Tholuck, August - Glaubens-, Gewissens- und Gelegenheitspredigten - Hiob 4, 12 - 19.

Tholuck, August - Glaubens-, Gewissens- und Gelegenheitspredigten - Hiob 4, 12 - 19.

Im Namen des Vaters, des Sohnes und des heiligen Geistes! Geliebte in dem Herrn! Eine sehr heilsame und fruchtbare Betrachtung ist es, aufzusuchen und zu erwägen diejenigen Fäden, mit denen auch die, welche von dem Worte Gottes und von seiner Kirche sich losgemacht haben, doch noch damit zusammenhängen - eine heilsame und fruchttragende Betrachtung muß es insbesondere für euch, ihr zukünftigen Diener des Wortes Gottes, seyn! Freilich sind Etliche unter dem jüngern Geschlecht aufgetreten und haben gemeint, auf Niemand anders mit ihrer Predigt angewiesen zu seyn, als auf das kleine Häuflein der Gläubigen und Erweckten, und so predigen sie Jahr aus Jahr ein, und der große Haufe, der ohne das Wort Gottes und seine Kirche ist, kommt immer weiter davon zurück. Aber wo steht das geschrieben, daß ihr Prediger des Wortes Gottes nur angewiesen seiet auf die Erweckten und nicht vielmehr auf die Getauften? Wo steht das geschrieben, daß eure Mission nur ist an die wiedergefundenen Schafe, und nicht auch an die verirrten, die erst zu suchen sind? Wenn es denn so ist, o sollten nicht die Prediger hinausgehen und in Liebe sinnen nach den Fäden, mit denen jene Verirrten mit Gottes Wort zusammen hängen, die ihm schon den Rücken gekehrt haben! Darüber sollten wir nachsinnen, um sie daran halten und zurückführen zu können! -

Nun giebt's Einen Faden, der wohl auch bei denen, welche zu den Verstocktesten gehören, kaum ganz abgerissen ist: ich meine das Gewissen! O, wie gar Mancher, der an einen Gott nicht mehr glaubt und doch noch glauben muß an sein Gewissen! Das ist der Faden, daran man den Menschen greifen und die Flüchtigen zurückführen kann. Warum aber hören wir so wenig Predigten über das Gewissen? Haben etwa unsre Gemeinden sie nicht mehr nöthig? Nun, von den Stadtgemeinden wenigstens wird das nicht anzunehmen seyn. Wie Viele unter uns, denen alle anderen Glaubensartikel mehr oder weniger unterminirt sind und bei denen nur das Eine noch feststeht: Ich habe ein Gewissen! Und wiederum, wie Mancher ist unter den sogenannten Gläubigen, der keinen Glaubensartikel sich will antasten lassen, und der doch selbst sein eigen Gewissen ins Angesicht schlägt! Und vor Solchen sollte nicht über das Gewissen gepredigt werden? Oder ermuntert die Schrift nicht selbst dazu? Giebt es etwa keinen Text in der Bibel über das Gewissen? - So laßt uns denn in den Tagen unsrer Andachten, welche in diesem halben Jahre noch übrig sind, laßt uns einige dieser Texte vor Gottes Angesicht betrachten.

Der erste dieser Gewissenstexte, welchen wir zu Grunde legen, steht geschrieben in einem Buche des alten Testaments, wo er Kapitel 4. des Buches Hiob vom 12. Verse an also lautet:

Hiob 4, 12 - 19.

Und zu mir ist gekommen ein heimliches Wort und mein Ohr hat ein Wörtlein aus demselben empfangen. Da ich Gesichte betrachtete in der Nacht, wenn der Schlaf auf die Leute fällt: da kam mich Furcht und Zittern an und alle meine Gebeine erschraken. Und da der Geist vor mir über ging, standen mir die Haare zu Berge an meinem Leibe; da stand ein Bild vor meinen Augen und ich kannte seine Gestalt nicht; es war stille, und ich hörete eine Stimme: Wie mag ein Mensch gerechter seyn, denn Gott? Oder ein Mann reiner sehn, denn der ihn gemacht hat? Siehe, unter seinen Knechten ist keiner ohne Tadel, und in seinen Boten findet er Thorheit, Wie vielmehr, die in Leimen - Häusern wohnen und welche auf Erden gegründet sind, werden von den Würmern gefressen werden. “ -

Was uns unser Text von dem Gewissen lehrt, das wollen wir jetzt mit einander erwägen.

Es ist ein heimlich Wort, aus Gott thut es entspringen;
Nur wenn der Weltlärm schweigt, kann es ans Ohr dir dringen.
Gebietend stellt sichs hin, du mußt vor ihm dich beugen;
Was Gott sei und was du, das will es dir bezeugen.

In diesen Worten fasse ich die Lehre unsres Textes zusammen. Zuerst, meine Geliebten, laßt uns den verlesenen Text in seinem Zusammenhange betrachten! Gott einen lieben Mann seyn lassen, das fällt dem Menschen nicht schwer, so lange der liebe Gott thut, wie es dem Menschen gefällt, aber wie schwer hält es, den Glauben an den heiligen gerechten und barmherzigen Gott auch da zu bekennen, wo Gott das Widerspiel von alledem thut, was der Mensch wünscht! Das ist die Aufgabe, an der mehr als ein Frommer gescheitert ist in der Stunde der Anfechtung, und woran, wie das vorhin verlesene Textwort uns zeigt, auch ein Hiob gescheitert ist. Denn wo Gott anfängt, das Widerspiel zu thun von alle dem, was ich möchte, ach, da kann es wohl auch, wie es Hiob erging, einem Jeden widerfahren, daß er eine Anklage wider den Heiligen ausspricht, daß auch die Frommen in Worte der Verzweiflung ausbrechen, wie wir im vorhergehenden Kapitel lesen: „Warum bin ich nicht gestorben von Mutterleibe an? Warum bin ich nicht umgekommen, da ich aus dem Leibe kam? Warum hat man mich auf den Schoos gesetzt? Warum bin ich mit Brüsten gesäugt? So läge ich doch nun und wäre stille, schliefe und hätte Ruhe mit den Königen und Rathsherrn auf Erden, die das Wüste bauen; oder mit den Fürsten die Gold haben, und ihre Häuser voll Silber sind; oder wie eine unzeitige Geburt verborgen und nichts wäre, wie die jungen Kinder, die das Licht nie gesehen haben. “ (Hiob 3, v. 11-16. ) Wenn nun unter den Fluthen der Drangsal selbst Fromme solcher Verzweiflung unterliegen können, ach was für ein Segen dann, wenn einer einen frommen und weisen Freund zu besitzen so glücklich ist! Der Dichter spricht: „Um den Einsamen schleichen Gespenster. “ Ja, geliebte Christen, das gilt namentlich recht von den einsamen Stunden der Christen. Hat nicht darum der Herr für gut gehalten immer zwei Jünger auszuschicken, damit, wenn der eine strauchelt, doch der andere stehen bleiben und helfen kann? Einen solchen treuen Beistand hatte Hiob an seinem Freunde Eliphas. - Ein solcher Freund muß aber auch Kühnheit mit Liebe gepaart besitzen vor seinem Freunde. Er darf sich nicht scheuen, Reden auszusprechen, die wie ätzendes Salz in die Wunde fallen, und auch da darf er das ätzende Wort nicht zurückhalten, wo der, zu dem er spricht, höher stände, als er; wenn es selbst einer wäre, wie Hiob gewesen ist, der, wenn es ihm gut erging, Andere zu trösten und aufzurichten wußte, nun aber, da es ihm wider Willen ergeht, selbst zu wanken und zu klagen anfängt. Ein solcher kühner und zugleich liebender Freund war Eliphas, welcher zu Hiob sprach: „Du hast es vielleicht nicht gerne, so man versuchet, mit dir zu reden; aber wer kann sich es enthalten?“ (Hiob 4, V. 2. ) - O, ihr christlichen Freunde, möchte nur bei euch manchmal das Wort der Wahrheit herausbrechen in einem: „Aber wer kann sich's enthalten?“ Und wie's dort weiter heißt: „Siehe du hast Viele unterwiesen und müde Hände gestärket. Deine Rede hat die Gefallenen aufgerichtet und die bebenden Kniee hast du bekräftiget. Nun es aber an dich kommt, wirst du weich, und nun es dich trifft, erschrickest du. “ Und was nun hier im Texte der kühne und zugleich liebende Beistand seinem geprüften Freunde vorhält, das ist zweierlei. Die Wege der Gerechtigkeit Gottes hatte er angeklagt: da hält er ihm vor die Gerichte der Gerechtigkeit Gottes in der Geschichte schon hier auf Erden und dann zweitens die Gerichte des Gewissens im Verborgenen der menschlichen Brust, und auf diesen Theil seiner Vorhaltung richten wir unsern Blick.

Laßt uns sehen, was der Text uns darüber sagt: - Wie wir das Gewissen anzusehen haben! - Unter welchen Umständen dasselbe am stärksten würkt bei dem Menschen? - In welcher Gestalt sich es ihm vor Augen stellt? und - Welche Predigt es seinem Herzen hält? Das laßt uns sehen! -

Laßt uns zuerst die Worte erwägen, die wir im Anfange lesen: „Es ist ein Wort zu mir gekommen und an mein Ohr ein Wörtlein,“ darin ausgesprochen wird, wie wir das Gewissen anzusehen haben. Es wird uns hier gesagt: „Es ist ein heimlich Wort, aus Gott thut es entspringen. “ Ein Wort - wessen Wort? Gottes Wort, wie das Folgende uns zeigt. Ein Abgeordneter Gottes spricht durch das Wort, und dies Wort Gottes ist die Stimme Gottes. Das ist der Name, den die Sterblichen dem Gewissen gegeben haben und der über die Erde hin geht. Und in der That! es ist nicht, es kann nicht seyn deine eigene, selbstgemachte Stimme, es kann nicht entsprungen seyn aus dir; es muß entsprungen seyn aus Gott und nicht aus dir. Denn zuerst, wäre sie entsprungen aus dir, wie würde sie dir gerade den Widerpart halten, sich deinen Neigungen entgegenstellen? Wie oft aber, wenn du mit ganzer Seele von ihr ein Ja erbitten wolltest, hat sie ein unerbittliches „Nein“ gesprochen, und wie oft, wenn du ein „Nein“ verlangst - ein unerbittlich „Ja“! Sie ist aus Gott entsprungen und nicht aus deinem Fleisch und Blut. Denn, wäre es anders, wie würde sie denn zum Zeugen werden wider dich selber und als Zeuge gegen dich auftreten, wo kein menschlicher Zeuge den Dienst leisten könnte? Wie würde sie dann als Richter sich über dich erheben und zu Gericht sitzen über dich? Wie so viel Empörung und Aufruhr stiften in deiner eignen Brust? Denn du, du liebst ja doch den Frieden und die Behaglichkeit und siehe nur! - die Unruhe und Empörung in deiner eignen Brust. O, wie weiß diese Stimme den hochmüthigen Sünder in sich so zu Schanden zu machen, daß er sich vor sich selbst verkriechen und verbergen möchte! Da heißt es jetzt: „O, rede doch nicht so schlecht von dir!“ da heißt es wiederum: „du Heuchler, willst du dich selbst belügen?“ Da heißt es: „ Thor verdamme dich nicht selber!“ und wiederum heißt es: „Heuchler, wenn du dich selbst verdammst, ist das nicht das Zeugniß, aus dem du schon hier vorher weißt, dereinst verdammt zu werden?“ Und die Stimme kommt sicherlich nicht aus deinem Fleisch und Blut. Das ist eine Stimme, die von oben her entspringt. Aber das Wichtigste ist: Ist es nicht eine Stimme, die der Mensch nicht los werden kann, auch wenn er sie los werden möchte? O wie mancher, der es los zu seyn wünschte, reiste schon in fremdes Land, aber - ihm nach auch sein Gewissen! Wie Mancher möchte es im Feuer verbrennen und im Wasser ersäufen, und immer wieder ist es da! Es ist eigentlich nicht ganz richtig, daß ich das Gewissen habe: das Gewissen hat mich, und greift mich, wenn ich es los werden möchte. Es ist ein göttlicher Abgeordneter, und darum Gottes Stimme und nicht des Menschen Stimme. - „Ein heimliches Wort ist zu mir gekommen. “ Ja, ein heimlich Wort, so hat es auch oft die Stimme der Völker genannt. So sprach ein Ossian: „Es ist eine leise Stimme in mir, die spricht: Hilf dem Elenden in der Stunde des Wehes. “ Und warum hat es die Sprache ein heimliches, leises Wort genannt? Darum, weil es mit einem großen Haufen von Schutt bedeckt ist durch die Sünde, also - daß nur ein ganz leiser Ton davon tief aus dem Abgrunde wie Geisterstimme laut wird, die zu einem spricht. Ach, diese Stimme des Gewissens, wie sollte sie uns so vertraulich und nahe seyn, und wie ist sie dem Menschen doch so fremd von dem Tage an, wo Adam auf den Ruf des Herrn: „Wo bist du?“ sich verstecken mußte! Wie ist sie dem Menschen so fremd geworden! Eine leise Stimme ist es, so sie gebietet und kann ihr Recht sich nicht verschaffen; ist aber einmal die That gethan, so wird sie zum Schrei. So lange das Gewissen als Gesetzgeber auftritt, da kann es nickt durchdringen, da spricht es leise und heiser, wie Geisterstimme, ist aber die Thai gethan, dann wird die Stimme des Gesetzgebers zur Stimme des Richters und schreit: „Schuldig!“, schreit laut: „du bist gerichtet!“ Und das muß er hören und kann es nicht mehr zurückweisen. -

So heißt es weiter in unsrem Texte: „Und mein Ohr hat ein Wörtlein“ oder wie es im Grundtext heißt „ ein Geflüster“ aus demselben empfangen. „ Damit ist uns angezeigt, daß das Gewissen dem Menschen lange nicht Alles sagen kann, was es ihm sagen möchte, daß von dem großen Worte Gottes in ihm nur ein leises Geflüster zu seinem eignen Ohre dringt. Und warum? Ach, weil wir diese Stimme nur so unwillig und ungern in uns zu Worte kommen lassen. Darum weiß Keiner von euch, was alles das Gewissen euch zu sagen hat. Aber ihr macht es ja mit ihm entweder wie die Schlange, daß ihr ihm entgegen rufet: „Mit Nichten hat Gott gesagt: du sollst des Todes sterben,“ oder ihr weiset es von euch für den heutigen Tag, ihr macht es wie Felix, der Landpfleger, wenn er sagt: „Gehe hin für dieses Mal, wenn ich gelegnere Zeit habe, will ich dich wieder hören. “ Und wieder Einer übertäubt es mit Pauken- und Trompetenlärm, wie der reiche Mann, der in Herrlichkeit und in Freuden lebte. Ja, wie Mancher ist, der das Bankett aufsucht, weil er ein schreiendes Gewissen zu übertäuben hat; und wie Mancher, der ein Glas nach dem andern hinunter stürzt - warum? um das Gewissen zu ersäufen. Und daß ich noch mehr sage, selbst dieses fortwährende Schwätzen des Tages, dieses Geschäftsrad, das in immer neuem Umschwunge braust vor unsern Ohren, ach! auch das macht es, daß wir kaum unser eigentliches Selbst hören, den majestätischen Geist der in unserm Herzen redet. O, wir haben keine Zeit für das Gewissen! das ist das Herzeleid bei uns allen; und darum kommen wir nicht weiter im Christenthum und in der Sittlichkeit, bleiben nur beim Worte und kommen nicht zur That - weil wir keine Zeit haben für unser Gewissen! - Darum nun weiset unser Text uns hin auf die Umstände, unter welchen das Gewissen am besten bei dem Menschen würkt. „Nur wo der Weltlärm schweigt, kann es ans Ohr dir dringen. “

O, theure Christen, ist irgend eine Zeit, wo der Mensch Ursache hätte, sich Stunden der Einsamkeit zu halten, so wäre es diese, wo der Verkehr der Geschäfte und die Zerstreuung zunimmt gegen die frühere Zeit. Aber unsere Zeit begreift den Werth der Einsamkeit am wenigsten. Forscht nur nach in den Büchern der Geschichte, ob nicht die weltbewegenden Gedanken und Entschlüsse immer geboren sind in einsamen Stunden - wenigstens die im Gebiete der Religion. Nur in heiliger Stille geschieht die Vermählung des Gottesgeistes mit dem deinen. Vierzig Tage bleibt Moses in der Stille auf Horebs Höhen, wo er die Herrlichkeit Gottes sieht; vierzig Tage bleibt Christus in der Einsamkeit, bevor er hervortritt mit den die Welt neu bewegenden Gedanken; und ein Paulus - kaum hatte ihn das göttliche Licht erleuchtet und er Zeugniß abgelegt, da geht er hin in die stille Wüste Arabiens, weit von Menschen entfernt: das Gewissen soll allein zu ihm sprechen, er will allein seyn mit Gott. - Wenn das Gewissen ein Mal bei euch eingeschlagen hat, wie eilt ihr dann gleich wieder hinaus in die Zerstreuung der Welt, und im Geschwätz des Tages geht ihr dahin, unter solcher Zerstreuung flieht er von dannen der Geist, der euch gegeben war. O, ihr Jünglinge, haltet eure Seelen keusch, daß, wenn Gott euch etwas schenkt, und durch das Gewissen zu euch spricht, ihr es nicht gleichgültig wegwerft, sondern in die Einsamkeit gehet, und daß ihr's macht, wie Petrus im Hofe des Kaiphas, als der Herr ihn ansieht, da er ihn verleugnete; da hat Petrus auch nicht zu schwätzen angefangen, sondern er stürzte hinaus und weinte bitterlich, um allein zu seyn mit seinem Gewissen. So hat nun auch unser Text hingewiesen auf die Zeit, wo du vorzugsweise allein seyn kannst, auf die stille, heilige Nacht. Er sagt: „da ich Gesichte betrachtete in der Nacht, wenn der Schlaf auf die Leute fällt;“ ja, Nachtstunden, das sind die Stunden, wo der Mensch Manches erfährt, was er am Tage nicht erfährt. Ein Schriftsteller spricht seine Verwunderung darüber aus, daß der Mensch ruhend so Manches anders ansieht, als stehend und schreitend. Allerdings kommt mit der Ruhe des Körpers wohl auch eine Vertiefung der Selbsterkenntniß, ein gesammelteres Besinnen auf sich selbst. Und so ist denn die heilige Nacht eine Fundgrube, wo mancher Edelstein gefunden wird, der am Tage dem Auge verborgen war, neue Gedanken aufgehen, die keine Geistesarbeit im Tageslicht zu erzeugen vermochte. Da kann das Gewissen zuerst zu sprechen anfangen, da hat es endlich einmal dich sich gegenüber. In der Stille der Nacht kann es endlich Auge in Auge dich ansehen und darum ist eine nächtliche Selbstbetrachtung so fruchtbar. Bei dem Psalmisten heißt es: „Sprecht mit eurem Gewissen auf eurem Lager!“ - Und welche Schauder, wo das heimliche Wort bei Nacht vor dem Ohr des Verbrechers laut wird und er ihm nicht mehr entfliehn kann. „Gebietend stellt sich's hin; du mußt dich vor ihm beugen. “

Wir lesen in unserm Texte: „Und da der Geist vor mir überging, standen mir die Haare zu Berge an meinem Leibe. “ Jener schüchterne, leise Geist, den du oft hast verjagen und zum Schweigen bringen können, weil du nicht allein mit ihm warest - als er dich endlich einmal allein hat, siehe! wie mächtig er vor dir steht! Da bekommt er Gestalt vor dir, denn der Geist, der „vor dem Sänger vorübergeht,“ das ist das, was wir die objektive Macht des Gewissens über den Menschen nennen; und redet dich mit „Du“ an, wie ein König seine Unterthanen und der Herr seine Knechte mit „du“ anredet. Die Haare stehen an dem Leibe zu Berge, du bist erschrocken, denn hier spricht Einer, der mehr ist, als du. Und wer? das weißt du nicht; denn also ist das zerstreute Weltkind, das keine einsamen Stunden hatte, sich selbst sogar fremd, daß sein eignes Gewissen ihm fremd wird. Ein verhüllter Fremdling ist es dir, der neben dir gesessen bei deinem Schwärmen und deine Zeche geschrieben - das bekommst du jetzt zu erfahren. Denn jetzt hält er dir vor Augen deine Rechnung, nachdem er endlich dich einmal allein zu sprechen bekommt; nun ahnest du: „das ist ein Abgeordneter Gottes“ - freilich im Incognito, und das macht es eben, daß dir's am Leibe kalt hinunter rieselt. O leichtsinniger, zerstreuter Sünder, was wird es werden, wenn dieser verhüllte Bote Gottes einst sein Incognito abwirft und im hellen Sonnenlichte die Rechnung dir vorhält, die er schon hier geschrieben! Seht nun hier den Ungeheuern Unterschied zwischen dem Gotteskinde und dem Weltkinde! Das Gotteskind kannte den Fremdling, das ahnete ihn nicht bloß, für dieses hat er das Incognito abgeworfen. Das Kind Gottes weiß, mit wem es zu thun hat, daß es ein Abgeordneter Gottes ist, der durch vorgewiesenen Brief und Siegel ihm beweist, von welchem Könige er abgesandt ist. Das weiß das Kind Gottes: der höhere Abgeordnete - während ich singe, scherze und spiele, ist er an meiner Seite und schreibt meine Rechnung. Das Kind Gottes zittert vor dieser Rechnung auch; doch aber fürchtet es sich nicht, nein, es kann ihm in's Auge sehen und - zittert nicht, denn im Glauben hat es den gefunden, von dem es weiß, daß er seine Rechnung tilgt, Jesus Christus.

„Die Handschrift ist zerrissen,
Die Kette ist entzwei,
Ich liege ihm zu Füßen
Und juble: ich bin frei!“ -

So geschieht es dem Kinde Gottes; aber dem Kinde der Welt wird die Predigt gehalten, wenn es stille geworden ist, eine Predigt, die ihm Mark und Bein durchdringt. Denn: „Was Gott ist und was du, das will es dir bezeugen. “

Und als es stille ward, da hörete ich eine Stimme: „Wie mag ein Mensch gerechter seyn, denn Gott? Oder ein Mann reiner seyn, denn der ihn gemacht hat?“ So lautet das Zeugniß der Stimme, denn sie hat es mit einem zu thun, der wahrlich meinte, gerechter zu seyn, denn Gott, denn - er klagte die Wege Gottes an. Dem wird nun vorgehalten, was er selber ist und was sein Gott ist. Mensch, was bist du? Staub in einem irdenen Hause, von Würmern verzehrt! Was aber ist der, der dich gemacht hat? Dein Gott! der so geheißen ist weil er der Urquell ist aller Güter. Und dazu soll es zuerst mit dir kommen, daß du deine Endlichkeit und seine Unendlichkeit fühlst. Darum ist hier gesagt: „denn auch an seinen Knechten,“ d. i. an seinen himmlischen Geistern „findet er Thorheit,“ - das sind die Schranken der Erkenntniß - „um wie viel mehr,“ heißt es nun weiter „an denen, die in leimernen Häusern wohnen!“ Dies einzusehn, das ist die erste Frucht, die daraus hervorgeht, wenn das Gewissen dich nicht hat unter die Augen bekommen können, weil du ihm feldflüchtig geworden. Und ist in dir das Gefühl deiner Endlichkeit erwacht, die Kluft zwischen dir und dem Schöpfer sichtbar geworden, zwischen dir, dem Staubgebornen, und der Majestät, dann wirst du auch in die Kluft scheu zwischen dir, dem Sünder, und dem Heiligen im Himmel. „Ich, so spricht der Herr, der ich bin im Himmel und wohne im Heiligthum. “ Und weil Er im Himmel wohnt, darum sollst du Menschenkind deine Endlichkeit empfinden und deine Sündlichkeit. Und aus der Erkenntniß dieser beiden Stücke besteht die Demuth des Menschen vor Gott. Es ist freilich wahr, daß das Gewissen die Sünde erst dann recht an dir strafen kann, wenn es selbst die rechte Unterweisung in Gottes Wort empfangen hat.

Aber dennoch, es ist wahrhaft wunderbar, wenn du nur einmal allein bist mit deinem Gewissen und in die Einsamkeit gehest, wie viel dir vorgehalten werden kann auch ohne das Wort Gottes. Wie unzählige Dinge werden da aufgedeckt, an die man im Weltgetümmel nicht denken kann. Der Verstockteste, der keinem Richter hat Rede stehen wollen, lasse nur diesen heimlichen Prediger mit sich in die Zelle gehen, und aus hundert Zungen wird es über ihn erschallen: „Du bist gerichtet! Du bist gerichtet!“ -

Ihr Jünglinge aber, in deren Herz das Wort Gottes nicht spärlich, sondern so reichlich gesäet ist, was hat er euch nicht alles zu sagen, wenn er euch nur einmal unter vier Augen sprechen könnte! Seht, der Abgeordnete eures Gottes ist es, der von Gott Brief und Siegel empfangen hat. Denn, wäre es nicht so, wie könnte er mit solcher Majestät vor euch treten! O, so höret ihr ihn denn also! Denn möget ihr wollen, oder nicht, eure Rechnung schreibt er euch doch im Stillen, und der Tag kommt, wo er sie euch vorzeigen wird. O, selig, wer sich selbst richtet! Denn, wie der Apostel schreibt: „Wer sich selbst richtet, der wird nicht gerichtet. “ -

O Herr unser Gott, sammle die zerstreuten Seelen deiner Weltkinder, sammle sie, daß sie Rede stehen, wenn du durch deinen Abgeordneten mit ihnen sprechen willst! O Herr, lehre uns, lehre sie, daß wir unser eignes Heil versäumen, wenn wir uns dem nicht unter die Augen stellen wollen, der uns die Rechnung zwar schreibt und vorhält, aber uns zu dem hinweiset, der sie zu tilgen hat. O Herr, schenke den Geist der Sammlung den zerstreuten Kindern deiner christlichen Kirche, damit sie dem göttlichen Abgeordneten Rede stehen! Amen.

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