Tholuck, August - Glaubens-, Gewissens- und Gelegenheitspredigten – Joh. 3, 20-21, Röm. 7, 22-25, Luk. 23, 39-43.

Tholuck, August - Glaubens-, Gewissens- und Gelegenheitspredigten – Joh. 3, 20-21, Röm. 7, 22-25, Luk. 23, 39-43.

Geliebte im Herrn! wenn man sieht, wie die Naturforscher sich in die Mannichfaltigkeit der Schöpfungen Gottes in der Natur vertiefen, wie sie in ferne Welttheile reisen, um unscheinbaren Moosen und Pflanzen, Käfern und Insecten nachzujagen; an Meeresufern und in Meerestiefen die verborgenen Muscheln und Polypen aufzusammeln, wie sie in die Tiefe der Erde hinabsteigen, um ein neues Gestein zu Tage zu bringen, und wie jede neue Entdeckung sie mit neuer Bewunderung vor der Mannichfaltigkeit und Unendlichkeit der Schöpfungen Gottes in der sichtbaren Welt erfüllt, wie möchte man ihnen zurufen: o möchtet ihr doch nur auch ebenso den forschenden Blick in den Reichthum der geistigen Schöpfungen Gottes werfet in die neue Welt, die Christus in seinen Gläubigen schafft - mit wie viel tieferer Bewunderung würdet ihr vor den herrlichen Wundern seiner Schöpferkraft anbetend stehen, vor der unendlichen Mannichfaltigkeit in der Einheit und der wunderbaren Einheit in der Mannichfaltigkeit, die uns hier entgegentritt! Denn wenn ich mir diejenigen näher betrachte, die durch den Glauben an den einen Namen, der uns gegeben ist, daß wir darin sollen selig werden, zu einer Einheit zusammengeschlossen sind, wie verschieden die Gebilde der neuschaffenden Gnade und welches innige Band der Einheit, das sie zusammenschließt! Wie verschieden die Wege, auf denen jeder von uns zum Heil geführt worden, und wie ist es doch im Grunde nur ein und derselbige Weg! Ja, ein und derselbige Gott ist es im Reiche der Natur und des Geistes, unendlich an den Grenzen seines Reiches, wie in dessen Centrum, der unten, in den verborgensten Moosen und Gräsern, droben in Fixsternen und Milchstraßen, draußen in Allem, was das Auge sieht und die Hände greifen können, drinnen in Allem, was die fünf Sinne nicht ersparen und berühren können, an keinem Punkte derselbige und doch überall sich selbst gleich ist. Nur in Einer Beziehung laßt das in dieser Stunde uns erwägen: Wie scheinbar entgegengesetzt nämlich die Wege, auf denen die Menschen zu Christo kommen und doch auch wieder, wie im Wesentlichen sie dieselben sind. Giebt es zwei Persönlichkeiten, in denen eine größere Verschiedenheit uns entgegentritt als in einem Paulus und Johannes? Wie verschieden die Wege, auf denen Beide zum Heil geführt werden; und von ihnen wieder wie verschieden der Schächer am Kreuz und wie verschieden der Weg auf dem er zum Heiland gekommen! Lasset uns hören, wie anscheinend verschieden auch die beiden Apostel den Weg bezeichnen, auf dem der Mensch zu Christo kommt und lasset dazu den uns hinzufügen, dem noch in der letzten Stunde zwischen Leben und Sterben die Himmelspforte sich aufgethan hat.

Wohl verschieden sind die Wege gewesen, auf denen diese drei Menschenseelen zum Heiland geführt worden auf Erden, und jetzt, wo sie bei ihm sind im Vaterhause, wie werden sie in Einem: Hosiannah dem Sohne Davids! zusammenstimmen! Wie scheinbar verschieden also die Wege sind, auf denen die Menschen zu Christo kommen, daß sie doch im Wesentlichen sich gleich sind, das lasset uns hören, indem wir die Worte der zwei Apostel betrachten, das von Joh. 3, 20. 21. und das von Paulus Röm. 7, 22-25. , und dazu das Wort des Evangelisten hinzufügen Luc. 23, 39-43.

Joh. 3, 20. 21.
Wer Arges thut, der hasset das Licht, und kommt nicht an das Licht, auf daß seine Werke nicht gestraft werden. Wer aber die Wahrheit thut, der kommt an das Licht, daß seine Werke offenbar werden; denn sie sind in Gott gethan.

Röm. 7, 22-25.
Denn ich habe Lust an Gottes Gesetz, nach dem inwendigen Menschen; ich sehe aber ein ander Gesetz in meinen Gliedern, das da widerstreitet dem Gesetz in meinem Gemüthe, und nimmt mich gefangen in der Sünden Gesetz, welches ist in meinen Gliedern, Ich elender Mensch, wer wird mich erlösen von dem Leibe dieses Todes? Ich danke Gott, durch Jesum Christ, unsern Herrn, So diene ich nun mit dem Gemüthe dem Gesetz Gottes, aber mit dem Fleisch dem Gesetz der Sünden.

Luc. 23, 39-43.
Aber der Uebelthäter. einer, die da gehenkt waren, lästerte ihn, und sprach- Bist du Christus, so hilf dir selbst und uns. Da antwortete der andere, strafte ihn und sprach: Und du fürchtest dich auch nicht vor Gott, der du doch in gleicher Verdammniß bist? Und zwar wir sind billig darinnen, denn wir empfangen, was unsere Thaten werth sind, dieser aber hat nichts ungeschicktes gehandelt. Und sprach zu Jesu: Herr, gedenke an mich, wenn du in dein Reich kommst.

Vertiefen wir uns in den Ausspruch des Johannes, was lehrt er uns? Daß es einen Weg zu Christo giebt, wo der Mensch von einem innern Licht und Wahrheitstriebe geleitet, mit sanfter und doch unwiderstehlicher Gewalt in Christi Nähe gezogen wird, um ganz und vollkommen des Lichts und der Wahrheit theilhaftig zu werden. Zwei Klassen stellt der Apostel einander gegenüber. Von solchen zuerst spricht er, die von vornherein „die Finsterniß mehr lieben als das Licht;“ er sagt nicht, daß sie es gar nicht liebten, denn auf Christum, das wahrhaftige Licht der Welt ist der Mensch angelegt. Es muß daher auch im Verworfensten noch Etwas bleiben, welches ihm sagt: dies ist das Licht. Aber sie liebten doch die Finsterniß mehr als das Licht - warum? Weil ihre Werke böse waren und sie fürchteten, daß ihre Werke vom Lichte möchten gestraft werden. Ist nicht dies recht eigentlich der Grund warum so Viele zu Christo nicht herankommen wollen? Sie fühlen, daß sie etwas lassen müssen, womit sie so zusammengewachsen sind, daß es ihnen ist als müßte ihr Herz mit ausgerissen werden, wenn sie das fahren lassen. Möglicherweise sind selbst solche, welche fühlen: meine Werke sind würklich böse und machen mich nicht glücklich, möglicherweise möchten sie auch davon frei werden. Aber sie sind der Sklave, der eine goldene Kette trägt, von der Kette möchte er los werden, aber das Gold möchte er nicht fahren lassen. So wollen sie denn doch nicht heran an das Licht, sie fürchten, daß ihre Werke ihnen so vor die Augen gestellt werden, daß sie am Ende gründlich davor erschrecken und sich selbst verdammen müssen.

Denen stellt nun der Evangelist eine andere Klasse gegenüber. Wer aber die Wahrheit thut,“ das sind solche, die soweit sie die Wahrheit erkennen, sie auch zu thun suchen, „deren Werke in Gott gethan sind. das sind solche, die Gott zum Antriebe ihres Thuns machen und denen Gott auch das Ziel ihres Thuns ist - das Alles freilich, wie es ohne Christus nicht anders der Fall seyn kann, in großer Schwachheit. Diese kommen auch an das Licht, denn nach Licht dürsteten sie ja ihr Leben lang und zwar nach einem Lichte des Lebens, damit ihre Werke offenbar würden, damit sie am reinen Lichte erst erkennen lernten, wie viel von ihrem Lichte noch Finsterniß gewesen ist, und vollkommen licht werden. Die sind es, von denen der Herr an einem Orte spricht: „Wer aus Gott ist, höret Gottes Stimme. „die der Vater gezogen, die vom Vater gelernt haben, die kommen zu mir. - Wir werden uns nicht irren, wenn wir annehmen, daß Johannes uns hier seinen eigenen Lebensgang bezeichnet. Ja dieser durchsichtige verklärte Jünger der Liebe, er ist eine solche Lichtdürstende Seele gewesen von seiner Mutter her. Seine Mutter, ihr kennt sie ja, die fromme Salome, sie hat gewiß das Wort Gottes zur Leuchte ihrer Füße gemacht und ebenso ihr Kind diesen Weg geführt. So ist die Lichtliebe in seinem Herzen erwacht, und als der Mann, der von Gott gesendet war, daß er vom Licht zeugete, als Johannes der Täufer auftrat, da trieb diese Lichtliebe den Jünger der Liebe auch nach diesem Wasserbade hin, das auf den Zukünftigen vorbereiten sollte. Von dem Täufer glaubt er nicht, daß er ihm das geben könne, wonach er suchte, sondern von dem Zukünftigen. Kaum hat er daher von seinem Lehrer selbst vernommen: siehe, das ist Gottes Lamm! so geht er auch hinter Christo her. Und der, hinter dem er anfangs so schüchtern einhergeht, hat ihn an seine Brust genommen und hier hat er dasjenige Licht gefunden, in dem keine Finsterniß mehr ist, an dieses Licht hat er alle seine, wenn auch in großer Schwachheit in Gott gethanen Werke gebracht, und daraus erst recht erkannt, was von Finsterniß darin war. Das ist der Weg, den, wenn auch nicht viele, doch etliche edle Seelen auch in späterer Zeit gegangen sind, ein Spener, ein Zinzendorf, ein Lavater.

Wie scheinbar entgegengesetzt ist nun, was Paulus in unseren Textesworten uns schreibt und worin er ebenfalls die Geschichte seines Lebens uns vor Augen stellt. Einen Menschen sehen wir hier, dem ein Gesetz vor Augen steht mit Forderungen und Drohungen, so unnachgiebig als der Stein, auf den es gehauen ist, und in seinem eigenen Gemüthe hat dieses Gesetz seinen Widerschein gehabt. Er spricht auch von einem Gesetz in seinem Gemüthe, denn er kann sich nicht verhehlen, daß jenes von Gottes Finger in Stein gegrabene Gesetz von demselben Finger auch in sein Gemüth geschrieben ist. Auch muß er diesem Gesetze Recht geben, er hat Lust an demselbigen nach seinem inwendigen Menschen. Aber nur in der Tiefe seiner Natur regt sich diese Lust, sie vermag nicht durchzudringen an die Oberfläche. Zu einem „ich möchte gern“ kommt es, aber zu keinem „ich will“. Wenn diese Lust nichts anders ist, als ein ohnmächtiges „ich möchte gern“ so kann sie auch nicht Stand halten gegen das andre Gesetz in seinen Gliedern, wenn es Streit gegen ihn erhebt. Unseliger Kampf mit ungleicher Waffe, schmachvolle Niederlage! Tiefstes Gefühl des Elends, heißester Hülferuf nach einer Erlösung, die er in sich selbst nicht finden kann: „ich elender Mensch, wer will mich erlösen vom Leibe dieses Todes“. Darauf ein göttliches: „hie bin ich, hie bin ich“ zur Antwort, sollte der Herr seine Auserwählten nicht hören, die Tag und Nacht zu ihm schreien? Er hat ihn gehört und der durch Christum begnadigte Sünder ruft: „ich danke Gott durch meinen Herrn Jesum Christum!“ - Da habt ihr die Geschichte eines Paulus, eines Augustinus, eines Luther. Es ist wahr, in jenem zelotischen Pharisäer, wie er nach Damaskus hinstürmt, um die Heiligen Gottes zu ermorden, werdet ihr nichts von dem finden, was er hier von sich erwähnt. Allein, wie manche Beispiele liegen nicht in der Geschichte vor, wo das Kampfesfeuer, das in der eigenen Brust stürmt, sich einen äußern Feind wählt, um an ihm auszutoben. Während der Mann nach außen für das Gesetz streitet, streitet dasselbe in seinem Innern wider ihn selbst und spricht ihm das Urtheil. Hat er vielleicht schon von Kindheit an diese tödtende Kraft des Gesetzes an sich erfahren? O nein, was sagt er uns von sich? „Auch ich lebte einst ohne Gesetz“ d. h. ohne seine verdammende Kraft zu empfinden, „ich bin auch einst nach der Gerechtigkeit im Gesetz unsträflich gewesen.“ (Phil. 3, 5. ) Aber weil er ein Pharisäer war, der nicht bloß Gottes Wahrheit wissen, sondern auch thun wollte, so hat es nicht anders kommen können, er hat die Erfahrung machen müssen, daß das Gesetz einen Stachel hat, den es herauskehrt gegen Jeden, der Ernst damit macht. In dieser Kampfesschule hat der Herr ihn vorbereitet für den Augenblick, wo das Wort erschallte: „es wird dir schwer werden, wider den Stachel zu löcken“ d. i. auszuschlagen, der dich vorwärts treibt. Der Augenblick, wo ihm das himmlische Licht diesen neuen Weg zeigt, das war der Augenblick, wo Gottes Führung ihn bereits innerlich von dem alten Wege losgemacht hatte. Als seine Seele erst dahin gebracht worden, daß er rufen konnte: „wer will mich erlösen vom Leibe dieses Todes“ da stand der, der allein ihn erlösen konnte, auch schon mit seinem „hie bin ich, hie bin ich“ verhüllterweise an seiner Seite, und als er dem Stürmenden sein „Saule, ich bin es, den du verfolgst“ zurief, da hat er den Schleier von seinem verhüllten Antlitz fallen lassen.

Und nun der Mann am Pfahl der Schande? was für ein Leben mag in diesem Augenblicke hinter ihm gelegen haben? Ein Leben voll Lichtesdrang und Lichtesdurst gewiß nicht, ein Leben voll Lust an Gottes Gesetz nach dem inwendigen Menschen wohl auch nicht, vielleicht eher ein Leben ohne Gesetz und ohne Gott. Und doch thun auch ihm die Paradiesespforten sich auf: auch er ist ein Kind Gottes geworden und unser Bruder, an dessen Seite wir einst anbeten werden vor dem Throne des Lammes!

Ihr nun, so viele von euch jetzt Christo angehören, auf welchem der drei Wege seid ihr zu ihm geführt? Wie mannichfaltig auch im Einzelnen wieder die Fußpfade und Geleise auf diesen drei Wegen seyn mögen, werden wir nicht doch sagen müssen, daß auf einem dieser drei Wege jeder von uns zu ihm gekommen ist? - Zweierlei Klassen wird es unter euch geben, die zum Herrn kommen wie Johannes zu ihm gekommen ist. Es wird solche unter euch Männern geben, die in weitem Umkreise in mancherlei Menschenlehren sich umhergetrieben, ehe sie zu Christo gekommen sind, die aber nichts Anderes gesucht als Licht, Licht nicht bloß für ihren Kopf, sondern auch für ihr Leben. Denn wer nur Licht für seinen Kopf sucht und nicht auch für sein Leben, der kommt nicht zu Christo. „Wer mir nachfolgt, ruft Christus, der wird nicht in Finsterniß wandeln, sondern das Licht des Lebens haben. Ferner wird es solche unter euch Jünglingen und unter euch Frauen, vielleicht auch unter euch Männern geben, denen von solchem Angstschrei aus der Tiefe, wie wir ihn hier von Paulus hören, wenig oder nichts bekannt ist und die dennoch mit voller Aufrichtigkeit des Herzens gläubig werden und sagen können: Herr, du weißt, daß ich dich lieb habe, und sollte ich von dir weggehen, ich wüßte nicht, wo ich hingehen sollte, denn du allein hast Worte des ewigen Lebens“. Solche meine ich, die durch frommen Muttermund geleitet, des Herrn Wort von Kindheit an zur Leuchte ihrer Füße gemacht, die dann den Mann Gottes gefunden, der ihnen das „siehe das ist Gottes Lamm“ zugerufen, die drauf schüchtern hinter ihm hergegangen, bis er sie an seine Brust genommen, die dann aber auch alle ihre Werke an Sein Licht gebracht und täglich an Sein Licht bringen, damit ihnen an dem Licht offenbar werde, was noch von Finsterniß an ihnen ist. Andererseits wird es auch solche - in wie viel größerer Zahl! - unter den Alten und unter den Jungen geben, die, wenn sie sich besinnen, von einem solchen Lichtdurste und Lichtestriebe in ihrem früheren Leben sich gar nichts zu erinnern wissen, die nichts gesucht als die Welt, - die jedoch dabei - nicht einen hitzigen, aber einen kalten Gewissensbrand in sich getragen, die dabei einen tauben Schmerz nicht losgeworden sind. Wenn ihr in der Gesellschaft waret so heiter und seelenvergnügt, dann hätte freilich keiner von diesem tauben Schmerz euch etwas angemerkt, da merktet ihr selbst nichts davon. Aber - wie es hinter den vier Wänden bei euch ausgesehen hat, wenn etwa ein Hauptstreich euch mißlungen war, wenn eine Krankheit euch aufs Lager warf, dessen besinnt ihr euch wohl, was da für Unmuth in der Brust getobt, was für Verwünschungen über die Lippen gegangen sind. Ihr habt gelebt ohne Gesetz und ohne Gott, aber - warum seid ihr denn so ängstlich den Gesprächen über Religion und Kirche aus dem Wege gegangen? Warum habt ihr die Frommen so gehaßt? War's nicht, weil ihr doch dunkel gefühlt habt, daß, wenn ihr an's Licht kämt, das Licht eure Werke strafen würde. So habt ihr also doch vom Gesetze Gottes etwas gewußt und habt es nur nicht wissen wollen. Seid ihr jetzt Kinder Gottes geworden, so seid ihr es nur geworden wie der Schächer am Kreuz. - Am seltensten möchten in diesen unsern Tagen diejenigen unter uns seyn, die selig geworden sind wie Paulus, nämlich auf dem Wege des Gesetzes, denn an Gottes Gesetz und an die Schrecken seiner Gerichte glauben jetzt die Menschen nicht mehr. Indeß werden auch die nicht ganz fehlen, die wenigstens das Gesetz ihres Gewissens als Wächter und Hüter über sich erkannt und in seinem Ernste gefühlt haben. Wofern ihr zumal solche gewesen seid, die nicht nur nach reinen Händen in ihrem Leben getrachtet, sondern auch nach reinen Herzen, denen das Gesetz ihres Gewissens auch das „laß dich nicht gelüsten“ zugerufen hat - diejenigen unter euch, die so weit gekommen sind, von denen weiß ich auch, daß ihr tagtäglich die Ruthenschläge des Gewissens und sein Verdammungsurtheil habt erfahren müssen, und daß so Manches „Wer will mich erlösen“ heiß über eure Lippen gedrungen ist, bis das „hie bin ich, hie bin ich“ aus den Wolken erscholl und eurer Noth ein Ende machte.

Wie entgegengesetzt erscheinen die Wege, auf denen ihr sämmtlich geführt worden, und doch, wie innerlich eins sind sie! So gewiß es nämlich ist, daß ohne Sündenerkenntniß und Buße Niemand zu Christo kommen kann, so gewiß ist es auch, daß Niemand ohne den Lichttrieb zu Christo kommen kann, und so gewiß ohne den Lichttrieb Niemand zu Christo kommen kann, so gewiß ist es auch andererseits, daß in Christi Lichte ihm erst der rechte Blick in seine Finsterniß aufgeht. Ist bei den Johannesseelen der Lichtdurst nur würklich ein Durst nach einem Lichte des Lebens, nach einem Lichte, das einen Menschen zu einem Menschen Gottes macht, wie könnte ein solcher Durst ohne eine fortgehende Erkenntniß dessen seyn, was uns Gott noch unähnlich macht, wie muß er nicht nothwendig zu einem Durste nach Vergebung der Sünde werden. Habt ihr wohl darauf geachtet, welches Wort es war, das einen Johannes zuerst in die Gemeinschaft des Herrn gerufen hat? „Siehe das ist Gottes Lamm, welches der Welt Sünde trägt!“ Darum, wieviel auch in einem solchen Leben in Gott gethane Werke sich finden mögen, durch diese kommen solche Lichtseelen noch nicht zum rechten Frieden und wären auch solche Seelen vor ihrer Bekehrung noch nicht zu dem Ausrufe Pauli gekommen „wer wird mich erlösen,“ nach ihrer Bekehrung rufen sie gewiß aus: „was wär' ich, wenn kein Heiland wär“. Wären sie auch vor ihrer Bekehrung des Widerstrebens des Gesetzes in ihren Gliedern wider das Gesetz des inwendigen Menschen nicht recht inne geworden: nachdem sie in's volle Licht Christi getreten, werden sie es gewiß.

Und ihr, die ihr auf Pauli Wege zu Christo gekommen seid, die ihr sagen müsset, daß die Sünde euch in seine Arme getrieben hat, hätte denn das Gesetz Gottes euch solche Gewissensnöthe machen können, wenn ihr nicht schon einen Lichttrieb in euch getragen hättet, nämlich „die Lust an Gottes Gesetz nach dem inwendigen Menschen“. Paulus spricht: „durch das Gesetz bin ich dem Gesetze gestorben“, denn je mehr er das Gesetz getrieben, das sein Gott ihm vorgehalten, desto mehr hat das Gesetz ihn getrieben, den zu suchen, in dem die Erfüllung des Gesetzes erst möglich wird.

Und selbst der Schächer am Kreuz. Hätte er in seinem Leben ohne Gesetz und ohne Gott nicht doch von einem über dem Menschen waltenden göttlichen Gesetze gewußt, wie hätte er denn, als das menschliche Gesetz seine Strafe über ihn gesprochen, rufen können: „und zwar wir sind billig in solcher Verdammniß, denn wir empfangen, was unsere Thaten werth sind.“ Wie mancher Verbrecher, der ohne Gewissen dahinzugehn scheint, und doch braucht nur die Hitze der göttlichen Gerichte über ihn zu kommen, da zeigt sich, daß Gottes Gesetz mit unsichtbarer Dinte in seinem Herzen geschrieben stand und die Buchstaben fangen an Farbe zu bekommen. Wodurch die Bekehrung solcher Leute und die eines Paulus sich unterscheidet, es ist nur ein Unterschied der Zeit. Die Gewissensangst, die bei einem Paulus durch Monate sich hingezogen - bei dem Schächer hat sie sich in eine Stunde zusammengedrängt. Das bange „wer will mich erlösen“ eines Paulus, es ist bei dem Schächer zu einem „Herr gedenkt mein“ geworden, auf welches im Augenblicke das „heute noch“ gefolgt ist. Hat bei Paulus noch in der Zeit das Saamenkorn des Glaubens zum Baume werden und Früchte tragen können: bei dem Schacher ist es in der Ewigkeit geschehen, denn jenes Saamenkorn hat er mit hinüber genommen in die Ewigkeit.

Summa, ihr Kinder Gottes, die ihr in das gelobte Land gekommen, sei es über die Landenge oder über das rothe Meer - nur Lichtesdurst und Sündenjammer, ob dieser zugleich mit dem Glauben kommt oder vorher, ob der Jammer kommt, ohne den Lichtdurst noch recht zu fühlen oder ob dieser recht gefühlt wird, um nachher erst des Jammers ganz inne zu werden - worin, sie Alle übereinstimmen, wenn sie an's Ziel gekommen sind, das ist:

Durch Adams Fall ist ganz verderbt
Menschlich Natur und Wesen,
Der Sünd' Gift ist auf uns geerbt,
Wir konnten nicht genesen:
Doch wie wir all
Durch Adams Fall
Sind ew'gen Tod's gestorben,
Also hat Gott
Durch Christi Tod
Erneuert, was verdorben.

Ein eigener Lichtstrahl ist's, der in jedes Menschenauge fällt, ein eigener Strahl, der Jedem den Weg zur Geistersonne weist: sind sie aber zu ihr hingeführt worden, so ist doch nur Ein gemeinsames Halleluja, in dem sie alle zusammenstimmen.

O du großer Gott, wie unendlich bist du an den Grenzen deines Reichs, wie in seinem Centrum, drunten in den Moosen und Gräsern und droben in den Fixsternen und Milchstraßen, draußen im Reiche der Natur, wo das Auge dich sehen kann und die Hände greifen; drinnen im Reiche des Geistes, wo alle fünf Sinne dich nicht spüren und berühren können, unendlich in der alten Welt des natürlichen Menschen, unendlich in der neuen Welt, die du in einer gläubigen Seele schaffst: o hilf, daß wir dich anbeten, wie es dir gefällt, in der Größe deiner Weisheit, deiner Macht und deiner Liebe durch den, zu dem du uns hingezogen hast auf so unendlich verschiedenen Wegen und Pfaden. Ehre sei dem Vater und dem Sohne und dem heiligen Geiste in Ewigkeit. Amen.

Cookies helfen bei der Bereitstellung von Inhalten. Diese Website verwendet Cookies. Mit der Nutzung der Website erklären Sie sich damit einverstanden, dass Cookies auf Ihrem Computer gespeichert werden. Außerdem bestätigen Sie, dass Sie unsere Datenschutzerklärung gelesen und verstanden haben. Wenn Sie nicht einverstanden sind, verlassen Sie die Website.Weitere Information
autoren/t/tholuck/ggg-18.txt · Zuletzt geändert: von 127.0.0.1
Public Domain Falls nicht anders bezeichnet, ist der Inhalt dieses Wikis unter der folgenden Lizenz veröffentlicht: Public Domain