Thiersch, Heinrich Wilhelm Josias - Bergpredigt - Matthäus 6

Thiersch, Heinrich Wilhelm Josias - Bergpredigt - Matthäus 6

Die Almosen Mt 6, 1-4

„Habt acht auf eure Almosen, dass ihr die nicht gebt vor den Leuten, dass ihr von ihnen gesehen werdet; ihr habt anders keinen Lohn bei eurem Vater im Himmel. Wenn du nun Almosen gibst, sollst du nicht lassen vor dir posaunen, wie die Heuchler tun in den Schulen und auf den Gassen, auf dass sie von den Leuten gepriesen werden. Wahrlich, Ich sage euch: Sie haben ihren Lohn dahin. Wenn du aber Almosen gibst, so lass deine linke Hand nicht wissen, was die rechte tut, auf dass dein Almosen verborgen sei; und dein Vater, der ins Verborgene sieht, wird dir‘s vergelten öffentlich.”

Merkwürdige Entartung unter einem gottesdienstlichen, streng religiösen Volk, die so weit gehen konnte, dass man Almosenspenden öffentlich ausposaunen ließ! Dies mochte geschehen, wenn etwa ein Pharisäer durch den Ausrufer bekannt machen ließ, dass ein Stück seines Feldes für die Armen zum Abernten bereit stehe oder dass er bereit sei, an öffentlicher Tafel alle Dürftigen zu speisen. Die Verkehrtheit des menschlichen Herzens schleicht sich allzu leicht auch in die Übungen der Frömmigkeit ein. Es regt sich die Nebenabsicht, von den Menschen gelobt zu werden; dadurch wird, was wir tun, unrein, unser Eifer wird wertlos vor Gott. Vor solchen Gefahren will der Herr uns schützen, und Er zeigt uns, welche die rechte Art und Ausübung der Mildtätigkeit, des Betens und Fastens sei.

Hier sehen wir, dass es der Glaube ist, aus dem die Werke der Liebe hervorgehen müssen. Denn was liegt zugrunde, wenn man mit seinen Almosen von den Menschen bemerkt und gelobt werden will? Man hält sich an die Leute, die man sieht, und nicht an Gott, den man nicht sieht; aber eben dies ist der Unglaube, und Liebeswerke, die man mit solchen Nebengedanken vollbringt, sind durch den Unglauben befleckt.

„Durch den Glauben nehmen wir wahr, dass Gott ist und dass Er denen, die Ihn suchen, ein Vergelter sein werde” (Heb 1 1,6).

„Durch den Glauben hielt sich Mose an den, den er nicht sah, so als sähe er Ihn” (Heb 11,27).

Solches Vertrauen haben wir durch Jesus Christus zu Gott, dass Er uns als Vater liebt und dass Er gnädig annimmt, was wir in kindlicher Liebe zu Ihm tun. Diese Quelle muss rein erhalten werden, hier dürfen sich keine Rücksichten auf einen Lohn von den Menschen mit einschleichen. Wohl kann man sich solchen Lohn erwerben, wenn man es darauf anlegt; aber dann hat man nichts mehr von dem Vater im Himmel zu erwarten. Solche haben ihren Lohn dahin. Ein nichtiger Ruhm bei den Leuten ist alles, was sie bekommen; ein geistliches Wachstum und eine Anerkennung an jenem Tag, wo das Verborgene offenbar werden soll, bekommen sie nicht. Jetzt ist die Zeit, wo wir ein verborgenes Leben mit Christo in Gott zu führen haben, damit, wenn Christus geoffenbart wird, wir auch mit Ihm offenbar werden in Herrlichkeit (Kol 3; Jh 17,3.4).

Der Herr will uns vor der Einmischung verkehrter Absichten beschützen, zu denen das menschliche Herz immer geneigt ist. Deshalb gibt Er uns die Lebensregel: Lass deine linke Hand nicht wissen, was die rechte tut. Der Spruch bezieht sich auf die Art, wie man das Geld aus der rechten Hand in die linke zählt. Nicht die Öffentlichkeit an sich befleckt eine gute Tat, aber die unlautere Nebenabsicht, die sich bei der Öffentlichkeit, ehe man sich dessen versieht, einschleicht.

Unser Almosengeben soll so geräuschlos und unbemerkt wie möglich geschehen. Einen Weg hierzu hat uns der Herr in dem Offertorium der christlichen Kirche gezeigt. Da können wir unsere Liebesgaben für die Armen einlegen. Wir lernen dabei auf Gott und nicht auf Menschen blicken; und wenn durch Diakonen unsere Opfergaben den Armen überreicht werden, so erfährt weder der Diakon noch der Arme, von wem sie kommen. Der Arme ist dann mit seinem Dank nicht auf Menschen angewiesen, der Dank steigt auf zu dem Herrn, und von dem Herrn kommt der Segen auf den Geber. Zugleich wird auf diesem Weg das Ehrgefühl des Armen geschont und seine sittliche Würde aufrecht erhalten.

Auch von der Darbringung unserer Zehnten gilt die Regel: Lass die linke Hand nicht wissen, was die rechte tut. Wir sollen nicht merken lassen, wann und wie viele Zehnten wir entrichten und nicht hinterher davon sprechen; es muss soviel wie irgend möglich verborgen bleiben, nur dann wird der Vater, der ins Verborgene sieht, uns dafür segnen.

Lass mich an andern üben,
Was Du an mir getan,
Und meinen Nächsten lieben,
Gern dienen jedermann
Ohn Eigennutz und Heuchelschein,
Gleich wie Du mir erwiesen,
Aus reiner Lieb allein.

(Justus Gesenius)

Das Gebet im Kämmerlein Mt 6, 5-8

„Und wenn du betest, sollst du nicht sein wie die Heuchler, die da gerne stehen und beten in den Schulen und an den Ecken auf den Gassen, auf dass sie von den Leuten gesehen werden. Wahrlich, ich sage euch: Sie haben ihren Lohn dahin. Wenn du aber betest, so gehe in deine Kammer und schließ die Tür zu und bete zu deinem Vater im Verborgenen; und dein Vater, der in das Verborgene sieht, wird dir‘s vergelten öffentlich. Und wenn ihr betet, sollt ihr nicht viel plappern wie die Heiden; denn sie meinen, sie werden erhört wenn sie viele Worte machen. Darum sollt ihr euch ihnen nicht angleichen. Euer Vater weiß, was ihr bedürfet, ehe denn ihr Ihn bittet.”

Es gibt ein kirchliches Gebet,
es gibt ein Gebet in der Familie,
es gibt ein Gebet der einzelnen Seele im Kämmerlein.

Das letzte scheint den gesetzeseifrigen Juden sehr abhanden gekommen zu sein. Darum unterrichtet Christus Seine Jünger über dasselbe. Doch will Er damit den kirchlichen und den häuslichen Gottesdienst nicht aufheben.

Wir gehen zur Kirche, aber unser Kirchgang muss ganz frei sein von dem Wunsch, uns dadurch den Menschen zu empfehlen, sonst ist es kein Gott angenehmer Dienst. In dem öffentlichen Kultus der Kirche ist es die Gemeinschaft aller, die sich in Christo und durch Ihn dem himmlischen Vater naht und darbringt. Hierbei darf der einzelne sich nicht zur Schau stellen, sich nicht bemerkbar machen; dies wäre Pharisäismus und Entweihung des heiligen Dienstes. Das Gebet des Herzens ist die rechte Vorbereitung auf den öffentlichen Gottesdienst. Das Gebet des Herzens ist der Lebensodem des inneren Menschen; wo es ermattet und verstummt, da ist gewiss das geistliche Leben erkrankt und in Gefahr der Erstickung. Wo aber das Gebet im stillen geübt wird, da findet man umso mehr Kraft, Förderung und Freude in der feierlichen, kirchlichen Anbetung Gottes.

Auch hier gibt der Herr eine Lebensregel:

„Wenn du betest, gehe in dein Kämmerlein und schließ die Tür zu.”

Der Herr ermuntert Seine Jünger, dass jeder sich ein solches Kämmerlein suche, Ort und Gelegenheit, wo er unbemerkt von den Menschen sein Herz vor Gott ausschütten kann. Er Selbst ging öfters auf einen Berg allein zu beten. Wenn jemand keine Kammer für sich hat, soll er sich vor seinen Mitmenschen nicht scheuen, morgens und abends sein stilles Gebet kniend zu verrichten. Weil so viele in ihrer Häuslichkeit die rechte Stille und Ruhe nicht finden, sollte das Gotteshaus als eine Zufluchtsstätte Tag für Tag offenstehen, damit jeder einzelne, wenn er will, daselbst sein Gebet sprechen kann, ohne Aufsehen zu erregen. Unsere Andacht in dem Kämmerlein soll nicht in den Worten der feierlichen Kirchengebete gefasst sein, sondern aus dem Herzen hervorgehen, wie ein Kind mit Vater und Mutter redet. Doch ist es die Kirche, in der wir nicht allein den Geist des Gebets, sondern auch Unterweisung über die Gegenstände und Anliegen empfangen, die wir vor Gott bringen sollen. Nicht gegen die lange Dauer eines ernsten, anhaltenden Gebetes spricht Christus Sich aus, denn Er Selbst hat ja ganze Nächte im Gebet zugebracht. Er warnt vor jener Heuchelei, die Gott schon in alter Zeit an den Israeliten gerügt hat: „Dies Volk ehrt mich mit den Lippen, aber ihr Herz ist ferne von mir” (Jes 29,13; Mt 15,8).

Die Heiden meinten, sie würden erhört, wenn sie viele Worte machten, sie wollten (wie jene Priester Baals 1 Kön 18,26-29) ihre Götter ermüden und dadurch zum Nachgeben zwingen. Sie hatten kein Licht und kein kindliches Vertrauen zu dem Vater im Himmel. Jetzt aber will Gott solche Anbeter haben, die Ihn als ihren rechten Vater kennen, die nach Seinem Sinn bitten, die im Glauben bitten und nicht zweifeln, ob ihr Gebet im Himmel angenommen sei (Jak 1,5-8). Unser Vater weiß, was wir bedürfen, wir brauchen es Ihm nicht erst ausführlich zu erzählen; aber was Er zu hören verlangt, ist der Ruf des Glaubens, was Er sehen will, ist ein demütiges, ein kindliches Herz. Er harrt darauf, dass Er uns gnädig sei; ehe wir rufen, will Er uns erhören; während wir noch reden, will Er uns antworten.

Wachsamer Jesu, ohne Schlummer,
In großer Arbeit, Müh und Kummer
Bist Du gewesen Tag und Nacht.
Du musstest täglich viel ausstehen,
Des Nachts lagst Du vor Gott mit Flehen,
Du hast gebetet und gewacht.
Gib mir auch Wachsamkeit,
Dass ich zu Dir allzeit
Wach und bete. Jesu, ei nu,
hilf mir dazu,
Dass ich auch wachsam sei wie Du.

(Bartholom. Crasselius)

Das Vaterunser Mt 6, 9-15

„Darum sollt ihr also beten:
Unser Vater in dem Himmel.
Dein Name werde geheiligt.
Dein Reich komme.
Dein Wille geschehe auf Erden wie im Himmel.
Unser täglich Brot gib uns heute.
Und vergib uns unsere Schulden
wie wir vergeben unsern Schuldigern.
Und führe uns nicht in Versuchung,
sondern erlöse uns von dem Übel.
Denn so ihr den Menschen ihre Fehler vergebet, so wird euch euer himmlischer Vater auch vergeben.
Wo ihr aber den Menschen ihre Fehler nicht vergebet,
so wird euch euer Vater eure Fehler auch nicht vergeben.”

Einst, da die Jünger mit heiliger Scheu wahrgenommen hatten, wie der Herr lange im Gebet verharrte, da sie vielleicht auch einige Worte Seines Gebetes vernommen hatten, sprach einer von ihnen den Wunsch aus:

„Herr, lehre uns beten, wie auch Johannes der Täufer seine Jünger beten lehrte” (Lk 11,1).

Darauf teilte Er ihnen zum ersten Mal das Vaterunser mit. Warum also nennen wir es das Gebet des Herrn? Nicht bloß, weil Er es vorgeschrieben hat, sondern weil Er es Selbst gebetet hat. Es ist aus Seinem Herzen hervorgegangen, es enthält die Anliegen, die Er im stillen vor Gott brachte. In den Psalmen sehen wir allen Heiligen ins Herz, auch über die Leiden Christi und die Vorgänge in Seinem Innern geben sie uns Aufschluss. Ähnlich ist es mit dem Gebet des Herrn. Es eröffnet uns einen tiefen Blick in Seine heilige Seele und in Sein Glaubensleben. Dieses Inhalts waren die Gebete, die Er in den Tagen Seines Fleisches darbrachte. Und nun will Er, dass auch Seine Jünger darauf eingehen, sich Ihm anschließen und im gleichen Sinn mit Ihm bitten. Wir hören Seine Stimme jetzt nicht mehr so wie Seine Jünger sie hörten, aber Sein Gebet ist nicht verstummt Seit Seinem Eingang in die Herrlichkeit erscheint Er vor Gott und bittet dort für uns, und die Anliegen Seines Volk es, die Er jetzt auf Seinem Herzen trägt, sind nicht andere als damals. Auch sie sind im Vaterunser ausgesprochen.

Der heilige Cyprianus sagt in seiner Erklärung des Vaterunsers: „Durch Christi Gebet steigen wir auf zu Gott, und dieses Gebet, das von Ihm stammt, ist Ihm befreundet und vertraut. Indem wir beten, erkennt der Vater die Worte Seines Sohnes. Der Sohn, der in unserem Herzen wohnt, ist auch in unseren Worten, und indem wir, die wir sündig sind, unsere Vergehungen abbitten, bringen wir die eigenen Worte unseres Fürsprechers dar.”

Was heißt im Namen Jesu bitten? Wir müssen in Seinem Sinne und in Übereinstimmung mit Seinem Willen bitten. Aber das ist nicht alles. Das konnten die Jünger schon damals, und doch sagte Er zu ihnen: „Bisher habt ihr nichts gebeten in Meinem Namen” (Joh 16,24).

Er war noch nicht verklärt, und ‘die Jünger standen noch nicht in der geheimnisvollen Einheit mit Ihm, aber jetzt ist Er zum Vater gegangen, jetzt ist Er zum Haupt Seiner Kirche gesetzt, jetzt sind wir mit Ihm lebendig gemacht und in himmlische Orte versetzt, wir sind ein Geist mit Ihm. Jetzt können wir im innigsten Anschluss an Ihn bitten, durch Ihn kommen wir zum Vater, und unsere Gebete sind Seine Gebete. Er nimmt unsere Anbetung auf und gibt ihr die rechte Weihe und Vollkommenheit. In dieser Zuversicht, im Bewusstsein dieser geheimnisvollen Einheit mit Christo bitten, das heißt in Seinem Namen bitten. Dieses also lernen wir im Vaterunser, und so oft wir es darbringen, soll es im Aufblick zu Christo unserem Haupt und im Bewusstsein unserer seligen Gemeinschaft mit Ihm geschehen.

Wer außer Ihm konnte zu Gott sagen: Vater! Niemand hatte die Macht, diese Anrede in ihrem vollen und tiefen Sinn zu gebrauchen, ausgenommen der eingeborene Sohn, denn „niemand kennt den Vater denn nur der Sohn und wem Ihn der Sohn will offenbaren“ (Mt 11,27).

Nun aber offenbart Er uns den Vater, denn Er bittet: Unser Vater. Er schließt uns also mit ein, Er nimmt uns mit, Er bringt uns zu Gott, Er nimmt uns mit auf in die Kindschaft, die Ihm gehört, Er verleiht auch uns das Recht, Abba, lieber Vater, zu rufen, Er betrachtet uns als Seine Brüder, und mit den Worten: Vater unser, bezeugt Er, dass der Vater uns lieb hat, wie Er Ihn lieb hat.

Die Gebete der christlichen Kirche sind gemäß diesem Vorbild an den Vater gerichtet, denn die Kirche ist in Christo und kommt durch Christum zum Vater. Doch in solchen Fällen, wo der Sohn besonders hervortritt und verherrlicht wird, wie bei der Austeilung der heiligen Kommunion, bei der Versiegelung, bei der Priesterweihe, geht auch ein Gebet an Jesum Christum voran, in den Hymnen und in den Gebeten der Kirche zu Pfingsten wird auch der Heilige Geist angerufen. Alles dieses hat einen tiefen Grund. So bekennt die Kirche mit der Tat, dass jede der drei göttlichen Personen wahrer Gott ist und doch nur ein Dreieiniger Gott, in welchem wir leben, weben und sind. Die Kirche ist erfüllt mit dem Geheimnis der Dreieinigkeit, und sie verkündigt und offenbart dies Geheimnis in ihren Gottesdiensten; denn sie betet im Heiligen Geist durch den Sohn zum Vater.

Es gibt Christen, welche meinen, sie müssten alle ihre Gebete, oder doch die meisten, an den Heiland richten, nicht an den Vater. Bei den ersten Anfängen des Glaubens ist dies vielleicht in Ordnung, aber wenn man immer dabei stehenbleibt, so ist es ein Zeichen von schwacher Erleuchtung. Es hängt zusammen mit der irrigen Meinung, als wenn die Liebe und Barmherzigkeit des Sohnes größer wäre als die des Vaters; aber Jesus Christus sagt:

„Er Selbst, der Vater, hat euch lieb” (Joh 16,27).

Es ist ein Zeichen, dass man kein völliges Vertrauen hat zu der geschehenen Versöhnung unserer Sünden und kein lebendiges Bewusstsein von dem Stand, in welchen wir durch die heilige Taufe erhoben sind. Das höchste Vorbild für die Gebete der Kirche ist und bleibt das Vaterunser.

Wir lernen beten: Unser Vater, und im ganzen Gebet kommt das Wörtlein ich nicht vor, sondern wir und uns. So hat der Herr gebetet, und doch, wenn irgend jemand das Recht hätte, sich im Geist abzusondern, beiseitezutreten und für sich allein zu bitten, so hätte Er das Recht gehabt, der allein heilig ist. Aber wir sehen, Er hat im Gebet gemeinsame Sache mit Seinen Jüngern gemacht. Er trennt Sich nicht von uns, Er steht für uns ein. Wieviel mehr geziemt es uns, dass wir nicht ein jeder das Seine suchen, sondern miteinander und füreinander zu Gott kommen! Der Herr lehrt uns durch dies Gebet die Einheit der Kirche und die Pflicht der Liebe.

Zur Erfüllung dieser Pflicht gehört die Fürbitte. Alle unsere Gebete und Gottesdienste sollen ein Bekenntnis der Einheit mit der ganzen Kirche und ein Tatbeweis der Liebe zu allen Kindern Gottes sein. So oft wir Gottesdienst halten, erscheinen wir in unserer Verbindung mit der gesamten Kirche, im Namen aller Christen legen wir das Sündenbekenntnis ab, die Sache aller Unglücklichen und aller Sünder führen wir in der Litanei, die heiligsten Anliegen der Kirche sprechen wir aus in der heiligen Eucharistie und in der großen Fürbitte. So sehr stimmt dieser Gottesdienst, in dem wir uns üben, mit dem Sinn Jesu Christi und mit Seinem Gebet überein. Um so freudigere Gewissheit haben wir, dass der Herr Selbst es ist, der Seine Diener und durch sie Seine Kirche also beten gelehrt hat.

Wir sagen: der Du bist im Himmel, oder nach dem Grundtext: in den Himmeln (Vgl. 1 Kön 8,27). Wir nennen uns Kinder dessen, der im Himmel ist, wir bekennen, dass wir aus Gott geboren sind und unsere wahre Heimat nicht auf dieser armen Erde haben, sondern dort, wo Christus ist, zur Rechten Gottes. Ist der Vater himmlisch, so sind auch die Kinder himmlisch. Solcher Art ist unser Wesen, solcher Art soll auch unsere Gesinnung und unsere Hoffnung sein. In den Worten, der Du bist im Himmel, liegt schon der Aufschwung zu jenem unvergänglichen Reich und ein freudiger Dank wegen der Herrlichkeit, die bereits in uns ist und die an uns offenbar werden soll.

Das apostolische Glaubensbekenntnis und das Vaterunser wurden in der alten christlichen Kirche vor der Welt geheim gehalten und den Katechumenen erst, wenn man ihnen Vertrauen schenkte, kurz vor dem Empfang der heiligen Taufe, mündlich mitgeteilt und in ihr Herz und Gedächtnis eingeprägt. Beim Eingang in die Taufkapelle sprach der Täufling gegen Abend gewendet die Entsagung aus: „Ich entsage dem Teufel und allem seinem Wesen und allen seinen Werken.” Dann, gegen Morgen gewendet, sprach er: „Ich glaube an Gott, den allmächtigen Vater”, usf. das apostolische Glaubensbekenntnis. Hierauf wurde er getauft, und dann, mit dem weißen Kleid angetan, betete er zum ersten Mal: „Vater unser, der Du bist im Himmel.” So ist das Vaterunser das Gebet der Wiedergeborenen, der Kinder Gottes, die den Sinn Christi haben.

„Der neue Mensch, wiedergeboren und für Gott durch Seine Gnade wiedergewonnen, hebt an mit der Anrede: Vater, weil er nun angefangen hat, Gottes Kind zu sein. Denn wie viele Ihn aufnahmen, denen gab Er Macht, Gottes Kinder zu werden, denen die an Seinen Namen glauben. Indem wir also anheben, danken wir und bekennen feierlich, dass wir Gottes Kinder sind” (Cyprianus).

Ein Sprichwort lautet: Not lehrt beten. Leider steht es mit uns gewöhnlich so, dass erst die Not über uns kommen und zum Gebet treiben muss. Wer aber erst in der Not und nur in der Not betet, der sucht das Seine. Als Kinder Gottes lernen wir im Gebet vor allem das suchen, was Gottes ist: Dein Name, Dein Reich, Dein Wille, das sind die Gegenstände der drei ersten Bitten. So lernen wir, von uns selbst und von unseren oft kleinlichen Anliegen absehen, in den Sinn Jesu Christi eingehen und vor allem die großen Anliegen des Reiches Gottes zu Herzen nehmen.

I. „Geheiligt werde Dein Name.„

Gottes Name ist heilig, denn Gott hat Seine Heiligkeit in Seinen Namen gelegt, in der Anrufung Seines Namens liegt Segen und Kraft, vor Seinem Namen beugen sich die Engel, zittern die Teufel. Durch Seinen Namen geschehen Wunder.

Wer ihn missbraucht, der bleibt nicht ungestraft.

Gottes Name wird geheiligt durch Anbetung und Lobgesang, er wird geheiligt, wenn Gottes Wille und Wahrheit lauter verkündigt und mit Ehrfurcht aufgenommen wird. Danach steht unseres Herzens Verlangen, dies ist die erste Bitte; doch reicht sie noch weiter. Gottes Name wird entheiligt, wenn das Volk, das nach Seinem Namen genannt ist, nicht würdig wandelt. Diese schwere Schuld lag auf den Juden: „Um euretwillen wird Mein Name gelästert unter den Heiden” (Jes 52,5).

So steht es jetzt wieder; jetzt sind wir Christen das auserwählte Volk, durch unseren Wandel sollten die Heiden und die ungläubigen Juden zum Glauben erweckt, erleuchtet und zur Anbetung des Namens des Herrn bewogen werden. Aber die Juden bleiben verstockt, weil sie sagen können: Ihr Christen seid in manchen Stücken schlimmer als wir. Sie wollen von dem Namen Jesu Christi nichts hören, weil sie an uns die rechten Früchte nicht sehen. Und wenn die Boten des Evangeliums den Heiden die christliche Lehre predigen, so bekommen sie zur Antwort: Eure Religion kann nicht die wahre sein, denn ihr Europäer habt Verderbnisse und Laster aller Art mitgebracht, ihr habt Ungerechtigkeit, Tyrannei und Grausamkeit gegen uns ausgeübt. Und wenn man fragt, wie die Ungläubigen unter uns Christen so weit gekommen sind, so werden sie sagen, durch das unheilige Beispiel so vieler Bekenner Christi und namentlich mancher Geistlichen fänden sie sich veranlasst, an den Namen des Herrn nicht zu glauben. So liegt auf uns Christen die große Schuld der Entheiligung des Namens des Herrn. Nachdem nun der Abfall so hoch gestiegen ist, was kann noch geschehen, damit der Name des Herrn geheiligt werde? Etwas kann noch geschehen: wenn wieder ein heiliges Volk, das in den Wegen des Herrn wandelt, gesehen wird:

„Wenn sie sehen ihre Kinder, Meiner Hände Werk unter ihnen, werden sie Meinen Namen heiligen und den Gott Israels fürchten” (Jes 29,23).

Dies ist ein Anliegen, das wir in der ersten Bitte vor Gott bringen, es ist die Bitte des Herrn für Seine Jünger, dass sie eins seien mit Ihm und in Seinem Vater, „auf dass die Welt glaube, Du habest mich gesandt” (Jh 17, 2 1).

Es ist die Bitte um die Vollendung der Kirche, es ist das sehnliche Verlangen des Heiligen Geistes, dass Jesus Christus in uns verklärt werde, dass Seine Tugenden an uns erscheinen, und dass endlich die Kirche, aufgenommen in Seine Herrlichkeit, das vollkommene Werkzeug zur Anbetung und zur Verkündigung des göttlichen Namens werde.

II. „Dein Reich komme“.

Die Menschen haben den Zusatz gemacht „zu uns“; sie haben zuviel an sich gedacht. Der Herr Selbst hat diese Einschränkung nicht beigefügt. Das kommende Reich soll nicht bloß zu uns kommen, es soll Himmel und Erde erfüllen.

Es gibt ein Reich der Natur, worin die göttliche Allmacht waltet; dies braucht nicht zu kommen, denn es ist schon da. Aber es gibt auch ein Reich der Gnade, dieses ist jetzt im Kommen begriffen, dieses soll endlich in Herrlichkeit offenbar werden und triumphieren. Das Reich der Gnade und das Reich der Herrlichkeit sind nicht zwei Reiche, sondern ein Reich unter dem Einen König Jesus Christus. Dieses Reich ist jetzt als ein Geheimnis schon vorhanden und wird dann erscheinen in Kraft. Wenn wir also bitten: Dein Reich komme, so verlangen wir danach, dass jetzt das Reich der Gnade wachse und erstarke und dass es bald als Reich der Ehren hervorleuchte. Dieses ist die Sehnsucht aller Gerechten von Anfang der Welt, danach sehnt sich mit uns und seufzt alle Kreatur; denn auch sie, welche dem Dienst des Verderbens ohne ihre Schuld unterworfen ist, harrt auf die Offenbarung der Kinder Gottes (Röm 8, 19-23).

Tausendmal Tausende beten das Vaterunser und fassen doch den Sinn nicht, den der Herr in diese Bitte gelegt hat. Denn in dieser Bitte liegt zweierlei, woran so wenige denken: das Verlangen nach der Wiederkunft Jesu Christi und nach der Auferstehung der Gerechten. Richtiger und tiefer, als es jetzt geschieht, fasste man diese Bitte in der christlichen Kirche vor alters.

Cyprian lehrt: „Christus Selbst ist gemeint, wenn wir sprechen: Dein Reich komme; Er, dessen Kommen wir täglich wünschen, dessen baldiges Erscheinen wir ersehnen.“

So schließt denn diese zweite Bitte in sich den Ruf des Geistes und der Braut: „Komm, Herr Jesu!“ (Offb 22,17.20).

Wir bitten, wie es uns im Katechismus (16. Antwort) ausgelegt wird, „dass Gott, der Vater, Seinen Sohn vom Himmel senden wolle, damit alle Völker Ihm dienen und die Reiche der Welt unseres Gottes und Seines Gesalbten werden.“

Denn das Königreich der Himmel kommt nicht in voller Wirklichkeit, es sei denn, dass der König Selbst komme. Er kommt in Seinem Reich (Lk 23,42), und dasselbe erscheint, wenn Er erscheint.

Zu diesem Reich gehören auch die entschlafenen Heiligen. Sie ruhen von ihrer Arbeit, aber sie haben ihre Kronen noch nicht empfangen, die der Herr für sie erworben und ihnen beigelegt hat. Er kommt, und Sein Lohn mit Ihm. Der Tag Seiner Wiederkunft ist der Krönungstag Seiner Kirche, dann werden die Seinen Könige sein mit Ihm, Vermittler Seines Segens für die Menschheit und für alle Kreaturen.

Soll das Reich kommen, so müssen Seine Heiligen kommen, nämlich wiederkommen aus dem Reich der Vergessenheit, um die Herrschaft mit Christo anzutreten.

Fragen unsere Mitchristen, wo geschrieben stehe, dass man für die verstorbenen Gerechten beten solle?

So ist die Antwort:

Im Vaterunser, denn die zweite Bitte schließt in sich das Gebet der christlichen Kirche:

„Laß sie“ - die in Christo Entschlafenen - „ruhen in Deinem Frieden und erwachen zu einer fröhlichen Auferstehung.“

III. „Dein Wille geschehe“

Die Folge wird sein, dass dann der Wille Gottes auch auf Erden geschieht, wie er im Himmel geschieht. Bei der dritten Bitte blicken wir hinein in die Engelwelt, wir vergegenwärtigen uns, wie von jenen reinen himmlischen Wesen der Wille Gottes mit Freuden, mit Entschlossenheit, in heiliger Ordnung und in vollkommenem Gehorsam ausgeführt wird, und uns verlangt danach, dass er ebenso auch durch uns Menschen auf Erden geschehe.

In diesen drei ersten Bitten liegen die größten Verheißungen. Es sind die Bitten Jesu Christi, und sollten Seine Gebete nie in Erfüllung gehen? Sie werden erhört, und weil Er diese Bitten uns gelehrt hat, so sind wir ganz gewiss, die Zeit kommt, wo der Name Gottes vollkommen geheiligt wird, wo der Sieg Seines Reiches erscheint und wo in einem neuen Himmel und auf einer neuen Erde der wohlgefällige Wille Gottes zu seiner ganzen Ausführung gelangt.

Wir lernen, wozu die Erde geschaffen und bestimmt ist: Sie soll nicht auf immer eine Stätte des Jammers und ein Gefilde der Toten bleiben, sie soll zur Wohnstätte der Gerechtigkeit werden und mit Erkenntnis des Herrn erfüllt, wie die Wasser den Grund des Meeres bedecken. solcher Art sind die Ratschlüsse Gottes, der Herr Selbst hat sie in diesen drei Bitten zusammengefasst und hat uns damit verbürgt, dass sie in Erfüllung gehen werden.

Aber auch eine Verpflichtung nehmen wir in diesen drei Bitten auf uns: Wir machen uns verbindlich, in unserem geringen Teil den Namen des Herrn zu heiligen, an der Förderung Seines Reiches zu arbeiten und Seinem heiligen Willen zu gehorchen.

So bringen wir im Vaterunser dem himmlischen König unsere Huldigung dar, wir stellen uns in Seinen Dienst, wir weihen uns und geben uns Ihm hin mit freudigem und freiwilligem Herzen, um zu Seiner Ehre zu leben.

Wir bekennen uns zu dem Bund, den Er in der heiligen Taufe mit uns aufgerichtet hat, und wir setzen unser ganzes Vertrauen auf Ihn, dass Er uns die zur Erfüllung dieser Bundespflichten dienende Kraft und Gnade geben wird.

Aus der dritten Bitte schöpfen wir Trost und Beruhigung in den Leiden dieser Zeitlichkeit. Was uns auch hier auf der Erde widerfahren mag, wir nehmen es an aus der Hand unseres himmlischen Vaters. Wir bekennen, dass uns nichts geschehen kann ohne Seinen Willen; und wenn Er Schmerzen uns auferlegt und uns das Kreuz geraume Zeit tragen lässt, so sagen wir: „Dein Wille geschehe, wie im Himmel, so auf Erden.“

Beugen sich die heiligen Engel, die starken Helden, unter Deinen Willen und wir sollten nicht tragen, was Du uns auferlegst? Wenn böse Menschen uns antasten, so werden wir nicht erbittert, denn wir erkennen auch in dem, was sie uns tun, den Willen und die Schickung Gottes. Wir sagen mit David, als Simei ihm fluchte und ihn mit Steinen bewarf: „Der Herr hat es ihn geheißen“ (2 Sam 16,5-10).

Die größte Bekümmernis eines Christen entspringt nicht aus seinen eigenen Leiden, sondern daraus, wenn er andere leiden sieht und es nicht ändern kann. Verzieht die göttliche Hilfe, erscheint nicht bald die Antwort auf unsere Fürbitte, so bleibt uns noch der Trost: „Dein Wille geschehe.“

Solang im Herzen ein Widerstreben gegen den Willen Gottes bleibt, ist das Kreuz unerträglich; solange wir „nein“ sagen zu den schweren Schickungen Gottes, sind wir voll Unruhe; wenn wir aber nicht mehr „nein“ sagen, sondern: „Ja, Vater!“ (wie der Herr Jesus Christus gesagt hat, Mt 11,26), dann kehrt Friede in unser Inneres ein, und die auferlegte Last ist nur noch halb so schwer.

Die im Glauben die dritte Bitte beten, können bei den Leiden dieser Zeit mit dem Apostel sagen: „In dem allen überwinden wir weit, wir sind mehr als Sieger, um dessen willen, der uns geliebt hat“ (Röm 8,37).

IV. „Unser täglich Brot gib uns heute.“

Nachdem wir um das gebeten haben, was zur Ehre Gottes dient, erlaubt uns der Herr, zu dem herabzusteigen, was uns mangelt, und dieses dürfen wir alles zusammenfassen in den Worten: „Unser täglich Brot gib uns heute.“

So lernen wir im Vaterunser das Wort des Herrn erfüllen: „Suchet zuerst das Reich Gottes und Seine Gerechtigkeit, so wird euch solches alles“ (Nahrung, Kleidung, Gesundheit und irdisch Gut, welches die Heiden für das wichtigste halten) „hinzugefügt werden.“

Im täglichen Brot ist alles enthalten, was die Schöpfergüte Gottes für unser zeitliches Wohl bereitet hat. Wir bitten nicht um Vorrat für zukünftige Zeiten, wir dürfen nicht um Reichtum und Überfluss bitten; wenn wir Nahrung und Kleidung haben, sollen wir uns damit begnügen (1 Tim 6,8).

Wir bitten nur, dass wir und die Unsrigen Tag für Tag das Notwendige empfangen. So lehrt uns der Herr in dieser Bitte Bescheidenheit, und wenn uns etwas mehr zuteil wird als wir bedürfen, so dürfen wir das Herz nicht daran hängen. Wir erkennen zugleich durch diese Bitte an, dass das irdische Brot ein Geschenk unseres himmlischen Vaters ist, wofür wir Ihm danken müssen, weil wir es ohne unsere Würdigkeit von Seiner Barmherzigkeit empfangen.

Doch nicht bloß das Zeitliche und Vergängliche ist in dieser Bitte gemeint: der heilige Cyprianus und andere Väter weisen auf das Brot hin, das vom Himmel kommt und gibt der Welt das Leben, wie auch in unserem Katechismus die Bitte gedeutet wird; und weil wir diese unvergängliche Speise, deren unsere Seele bedarf, vorzüglich in dem Heiligen Sakrament des Altars empfangen, wird das Gebet des Herrn in der Liturgie unmittelbar vor der Konsekration oder vor der Heiligen Kommunion gebetet, so dass wir durch die Konsekration und im Genuss des Heiligen Abendmahls ganz besonders die Erhörung der vierten Bitte empfangen. „Wir bitten“, sagt Cyprianus, „dass uns dieses Brot Tag für Tag gegeben werde, damit wir, die wir in Christo sind und täglich die Eucharistie als Speise des Heils empfangen, nicht etwa durch eine schwere Sünde von der Teilnahme an dem himmlischen Brot Christi ausgeschlossen und von dem mystischen Leib Christi getrennt werden.“

Wir übernehmen durch diese Bitte zugleich eine Verpflichtung. Der Apostel sagt: „Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen“ (2 Thess 3, 10).

Also indem wir Speise von dem himmlischen Vater erwarten, verpflichten wir uns zugleich, diese Bedingung zu erfüllen und ein jedes in dem Beruf, den ihm Gott angewiesen hat, fleißig zu arbeiten, sonst können wir diese Bitte nicht mit gutem Gewissen sprechen. Wer so viel Vermögen hat, dass er zu seiner Lebenshaltung nicht zu arbeiten braucht, soll dennoch arbeiten und soll seinen Überfluss nach dem Sinne Gottes anwenden. Was er täglich genießt, soll er als ein Geschenk aus der Hand Gottes mit Danksagung hinnehmen.

Indem uns der Herr diese Bitte in Herz und Mund legt, befreit Er uns von einem der größten Seelenleiden, nämlich von den Sorgen der Nahrung. Denn auch in dieser Bitte liegt, weil wir sie von dem Herrn gelernt haben und weil der Herr sie annimmt und für die Erhörung einsteht, eine Verheißung: das Notwendige soll uns von Tag zu Tag werden.

Wer von Herzen so betet, in dem erlöschen die quälenden Gedanken: Was werden wir essen, womit sollen wir uns kleiden? Dieses Gebet, im Glauben ausgesprochen, verscheucht die Nahrungssorgen, nimmt aber die Nahrungssorge durch Unglauben überhand, so verscheucht sie das Gebet.

Diese beiden Dinge, Gebet und Sorge vertragen sich nicht miteinander und können nicht zusammen in einem Herzen hausen. Das eine oder das andere muss weichen. Dringt die Nahrungssorge heran und beschwert sie wie ein Stein das Herz, so können wir durch ein gläubiges Gebet diesen Stein abwälzen. „Alle eure Sorge werft auf Ihn, denn Er sorgt für euch“ (1 Petr 5,7). Lagern sich schwere Gedanken über das Zeitliche in unserm Innern, so sollen wir sie in Gebete verwandeln; dann steigen sie als Bitte zum Himmel empor und das Herz wird wiederum leicht.

V. „Vergib uns unsere Schulden“

In der fünften Bitte: „Vergib uns unsere Schulden“ liegt ein unaussprechlicher Trost. Hätte der Herr, indem Er uns das Vaterunser lehrte, diese Bitte ausgelassen, wer dürfte dann wagen, ein Vaterunser zu beten?

Aber der Herr hat diese Bitte eingefügt, damit wir wissen, wir dürfen das Vaterunser beten, obgleich wir noch solche Leute sind, die der Vergebung bedürfen. Der Herr hatte keine Vergebung für Sich Selbst nötig, doch hat Er in Sein Gebet diese Bitte mitaufgenommen, zum Zeugnis, dass Er für Sein Volk eintritt und, wie Er bei der Taufe im Jordan getan hat, die Sünden Seines Volk es bekennt. Auch jetzt, da Er im Himmel für uns

und an unserer Spitze erscheint, erlaubt Er uns diese Bitte, eignet sie Sich an und bringt sie vor den Vater. Durch Ihn dürfen wir sie darbringen, denn Er ist die Versöhnung für unsere Sünden und für die der ganzen Welt (1 Joh 2,2).

Ein jeder darf hierbei an seine eigene Gewissensbekümmernis denken, doch nicht bloß diese sollen wir in die fünfte Bitte einlegen, denn wir sagen nicht: vergib mir meine, sondern vergib uns unsere Schulden. Wir lernen dem Beispiel Daniels folgen (Dan 9, 20), welcher seine und seines Volk es Sünde bekannte. Wir bitten auch in dieser Bitte einer für alle und alle für einen.

„Wie auch wir vergeben unsern Schuldigern“.

Diese Worte enthalten die Bedingung, die wir erfüllen müssen, wenn uns Vergebung zuteil werden soll; denn wenn wir unserem Nächsten seine Fehler nicht vergeben, wird uns unser himmlischer Vater auch nicht vergeben. Zwar in unserer Versöhnlichkeit liegt kein Verdienst und keine sündentilgende Kraft diese ist allein in Jesu Christo und in Seinem teuren Blut zu finden doch kann uns Jesu Christi Versöhnungsopfer nicht angeeignet werden, wenn in unserer Seele unversöhnliche Gesinnung ist. Die Liebe Gottes kann sich an uns nicht offenbaren, wenn in unserem Herzen bittere Gefühle und Gedanken des Hasses gegen den Nächsten wohnen. Indem wir zu der Fülle des göttlichen Erbarmens aufblicken und im Licht der göttlichen Liebe die Größe und Abscheulichkeit unserer Sünden erkennen, erscheinen uns die Fehler, die der Nächste gegen uns begangen hat, als geringfügig, und aus der göttlichen Liebe, die uns in Jesu Christo erschienen ist, schöpfen wir Kraft, dem Nächsten von ganzem Herzen zu verzeihen. Bei der fünften Bitte legen wir feierlich dies Gelübde ab, wir sprechen unsere Verzeihung der Fehler unseres Nächsten aus.

Wollten wir dies nachher nicht halten, sondern Empfindungen des Hasses, der Rachsucht und der Schadenfreude Raum geben, so würden wir zu Lügnern. Im Munde dessen, der nicht verzeiht, ist das Vaterunser eine schreckliche Selbstverwünschung. Er verlangt Verzeihung von Gott, gleichwie er dem Nächsten verzeihe. Gott kann einem solchen nicht vergeben, Er muss ihm seine Sünden behalten. Er wird zu ihm sagen:

„Aus deinem Mund richte Ich dich, du Schalk“, du hast selbst gesagt, Ich solle dir vergeben, gleichwie du vergibst.

Also wenn ein Unversöhnlicher das Vaterunser betet, so spottet er Gottes, und von ihm gilt, was im Psalm 109,7 geschrieben steht: „Sein Gebet müsse Sünde sein.“

VI. „Führe uns nicht in Versuchung.“

Gott ist nicht ein Versucher zum Bösen. Wenn Er den Menschen versucht, so liegt in Seiner Absicht das Gute. Er prüft den Menschen, um ihn dann, wenn er die Prüfung bestanden hat, desto reicher zu segnen und herrlich zu belohnen. So machte Er es mit Abraham, so mit Hiob, so mit Seinem eingeborenen Sohn; dies ist Seine Absicht auch mit uns. Was ist also die Versuchung, von der wir sagen: führe uns nicht in sie hinein? Es sind die listigen Anschläge des Argen, der uns zur Sünde reizt, um uns zu verderben. Die Versuchung, die vom Feind ausgeht, sucht einen Zauberkreis um den Menschen zu ziehen, und wenn der Mensch sich in diesen Kreis erst hineinbegeben hat, kann er sich selbst nicht mehr schützen. Darum sollen wir uns vor den innerlichen Anfängen der Sünde hüten, damit wir nicht in eine solche Falle geraten.

Wenn man verbotene Neigungen innerlich in Gedanken hegt und pflegt, so gerät man in einen Zauberkreis und wird dann unversehens zu einer bösen Tat fortgerissen, wenn die Gelegenheit kommt. Darum also bitten wir Gott, dass Er uns beistehe und es nicht so weit mit uns kommen lasse. Es ist ein anhebendes Gericht Gottes, wenn ein Christ, der in Christo zu bleiben berufen ist, in jenen Zauberkreis der satanischen Versuchung hineingerät. Um Abwendung solchen Gerichtes bitten wir.

Etwas anderes ist es um jene Prüfungen, die Gott sendet, sie sind Gelegenheiten zur Treue, zum Gehorsam, zur Bewährung. Gegen diese beten wir nicht, denn sie sind Gnadenerweisungen.

Die Kinder Gottes sind nur in Jesus Christus geborgen. Er ist unsere feste Burg, in Ihm müssen wir bleiben. Die verborgene Gemeinschaft mit Ihm müssen wir zu bewahren suchen, durch Glauben Ihm anhangen, in Seinem Frieden bleiben und, sobald dieser Friede gestört wird, die Ursache entdecken und Reinigung durch das Blut Christi suchen. So werden wir vor der Versuchung bewahrt. Die sechste Bitte bedeutet: Hilf uns in Christus bleiben.

Wer so bittet, der muss die Gelegenheit zur Sünde fliehen wie ein Gift. Er muss sich nicht mit bösen Menschen, verderblichen Büchern usw. einlassen, wenn er keinen Beruf dazu hat. Petrus ging ohne Beruf hinein in des Hohenpriesters Palast mitten unter die Feinde Jesu Christi, dadurch begab er sich selbst mitten in die Versuchung und fiel. Solang wir auf dem Wege unseres Berufes wandeln, will Gott mit uns gehen und uns schützen; wenn wir uns ohne Beruf in Gefahr begeben, geht Er nicht mit uns, und niemand wird uns schützen können.

Christus breitet Seinen Schutz über uns aus durch Seine Ordnungen; diese sind die Flügel, unter welche Er uns genommen hat. Unter diesen müssen wir bleiben. Ein Kind muss ganz gehorsam und ganz aufrichtig gegen seine Eltern sein, wir alle müssen in geistlichen Dingen unseren Lehrern gehorchen und folgen, denn sie wachen über unsere Seelen. Wir müssen den Tag des Herrn heiligen, den Gottesdienst und die heiligen Sakramente treulich benützen, dann können wir mit Zuversicht bitten: „Führe uns nicht in Versuchung”, und diese Bitte wird erhört.

VII. „Sondern erlöse uns von dem Übel.“

In diese Bitte dürfen wir alle Übel einschließen, die natürlichen, wie Krankheit, Armut, Schmerzen und Tod, und die moralischen Übel aller Art, die Sünden. Wir bitten um Errettung von unserem großen Widersacher, dem Teufel, durch welchen Sünde und Tod in die Welt gekommen ist. Wir bitten um eine vorläufige Erlösung und Bewahrung, welche uns von Tag zu Tag zuteil wird. Wir hoffen endlich auf die vollkommene Erlösung, welche der Herr mitbringen wird, wenn Er kommt in Seinem Reich.

Die sechste und siebente Bitte haben eine ganz besondere Bedeutung für die Kirche in der letzten Zeit. Es kommt die große Stunde der Versuchung über den ganzen Erdkreis (Offb 3,3), es kommt die große Trübsal unter dem Widerchrist, wie keine gewesen ist und keine wieder sein wird (Mt 24,21). Vor dieser Versuchung will der Herr die Seinen bewahren, vor dieser Trübsal will Er sie wegnehmen.

Diese Verheißung hat Er uns durch die beiden letzten Bitten des Vaterunsers gegeben, und wenn wir Tag und Nacht zu Ihm rufen, wird Er sie herrlich an uns erfüllen. Wir werden sein wie die Träumenden, wenn der Herr die Gefangenen Zions erlösen wird. Das kommende Reich, die Freude, die Heiligkeit, die Herrlichkeit in demselben, die Aufrichtung der Herrschaft Jesu Christi, welche Himmel und Erde erfüllen wird: das wird die große Antwort auf das Gebet des Herrn sein und die vollkommene Erhörung aller der Vaterunser, die von den Kindern Gottes gebetet worden sind, vom Anfang der christlichen Kirche bis auf den Tag, wo der Herr kommt.

Dann wird man sehen, dass von allen Gebeten Seiner Gläubigen keines auf die Erde gefallen ist, und man wird Ihn ewiglich dafür preisen.

Du warst das Morgenlamm, o Christ,
Das einst für uns geopfert ist:
Am großen Sühntag floss Dein Blut
Und machte allen Schaden gut.
Dann ewig Dich für Gott zu weih‘n,
Gingst Du ins Heiligtum hinein:
Der Vater nahm Dich für uns an,
Den Bruder, der mit leiden kann.
Von Deiner Hand, o Menschensohn,
Steigt Weihrauch auf zum Gnadenthron:
Auf Deinem Herzen, liebentflammt,
Trägst Du die Deinen allesamt.
Sieh an Dein Volk, o Gottes Lamm,
Nun starker Löw‘ aus Juda‘s Stamm!
Du kommst! Der goldnen Glöcklein Ton
Verheißt des Priesters Nahen schon.
Was weilest Du? Ach, unsre Schuld
Hält Dich noch auf; Du hast Geduld,
Bis wir als Abendopfer rein
Vor Gott zu kommen würdig sein.
Gewinne denn in uns Gestalt,
Erfüll uns, wahres Leben, bald;
Zerreiß den Vorhang, führ uns ein,
Im Heiligtum bei Dir zu sein.

(E.W. Eddis)

Das Fasten Mt 6, 16-17

„Wenn ihr fastet, sollt ihr nicht sauer sehen wie die Heuchler; denn sie verstellen ihre Angesichter, auf dass sie vor den Leuten scheinen mit ihrem Fasten. Wahrlich, Ich sage euch: Sie haben ihren Lohn dahin. Wenn du aber fastest, so salbe dein Haupt und wasche dein Angesicht, auf dass du nicht scheinest vor den Leuten mit deinem Fasten, sondern vor deinem Vater, welcher verborgen ist; und dein Vater, der in das Verborgene sieht, wird dir‘s vergelten öffentlich.”

Im Gesetz des Herrn war den Israeliten nur ein Tag im Jahr vorgeschrieben, an welchem sie ihren Leib kasteien sollten, nämlich der große Versöhnungstag (3 Mo 16,29.30). Später kamen noch mehrere jährliche Fasten als Erinnerung an die erlittenen Gerichte Gottes hinzu (Sacharja 8,19). Die Eifrigen in Israel fasteten überdies zweimal in der Woche (Lk 18,12), nämlich am Montag und Donnerstag. Der Herr hält Seine Jünger von der Beobachtung aller dieser Fasten nicht zurück, aber Er will, dass sie sich dabei von der unter Juden eingerissenen Scheinheiligkeit freihalten. Die Heuchler entstellten mit Fleiß ihr Gesicht und ihr Haar, um als strenge Büßer von den Leuten bemerkt und bewundert zu werden. Diese Bewunderung vonseiten der Menschen ist denn auch, wie der Herr sagt, der einzige Lohn und Gewinn, den ihre Kasteiungen ihnen eintragen. Wohlgefallen bei Gott finden sie damit nicht, und ebenso wenig gereicht ihnen solches Fasten zu einem Wachstum des geistlichen Lebens. Wir aber sollten alles, was wir der Art tun, dem Herrn tun und nicht den Menschen. Wenn wir mit Fasten unserem Leib wehe tun, sollen wir nicht davon sprechen und es so wenig wie möglich merken lassen. „Salbe dein Haupt und wasche dein Angesicht”, d.h. benimm dich vor den Menschen wie zu gewöhnlichen Zeiten, die keine Trauerzeiten sind. Es ist genug, dass der himmlische Vater um die Bekümmernis deiner Seele und um die leiblichen Entsagungen, welche du dir auferlegst, weiß. Hast du gottgefällige Traurigkeit in deinem Herzen und bewegt dich diese, Essen und Trinken zu vergessen oder hintanzusetzen, so wird es dir dein Vater im Himmel vergelten, d.h. Er wird dich umso reichlicher mit Kraft zum Gebet und mit dem Trost Seines Heiligen Geistes ausrüsten. Auch in der christlichen Kirche ist nicht immer auf die rechte Weise gefastet worden. Wenn bei uns Unmäßigkeit und Fasten abwechseln, wenn wir uns einmal erlauben, zu viel zu tun und in irdischen Genüssen zu schwelgen und es dann wieder durch ein wenig Hunger gut machen wollen, so hat diese Lebensweise keinen Wert vor Gott. Das heißt, nicht unter der Leitung des Geistes bleiben. Wir haben den Geist der Zucht (2 Tim 1,7) empfangen, damit wir uns beständig in irdischen Genüssen mäßigen, uns nie mit Speise oder Trank überladen, nie durch aufregende Lustbarkeiten die Kraft zum Gebet verlieren, nie durch leidenschaftliche Begierden und unreine Phantasien den Geist des Herrn betrüben und Sein heiliges Feuer in unseren Herzen auslöschen. Beständige Mäßigkeit und Selbstbeherrschung bei Tag und bei Nacht ist unsere Aufgabe. „Wer recht fasten will, der lerne vor allem recht essen,“ d.h. in seinen täglichen Genüssen Maß halten. Dazu ist uns die heilsame Gnade Gottes erschienen, damit sie uns züchtige und erziehe zu einer steten innerlichen Verleugnung und Ablehnung der weltlichen Lüste, damit ja der Friede Gottes, der ein höheres Gut ist als alle irdischen Vergnügungen, keine Unterbrechung und Störung erleide. Nur in solcher Selbstbeherrschung ist es möglich, die Freudigkeit auf den kommenden Tag des Herrn zu bewahren und in der seligen Hoffnung auf Seine Erscheinung zu bleiben. Wenn wir so wandeln, dann erst können wir auch zu bestimmten Zeiten auf die rechte Weise fasten.

Der Herr Selbst und Seine Apostel haben uns das Beispiel der Beachtung von Fastenzeiten gegeben (Mt 4,2; Apg 10,9; 13,2,2). Paulus nennt unter seinen Leiden (2 Kor 11,27), neben dem unfreiwilligen Hunger und Durst und davon unterschieden, freiwillig übernommene Fasten. Auch ermahnt er zu solchen (1 Kor 7,5), und diejenigen haben den Sinn des Herrn nicht getroffen, welche, veranlasst durch, üble Anwendung, das. Fasten lieber ganz weggeworfen und abgeschafft haben; denn Er sagt in der Bergpredigt zu Seinen Jüngern nicht: Ihr braucht gar nicht zu fasten, wenn ihr nur mäßig seid, sondern: „Wenn du fastest”.

Das freiwillige Hungern eines Christen ist nicht an sich selbst eine Tugend, denn Paulus sagt: „Die leibliche Übung ist wenig nütze” (1 Tim 4,8), aber es ist ein Mittel zur Tugend, nämlich eine Hilfe zur Andacht im Gebet und eine Gewöhnung zur Selbstbeherrschung. Es ist zugleich der natürliche und rechtmäßige Ausdruck und Beweis einer göttlichen Traurigkeit.

Von den Vorstehern der christlichen Kirche sind im Laufe der Zeit die Fasten an jedem Freitag, auch am Mittwoch, am Samstag, in der Adventszeit, in den vierzig Tagen vor Ostern und andere vorgeschrieben worden; am weitesten ist man in dieser Richtung in der griechischen Kirche gegangen. Die Diener, welche der Herr Seiner Kirche schenkt, dürfen nichts gebieten, was nicht der Herr durch sie gebietet. Sie haben den Beruf, auf der einen Seite alles geltend zu machen, was Er befohlen hat, aber auf der anderen Seite die Kirche von aller Last und Beschwerung der Menschensatzungen zu befreien. Darum gehen sie mit dem Vorschreiben von kirchlichen Fasttagen sehr vorsichtig zu Werke.

Das vierzigtägige Fasten vor Ostern war geeignet als ein Zeichen der Trauer über den gesunkenen Zustand der Kirche; jetzt aber, wo uns die wiederkehrende Gnade Gottes gegen Sein Volk mit Freude erfüllt, ist es nicht an der Zeit, diese vierzigtägige Trauer einzuschärfen (vergl. Sach 8,19). Es sind besonders zwei Tage im Jahr, für welche wir durch die gottesdienstlichen Anordnungen Anleitung empfangen, Leid zu tragen über die Sünden, womit der Herr und Sein Geist betrübt worden ist, nämlich der Karfreitag und der Tag vor Pfingsten. Damit sind uns diese beiden Tage als Fasttage empfohlen, und wer da auf den Sinn der kirchlichen Gebete von Herzen eingeht, der wird wahrlich auch zum Fasten und zwar zu einem solchen Fasten, welches dem Leib wirklich wehe tut, aufgelegt sein. Außerdem behalten sich die Diener Christi vor, in besonderen Fällen einen Tag des Fastens und der Demütigung anzuordnen. Endlich sollen wir uns erinnern, dass die Liebe das königliche Gesetz ist, und zu einem Fasten, welches Gott erwählt, gehört auch dies, dass wir damit Werke der Barmherzigkeit verbinden und, wo wir etwa die Liebe verletzt haben, solches wiedergutmachen (vergl. Jes 58, 6-9). Schön ist bei Hermas gesagt (ffl.5,3):

„Am Tage, da du fastest, berechne den Aufwand für das Mahl, das du sonst genossen hättest, und gib soviel einer Witwe, einem Waisen oder Verarmten, damit er seine Seele sättige und für dich zum Herrn bete.”

Herr, lass Dein bitter Leiden
Mich reizen für und für,
Mit allem Ernst zu meiden
Die sündliche Begier;
Dass mir nie komme aus dem Sinn,
Wie viel es Dich gekostet,
dass ich erlöset bin.
Mein Kreuz und meine Plagen,
Soll‘s auch sein Schmach und Spott,
Hilf mir geduldig tragen;
Gib, o mein Herr und Gott,
Dass ich verleugne diese Welt
Und folge dem Exempel,
das Du mir vorgestellt.

(Justus Gesenius)

Die himmlischen Schätze - Mt 6, 19-23

„Ihr sollt euch nicht Schätze sammeln auf Erden, da sie die Motten und der Rost fressen und da die Diebe nach graben und stehlen. Sammelt euch aber Schätze im Himmel, da sie weder Motten noch Rost fressen und da die Diebe nicht nach graben noch stehlen. Denn wo euer Schatz ist, da ist auch euer Herz. Das Auge ist des Leibes Licht. Wenn dein Auge einfältig ist, so wird dein ganzer Leib licht sein. Wenn aber dein Auge ein Schalk ist, so wird dein ganzer Leib finster sein. Wenn aber das Licht, das in dir ist, Finsternis ist, wie groß wird dann die Finsternis selber sein!”

Wenn wir unser Almosen aus reiner Liebe zum Herrn geben, wenn wir glaubensvoll im Verborgenen beten und wenn wir in gottgefälliger Betrübnis fasten, so gewinnen wir dadurch an Kräften des inneren Lebens, und dies sind „Schätze im Himmel” So steht dieser Abschnitt mit dem vorigen in Verbindung. Der irdisch gesinnte Mensch sinnt Tag und Nacht darauf, wie er vergängliches Gut für sich und die Seinigen zusammenbringe. Der Christ, der zum himmlischen Erbteil berufen ist, stürzt sich, wenn er zugleich irdisch reich werden will, in die allergrößten Gefahren (1 Tim 6,9.10). Gewöhnlich bleibt die Strafe nicht aus. Der Mann, welcher sich größere Scheunen baut und nur essen, trinken und lustig sein will, wird plötzlich weggerafft (Lk 12,15-21). Der Reiche wird mitten in seinen gewinnbringenden Geschäften wie eine Blume von der Hitze verwelken (Jak 1,11), und den gegen ihre Arbeiter hartherzigen reichen Leuten kündigt Jakobus an (Jak 5,5): „Ihr habt eure Herzen gemästet wie auf einen Schlachttag.”

Es ist nicht allein Sünde, es ist zugleich die größte Torheit, das Herz, welches für den Genuss ewiger Güter geschaffen ist, und die edle Zeit, die uns zur Vorbereitung auf das Himmelreich verliehen wird, an solche nichtige Dinge zu hängen, welche uns unversehens gestohlen oder durch Motten und Rost verderbt werden können. Wir müssen um das irdische Brot arbeiten und ein ehrliches Auskommen für uns und unsere Kinder suchen, damit wir niemand beschwerlich fallen. Wir dürfen danach trachten, uns in unserem Stande aufrechtzuerhalten, aber das Herz darf nicht diese Anliegen zur Hauptsache machen.

„Fällt euch Reichtum zu, hänget das Herz nicht daran” (Psalm 62,11), denn „wo euer Schatz ist, da ist auch euer Herz.“

Wo ihr euer höchstes Gut sucht, da zieht es euch hin, da werdet ihr auch bleiben. Sucht ihr es in dem, was auf Erden ist, so wird eure Seele an der Erde kleben, und wenn der Herr kommt, werdet ihr nicht in Sein Himmelreich aufsteigen können. Ihr werdet dem kriechenden Gewürm, dem unreinen Getier ähnlich sein und nicht unter denen gefunden werden, welche auf den Herrn harren und auffahren mit Flügeln wie Adler (Jesaja 40,31). Suchen wir aber unseren Schatz, d.h. unser höchstes Gut da, wo Christus ist und in Christo, so wird Er auch unser Herz an Sich fesseln, uns ganz zu Sich ziehen und uns für immer bei Sich behalten.

Die Schätze, welche wir uns im Himmel sammeln sollen, bestehen also nicht in den Geldsummen, welche wir für wohltätige Zwecke angewendet oder zu Kirchenbauten gestiftet haben. Wäre dem so, dann würde es heißen: „Selig sind die Reichen” (die viel derart tun können), „aber wehe euch Armen.” Wie wenig haben solche den Sinn des Herrn erfasst, welche meinen, himmlische Schätze seien etwas, das in der Ferne liegt, das uns äußerlich bleibt und uns aufbewahrt würde wie ein totes Gut! Nein, sie sind etwas Innerliches, Lebendiges, Geistliches; sie haben ihre Stätte in unseren Herzen.

Die himmlischen Schätze sind solche, die auch der ärmste Mensch sammeln kann, nämlich Zunahme in Glaube, Hoffnung und Liebe, in Andacht, in der Erkenntnis des Herrn und an Gaben des Heiligen Geistes. Dies also sind die Schätze, die nicht abnehmen, nicht veralten, nicht von Motten und Rost verzehrt, nicht von Dieben geraubt werden. Wie Salomo sagt (Sprüche 11,18): „Der Gottlosen Arbeit wird fehlschlagen; aber wer Gerechtigkeit sät, das ist gewisses Gut.”

Solche Schätze gewinnen, das heißt reich sein in Gott. Das sind Güter, die am sichersten Ort aufbewahrt werden, nämlich bei dem Allmächtigen und Treuen. Es sind nicht Besitztümer, die von der Zeit aufgerieben werden, sondern ein lebendiges, wachsendes und unvergängliches Gut. Im Falle des Todes müssen wir alles andere zurücklassen, auch das Liebste und Edelste, aber diese Güter nehmen wir mit; denn selbst der, welcher des Todes Gewalt hat und sonst alles dahinrafft, kann sie uns nicht nehmen. Endlich, wenn der Herr kommt, müssen wir bereit sein, alles Zeitliche dahinten zu lassen, und dies können wir, wenn wir Schätze im Himmel gesammelt haben.

Dies Wort des Herrn ist uns eine Aufmunterung zum Trachten nach Gaben des Heiligen Geistes. Wenn die Welt Tag und Nacht arbeitet, um sich irdische Reichtümer zu erwerben, sollten wir gleichgültig und träge sein, da die Zeit gekommen und die Gelegenheit gegeben ist, wo die Gemeinden des Herrn reich werden können an geistlichen Gaben, wo die Kirche ihren aus Edelsteinen bestehenden Schmuck bekommen soll? Wir müssen diese Gaben nur im rechten Licht betrachten. Wir verlangen danach, nicht zu unserer eigenen Verherrlichung, sondern damit Jesus Christus dadurch verklärt werde; nicht, damit durch die empfangenen Gaben ein jeder sich selbst diene, sondern damit wir den Brüdern dienen und wohltätige Handreichung tun können.

Wenn du im stillen ernstlich und kindlich betest, dass der Herr durch Weissagung und durch Heilung der Kranken geehrt werde und es offenbart sich dann eine solche Gabe nicht an dir, aber an einem anderen, so erkenne darin eine Erhörung deines Gebetes und nimm solches mit reiner Freude auf. Wer aber eine solche Gabe empfängt, der soll wissen, dass es eine Antwort vom Himmel auf das Gebet der Gemeinde ist. Es ist ein Besitztum, das der Herr Seiner Kirche anvertraut; nicht, damit sie sich selbst, sondern damit sie Ihn dadurch preise.

Der Herr fügt ein Gleichnis hinzu, dessen Sinn im Buchstaben leicht zu verstehen ist. Wird das Auge finster, so kann kein anderes Glied des Leibes es ersetzen, der ganze Leib tappt im Dunkeln, wie ein Wanderer in schwarzer Nacht, dem seine Laterne ausgelöscht ist.

Der Herr meint hiermit offenbar ein inneres Auge, und unter dem Leib ist der ganze innere Mensch mit den verschiedenen Seelenkräften gemeint. Es gibt also im Innern einen Sinn für die Aufnahme des himmlischen Lichtes, ganz ähnlich, wie das leibliche Auge das Sinneswerkzeug für die Wahrnehmung des natürlichen Lichtes ist. Es gibt einen solchen Punkt im Innern eines jeden Menschen, durch welchen das Licht der Wahrheit Eingang bei ihm finden soll. Er liegt im Gewissen, in der Fähigkeit, das Recht vom Unrecht, die Wahrheit von der Lüge zu unterscheiden.

Der Mensch kann zwar von sich selbst Gott nicht entdecken, aber kommt ihm Gott entgegen, so schließt die zuvorkommende Gnade ein Auge im Menschen auf, durch welches er ihr Licht aufnehmen kann, wie die Sonne durch ihre Einwirkung eine bis dahin noch verschlossene und unscheinbare Knospe öffnet.

Ist dies geschehen, hat der Mensch einen Eindruck von der Wahrheit, von dem Ernst und der Liebe Gottes empfangen, so kommt alles darauf an, dass der Mensch dieses inwendige Auge offen und rein erhält. Dann wird das göttliche Licht den ganzen Menschen durchdringen, und seine Geisteskräfte, Wille, Verstand, Gefühl und Einbildungskraft, werden durchleuchtet und in das Reich des Lichtes eingeführt. Dazu gehört Einfalt und Entschiedenheit, Hingebung und Streben nach dem Unvergänglichen. Wenn dagegen der Mensch seine edelste Geisteskraft von Gott abwendet und sich in den Dienst der Nichtigkeit und der Sünde, in Widerspruch mit dem empfangenen Licht, hingibt, so wird sein inneres Auge ein Schalk, es fängt an, nach den Götzen zu schielen. Dadurch wird es verfinstert und unbrauchbar.

Endlich nimmt der Mensch nichts mehr vom göttlichen Licht wahr, er gibt vor, nichts von Gott zu wissen, er will nichts mehr von Gott hören, und in seinem ganzen Innern nimmt die Finsternis des Unglaubens und der Sünde überhand. Kein Verstand und Scharfsinn kann das verlorene Licht ersetzen. Der Mensch gerät in die äußerste Finsternis des Götzendienstes.

Dieser Zeiten Eitelkeiten,
Reichtum, Wollust, Ehr und Freud,
Sind nur Schmerzen einem Herzen,
Welches sucht die Ewigkeit.
Lass Dich finden, lass Dich finden,
Großer Gott, ich bin bereit.

(Joachim Neander)

Das Verbot Des Mammonsdienstes - Mt 6, 24-34

„Niemand kann zwei Herren dienen. Entweder er wird den einen hassen und den andern lieben, oder er wird dem einen anhangen und den andern verachten. Ihr könnt nicht Gott dienen und dem Mammon. Darum sage Ich euch: Sorget nicht für euer Leben, was ihr essen und trinken werdet, auch nicht für euren Leib, was ihr anziehen werdet. Ist nicht das Leben mehr denn die Speise? und der Leib mehr denn die Kleidung? Sehet die Vögel unter dem Himmel an: sie säen nicht, sie ernten nicht, sie sammeln nicht in die Scheunen; und euer himmlischer Vater nährt sie doch. Seid ihr denn nicht viel mehr denn sie? Wer ist unter euch, der seiner Länge eine Eile Zusetzen möge, ob er gleich darum sorget? Und warum sorgt ihr für die Kleidung? Schauet die Lilien auf dem Felde, wie sie wachsen: sie arbeiten nicht, auch spinnen sie nicht. Ich sage euch, dass auch Salomo in aller seiner Herrlichkeit nicht bekleidet gewesen ist wie derselben eins. So denn Gott das Gras auf dem Feld also kleidet, das doch heute steht und morgen in den Ofen geworfen wird: sollte Er das nicht vielmehr euch tun, o ihr Kleingläubigen? Darum sollt ihr nicht sorgen und sagen: Was werden wir essen? Was werden wir trinken? Womit werden wir uns kleiden? Nach solchem allen trachten die Heiden. Denn euer himmlischer Vater weiß, dass ihr des alles bedürfet. Trachtet am ersten nach dem Reich Gottes und nach Seiner Gerechtigkeit, so wird euch solches alles zufallen. Darum sorget nicht für den anderen Morgen, denn der morgende Tag wird für das Seine sorgen. Es ist genug, dass ein jeglicher Tag seine eigene Plage habe.”

Von allen Götzen, die der Mensch sich wählt, wird hier einer hervorgehoben, nämlich das irdische Hab und Gut.

„Niemand kann zwei Herren dienen“.

Gelegentliche Dienste kann wohl derselbe Mensch verschiedenen Herrschaften leisten. Aber als leibeigener Knecht (einen solchen bezeichnet das Wort Diener im Grundtext) kann er nur einem sich zur Verfügung stellen.

Es ist schwer, dass ein Reicher ins Himmelreich komme; schwer, doch nicht unmöglich. „Sehet an eure Berufung”, sagt der Apostel den Korinthern, „nicht viel Vornehme”; nicht viel, also doch etliche (1 Kor 1,26).

Man kann Geld und Gut besitzen und dennoch Gott dienen, wie Abraham, Hiob und viele Heilige und Fromme es getan, wenn man den Reichtum nach dem Sinn des Herrn verwendet und das Herz nicht daran hängt, die Hoffnung nicht darauf setzt (1 Tim 6, 17-19).

Solche dienen dann nicht dem Gold, so dass sie darüber Gott den Herrn und ihr ewiges Heil vernachlässigten; das Geld dient vielmehr ihnen für die Zwecke der Ehre Gottes und der Liebe des Nächsten. Während der Habsüchtige ein elender, verkäuflicher und verkaufter Knecht des irdischen Gutes ist, verfügt darüber der Christ als Herr mit Unabhängigkeit und mit edlem Großmut.”

„Ihr könnt nicht Gott dienen und dem Mammon.“

Denn diese beiden Herrscher, so entgegengesetzt sie sind, stimmen sie doch darin überein, dass ein jeder den ganzen Menschen in Anspruch nimmt und ihn in seine Botmäßigkeit zu ziehen sucht.

Der Mensch aber ist es, der allezeit meint, er könne wohl beiden zugleich dienen und mit jedem von beiden gut stehen. Wenige Christen mögen so tief gesunken sein, dass sie offen erklären: Wir wollen dem Mammon huldigen und mit Gott nichts zu tun haben. Die meisten dienen dem Mammon, wollen es aber mit Gott doch nicht ganz verderben, sondern Ihm hier und da noch einige Zeit und Kraft widmen.

Aber wenn auch alle Menschen meinten, das ginge ganz gut, so erklärt es doch der Herr für unmöglich. Gott will von einem solchen geteilten Wesen nichts wissen. Er lässt es nicht gelten, Er gibt es nicht zu, Er Selbst schreitet dagegen ein, Er macht es unmöglich, Er dringt auf Entscheidung: „Ihr könnt nicht Gott dienen und dem Mammon.”

„Wisset ihr nicht, dass der Welt Freundschaft Gottes Feindschaft ist? Wer der Welt Freund sein will, der wird Gottes Feind sein” (Jak 4,4).

Liebst du den Mammon, so wird es mit dir dahin kommen, dass du Gott hassest, hängst du diesem Götzen an, so wird es dir von Gottes Seite so ausgelegt, dass du damit Gott verachtest.

Wohl uns, dass es so ist; denn nun wissen wir, wenn wir uns aufrichtig Gott hingeben, so wird Er uns ganz in Besitz nehmen; handeln wir redlich als Seine Knechte, die Ihm gehören, so wird Er Selbst die Frucht der Heiligung in uns schaffen und unser Ende wird ewiges Leben sein. Denn so sagt der Apostel Paulus:

„Wisset ihr nicht: welchem ihr euch hingebt zu Knechten in Gehorsam, des Knechte seid ihr, dem ihr gehorsam seid, es sei der Sünde zum Tod oder dem Gehorsam” (gegen Gott) „zur Gerechtigkeit” (wodurch ihr endlich zur vollkommenen Gerechtigkeit gelangt).

„Nun ihr seid von der Sünde frei und Gottes Knechte geworden, habt ihr eure Frucht, dass ihr heilig werdet, das Ende aber das ewige Leben” (Röm 6,l6.22).

Ein Mammonsdiener ist nicht allein der Geizige, der zu dem Goldklumpen spricht: „Du bist mein Trost”, nicht allein der Ungerechte, der um des irdischen Gewinns willen Betrug und Grausamkeit sich erlaubt. Der Herr spricht von einer anderen Art des Mammonsdienstes, die man gewöhnlich nicht dafür ansieht, sondern wohl für eine Pflichterfüllung und eine Tugend hält, indem Er zu uns sagt: „Sorget nicht”.

Also die ängstliche, aufreibende, glaubenslose, finstere Sorge um das Zeitliche bezeichnet Er als Götzendienst. Sie entsteht aus Schwäche des Vertrauens zu Gott, aber sie endigt damit, dass sie den Menschen völlig knechtet und für das Göttliche unempfänglich macht. Wir wissen wohl, dass der Herr das Arbeiten nicht verbietet, denn die Arbeit im Schweiße des Angesichts ist ja eine Pflicht, die Er Selber uns auferlegt hat. Hier also lehrt Er uns unterscheiden zwischen Arbeit und Sorgen. Das Arbeiten hat Er uns befohlen, das Sorgen hat Er uns verboten. Das Arbeiten ist unsere Sache, das Sorgen ist Seine Sache. Zum Arbeiten, das uns auferlegt ist, gehören nicht nur Hände, sondern auch Nachdenken und Verstand. Wie wir unsere körperlichen Kräfte gebrauchen, so sollen wir auch unsere Verstandeskräfte anwenden, alles wohl überlegen, berechnen und einteilen, wie Salomo sagt: „Gehe hin zur Ameise, du Fauler, und lerne ihre Wege. Bereitet sie doch ihr Brot im Sommer und sammelt ihre Speise in der Ernte” (Spr 6,6). Wer bei Erwerbung und Verwendung der irdischen Güter seine Vernunft nicht gebrauchen wollte, der wäre kein treuer Haushalter der mancherlei Gnade Gottes. Also auch der Kopf soll bei der Arbeit sein, aber nicht das Herz. Dieses verlangt der Herr für Sich. Das Herz soll Ihm anhangen, in dem Vertrauen und in der Liebe zu Ihm ruhen, sich nicht mit Sorgen der Nahrung beschweren lassen. Wenn wir redlich unsere Berufsarbeit getan haben, die Gaben Gottes mit Mäßigkeit genießen und in Milde anderen etwas davon mitteilen, so darf und soll das Herz von allen quälenden Sorgen um das Zeitliche sich frei halten. Jeden schweren Gedanken dieser Art sollen wir als ein Gebet vor Gott kund werden lassen (Phil 4,6), so wird das Herz seiner Bürde entledigt; denn der Herr hat gesagt:

„Ich will dich nicht verlassen noch versäumen” (Heb 13,5).

Glücklicher Stand der Kinder Gottes, die von einer der schwersten Plagen des menschlichen Daseins freigesprochen sind! Wenn sie gleich noch auf dieser Erde sind und für diese Erde sich abarbeiten müssen, so ist doch ihr Herz schon im Himmel. In einem jeden irdischen Beruf, sei er niedrig oder hoch, müssen wir die Erfahrung machen, dass seit der Verweisung aus dem Paradies der Acker Dornen und Disteln trägt. Aber bei dem allen bleibt uns der Trost: Der Herr sorget für euch.

Also: „Sorget nicht, was ihr essen, nicht, was ihr anziehen werdet; ist nicht die Seele mehr denn die Speise und der Leib mehr denn die Kleidung?”

Man findet in diesen Worten eine Hinweisung auf die Güte unseres Schöpfers. Hat uns der himmlische Vater das größere, Leib und Leben, geschenkt, und sollte Er uns das geringere, was zur Erhaltung des Leibes und Lebens nötig ist, nicht auch gönnen und zukommen lassen? Dies ist Wahrheit, doch scheint es, der Herr will noch etwas mehr damit sagen. Die Sorge, welche die Welt der Nahrung und Kleidung widmet, sollen wir für etwas Wichtigeres, nämlich für das wahre Wohl der Seele und des Leibes verwenden. Wir sollen dafür sorgen, dass unsere Seele unentweiht bleibe und dass unser Leib im Dienst des Herrn zu seiner wahren Bestimmung gelange. Ewiges Leben für unsere Seele und Verklärung unseres nichtigen Leibes, dass er ähnlich werde dem verklärten Leib Christi, wenn der Herr kommt - das ist die Hauptsache. Dass unserer Seele das himmlische Erbteil nicht entgehe, dass unser Leib nicht durch Sündendienst der ersten Auferstehung oder der Verwandlung verlustig gehe, das sei das große Anliegen in unserem ganzen irdischen Leben. Güter, die in keines Menschen Herz gekommen sind, hat uns die göttliche Liebe durch Christum bereitet. Erkennet darin den Maßstab Seiner Liebe, die doch unendlich ist, und erwartet von ihr, dass sie in allem für euch sorgen werde.

„Sehet die Vögel unter dem Himmel; schauet die Lilien auf dem Felde.”

Jesus Christus hatte ein offenes Auge für die Natur, für die Erhabenheit und Lieblichkeit der Werke Gottes. Er beobachtete die Vöglein, Er freute Sich der Blumen, und Er verstand, was die Weisheit des Schöpfers durch diese Kreaturen den Menschen sagen will. Die vernunftlosen Geschöpfe sind nicht nach dem Ebenbild Gottes gemacht, dennoch hat Er als Vater auch für sie gesorgt. Seine Güte hat in der Pflanzenwelt den Vöglein die Speise bereitet, ehe sie da waren. Er waltet über allen Geschöpfen, und auch kein Sperling fällt aus dem Nest ohne den Willen des Vaters im Himmel. Gottes milde Güte ernährt die Vögel unter dem Himmel, auch ohne dass sie säen, ernten oder in Scheunen sammeln. Wenn nun die Jünger Christi auf Seinen Ruf alles verlassen und auf dem Wege Seiner Nachfolge in eine Lage kommen, wo sie für ihr irdisches Auskommen nichts arbeiten können, so sollen sie doch nicht verzagen; denn der die Vögel unter dem Himmel ernährt und die Lilien kleidet, wird sie auch versorgen. „Seid ihr denn nicht viel mehr denn sie? sollte Er das nicht vielmehr euch tun, o ihr Klein gläubigen?”

Ihr seid Gottes Kinder, Seines Geschlechts, teuer geachtet vor Ihm. Euer Lebensgang und alles, was euch betrifft, steht unter Seiner besonderen Leitung. Sein Auge wacht über euch, es kann euch nichts widerfahren, als was Seine Weisheit vorher bestimmt hat, und Seine Absicht bei allem, was Er sendet, ist eure Heiligung und zukünftige Herrlichkeit. „Habt ihr auch je Mangel gehabt, sooft Ich euch ausgesandt habe?” fragt der Herr Seine Jünger, und sie mussten antworten: „Nie” (Lk 22,35).

Doch nicht allein den Dienern des Herrn gilt diese Verheißung, sondern auch jedem Kind Gottes. Wenn wir bei aller Arbeitsamkeit, Mäßigkeit und Sparsamkeit (die Erfüllung dieser Pflichten wird vorausgesetzt) im Zeitlichen zurückkommen und schwere Zeiten voraussehen, sollen wir doch nicht verzagen. Auch die Armut, wie andere Leiden, wird nicht schwerer und dauert nicht länger, als es der himmlische Vater für notwendig erkennt zu unserer Läuterung und Erziehung für Sein himmlisches Reich. Unser herzliches Verlangen sei, zu verstehen, was Er uns damit sagen will; und damit wir dies verstehen lernen, sollen wir in solcher Not den Rat der Diener Christi suchen, welche eben hierfür in der christlichen Gemeinde eingesetzt sind, nämlich der Diakonen. Wenn es uns aufrichtig darum zu tun ist, Seine Wege zu lernen, dürfen wir über unser und unserer Kinder zeitliches Los ganz getrost sein. Er wird uns nicht zuschanden werden lassen. Manche Kinder Gottes erfahren, wenn sie Tag für Tag ihre Not dem himmlischen Vater im Gebet vortragen, wie Er bis ins Kleinste für sie sorgt und ihnen zur rechten Stunde, oft von einer Seite, von der sie es nicht erwarteten, Hilfe sendet.

Der Herr hat in den Vögeln und Lilien noch mehr gesehen als die Beweise der Güte Gottes auch gegen die geringsten Geschöpfe. Die sichtbaren Dinge sind als Sinnbild der unsichtbaren geschaffen, und die irdischen Werke Gottes deuten auf Seine himmlischen Werke hin. Jene Vögel, die zum Licht aufschweben und fröhlich singen (somit verschieden von den an die Erde gebundenen Geschöpfe), sind ein Bild der Verklärten, welche, von dieser Erde zu Christo emporgehoben, Ihn mit himmlischer Freude loben werden. Die Lilien in sanfter Schönheit weisen uns auf die zukünftige Herrlichkeit der Kinder Gottes hin, wenn sie mit Christo erscheinen werden in ihres Vaters Reich, wenn das große Vorbild der salomonischen Friedenszeit in Erfüllung gehen wird. So hat Gott nicht allein in der Heiligen Schrift, sondern auch im Buch der Natur die Gleichnisse und Vorbilder eingezeichnet, durch welche der Blick der Erleuchteten auf die zukünftigen Dinge gelenkt wird. Erscheinen die Werke Gottes schon an diesen Kreaturen so lieblich, was wird es sein, wenn Er die höchsten Wundertaten Seiner Liebe und Macht an Seinen Gläubigen beweisen wird! Haben wir das Zutrauen zu Ihm gefasst, dass Er unseren nichtigen Leib verklären und uns ein unvergängliches Erbteil bescheiden wird, sollten wir da nicht Ihm zutrauen können, dass Er auch das Geringere und weniger Wunderbare (und doch für uns Notwendige) für uns tun und uns in diesem zeitlichen Dasein versorgen wird?

Ängstliche Sorge um das Vergängliche ist Sünde und eine Art von feiner Abgötterei; doch ist sie nicht bloß sündlich, sondern, wie alle Abgötterei, zugleich töricht und vergeblich.

„Wer ist unter euch, der seiner Länge eine Elle zusetzen möge, ob er wohl darum sorgt?”

Die ungläubige Sorglichkeit, während sie dem geistlichen Leben schadet, hat für das zeitliche Leben noch nie das Geringste genützt. Gott lässt sich dadurch nichts abzwingen, und der Mensch mag sich absorgen so viel er will, so bleibt es doch wahr:

„Alles ist an Gottes Segen
und an Seiner Macht gelegen.”

Wir sollten soviel Vernunft haben einzusehen, dass es große Torheit ist, sich selbst Schmerzen und Plagen zu machen, welche einem gar nichts nützen.

„Nach solchem allen”, nach dem Vergänglichen, „trachten die Heiden.”

So war es mit ihnen von jeher; so war es besonders in jener bösen Zeit, in deren Mitte der Herr auf Erden erschien.

Das heidnische Wesen hatte in dem Römerreich jeder auf das Jenseits gerichteten Tätigkeit sich entäußert. Sucht nach Eroberung von Ländern, Aussaugung der eroberten Provinzen, Geiz und zugleich zügellose Begierde nach Essen, Trinken und sinnlichen Genüssen, dieses waren die Charakterzüge des damaligen Heidentums. Die Israeliten wurden, wie nachmals die Christen, wegen ihrer Erwartung eines ewigen Lebens von den Heiden als Träumer und Toren verspottet.

Die Heiden sind es, welche sorgen und sagen: „Was werden wir essen, was werden wir trinken, womit sollen wir uns kleiden?”

Bei ihnen ist diese ängstliche Sorge erklärlich, denn sie selbst sind irdisch, darum hängen sie ihr Herz an das Irdische; sie erwarten nach dem Tode entweder nichts oder nur ein trauriges, schattenhaftes Dasein, sie haben keine Hoffnung der Auferstehung und des ewigen Lebens. Sie wissen zwar, dass Gott ist, aber in ihren Herzen wohnt nicht das Vertrauen, dass Er als der Allwissende alle ihre Bekümmernisse kenne und als der rechte Vater für sie Sorge. Ihr aber kennt euren Vater im Himmel. Er hat durch Seine Propheten vor alters zu euch geredet, Er ist euch in Seinem eingeborenen Sohn erschienen, die Ratschlüsse Seiner Liebe sind euch offenbar geworden, die Quelle des ewigen Lebens ist euch aufgetan, ihr selbst seid himmlisch und kennt die wahre Heimat. Und wenn euch das Irdische drückt, so wisst ihr, dass euer himmlischer Vater auch eure kleinen Leiden kennt, schon ehe ihr sie Ihm vor-tragt. Ist bei den Heiden die Plage der irdischen Sorgen sozusagen in der Ordnung, so würde sie bei euch etwas Unvernünftiges sein, das eurem wahren Wesen gänzlich widerspricht. Eure Geisteskräfte haben eine bessere Bestimmung:

„Sucht zuallererst das Reich Gottes und Seine Gerechtigkeit, so wird euch jenes alles hinzugefügt werden.”

Wenn Sein Reich offenbar wird und ihr werdet an jenem Tage gerecht erfunden, so bekommt ihr zu den himmlischen Gütern auch noch die Verfügung über die irdischen; denn ihr werdet mit Christo Könige sein auf Erden. Doch nicht erst dann wird euch das andere zugefügt werden.

„Die Gottseligkeit ist zu allen Dingen nütze und hat die Verheißung nicht allein des zukünftigen Lebens, sondern auch des gegenwärtigen” (1 Tim 4,8).

Der lebendige Gott, auf den wir gehofft haben, ist der Erhalter aller Menschen, am meisten der Gläubigen. Mit Nahrung und Kleidung lassen sich die Kinder Gottes genügen, und diese soll ihnen zuteil werden (1 Tim 6,6.10).

Jeder Tag bringt zwar neue Bekümmernisse mit sich, aber eben deswegen sollen wir die zukünftigen Sorgen nicht jetzt schon uns aufladen. „Es ist genug, dass ein jeder Tag seine eigene Plage habe.”

Der Herr will uns mit einem Übermaß von Plage verschonen, und Tag für Tag will Er die auferlegte Last uns tragen helfen.

”Wie eure Tage sein werden, so wird auch eure Stärke sein.”

Dem Herren musst du trauen,
Wenn Dir‘s soll wohl ergeh‘n;
Auf Sein Werk musst du schauen,
Wenn dein Werk soll besteh‘n.
Mit Sorgen und mit Grämen
Und mit selbsteigner Pein
Lässt Gott Sich gar nichts nehmen,
Es muss erbeten sein.
Dein ew‘ge Treu und Gnade,
o Vater, weiß und sieht,
Was gut sei oder schade
Dem menschlichen Geblüt;
Und was Du dann erlesen,
Das treibst Du, starker Held,
Und bringst zu Stand und Wesen,
Was Deinem Rat gefällt.
Weg hast Du allerwegen,
An Mitteln fehlt Dir‘s nicht.
Dein Tun ist lauter Segen,
Dein Gang ist lauter Licht.
Dein Werk kann niemand hindern,
Dein Arbeit darf nicht ruhn,
Wenn Du, was Deinen Kindern
Ersprießlich ist, willst tun.

(Paul Gerhardt)

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