichtsinn und ihrer Lust und lebet Christo und dem lebendigen Gotte: dann werdet ihr, wenn der zeitliche Tod kommt, euch wenigstens nicht vor dem ewigen zu fürchten haben l - Wenn ich aber also dem einen Theile von euch zugerufen habe: sorget! so weiß ich wohl, daß auf dem andern Theile von euch die Sorge nur allzuschwer lastet, gleich wie sie auch auf dem Unglücklichen gelastet hat. So wende ich mich denn auch an euch, die ihr sorget, die ihr namentlich sorget, daß ihr nicht seid, was ihr seyn sollt, daß ihr in eurer Wissenschaft nicht seid, was ihr seyn sollt. Euch, meine Lieben, rufe ich zunächst mit dem Apostel zu: Demüthigt euch unter die starke Hand Gottes! Wenn in unserer Zeit mancher Jüngling von der Sorge verzehrt wird, nicht zu seyn, was er seyn soll, insbesondere von der Sorge, dahinten zu bleiben hinter den Glücklichen, welche von Stufe zu Stufe zu Glanz und Ehre aufklimmen, so ist das kein Wunder. Ist das nicht gerade bei den Tüchtigeren und Thatkräftigeren unter euch leine nothwendige Folge unserer Erziehung? Einst war jener Kranz, den Gott seinen frommen Kindern reichte, das Ziel, das hoch vom Himmel her der strebenden Jugend winkte. Jetzt ist es der schnell verblühte Kranz, den Menschenlob darreicht; einst war Gottesfurcht das heilige Feuer, welches die Thatkraft der Jugend in Bewegung setzte, an ihre Stelle ist jetzt der Stachel des Ehrgeizes getreten. Noth ehe das Knabenalter seine kindlichen Träume ausgeträumt, lockt der Ehrgeiz mit den Lorbeerkränzen des Mannes; Knaben müsset ihr werden, ehe ihr noch Kinder gewesen seid, Jünglinge, ehe ihr Knaben gewesen, Männer, ehe ihr den frischen Becher der Jugend ausgetrunken! - Sprecht! Das Feuer, das, in den Adern der Besseren von euch lodert, ist es ein anderes als das des Ehrgeizes? Wenn sie, die unter euch glänzen, da erscheinen werden, wo nichts gilt als die reine Liebe, und wenn der Ewige sie fragen wird: Und welche Flamme hat bei allem eurem Streben in euren Herzen gebrannt? - werden sie sagen können: Vater unsers Lebens, es war die Flamme Deiner Liebe? - Dieser Ehrgeiz nun, ach er hat auch manche edle Jünglingsseele selbst dazu gebracht, aus dem Leben zu gehen, ehe der Vater alles Lebens gerufen hatte: komm! Denn wie, wenn nun jenen Anforderungen, welche das stolze Jünglingsherz sich eigenmächtig gestellt hat, von der Hand des Allmächtigen selbst Ziel und Schranke gesetzt wird? Wie wenn Noth und Armuth, wenn insbesondere Siechheit oder Mangel an Anlagen den Geist, der weit seine Flügel ausbreiten wollte, auf einen kleinen engen Raum einschränkt? Wie wenn er diese Schranke fühlt, fühlt, daß er sie nicht durchbrechen kann und doch an den nicht glaubt, der sie gesetzt hat? O dann kommen sie heran, jene furchtbaren Stunden, wo das Geschöpf hadert mit dem, de„ es gemacht hat, wo der Mensch - wie es von Hiob heißt - Gott den Abschied giebt und wo er - den mörderischen Dolch in die Brust führt. Ich kann bei dieser Veranlassung des Ereignisses nicht schweigen, welches jetzt auf's Neue das Auge unsers Vaterlandes auf sich gezogen hat, des Selbstmordes eines Jünglings, dessen innerstes Geheimniß so eben aus seinen Tagebüchern die Aeltern selbst der Welt mitgetheilt haben. Es liegt auf schauerliche Weise eine ernste Lehre darin für alle Aeltern und Lehrer, die schauerlich-ernste Warnung: O Aeltern und Lehrer - pflanzet einen edleren Stachel in eurer Kinder Brust als den des Ehrgeizes!

Ein Jüngling aus angesehener Familie, ausgezeichnet und Hoffnung erweckend, wurde im Beginn seines akademischen Strebens - er hatte die Hochschule zu Bonn bezogen - von einem Unterleibsleiden ergriffen, das als ein schweres Gewicht den aufstrebenden Geist zu Boden zog und im Unmuth darüber, dem stolzen Plane seiner eigenen Phantasie und den hohen Erwartungen der Seinigen nicht genügen zu können, hat er den Mordstahl in seine Brust gedrückt. Aus seinen Tagebüchern haben seine Aeltern die Geschichte seiner innern Kämpfe der Welt mitgetheilt und o! in erschütternder Gestalt wird uns hier das Bild des Sterblichen vorgeführt, dv unter die starke Hand Gottes sich nicht demüthigen will und darum, weil er die Schranke, die ihm gesetzt ist, nicht als eine göttliche und ihm zum Heil gesetzte Schranke annehmen möchte, mit Frevel gegen Gott aus der Well geht. Ich will nicht an dieser heiligen Stätte euch die Ausbrüche des zerrissen“. Herzens mittheilen, in denen der beklagenswerthe Jüngling sein Grollen gegen Gott ausgesprochen hat. O Grausen erregend ist das Hadern des jugendlichen Gemüthes mit seinem Schöpfer, grausenerregend sind die frevelnden Worte der Herausforderung, in denen das Geschöpf mit dem gerechtet hat, der es gemacht hat! -

II.

Ja auch ihr würdet zusammenschaudern, wenn ich sie euch berichten wollte, und dennoch - ob nicht gerade die unter euch, welchen die Welt ihre Kronen reicht, ob nicht gerade die Hochstrebenden unter euch wenigstens den Samen desselben Frevels in ihrer Brust tragen? Laß eine langsam verzehrende Krankheit an deinen Leib sich haften, laß sie das Mark deines Geistes aussaugen: was gilt's, der verborgene Frevel dringt aus deiner Brust hervor und mit Hiob thust du deinen Mund auf und - verfluchest den Tag, wo du geboren wardst! O Freunde, in vielen von euch Ist - so wenig ihr es ahnen möget - der Glaube an einen lebendigen Gott doch nur auf Sand gebaut und hält die Probe nicht aus. Ihr lebt zu wenig in dem Bewußtseyn, daß jedes eurer Verhältnisse, jede Trübsal, jede große und jede geringe Geistesgabe von der Weisheit geordnet ist, welche der ganzen Welt ihren Ursprung gegeben! Ihr glaubt nicht lebendig daran, daß Derselbige, der die Kräfte und Gaben gegeben, auch die Schranken gegeben hat! Seht, ist es nicht eben das gewesen, worüber auch eures Freundes Herz gebrochen ist?

Zwar war seine Seele sanft und nie hat er seinen Gott angeklagt, sondern nur sich selbst, aber warum hat er nicht in denjenigen Schranken und Sorgen, welche ohne sein? Schuld ihn drückten, seines Gottes Hand erkannt? - Schon hat in unserm Vaterlande die Zahl der Selbstmorde sich fast verdoppelt und noch werden sie zunehmen, wenn das lebendige Bewußtseyn noch mehr schwindet, daß von derselbiger allmächtigen Hand, aus welcher unsre Gaben und Gräfte kommen, auch unsre Schranken kommen. Vor Menschen mag es einen schönen Schein haben, wenn in den Jünglinge, dem die Gabe seines Geistes und seines Vermögens zu gering däucht, der stolze Unwille erwacht, und doch - in Gottes Lichte angesehen, was ist es anders als Unglaube und Hochmuth? Denn ist's denn das Maaß der Gaben, nach dem die Menschengeister gerichtet werden sollen, oder das Maaß der Treue in ihrer Verwaltung? Wie wolltest du dich grämen? Ist es uns nicht gesagt, daß von dem, dem nur wenig gegeben ist, auch nur wenig wird gefordert werden? In irdischen Gütern, in Gaben des Verstandes und der Geisteskraft ist ein verschiedenes Maaß unter uns allen ausgetheilt, aber Ein Quell fließt für uns alle gleich reichlich, das ist der Quell des Heiligen Geistes, welcher unsern Willen heiligend die Richtung mittheilt, die Gaben, die wir haben, feien sie klein oder groß, zu des Herrn Ehre zu verwenden. Fließt nun aber dieser Quell für alle gleich reichlich, ist's nicht ein Zeichen, daß das rechte und eigentliche Ziel des Menschen auf Erden nicht das Wissen und nicht die Fettigkeiten irgend einer Art sind, sondern die Heiligung des innern Menschen? Da aber, Geliebte, liegt die innerste Wurzel der Verkehrtheit eures Sorgens. Ihr glaubt nicht, daß - wie es die Schrift nennt- ein „Mensch Gottes“ zu werden, voll Demuth, Liebe, Gehorsam, Geduld und mit allen Früchten des Heiligen Geistes geschmückt, das höchste Ziel, die höchste Sorge des Erdenmenschen seyn soll, darum trachtet ihr nach andern hohen Dingen, darum murrt ihr über die Schranken, welche solchem Trachten ein Ziel setzen, ja ihr rüttelt an ihnen und der Eine und der Andere hebt frevelnd seine Hand auf und will sie zerbrechen. O wenn ihr den Glauben hättet, wie ihr dann in den Schranken selbst die Liebeshand eures Gottes erblicken würdet, welche euch eben dadurch zu Menschen Gottes machen will! Oder meinet ihr denn, daß er euch nur zu seines Herzens Lust plaget und Schranken setzet? Ja vielmehr steht geschrieben: „Der Herr plaget die Menschenkinder nicht nach seinem Herzen.“ Er möchte dich ja gern auf die grüne Wiese führen und nicht in die Wüste, wäre nicht in der grünen Wiese für dich der Tod und in der Wüste das Leben; er möchte dir ja gern nicht bitteres Wasser geben, sondern süßen Wein, wäre nicht der süße Wein ein Schlaftrunk für dich; er möchte ja gern über den Acker deines Herzens nur Sonnenschein geben und keine Ungewitter, wüchse nicht unter dem Sonnenschein das Unkraut. - Darum, meine Geliebten, so oft die Sorge euch naget, die Sorge um jene Schranken, mit denen der Ewige die Gaben und Kräfte, die er euch gegeben, umschlossen hat, so erwecket vielmehr die Sorge in euch, ob ihr treue Haushalter mit dem seid, was euch gegeben ist, und in allen andern Stücken: „demüthiget euch unter die starke Hand Gottes!“

III.

Und wird euch ja die Sorge so schwer, die er euch aufgelegt hat, wollt ihr vergessen, was geschrieben steht, daß der, welcher sie uns aufgelegt hat, sie uns auch tragen hilft? „Alle eure Sorgen, heißt es, werfet auf Ihn, denn Er sorget für euch.“ Ihr habt wohl manchmal bei euerer Sorge nach einem Herzen euch umgesehn, das sie mit tragen könne und habt keines gefunden. Es giebt Sorgen, die man sich nicht entschließen kann, menschlichen Herzen zu vertrauen.

Was aber ist mit dem Troste zu vergleichen, zu wissen, daß die Sorge, welche mein kleines Herz drückt, auch von dem Herzen getragen wird, welches Himmel und Erde trägt! Bruder, der du einen Gram in einsamer Brust hegest, den du keinem Sterblichen anvertrauest - o wenn du es glauben könntest, daß dieses allen Menschen zugeschlossene Buch deines Herzens aufgeschlagen liegt vor den Augen des Schöpfers Himmels und der Erde, und daß er deine Sorge mit sorgt! O wenn er das hätte glauben können, der Jüngling, den wir beklagen, er wäre nimmermehr den dunkeln Weg des Todes gegangen. Menschen hast du deiner Sorge Gram nicht anvertraut, o Jüngling, warum hast du ihn nicht deinem Gotte anvertraut! mit Menschen hast du sie nicht theilen wollen, o warum hast du sie nicht mit deinem Gotte getheilt! - Wer das glauben kann, der kann beten, eine Seele aber, welche beten kann, verzweifelt nicht. Ein gläubiges Gebet in der Einsamkeit mit lauter Stimme niedergelegt auf dem Altar Gottes ist ein Seelenbad; die Seele wäscht sich rein von Angst und Wehe und steht auf froh und fröhlich, wie der, dessen Staub und Hitze des Tages die kühlen Wellen dahingenommen haben! - Jünglinge, am frischen Grabe eures Freundes, der gesorgt hat, der aber seine Sorge allein getragen hat ohne Gott und darum unterlegen ist, an diesem Grabe rufe ich euch zu: sorget, sorget, daß ihr aussäen möget für die Ewigkeit! Ist eure Gabe und Kraft beschränkt, darüber sorget nicht, sondern nur dafür, ob ihr getreue Rechenschaft auch über die kleinste Kraft und Gabe einst werdet ablegen können vor Gott! O laß dir Seine Wege Wohlgefallen ohne Murren; du, der du nur ein einziges Pfund zur Verwaltung empfangen hast, bedenkst du auch, wie mit dem Gewicht der Pfunde das Gewicht der Verantwortung Wächst! Laß Seine Wege dir wohlgefallen ohne Murren, denn fürwahr „er plaget die Menschenkinder nicht nach seinem Herzen“ und wenn er schlägt, so treffen seine Schläge nur die Sünde in dir, nicht dich! Wird aber die Sorge eine schwere Last für dich, o willst du denn vergessen, daß der sich erboten hat, sie mit dir zu tragen, der sie dir auferlegt hat? Darum so sei es in eurer Aller Herz hineingerufen und töne darin wieder fort und fort: „Wer glaubt, der fleucht nicht!“

1)
Diese Predigt wurde am 29. Januar 1837 auf Veranlassung des Selbstmordes eines jungen Mannes von unbescholtenen Sitten und Liebenswürdigkeit des Charakters gehalten, dessen unglückliche That wenigstens theilweise durch übertriebene wissenschaftliche Anforderungen an sich selbst herbeigeführt worden zu seyn scheint. Er war den meisten seiner theologischen Kommilitonen bekannt und vielen lieb und theuer gewesen, und der Schmerz über sein trauriges Ende war allgemein.
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