Thiersch, Heinrich Wilhelm Josias - Bergpredigt - Matthäus 5

Thiersch, Heinrich Wilhelm Josias - Bergpredigt - Matthäus 5

Die Seligpreisungen - Mt 5, 3-12.

„Selig sind, die da geistlich arm sind; denn das Himmelreich ist ihr. Selig sind, die da Leid tragen; denn sie sollen getröstet werden. Selig sind die Sanftmütigen; denn sie werden das Erdreich besitzen. Selig, die da hungert und dürstet nach der Gerechtigkeit; denn sie sollen satt werden. Selig sind die Barmherzigen; denn sie werden Barmherzigkeit erlangen. Selig sind, die reines Herzens sind; denn sie werden Gott schauen. Selig sind die Friedfertigen; denn sie werden Gottes Kinder heißen. Selig sind, die um Gerechtigkeit willen verfolgt werden; denn das Himmelreich ist ihr. Selig seid ihr, wenn euch die Menschen um Meinetwillen schmähen und verfolgen und reden allerlei Übles wider euch, so sie daran lügen. Seid fröhlich und getrost, es wird euch im Himmel wohl belohnt werden. Denn also haben sie verfolgt die Propheten, die vor euch gewesen sind.”

Moses erhielt den Befehl, dass nach der Einnahme des Heiligen Landes auf den Bergen Garizim und Ebal der Segen und der Fluch feierlich ausgerufen werden sollte (5 Mo 27,11-13). Zwar die Worte des Fluches, welche die Leviten auszusprechen hatten, stehen dort geschrieben (5 Mo 27, 15-26), wo aber sind die Sprüche des Segens verzeichnet? Im Gesetzbuch fehlen sie, und hierin hat gewiss nicht der Zufall gewaltet. In dem Schweigen der Schrift sind mitunter Geheimnisse angedeutet. So ist es hier.

Der Grund jener Verschweigung ist wohl kein anderer als der, dass der Segen durch das Gesetz nicht kommen konnte. Denn das Gesetz richtet Zorn an, und die mit des Gesetzes Werken umgehen, die sind unter dem Fluch (Röm 4,15; Gal 3,10).

Aber nun ist eine andere Zeit angebrochen: der Sohn Gottes ist erschienen, und als Er vor Seinen versammelten Jüngern in Galiläa Seinen Mund auftat, waren das erste, das man hörte, die bis dahin verschwiegenen Segenssprüche, nämlich die Seligpreisungen. Jetzt beim Aufbruch des neuen Reiches wird dem versammelten Volk verkündigt, was damals bei dem Eintritt Israels in das irdische Kanaan noch zurückbehalten werden musste.

Die Seligpreisungen gelten denen, an welchen die Arbeit des Vorläufers Christi nicht vergeblich war, und ihr Hauptinhalt ist in den ersten Worten zusammengefasst:

„Selig sind, die da geistlich arm sind; denn das Himmelreich ist ihr.”

Das Wort, dessen der Herr sich hier bedient, (πτωχοὶ) bedeutet eine bittere, tiefempfundene Armut, aus welcher der Ruf um Hilfe hervorgeht. Es ist nicht die leibliche Armut gemeint, sondern das Gefühl einer inneren Not, das Bewusstsein geistlichen Mangels, die Empfindung, dass man im geistlichen Leben noch weit zurück sei, dass man arm sei an Gebet und Gottvertrauen, an Heiligkeit und an Werken der Gerechtigkeit. Die Seelen, die von diesem Gefühl überwältigt waren, hatten keinen Trost am Gesetz; sie fanden keine Erquickung in der Unterweisung der Schriftgelehrten, ja auch bei Johannes dem Täufer fanden sie nicht die wahre Stillung ihrer Not. Sie mochten meinen, sie seien am allerweitesten vom Reich der Himmel entfernt, und allen andern stünde es eher offen, als ihnen. Aber Er, der die Mühseligen und Beladenen zu Sich ruft, folgt diesen Armen am Geist: euch gehört das Reich der Himmel.

Wir sind durch die heilige Taufe unter die Kinder Gottes aufgenommen worden, aber wir haben dabei auch dem Teufel und seinen Werken den Abschied gegeben und die Gebote des Herrn zu halten versprochen. Wir sind mit dem weißen Kleid der Unschuld und Gerechtigkeit Christi angetan worden, und die Verpflichtung ruht auf uns, ein fleckenloses Leben zu führen. In dem Gewand der Unschuld sollen wir vor dem Herrn erscheinen; denn weil Er uns Christen viel gegeben hat, wird Er auch viel von uns fordern. Jetzt, da Er wieder das Wort in der Kirche genommen hat, lässt Er uns diese Wahrheit verkündigen. Es ist niemand zu finden, der den Taufbund vollkommen gehalten hätte, und der Zustand der Christen insgemein steht in einem schrecklichen Widerspruch gegen die in der Taufe empfangene Gnade und die bei der Taufe übernommene Verpflichtung. Wer nun, dessen ungeachtet, dabei bleibt zu sagen: „Ich bin reich und habe gar satt und bedarf nichts”, der ist so ferne wie möglich von dem Reich Gottes. Wer aber seine Taufe zu Herzen nimmt und erkennt, wie wenig er die Taufgnade geachtet und bewahrt hat und wie weit sein Herzenszustand und Lebenswandel von dem, was den Kindern Gottes geziemt, entfernt ist, der wird arm an Geist; und ist es ihm Ernst mit solcher Erkenntnis und Bekenntnis, so ist er glückselig zu preisen, denn der wichtigste Schritt zur Vorbereitung auf das Reich der Himmel ist mit ihm geschehen. Es gehört denen, die von dem Gefühl ihrer geistlichen Verarmung durchdrungen sind, und keinen anderen mag ihr Lehrbegriff noch so rein und ihre kirchliche Benennung noch so ehrenvoll und wohllautend sein. Oder wer wagt es zu behaupten, wer ist wohl so verblendet, sich darauf zu verlassen, dass beim Eintritt in das Himmelreich oder der Ausschließung aus demselben der Name der Konfession, der jemand angehört, entscheiden werde?

Keiner von uns steht mit seinem geistlichen Leben allein; wir befinden uns in einer Gemeinschaft, deren Güter uns zum Segen gereichen und unter deren Mängeln wir leiden. Nun gibt es Christen, die für ihre eigene Person ihre Armut anerkennen, aber auf die besondere kirchliche Gemeinschaft, zu der sie sich zählen, nichts kommen lassen wollen. Sie suchen ihre Kirchenpartei zu preisen, wie wenn deren Vorzüge den Mangel und das Elend der einzelnen Glieder zudecken könnten. Aber der Herr findet Ursache, auch zu jeder der bestehenden kirchlichen Körperschaften zu sagen: Ich habe etwas wider dich. Er erinnert uns an die ursprüngliche Ausstattung Seiner Kirche und an ihre Verpflichtung, ein heiliges Volk zu sein. Im Licht der Wahrheit müssen wir bekennen, dass keine von allen Kirchenparteien auf Erden sich in dem Stand befindet, in welchem der Herr Sein Volk finden will, wenn Er kommt und Rechenschaft für die anvertrauten Güter fordert.

Darum müssen wir nicht nur jeder für sich dem Gefühl der geistlichen Armut Raum geben, sondern auch die Verarmung und Not der christlichen Kirche im Ganzen, und namentlich unserer besonderen Kirchengemeinschaft, zu Herzen nehmen und bekennen. Dieses Bekenntnis fällt manchem so schwer, als sollte es ihm sein Leben kosten; denn er meint, damit ginge ihm aller Halt und Trost verloren. Er klammert sich an eine vermeintliche Fehlerlosigkeit oder Untrüglichkeit seiner Kirchenabteilung an; sei nun diese eine der großen Kirchen oder eine winzige Sekte, in beiden Fällen stellt der gleiche Wahn sich ein. Aber nur der falsche Trost und der betrügliche Halt wird dahinfallen, wenn wir uns in die rechte geistliche Armut einführen lassen. Fühlen wir unsere und unserer Kirchengemeinschaft tiefe Not, so leuchtet uns der wahre Trost. Gerade dies Gefühl und dies Bekenntnis dient zur Vorbereitung für das kommende, bessere Reich: „Selig sind, die da geistlich arm sind, denn ihnen gehört das Königreich der Himmel.”

„Selig sind, die da Leid tragen, denn sie sollen getröstet werden”.

Das Wort „Leidtragen” bedeutet ein tiefes Weh, eine Klage wie um einen Todesfall. Welche Ursachen haben denn die Jünger Jesu zu solchem Schmerz und zu solcher Klage? Auch sie werden durch zeitliche Verluste, durch den Tod der Ihrigen und durch öffentliches Unglück betrübt; doch ist es nicht das Leid dieser Art, worauf die große Verheißung ruht: „Sie sollen getröstet werden”.

Wie es die geistlich Armen sind, welche selig gepriesen werden, so ist hier ein geistliches Leid und eine göttliche Traurigkeit gemeint. Die Ursache hierzu finden wir in uns selbst und um uns her. Wir finden sie in uns; denn haben wir die Gelübde unserer Taufe gebrochen und den Geist des Herrn betrübt, so ist dies wahrlich große und gerechte Ursache zum Leidtragen. Denn was ist der Inhalt der Entsagung und der Gelübde, die bei der heiligen Taufe ausgesprochen werden und die zu diesem Sakrament gehören? Völlige Lossagung von dem Argen, völlige Hingebung an Ihn, der uns geliebt und Sich Selbst für uns dahingegeben hat. Wir haben dem Herrn versprochen, lieber zu sterben, als in eine Sünde zu willigen. Solch ein Ernst ist es mit den Pflichten der Getauften. Meinen wir es aufrichtig hiermit, so wird eine begangene Hauptsünde ein größeres Leid bei uns hervorrufen, als wenn wir leiblich sterben müssten. Aber auch außer uns finden wir Ursache zum Leidtragen, wenn wir das geistliche Elend in der Heidenwelt, und noch mehr, wenn wir das geistliche Elend in der Christenheit ansehen. Einen Getauften zu sehen, der in groben Sünden lebt oder in Unglauben und Gotteslästerung, ist für solche, die den Sinn Christi haben, ein schrecklicher und höchst schmerzlicher Anblick. Am Karfreitag besonders werden wir aufgefordert, die Sünden, die unter den Christen geschehen, zu Herzen zu nehmen. In den Tagen der Karwoche stimmen wir in die Klagelieder des Jeremia ein. „Ach dass ich Wasser genug hätte in meinem Haupt und meine Augen Tränenquellen wären, dass ich Tag und Nacht beweinen möchte die Erschlagenen in meinem Volk ! Es sind eitel Ehebrecher und ein frecher Haufe” (Jeremia 9,1.2)

„Ach du Tochter Jerusalem, wem soll ich dich vergleichen? Denn dein Schaden ist groß wie ein Meer, wer kann dich heilen!” (Klgl 2,13). Die Gerichte Gottes kommen über die christlichen Völker wie damals über Jerusalem. Jetzt schon sieht, wer erleuchtete Augen hat, die geistlich Erschlagenen umherliegen; er kennt keinen größeren Jammer als den, die Verführung der Jugend und das wachsende Verderben wahrnehmen zu müssen und nicht ändern zu können. Das ist die große Totenklage, die aus unseren Herzen zum Himmel aufsteigen soll. Das ist die Teilnahme an den Leiden Christi, zu der wir berufen sind. Das ist es, was der Herr Selbst empfunden hat, als Er das Volk Israel ansah und Ihn desselben jammerte.

Er fand solche, die ähnliches empfanden und die von Johannes dem Täufer gelernt hatten, über den Zustand ihres Volk es zu trauern. Diese sind es, die Er selig preist, „denn sie sollen getröstet werden.”

Dieses Leiden wird Er stillen; die mit solchen Tränen säen, werden mit Freuden ernten. Er wird den neuen Himmel und die neue Erde schaffen, dann soll unter seinem Volk e die Stimme des Weinens nicht mehr gehört werden (Jes 65,17-19). Unterdessen will Er an vielen Seelen, um welche wir aufrichtig Leid tragen, Barmherzigkeit erweisen. Der Schmerz und die Klage der Kinder Gottes über das Verderben der letzten Zeit trägt dazu bei, dass der Herr Selbst bald komme und die Tränen Seines Volk es trockne. (Offb 7,17;21,4).

Wer aber für dieses Leid kein Herz hat, wird auch den zukünftigen Trost nicht sehen; einem solchen gelten die Verheißungen des Herrn in der Bergpredigt nicht.

„Selig sind die Sanftmütigen, denn sie werden die Erde ererben”.

Ganz anders müsste es lauten nach den Grundsätzen der Welt. Da gelten nicht die Sanftmütigen, sondern die Gewalttätigen für glücklich; denn sie, so scheint es, reißen alles an sich und müssen zuletzt die Herrschaft über die Erde behalten. Die, welche Unrecht und Unterdrückung erleiden, rufen einander zu: Hilf dir selbst, so wird der Himmel dir helfen! Sie irren sich. Hilf dir selbst, so wird Gott dir nicht helfen - ein solches Wort wäre der Wahrheit näher.

Die Selbsthilfe gegen eine harte und unbillige Obrigkeit, das Unternehmen der Völker, über ihre Herrscher zu sitzen und an ihren Peinigern Rache zu üben, hat keine Verheißung für sich. Dies mußte damals das jüdische Volk erfahren. Die falschen Messiasse, wie Judas aus Galiläa (Apg 5,37), forderten das Volk auf, das Schwert gegen die Römer zu ziehen und ihr Joch mit Gewalt zu zerbrechen. Aber es ist ihnen nicht gelungen; sie selbst sind umgekommen und sie haben ihr Volk in das allergrößte Unglück gestürzt.

Hier aber tut der wahre Messias Seinen Mund auf und verspricht die Herrschaft über die Erde den Sanftmütigen. Er bezeichnet den Weg zum Sieg, den Er selbst gegangen ist, indem Er Sich wie ein geduldiges Lamm zur Schlachtbank führen ließ. Er bewahrte die Sanftmut bis zum Tode. Dafür hat Ihn auch Gott erhöht und hat Ihm einen Namen gegeben, der über alle Namen ist, auf dass in dem Namen Jesu jedes Knie sich beuge, nicht allein derer, die im Himmel, sondern auch derer, die auf Erden sind (Phil 2,10). Gott hat Ihn gesetzt zum Erben über alles, und wie die Erde die Stätte Seiner Erniedrigung war, so soll auf ihr auch Seine Herrlichkeit offenbar werden. Er, der sanftmütige König, wird die Erde besitzen, und die Reiche der Welt werden das Eigentum des Gesalbten werden (Offb 11,15).

Die jetzigen Weltreiche, welche Daniel im Gesicht als wilde und grausame Tiere gesehen hat, werden ein Ende nehmen, und der Menschensohn wird von dem ewigen Vater Gewalt empfangen, dass Ihm alle Völker dienen (Dan 7,2-14). Dann wird die Erde vom Fluch befreit und das Seufzen der Kreatur gestillt sein, wenn der wahre Salomo, der König des Friedens, Seinen Thron eingenommen hat. Er allein, der Sein Leben aus Liebe dahingegeben hat und durch Leiden des Todes als mitleidvoller Hoherpriester vollendet worden ist, ist würdig, König der ganzen Erde zu sein. Aber nicht Er für Sich allein wird die Herrschaft empfangen, sondern Er will sie mit den Menschen teilen, die Ihm der Vater gegeben hat, und Er verkündigt es uns, wer sie sind, die mit Ihm Könige sein und mit Ihm die Erde ererben sollen: Es sind die Sanftmütigen die dem Lamme nachfolgen, wohin es geht (Offb 14,4); die sich nicht vom Bösen überwinden lassen, sondern das Böse mit Gutem überwinden; die gesinnt sind wie Er, der nicht wiederschalt, da Er gescholten ward, nicht drohte, da Er litt, sondern stellte es dem anheim, der da recht richtet. Nach solchen hat Er sich damals umgesehen, die bereit waren, von Ihm, dem Sanftmütigen, zu lernen; nach solchen verlangt Er jetzt, und das Bild Seiner Sanftmut soll in denen zum Vorschein kommen, welchen Er zuruft: „Fürchte dich nicht, du kleine Herde, denn es ist eures Vaters Wohlgefallen, euch das Reich zu geben” (Lk 12,32).

„Selig sind, die da hungert und dürstet nach der Gerechtigkeit, denn sie sollen gesättigt werden.“

Es ist dem Menschen natürlich, nach leiblicher Nahrung zu verlangen. Es ist ihm natürlich, nach Anwendung seiner Kräfte, nach Verkehr mit den Menschen und nach häuslichem Glück sich zu sehnen. Alles dies ist rechtmäßig und erlaubt, aber die Verheißung gilt einem anderen und höheren Verlangen: dem Hunger und Durst nach Gerechtigkeit.

Dieses Verlangen ruht in dem Menschen anfangs unbewusst. In dem Maße, als wir Licht über Gott und Seinen heiligen Willen und über unsere hohe Bestimmung erlangen, wird dieser Hunger nach Gerechtigkeit geweckt. Es ist nicht nur ein Sehnen nach Vergebung der Sünden und nach Ruhe für die Seele, es ist das Verlangen nach Befreiung von der Sünde und nach wirklicher Heiligung. Wir können dies Verlangen nicht stillen, unsere eigenen Mittel reichen hierfür nicht aus, aber dazu ist der Sohn Gottes erschienen, dass Er es stille, deshalb hat Er in unserem Fleisch Heiligkeit zustande gebracht und für uns die Gabe des Heiligen Geistes erworben. Er allein hatte Macht, diese Verheißung auszusprechen:

„Die nach Gerechtigkeit hungern, sollen gesättigt werden”, denn Er allein kann die Verheißung erfüllen. Eine nur zugerechnete Gerechtigkeit könnte diesen Hunger nicht stillen. Ein Evangelium, welches uns sagte, dass wir in unseren Sünden bleiben und uns mit Zudeckung derselben begnügen sollen, wäre kein Evangelium, es wäre eine traurige, keine freudige Botschaft.

Aber das Evangelium Gottes lautet anders: „Ich will dem Durstigen geben von dem Brunnen des Wassers des Lebens umsonst” (Offb 21,6).

Dieses Wasser des Lebens ist die Gabe des Heiligen Geistes, welcher die dürstende Seele nicht allein mit Beruhigung über das Vergangene, sondern mit der Kraft eines neuen göttlichen Lebens erfüllt und die Früchte der Gerechtigkeit schafft. In vielen Seelen war durch das Gesetz, den Erzieher auf Christum, dieser Hunger und Durst hervorgerufen worden. Diese ruft der Herr zu Sich, um sie zu erquicken; und Er erquickt sie in der Tat; schon jetzt hebt die Erfüllung Seines Wortes „sie sollen satt werden” an.

Doch bleibt auch noch ein Sehnen übrig, wie die Weisheit spricht: „Wer von mir trinkt, der dürstet immer nach mir” (Sir 24,29).

Die tiefste Bekümmernis der Kinder Gottes ist die, dass sie dem Herrn nur unvollkommen dienen. Sie verlangen nach der vollkommenen Gerechtigkeit. Mögen andere in nichtigen Dingen ihre Befriedigung suchen, unsere Seele soll einstimmen in die Worte des Psalmisten: „Ich aber will schauen Dein Antlitz in Gerechtigkeit, ich will satt werden, wenn ich erwache, an Deinem Bilde” (Ps 17,15). Dieses Sehnen wird gestillt; „denn wie wir getragen haben das Bild des irdischen, so werden wir tragen das Bild des himmlischen”, des verklärten Christus (1 Kor 15,49).

Nur solche, in welchen dies Verlangen nach Gerechtigkeit lebendig war, fand der Sohn Gottes für Seine Erscheinung vorbereitet. Dasselbe Kennzeichen gilt auch jetzt, da uns Seine zweite Erscheinung nahegerückt ist. Diese Ankündigung davon ist zu uns gelangt, wir haben sie angenommen und wir sagen, dass wir auf Seine Wiederkunft warten. Aber ist dies Warten bei uns allen rechter Art?

Man kann Seiner Wiederkunft entgegensehen, wie man eine große Umwälzung erwartet, die sich aus den Zeichen der Zeit als bevorstehend schließen lässt.

Man kann von dem Kommen des Herrn sprechen, wie man eine politische Ansicht über den Stand der Dinge und dessen notwendige Folgen ausspricht. Aber dies ist nicht das Warten, welches Verheißung hat. Darin liegt noch nicht, dass Er, wenn Er erscheint, uns zur Seligkeit erscheinen wird.

Man kann um Sein Kommen bitten, damit die Überwindung des Todes offenbar werde und alles Elend auf Erden ein Ende nehme. Dies Gebet ist rechtmäßig, und so haben wir beten gelernt; doch gehört, damit unsere Erwartung und unser Gebet rechter Art sei und wir die Verheißung erlangen, noch etwas anderes dazu, nämlich das Hungern und Dürsten nach Gerechtigkeit. Der höchste Gegenstand unseres Sehnens muss dieses sein, dass wir dem Herrn ganz ähnlich werden, dass wir Ihn sehen, wie Er ist.

Unser Verlangen sei, dass Christus in Seiner Kirche vollends Gestalt gewinne, damit Er persönlich in ihrer Mitte erscheinen könne und damit sie Ihm dann ohne alle Sünde in ewiger Gerechtigkeit, Unschuld und Seligkeit diene. Dann wird Er das jetzt verkannte und unterdrückte Recht auf Erden aufrichten, dann werden die, welche nach Gerechtigkeit hungern, gesättigt sein.

„Selig sind die Barmherzigen, denn sie werden Barmherzigkeit erlangen.”

Dies war der Fehler der strengen Israeliten, dass sie bei ihrem Eifer für Opfer, Gottesdienst und Beobachtung der mannigfaltigen äußerlichen Gebote die Hauptsache im Gesetz, nämlich die Liebe und Barmherzigkeit, beiseite schoben, wenig Mitgefühl für das leibliche und geistliche Elend der Menschen an den Tag legten, über die Heiden, die Samariter und die Sünder in Israel hart und geringschätzig urteilten. Hierbei meinten sie, für das Reich des Messias geschickt zu sein, und wenn Er komme, so könne ihnen der Eintritt in dasselbe nicht fehlen; ja sie meinten, je unbarmherziger sie richteten, desto eher müsste Gott ihnen gnädig sein. Ist nicht dieselbe Härte des Herzens auch unter uns Christen, und zwar bei frommen und eifrigen Christen‚ zum Vorschein gekommen, so dass sie meinten, durch Verachtung und Grausamkeit gegen ungläubige Juden und gegen irrgläubige Christen dem Herrn zu dienen und wohlzugefallen?

Aber Jesus Christus lehrt anders. Aus der Fülle der Liebe, die in Ihm wohnt, und aus dem Einblick in das Herz des himmlischen Vaters, den niemand kennt außer der Sohn, hat Er die Worte geschöpft: „Selig sind die Barmherzigen, denn sie werden Barmherzigkeit erlangen.”

Wer den Sinn Christi hat, der denkt hierbei nicht an ein Verdienst der Werke. Wer kindlich gegen Gott gesinnt ist, dem liegt es ferne, mit seinem himmlischen Vater zu rechten und Ihm gegenüber Ansprüche zu stellen. Wer die Tiefe unseres natürlichen Verderbens und die Mangelhaftigkeit auch dessen, was durch die Gnade Gottes in uns zustande kommt, erkannt und empfunden hat, will nichts hören von Verdienst und von verdientem Lohn. Seitdem uns das Himmelreich aufgeschlossen und die Liebe und Heiligkeit Gottes in Seinem Sohn erschienen ist, muss jeder Gedanke an ein Anrecht des Menschen auf das Himmelreich ersterben. Doch steht die Verheißung da: „Sie werden Barmherzigkeit erlangen.”

Den Weg zu Gott, den uns der Sohn durch Seine Menschwerdung, durch Sein teures Blut und durch Seinen Hingang zum Vater bereitet hat, kann niemand mit einem Herzen ohne Mitleid betreten. Wer kein Erbarmen gegen den Nächsten beweist, kann das Erbarmen Gottes nicht erfahren. Wer hart über den Bruder urteilt, wird auch ein hartes Urteil von Gott empfangen. Wer lieblos in seinen Gefühlen und Äußerungen gegen den Nächsten ist, vor dem wird Gott Seine göttliche Liebe verbergen. Es gibt keinen traurigeren Seelenzustand als den, in welchen der Unbarmherzige gerät. Wenn die Stunde kommt, wo er fühlen muss, wie sehr er selbst auf das göttliche Mitleid angewiesen ist, um selig zu werden, kann er die Vergebung der Sünden nicht glauben. Er findet sich mit Finsternis umgeben und sieht das Licht der göttlichen Liebe nicht. Er hört vielleicht das Wort von der Versöhnung, aber er kann es sich nicht aneignen. Sein Herz ist dürr und öde, und der Grund seines Elendes, nämlich seine Unbarmherzigkeit gegen die Brüder, ist ihm nicht bewusst. Doch wenn es der Gnade Gottes gelingt, ihm dies zum Bewusstsein zu bringen und ihn zur Milde gegen die Brüder zu stimmen, tut sich ihm auch die göttliche Barmherzigkeit, die einzige Quelle des Trostes, wieder auf. Wo Christus, der Herr, solche findet, die Mitleid im Herzen tragen und Liebe üben, kommt Er ihnen entgegen.

Die Aufnahme in das Reich der Himmel ist und bleibt eine Sache der Gnade. So ist es mit dem ersten Eintritt in die Gemeinschaft Christi, so ist es mit jedem Fortschritt, den wir unter Seiner Führung machen dürfen, so wird es auch mit dem letzten Schritt sein, mit der Aufnahme in die Herrlichkeit bei der Zukunft des Herrn; das wird die höchste und wunderbarste Erweisung der unaussprechlichen Barmherzigkeit unseres Gottes sein.

„Selig sind, die reines Herzens sind, denn sie werden Gott schauen.”

Wieder ist es das Innere und der Zustand des Herzens, worauf der Herr hinweist, zum Unterschied von den Gesetzeslehrern, die von der Reinheit des Herzens wenig und von den Geboten äußerlicher Reinheit viel zu sagen wussten. Unter der Reinheit des Herzens ist die Keuschheit verstanden, aber nicht diese allein, denn auch andere Dinge verunreinigen das Herz: Neid, Hass und Bitterkeit, Lüge und Unredlichkeit, Ehrgeiz und Sucht nach irdischem Gewinn. Wo die zuvorkommende Gnade Gottes einen Abscheu gegen alles unzüchtige Wesen bewirkt hat, wo sie das Herz für den Frieden und die Liebe stimmt und die Neigungen von dem Irdischen ablenkt, da tritt diese große Verheißung in Kraft.

Gott ist in Seinem Sohn geoffenbart, und wir können Gott nie anders als im Sohne schauen. Zwar auch vor Seiner Erscheinung wusste man von Gott; aber die Erkenntnis Gottes, welche ewiges Leben ist, war noch nicht aufgeschlossen, und sie bleibt auch uns unerreichbar, wenn wir nicht zu Jesu Füßen sitzen, Ihn hören und auf Ihn blicken. Niemand vermag zu wissen, wie Gott gegen ihn gesinnt sei, wenn er nicht Gott in Christo schaut. Niemand kennt den Vater, außer der Sohn und wem Ihn der Sohn will offenbaren. Wie Gott gegen mich gesinnt sei, ob Er mich liebe und mir gnädig sei, darüber kann ich in Ewigkeit nicht gewiss werden ohne Heiland. Aber indem wir in Christi Herz schauen dürfen und die Liebe erkennen, die Er zu uns hat, blicken wir zugleich in das Herz des Vaters und haben einen Anfang der verheißenen Anschauungen Gottes.

Lasst uns nicht erwarten, dass jemand Christum und Gott in Christo erkenne, der es ohne Reinigung seines Herzens versucht. Wer unreine Leidenschaften in seinem Innern herrschen lässt und dabei sich erkühnt, Gott erkennen zu wollen, wird in Finsternis bleiben. Von diesem Wahn sind die Philosophen gefangen, die sich von dem Wort Gottes und der Zucht Seines Geistes losgerissen haben. Sie meinen, Gott erkennen und über die göttlichen Dinge urteilen zu können ohne Reinigung des Herzens. Sie stehen der Wahrheit ferner als die alten griechischen Weisen, die, obwohl Heiden, doch von ihren Schülern vor allem ein philosophisches Leben forderten.

Auf kirchlichem Boden hat sich derselbe Irrtum ausgebreitet, überall, wo man mit Orthodoxie ohne Heiligung sich getröstet. Es gibt Zeiten, wo die Menschen mit einer toten Rechtgläubigkeit sich behelfen und die Wahrheit im Verstand noch festhalten. Dies mag so lange dauern, als sie von der sie umgebenden Kirche noch geistig gestützt und getragen werden. Aber schwindet, wie es jetzt der Fall ist, das göttliche Leben in der Kirche, dann schlägt der tote Glaube unreiner Herzen in den Unglauben um. Wer nicht mit Ernst nach Reinheit des Herzens trachtet, den sucht man vergeblich zum Glauben an Gott und an Christus zu führen. Sein Verstand und Scharfsinn mag auf das höchste ausgebildet sein, aber der Verstand ist nicht der Spiegel, welcher das Licht der göttlichen Wahrheit aufnehmen und wiedergeben kann; das Herz ist dieser Spiegel. Ist es mit Leidenschaften und bösen Tücken behaftet, so kann aus ihm die Wahrheit ebensowenig zurückstrahlen wie das Licht aus einem Metallspiegel, der mit Rost überzogen ist.

Gleichartiges kann nur von Gleichartigem erkannt werden. „Es ist noch nicht erschienen, was wir sein werden; wir wissen aber, wenn Er erscheinen wird, dass wir Ihm ähnlich sein werden, denn wir werden Ihn sehen wie Er ist” (1 Joh 3,2). Wenn wir einst den Herrn in Seiner Herrlichkeit schauen sollen, so werden wir dazu deswegen imstande sein, weil wir Ihm dann bereits ganz ähnlich an Heiligkeit, Reinheit und Liebe sind. Um Ihn zu schauen wie Er ist, muss Seine Kirche zu Seinem Bild verklärt sein, auch die Sterblichkeit und das Verderben, das in unserem sterblichen Leibe wohnt; muss abgetan sein. Darin wird die höchste Seligkeit bestehen, dass wir Gott von Angesicht schauen und Ihn erkennen, wie wir von Ihm erkannt sind. Auch dann werden wir den Vater nicht außer dem Sohne, nicht neben dem Sohne, sondern in dem Sohne schauen. Das ist das Werk des Heiligen Geistes, dass Er in dieser Haushaltung die Kirche innerlich Christo gleichgestaltet, und dass Er am Schluss dieser Haushaltung auch ihren sterblichen Leib verklärt, so dass der Tod von dem Leben verschlungen wird; und dann wird die Verheißung erfüllt sein: „Sie werden Gott schauen.”

„Selig sind die Friedfertigen, denn sie werden Gottes Kinder heißen”.

Wer unter streitenden Brüdern Frieden zu stiften sucht, wird in dieser Welt wenig Dank dafür haben. Aber Christus blickt mit Wohlgefallen auf solche, denen es schmerzlich ist, Streit und Krieg mit ansehen zu müssen, und unerträglich, selbst in Feindschaft mit anderen zu leben. Er kam als Bringer des Friedens und freut sich an solchen, die den Frieden suchen. „Ist es möglich, so viel an euch ist, so habt mit allen Menschen Frieden.” Wo aber findet sich mehr Streit und Bitterkeit als in der Kirchen- und Ketzergeschichte? Der Religionshass zwischen den verschiedenen Kirchenparteien ist zeitweise ärger gewesen als jeder andere Hass. Der Geist Kains hat unter den Christen Eingang gefunden, und die Feindschaft zwischen Christen und Christen ist die schwerste Betrübnis für den Heiligen Geist und die ärgste Schmach für den Namen des Herrn geworden. Wem der Friede unter den Christen nicht am Herzen liegt, wie kann er an jenem Tage als ein Kind Gottes anerkannt werden, da der Herr selbst von den Friedfertigen sagt: sie, nur sie werden Gottes Kinder heißen?

Bemüht sich jemand, die entzweiten Brüder zu versöhnen, jedem sein Unrecht und das Gute, das sich an dem andern noch findet, vorzustellen, so ist die gewöhnliche Folge, dass er von beiden ungern gesehen, ja sogar verdächtigt wird. Unentschiedenheit, Mangel an Rechtgläubigkeit, Gleichgültigkeit gegen das reine Bekenntnis, Zweideutigkeit des Charakters sind die Vorwürfe, die man gegen die Freunde des Kirchenfriedens erhebt. Doch diese Vorwürfe können wir ruhig ertragen, wenn wir die Worte hören: „Selig sind die Friedensstifter”.

Wir haben beten gelernt, dass der barmherzige Gott auf Sein zertrenntes Volk herabschauen und die Spaltungen der Christenheit heilen wolle. Wir sind gewiss, dass diese Bitte Ihm wohlgefällig ist und endlich Erhörung findet. Der Tag kommt, wo Er Seine Herde unter dem wahren Hirten vereinigen wird, und solche, die von ganzem Herzen danach verlangen, dafür gearbeitet und darum gebetet haben, sie dürfen dann auf Anerkennung als Kinder Gottes hoffen.

„Selig sind, die um Gerechtigkeit willen verfolgt werden.”

Seltsame Welt, in der so etwas vorkommt! Wenn jemand mit Wort und Tat für die Gerechtigkeit einsteht und sich in seinem Wandel nach den Geboten Gottes richtet, sollte er nicht auf Schutz von den Gewaltigen und auf den Beifall der öffentlichen Meinung rechnen dürfen?

Die Worte des Herrn lauten anders. Er durchschaut die Welt und Er sieht, dass sie im argen liegt; Er stützt sich auf die Erfahrung, und diese zeigt, dass man durch einen Wandel in Gerechtigkeit selten Dank erwirbt, aber oft Verfolgung sich zuzieht. Johannes der Täufer schmachtete im Gefängnis, als Jesus Christus diese Worte sprach. Die Zuhörer mussten an den Mann denken, der allem Volk die Gebote Gottes eingeschärft, der dem Fürsten gesagt hatte: „Es ist nicht recht, dass du deines Bruders Weib hast”, und der nun zum Lohn für das alles vom Schwert des Tyrannen bedroht war. Wer sollte diesen Mann und alle, denen es ähnlich ging, nicht bedauern?

Aber der Herr, so tief Er mit solchen und für solche fühlt, spricht doch nicht ein Wort des Bedauerns aus, sondern Er nennt sie glückselig, die um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden, denn ihnen gehört das Himmelreich. Ein neues, seliges, herrliches und unvergängliches Reich tut sich auf, das nicht von dieser Welt ist, und der König dieses Reiches ruft die wegen der Gerechtigkeit Verfolgten herein, während Er es den Verfolgern zuschließt auf immer. Wunderbarer Wechsel! Gerade die, welche mit Hass beladen und in den Kerker geworfen sind, werden eingeladen, Throne der Ehren in diesem Reich einzunehmen (Offb 20,4).

Die Meister in Israel hatten sich andere Wege der Vorbereitung auf das Himmelreich erdacht, aber der Herr findet diejenigen, welche um des Guten willen zu leiden haben, am besten vorbereitet.

Ist es nicht etwas Ähnliches, was in der Geschichte vorkommt, so oft ein großer Umschwung eintritt, eine Herrschaft gestürzt und eine andere errichtet wird? Da öffnet man die Gefängnisse, da ruft man die Verbannten zurück, da begrüßt man die, welche unter der vorigen Regierung gelitten haben, als Vertrauensmänner und erhebt sie zu hohen Ehren. Solche Vorgänge sind ein Abbild von dem, was geschehen soll, wenn endlich das Reich der Himmel in Herrlichkeit offenbar wird.

„Wer sind diese mit weißen Kleidern angetan und Palmen in ihren Händen? Diese sind es, die gekommen sind aus der großen Trübsal” (Offb 7, 13.14).

Also ehe das Himmelreich offenbar wird, muss Verfolgung und Trübsal stattfinden, und nun, da die letzten Zeiten gekommen sind, gilt es mehr als je, um Gerechtigkeit willen zu leiden. Dies ist ganz besonders der Beruf derer, welche der Erscheinung des großen Königs entgegensehen.

„Das ist ja gewißlich wahr, sterben wir mit, so werden wir mit leben, dulden wir mit, so werden wir mit herrschen” (2 Tim 2,11.12).

Der Herr wendet Sich zu Seinen Jüngern: „Selig seid ihr, wenn euch die Menschen um Meinetwillen verfolgen.”

Er ist in die Welt gekommen; die Liebe und die Heiligkeit selbst ist in Ihm erschienen; Worte der Gnade strömen aus Seinem Mund; Taten der Kraft und Werke der Barmherzigkeit begleiten jeden Seiner Schritte. Sollte es nun nicht anders werden? Sollten nicht alle sich um Ihn sammeln, Ihm die Ehre geben und in Seinen Dienst treten? Sollten nicht jetzt die Verfolgungen um der Gerechtigkeit willen ein Ende nehmen? Im Gegenteil! Die Welt liebt die Finsternis mehr als das Licht, denn ihre Werke sind böse. Gegen Ihn, den Gerechten, dem keiner der früheren Gerechten gleichkommt, dem auch Johannes der Täufer die Schuhriemen aufzulösen nicht würdig ist, erhebt sich die Feindschaft der Menschen erst recht. Er wird in einem Maße, wie keiner vor Ihm, verachtet und gehasst, und die, welche sich Ihm aufschließen, müssen gewärtig sein, noch härter als die auf dem Weg der Gerechtigkeit Vorangegangenen angefeindet zu werden. Der Herr hat es in diesen Worten vorausgesagt, was bevorstand; und wahrlich, es ist an Ihm und an den Seinen in Erfüllung gegangen, und es muss auch jetzt in Erfüllung gehen.

Schmähungen gehen der Verfolgung voraus. Der Feind alles Guten fing damit an, Lügen, Spott und Lästerung gegen den Heiligen Gottes auszubreiten; er brachte es dahin, dass die verblendeten Juden den Heiland als den ärgsten Verführer betrachteten. Seine Lehre, Seine Absichten und Gesinnungen, ja die Wundertaten Seiner Liebe wusste der Arge mit Erfolg zu verdächtigen, so dass zuletzt den Betörten die Verurteilung und Hinrichtung Jesu als ein gutes und notwendiges Werk erschien. Schmähung und Lästerung waren die Mittel, wodurch der Feind auch die Heidenwelt gegen die Gemeinde Christi aufhetzte. Es gelang ihm ein Meisterstück, indem er aus abtrünnigen Christen verderbliche Rotten bildete, die in ihren Versammlungen Lastertaten ausübten, so dass um ihretwillen der Weg der Wahrheit verlästert wurde, indem die Heiden meinten, das sei das Christentum und die Christen seien alle so (2 Petr 2,1.2). Da ging das Wort in Erfüllung: „Es kommt die Stunde, dass wer euch tötet, meint, er tue Gott einen Dienst daran” (Joh 16,2). So entstanden die großen Verfolgungen, die unter Nero ihren Anfang nahmen und fortdauerten, bis Gott endlich die Lüge zunichte machte und die Unschuld Seiner Kinder ans Licht stellte. So schrecklich waren die Leiden der Christen, dass, wie Tacitus sagt, manche Heiden selbst bei der Annahme, dass diese Unglücklichen große Verbrecher seien, Mitleid mit ihnen fühlten.

Dennoch nennt der Herr die um Seinetwillen Verfolgten glückselig. „Freuet euch und hüpfet, denn euer Lohn ist groß im Himmel.”

Der erste Eindruck einer jeden Schmähung und Verfolgung ist wehtuend und traurig. Es kann nicht anders sein und es soll auch nicht anders sein. Der Geist Christi, der in den Psalmen die Leiden Christi vorausverkündigt hat, tut es kund, was in dem Herzen des Herrn Selbst vorging: „Die Schmach bricht Mir Mein Herz und kränket Mich” (Psalm 69,21).

Und der Herr Selbst, als Ihm Sein bevorstehendes Leiden vor die Seele trat, klagte: „Ich muss Mich taufen lassen mit einer Taufe, und wie ist mir so bange, bis sie vollendet werde!” (Lk 12,50).

So ist es auch im kleinen mit uns, und wenn uns Spott, Verachtung und Zurücksetzung wehe tut, so ist dieses Gefühl nicht unrecht. Doch bei diesem ersten Eindruck soll es nicht bleiben. Widerstreben wir nicht, geben wir uns willig hin, wenn der Herr Schmach und Verfolgung sendet, so ist schon der himmlische Trost Seiner Gnade da und überwiegt die Schmerzen. „Selig seid ihr, wenn ihr geschmäht werdet über dem Namen Christi, denn der Geist, der ein Geist der Herrlichkeit und Gottes ist, ruht auf euch” (1 Petr 4,14).

In solchen Zeiten erstarkt der innere Mensch, die Versicherung der göttlichen Huld wird uns in erhöhtem Maße zuteil, und der Blick der Hoffnung auf das Ziel wird hell. Dies ist schon der Anfang des verheißenen Lohnes. Die Läuterung und Befestigung, die uns zuteil wird, wenn wir um des Herrn willen leiden, das sind schon unvergängliche Güter, es ist schon ein Teil des reichlichen Ersatzes im Himmel.

Als der Herr den bitteren Kelch, den die Sünde der Welt Ihm bereitet hatte, trinken mußte bis auf den letzten Tropfen, da war kein Trost beigemischt; aber nun ist es anders. Was die Kinder Gottes zu leiden haben, ist nur ein Tröpflein aus dem Leidenskelch Jesu, und es wird durch den reichen Trost des Heiligen Geistes gemildert und versüßt. Darum konnten die Apostel nach erlittener unverdienter Strafe fröhlich von des Hohen Rates Angesicht gehen, weil sie gewürdigt worden waren, um des Namens Jesu willen Schmach zu leiden (Apg 5,41); darum leuchtet das Angesicht des heiligen Stephanus, als er auf den Tod angeklagt vor Gericht stand, vor Freuden wie eines Engels Angesicht (Apg 6,15); und als Paulus und Silas, verwundet und in Stock und Eisen gelegt, die Nacht schlaflos im Gefängnis zubrachten, konnten sie Lobgesänge anstimmen in der Mitternacht (Apg 16,22-25).

Was wird es erst sein, wenn der Herr kommt und Sein Lohn mit Ihm!

Paulus, der in Christi Nachfolge so viel erlitten hat, konnte sagen: „Die Leiden dieser Zeit sind nicht wert der Herrlichkeit, die an uns offenbart werden soll” (Röm 8, 18).

Wenn man in eine Waagschale die zukünftige Herrlichkeit der Kinder Gottes legt, in die andere alle die schweren Schicksale der Gläubigen in diesem Leben, so ist diese gegen jene der Vergleichung nicht wert und wie nichts zu achten.

„So haben sie verfolgt die Propheten, die vor euch gewesen sind.“

Der Herr blickt zurück auf jene Wolke von Zeugen aus alter Zeit, die in Israel auftraten und durch den Glauben alles erduldeten, um nur dem, der sie gesandt hatte, treu zu bleiben.

Der letzte und größte von ihnen war Johannes der Täufer. Wer unter ihnen wurde so hart geprüft wie er! Er freute sich, als er die Stimme des Bräutigams hörte; er erwartete, den Anbruch des Himmelreichs, das er angekündigt hatte, zu schauen. Er harrte im Kerker auf Befreiung, aber die Befreiung kam nicht und er endete vor der Zeit, einsam, ohne einen Freund und Tröster zur Seite zu haben, durch das Schwert des Scharfrichters im Gefängnis.

Aber er hat Glauben gehalten. Nun ehrt die christliche Kirche sein Andenken, und unter denen, die dem Herrn vor Seiner Erscheinung gedient haben, nennen wir vor allem Johannes den Täufer und schließen ihn in die Bitte für die im Glauben Entschlafenen ein: „Laß sie ruhen in Deinem Frieden und erwachen zu einer fröhlichen Auferstehung!”

Dies sind die Vorgänger, auf welche Christus uns hinweist. Sie stehen mit uns in Gemeinschaft des Geistes, und sie sollen nicht ohne uns vollendet werden (Heb 11,40). Wenn die Gemeinde des Neuen Bundes vollzählig und bereitet ist, dann sollen auch jene zugleich mit ihr in die Herrlichkeit aufgenommen werden. Auf jene Vorbilder werden wir hingewiesen, denn sie haben den Glauben festgehalten und sind treu geblieben bis zum Tode, obgleich sie weniger Licht, Trost und Gnade empfangen hatten als wir, die wir in der heiligen Kirche Christi und bereits mitten im Himmelreich stehen.

Uns Christen ist ein noch herrlicheres Ziel gesteckt als den Gerechten des Alten Bundes. Doch wird, um es zu erreichen, nicht ein größeres Maß von Glauben als der Glaube, den jene bewiesen haben, erfordert. Harren wir aus, wie sie ausgeharrt haben, so werden wir die größten Verheißungen ererben.

„Aber wehe euch, wenn euch jedermann wohl redet, desgleichen taten ihre Väter den falschen Propheten auch” (Lk 6,26).

Es gab solche zur Zeit des Jeremia, und sie standen in Gunst bei den Fürsten und allem Volk, während Jeremia des Todes schuldig geachtet wurde (Jer 26,11; Jer 27,9.10; Jer 29,8.9).

Sie weissagten: „Ihr werdet nicht dienen müssen dem König zu Babel”, sie leugneten die bevorstehende Zerstörung Jerusalems und des Tempels, die Jeremia ankündigte. Darum hörte man sie gerne, und jedermann redete wohl von ihnen.

So will die Welt jetzt nichts wissen von dem Kommen des Herrn zum Gericht über die Christenheit. Die Predigt von Seiner Wiederkunft und von der baldigen Auferstehung ist es, welche am meisten Spott und Anfeindung hervorruft. Wenn dagegen gesagt wird: Es hat keine Gefahr, das Ende der Dinge liegt in unabsehbarer Ferne; oder: Wir haben kein Weltgericht, sondern eine allmähliche Weltverklärung zu erwarten, und nach und nach wird alles gut - das hört man gerne, das sind Lehren der falschen Propheten.

O dass unser Teil sein möchte mit den treuen Zeugen, welche die ganze Wahrheit Gottes verkündigen! Wir haben bis jetzt von Schmach und Verfolgung nur wenig erfahren, und es kommt nicht in Betracht gegen das, was die heiligen Märtyrer gelitten haben. Doch wenn wir jetzt die Verfolgung im stillen und im kleinen willig ertragen, dann werden wir auch Kraft für die künftigen schweren Prüfungen haben. Wir sollen nicht die Verfolgung herausfordern, aber wir sollen es auch nicht machen wie Petrus, der sich unter dem Gesinde des Kaiphas versteckte und nicht wollte als ein Jünger Jesu bemerkt werden.

Eine solche Glaubensschwäche und Furchtsamkeit des Benehmens ist eine traurige Vorbedeutung; man betritt damit einen Weg, der leicht bis zur Verleugnung Christi führen kann.

Unsere Aufgabe ist vielmehr, mit Wort und Tat ein Bekenntnis der Hoffnung, die in uns ist, abzulegen und die Folgen ruhig und freudig zu ertragen.

Wir vernehmen aus den Seligpreisungen, was die Eigenschaften der Kinder Gottes sind. Vor allem andern sind die Leiden um Seines Namens willen die Malzeichen des Herrn Jesu, an denen Er Seine Diener als Sein Eigentum erkennen will (Gal 6, 17).

Was für ein Volk,
was für ein edle Schar
Kommt dort gezogen schon?
Was in der Welt
von Auserwählten war,
Seh ich; die beste Kron,
Die Jesus mir der Herr
Entgegen hat gesandt,
Da ich noch war so ferne
In meinem Tränenland.
Propheten groß
und Patriarchen hoch,
Auch Christen insgemein,
Die weiland dort
trugen des Kreuzes Joch
Und der Tyrannen Pein,
Schau ich in Ehren schweben,
In Freiheit überall,
Mit Klarheit hell umgeben,
Mit sonnenlichtem Strahl.

(Joh Matth. Meyfart)

Die hohe Bestimmung der Jünger - Mt 5, 13-16

„Ihr seid das Salz der Erde. Wo nun das Salz dumm wird, womit soll man es salzen? Es ist zu nichts hinfort nütze, denn dass man es hinausschütte und lasse es die Leute zertreten. Ihr seid das Licht der Welt. Es mag die Stadt, die auf einem Berge liegt, nicht verborgen sein. Man zündet auch nicht ein Licht an und setzt es unter einen Scheffel, sondern auf einen Leuchter; so leuchtet es denen allen, die im Hause sind. Also lasset euer Licht leuchten vor den Leuten, dass sie eure guten Werke sehen und euren Vater im Himmel preisen.”

Der Sohn Gottes wurde in dieser Welt der Allerverachtetste und Unwerteste, so verachtet, dass man das Angesicht vor Ihm verbarg (Jes 53,3).

Nicht viel anders soll es Seiner Gemeinde ergehen; und wirklich ist es so gekommen, dass sie gerade in den Zeiten, wo sie am reinsten dastand und sich ihres Hauptes würdig erwies, am meisten Schmach und Verfolgung zu erdulden hatte; und in den letzten Zeiten kommt es wieder dahin, dass die Bekenner Christi ein Gegenstand tiefer Geringschätzung und Abneigung werden.

Dennoch bleibt ihnen die hohe Würde und Bestimmung, die der Herr mit den Worten bezeichnet: Ihr seid das Salz der Erde, ihr seid das Licht der Welt.

Diese beiden Bilder unterscheiden sich, indem das eine auf eine verborgene und unbemerkte, das andere auf eine offenbare und in die Augen leuchtende Wirksamkeit hinweist; denn was kann unscheinbarer sein als die Wirkung des Salzes, und was herrlicher als der Glanz der Sonne?

Das Salz hat eine erhaltende Kraft, es bewahrt vor Verderbnis. Indem der Herr von einem Salz der Erde spricht, gibt Er zu verstehen, dass die irdische Menschheit in einer Gefahr der Zersetzung steht und einer Würze bedarf, um nicht der Verderbnis zu verfallen. Was ist nun dieses bewahrende, im stillen wirkende, die Menschheit mit seiner Kraft durchdringende Element? Im vorbildlichen Gesetz ist gesagt: „Alle deine Speisopfer sollst du salzen und dein Speisopfer soll nimmer ohne Salz des Bundes deines Gottes sein, denn in allen deinen Opfern sollst du Salz opfern” (3 Mos 2,13).

An dieses Gesetz und an seine geistliche Bedeutung erinnert der Herr Selbst Seine Jünger (Mk 9.49.50). Das Salz des Bundes bedeutet den Glauben, womit der Mensch an dem Bund Gottes festhalten soll. Kein Opfer und kein Dienst, den der Mensch Gott darbringt, kann Gott gefallen, wenn nicht der Glaube dabei ist. Solange Glauben auf Erden ist, wird die Menschheit noch nicht dem Gericht übergeben.

Die Jünger Christi, solange sie den Glauben in sich tragen, sind das Salz der Erde. Die Welt weiß es nicht, was sie an ihnen hat und was sie ihnen verdankt. Gesetzt, es wäre den Gläubigen zeitweise nicht möglich, durch Wort und Tat auf ihre Mitmenschen zu wirken, so üben sie doch durch ihr Dasein mitten in der menschlichen Gesellschaft einen wohltätigen, die Zunahme des Verderbens hemmenden, die Gerichte Gottes zurückhaltenden Einfluss aus.

So war es mit Lot in Sodom; erst als er aus der Stadt hinweggeführt war, fiel das Feuer vom Himmel auf sie herab. So war es mit der christlichen Gemeinde in Jerusalem, als das Unwetter der göttlichen Gerichte über die Stadt heraufzog. Erst als die Gemeinde nach Pella geflüchtet war, konnte die Einschließung und Zerstörung der Stadt erfolgen. So ist die Gemeinde der Gläubigen in der letzten Zeit ein aufhaltendes Element, welches dem Gelingen des Abfalls zur vollen Reife und der Enthüllung des Menschen der Sünde im Wege steht (2 Thess 2,6.7).

So ist es auch im kleinen. Das Dasein der Gläubigen ist ein wenn auch verborgener und unbeachteter Segen für ihre Umgebung, ein Halt für alles Gute, eine Stütze für die bestehende Ordnung, ein Hindernis für die Bestrebungen des Feindes Gottes und der Menschen.

Aber wie die Bestimmung der Gläubigen in dieser Welt eine hohe und edle ist, in demselben Maße ruht auch eine Verantwortlichkeit auf ihnen, und groß ist die Gefahr für sie, wenn sie diese Bestimmung nicht erfüllen. Wenn das Salz geschmacklos (oder salzlos) wird, womit werdet ihr es würzen (Mk 9,50)? Wenn ihr selbst, nachdem euch Gnade widerfahren und eine so hohe Stellung angewiesen worden ist, die Kraft des Glaubens und die mit ihr verbundene sittliche Schärfe und Entschiedenheit verliert, wie wird euch dann noch zu helfen sein?

Ihr sollt reinigend auf die Welt wirken, und ihr könnt es; wenn ihr aber selbst der Welt euch gleichsteht, so habt ihr nicht nur eure Aufgabe verfehlt, sondern ihr geratet in einen schlimmeren Zustand als diese arge, aber doch noch der Heilung fähige Welt. Von welcher Seite sollte die Würze, die in euch lag und die ihr verloren habt, euch wieder zukommen?

So lehrt uns der Herr, dass es mit solchen Christen, die den Glauben und den Geist Gottes verloren haben, schlimmer steht als mit unwissenden Heiden. Es wäre ihnen besser, dass sie den Weg der Wahrheit nie erkannt hätten (2 Petr 2,21).

Wird die Christenheit im großen und ganzen ein solches unbrauchbares Salz, so deutet das Wort des Herrn den traurigen Ausgang an, den es zuletzt mit ihr nehmen wird. Ein solches Salz taugt zu nichts mehr, außer dass es hinausgeworfen und von den Menschen zertreten werde.

Die Leute, denen dieses Salz als Würze dienen sollte, werden es mit Füßen treten. Dieselben Menschen, welche durch die christliche Kirche geläutert werden sollten, aber nicht geläutert worden sind, werden sich gegen sie erheben und werden die Werkzeuge sein, durch welche das Gericht Gottes an verwerflich gewordenen Geistlichen und Gemeinden vollstreckt wird.

Der Hass der ungläubigen Welt gegen alles Christliche ist dadurch veranlasst, dass man die rechte erleuchtende und heiligende Wirksamkeit vonseiten der Diener und Bekenner Christi zu wenig erfahren hat.

Wir sind mit schuld, wenn die Ungläubigen jedes christliche Bekenntnis für Heuchelei halten. Die schrecklichen Folgen, welche daraus entstehen, wenn die christlichen Einrichtungen von ihren Vertretern entweiht und dann von den Ungläubigen bekämpft werden, sind in der Offenbarung enthüllt. Wird die heilige Stadt durch Aberglauben, Verweltlichung und Sittenverderbnis entweiht, so gestaltet sie sich zu einem Babylon. Dann erhebt sich die Macht des Unglaubens, in der nichts Göttliches mehr ist, wie ein wildes Tier gegen dieses Babylon, um es zu zerstören (Offb 17,16.17).

So vollziehen die Gottlosen das göttliche Urteil über die unwürdigen Vertreter des Christentums. Die Auflehnung des Unglaubens gegen den Aberglauben, der große Kampf der neueren Weltgeschichte, zeigt uns die Erfüllung des Wortes: Die Menschen werden das unbrauchbar gewordene Salz mit den Füßen zertreten.

Aber auch an jede einzelne christliche Seele richtet sich diese Mahnung des Herrn. Wenn man bereits viel Gnade empfangen, ja sogar andern mit Erfolg gepredigt hat, kann man noch selbst verwerflich werden (1 Kor 9,27). Darum gilt es, das Geheimnis des Glaubens in einem reinen Gewissen zu bewahren und mit Furcht und Zittern unsere Seligkeit zu schaffen.

Der Herr sagt an einer anderen Stelle: „Ich bin das Licht der Welt.” (Joh 8,l2).

Hier aber ruft Er den Jüngern zu: „Ihr seid das Licht der Welt.”

Er überträgt diese Benennung, deren eigentlich Er allein würdig ist, auf Seine Kirche. Niemand dürfte sich getrauen, der Kirche diesen Ehrennamen beizulegen, wenn der Herr es nicht getan hätte. Er nennt sie das Licht der Welt und deutet auf die geheimnisvolle Verbindung hin, die zwischen Ihm und den Seinen besteht, wie Er sagt: „Bleibet in Mir, und Ich in euch” (Joh 15,4). Er ist in Seiner Kirche, Er offenbart Sich durch sie, Er will in ihr erkannt werden; Sein Licht leuchtet aus ihr hervor, und die Tugenden, welche an Seinen Jüngern erscheinen, sind die Tugenden Jesu Christi selbst (1 Petr 2,9).

Der tiefe Sinn dieses Wortes: „Ihr seid das Licht der Welt”, entfaltet sich uns noch deutlicher, wenn wir auf die Schöpfungsgeschichte und ihre vorbildliche Bedeutung zurückblicken. „Gott machte zwei große Lichter; ein großes Licht, das den Tag regiere, und ein kleines Licht, das die Nacht regiere” (1 Mose 1,16).

Die Sonne ist die Quelle des Lichtes. Das Licht des Mondes ist nicht sein eigenes, sondern er empfängt es von der Sonne und strahlt es wider zu der Zeit, wo die Sonne nicht gesehen wird, so dass auch das Mondlicht, welches in unsere Nacht hereinleuchtet, eigentlich Sonnenlicht ist.

In der Heiligen Schrift, wie in der Vorstellung und Sprache der meisten Völker, wird nicht wie im Deutschen der Mond männlich, die Sonne weiblich aufgefasst, sondern im Gegenteil: die Sonne als das mächtigere wird männlich, der Mond, als das schwächere und sanfte Gestirn, wird weiblich gedacht. So ist denn in der prophetischen Sprache das Gestirn des Tages, das hervortritt wie ein Bräutigam aus seiner Kammer und freut sich, wie ein Held zu laufen den Weg (Psalm 19,6), das Sinnbild Christi des Herrn; der Mond mit seinem milden Glanz das Sinnbild der Kirche. Die Sonne ist immer sich selbst gleich, der Mond ist wandelbar. Christus ist die Sonne der Gerechtigkeit, unter deren Flügeln Heilung ist (Maleachi 4,2); wenn Christus erscheint, so beginnt der große Tag, das Reich der Herrlichkeit.

Jetzt ist diese Sonne noch nicht aufgegangen, noch währt die Nacht; aber sie ist nicht ohne Licht, denn die Kirche ist da, das kleine Licht, das die Nacht beherrscht, und sie verbreitet die Strahlen, welche sie von Christus, dem jetzt für die Welt Unsichtbaren, empfängt. Sie leuchtet nicht im eigenen Glanz, sie gibt Christo die Ehre, doch ist sie für diese Zeit die Leuchte, ohne welche die Welt ganz von Finsternis umhüllt sein würde. Erst von dem Anbruch der zukünftigen Welt heißt es: „Dann werden die Gerechten hervorleuchten wie die Sonne in ihres Vaters Reich” (Mt 13,43), dann werden sie mit Christus ganz vereinigt und mit Seiner Herrlichkeit angetan sein.

„Es kann die Stadt, die auf einem Berge liegt, nicht verborgen bleiben.”

In dieser Absicht also hat Christus Seine Kirche gegründet: sie soll sein wie eine Stadt auf der Bergeshöhe, deren Mauern und Tore, Türme und Paläste weit hinausschauen und von den Bewohnern der Umgegend nah und fern wahrgenommen werden. Sie ist das neue Jerusalem, das schon Hesekiel (Hes 40,2) gesehen hat.

Ihre Einheit und Festigkeit, ihre Heiligkeit und Schönheit soll nicht entstellt und zerrüttet werden, allen Bewohnern der Erde sollen diese ihre Eigenschaften wahrnehmbar sein. Steht es anders mit ihr, ist ihre Mauer geborsten, sind durch Zwietracht im Innern ein Teil ihrer Türme und Paläste zerbrochen, so ist dies ein Stand der Dinge, der nicht so sein soll; es ist nicht nach dem Wohlgefallen des Herrn, sondern durch eigene, schwere Schuld der Menschen ist es soweit gekommen.

„Sie kann sich nicht verbergen.”

Der Herr spricht auch dieses Wort als eine Warnung für Seine Jünger aus. Wenn Uneinigkeit unter ihnen ausbricht, wenn Unheiligkeit des Wandels einreißt, so wird dies der Wahrnehmung der Menschen nicht entgehen. Vergeblich wird man es der Aufmerksamkeit der Welt zu entziehen suchen, es ist umsonst, wenn man solche Übel rechtfertigen oder doch entschuldigen will. Die Stadt auf dem Berge und der Zustand, in dem sie sich befindet, fällt aller Welt in die Augen.

Der große König wohnt zwar auch jetzt, während der Tage des Verfalls, noch in ihrer Mitte, und Er will sie wieder aufrichten und ihren Bau vollenden. Aber unterdessen ist ihre segensreiche Wirksamkeit geschmälert.

So groß ist der für die Freiheit der Menschen gewährte Raum, dass die Jünger Christi durch ihr Verhalten zeitweise die Ausführung der Absichten der göttlichen Liebe verkümmern können.

Weil die Stellung der Gemeinde Christi eine solche ist, ruht auf ihr, auf jedem ihrer Diener, auf jedem ihrer Glieder eine so große Verantwortlichkeit. Jede christliche Seele soll es wissen, dass nach göttlicher Veranstaltung ihr Benehmen von den Menschen bemerkt wird und entweder von segensreichen oder von schädlichen Wirkungen auf ihre Umgebung begleitet ist.

Mit einer neuen Wendung des Gleichnisses vom Licht spricht der Herr von einem Leuchter, der das Licht trägt, damit es leuchte allen, die im Hause sind. Er erinnert uns damit an die Hütte des Stifts, an das heilige Haus, in welchem der goldene Leuchter mit seinen sieben Lampen stand (2 Mo 25,31-40). In dem Tempel Salomos standen zehn solcher goldenen Leuchter (1 Kön 7,49). Der Leuchter des zweiten Tempels, den Serubabel erbaut hat (vgl Sach 4,2), ist in der Abbildung auf dem Triumphbogen des Titus in Rom noch zu sehen. In solcher Gestalt haben wir uns die sieben goldenen Leuchter vorzustellen, welche Johannes im himmlischen Heiligtum sah (Offb 1,12). Diese Leuchter sind sieben Kirchen (Offb 1,20), also ein jeder das Sinnbild einer wohlgeordneten christlichen Gemeinde, die das Licht des Geistes Gottes leuchten lässt.

So soll auch die eine heilige Kirche als Ganzes dastehen. Der Geist Christi ruht auf ihr, und dieser ist in Entfaltung Seiner verschiedenen Gaben ein siebenfältiger die sieben Geister Gottes, die als sieben Lampen vor dem Thron des Ewigen leuchten und aus dem kristallenen Meer vor dem Throne widerstrahlen (Offb 1‚5; 4,5.6).

Das göttliche Licht der Wahrheit und Gnade soll also nicht unstet hin- und herschweben und inmitten der Welt zerstreut sein, sondern es soll von dem goldenen Leuchter getragen werden, der nach dem himmlischen Bild gestaltet ist. Die Kirche, nach Gottes Wohlgefallen geordnet und mit Seinen Gaben ausgestattet, ist die Trägerin des vollkommenen Lichts; nur in dieser Gestalt kann sie ihre ganze Bestimmung erfüllen und alle die im Hause sind erleuchten.

Wenn der Herr das Licht Seiner Gnade nur in vereinzelte Seelen gegeben hätte, die Ihm eine jede im Verborgenen anhangen, aber keine wahrnehmbare und sichtbare Gemeinschaft bildeten, so hätte Er das Licht unter den Scheffel gestellt. Er will Gemeinden haben, welche dem Vorbild des Leuchters im Heiligtum entsprechen. So hat denn der Herr die Kirche auf Erden wie einen Leuchter oder Lichtträger aufgerichtet, damit sie das Licht der göttlichen Wahrheit nach allen Seiten strahlen lasse. Er hat es angezündet, und nun ist es Seiner Apostel und Seiner anderen Diener Pflicht, das ihrige beizutragen, damit das Licht brennend bleibe und weithin sichtbar sei.

Doch hat auch ein jeder einzelne Christ in seinem kleineren oder größeren Wirkungskreis einen ähnlichen Beruf zu erfüllen:

„Also soll euer Licht leuchten vor den Menschen, dass sie eure guten Werke sehen und euren Vater im Himmel preisen.”

Die christlichen Lehrer werden mit den Sternen des Himmels verglichen, und die Gläubigen sollen scheinen als Lichter mitten unter einem verkehrten Geschlecht (Phil 2,15), sie sollen sein wie das Licht des Leuchtturms, welches denen, die bei Nacht auf dem gefahrvollen Meer umhergetrieben werden, den Weg zum sicheren Hafen zeigt. Dieser Beruf kann nur durch einen heiligen Wandel erfüllt werden. Nicht dadurch, dass wir viele Worte machen, sondern indem wir die Tugenden dessen, der uns berufen hat von der Finsternis zu Seinem wunderbaren Licht, mit der Tat verkündigen, erfüllen wir dieses Wort des Herrn; denn Er sagt nicht: dass sie eure Worte hören, sondern: dass sie eure guten Werke sehen. Ohne die Werke des Lichts haben auch die Worte der Wahrheit nicht die rechte erleuchtende Kraft. Nicht alle Menschen haben einen Sinn für die höheren Wahrheiten des Christentums, die wir zu bekennen verpflichtet sind. Aber alle Leute haben einen Sinn für christliche Tugend, und die Kraft der Gottseligkeit übt im stillen ihren Einfluss auch auf sehr unwissende und vorurteilsvolle Menschen.

Eine Zeitlang kann zwar auch die Lauterkeit des Sinnes und Wandels verkannt und verlästert werden, aber unterdessen wirkt sie doch im Verborgenen, und es geschieht durch gute Werke die Vorarbeit für einen künftigen Sieg der Wahrheit. „Führet einen guten Wandel unter den Heiden, auf dass die, so von euch afterreden als von Übeltätern, eure guten Werke sehen und Gott preisen am Tage der Heimsuchung” (1 Petr 2,12). Wenn die Jünger Christi in Seiner Nachfolge beharren, kommt also auch für solche, die uns jetzt verkennen und verleumden, noch ein Tag der gnädigen Heimsuchung, wo sie die verkannte Sache des Herrn im rechten Licht sehen, wo sie die Christen als Kinder Gottes erkennen und unseren himmlischen Vater dafür preisen sollen, dass Er Seinen Kindern solche Standhaftigkeit verliehen hat.

Um diesen gesegneten Ausgang möglich zu machen und zu befördern, sollen wir mit aller Geduld ausharren in guten Werken, nicht damit wir selbst von den Menschen gepriesen, sondern damit andere beseligt werden und endlich unser Vater im Himmel gepriesen werde; denn darauf ist das höchste Verlangen der Kinder Gottes gerichtet und darin werden sie ihre größte Freude finden.

Fahre fort, Zion,
fahre fort im Licht,
Mache deinen Leuchter helle,
Lass die erste Liebe nicht,
Suche stets die Lebensquelle:
Zion, dringe durch die enge Pfort,
Fahre fort!
Brich hervor, Zion,
brich hervor in Kraft,
Weil die Bruderliebe brennet,
Zeige, was Der in dir schafft,
Der als Seine Braut dich kennet:
Zion, durch die dir gegebne Tür
Brich herfür!

(Joh Euseb. Schmidt)

Christus, der Erfüller des Gesetzes - Mt 5, 17-20

„Ihr sollt nicht wähnen, dass Ich gekommen bin, das Gesetz oder die Propheten aufzulösen. Ich bin nicht gekommen aufzulösen, sondern zu erfüllen. Denn Ich sage euch wahrlich: Bis dass Himmel und Erde vergehen, wird nicht zergehen der kleinste Buchstabe, noch ein Tüttel vom Gesetz, bis dass es alles geschehe. Wer nun eins von diesen kleinsten Geboten auflöst und lehrt die Leute also, der wird der Kleinste heißen im Himmelreich; wer es aber tut und lehrt, der wird groß heißen im Himmelreich. Denn Ich sage euch: Es sei denn eure Gerechtigkeit besser denn der Schriftgelehrten und Pharisäer, so werdet ihr nicht in das Himmelreich kommen.”

„Meinet nicht, Ich sei gekommen, das Gesetz oder die Propheten aufzulösen!”

Dieser Zuruf des Herrn gilt Seinen Widersachern und gilt Seinen Jüngern. Er sagte es Seinen Widersachern, denn sie erhoben den Vorwurf: „Dieser Mensch ist nicht von Gott, denn er hält den Sabbat nicht” (Joh 9, 16), und ihre falschen Zeugen gaben vor, Er hätte Sich anheischig gemacht, den Tempel, also auch den im Gesetz angeordneten Gottesdienst, zu zerstören (Mk 14,58).

Er sagte es aber auch Seinen Jüngern; denn mit dem Blick, der die Herzen erforscht und die Zukunft durchschaut, nahm Er wahr, dass unter diesen der Wahn aufkeimen würde, Er sei gekommen, um sie von Verbindlichkeiten gegen Gott zu lösen und ihren natürlichen Gelüsten freieren Spielraum zu eröffnen, als ihnen unter dem Alten Bund gestattet war.

Dieser Missdeutung, als ob Er eine falsche Freiheit einführen oder begünstigen wolle, tritt Er ein für allemal mit diesem gewaltigen Wort entgegen: „Ich bin nicht gekommen aufzulösen” oder zu zerstören, „sondern zu erfüllen” oder zu vollenden.

Zwar ist der Sohn Gottes erschienen, dass Er die Werke des Teufels zerstöre (1 Joh 3,8), aber eben nur die Werke des Teufels, nicht die Werke Seines Vaters. Diese will Er vielmehr von jedem Missbrauch und jeder Verderbnis befreien, sie bewahren, ihnen eine höhere Weihe verleihen und sie zur Vollkommenheit führen.

Er ist nicht gekommen, die menschliche Natur zu zerstören, sondern sie zu erlösen und ganz, nach Geist, Seele und Leib, heilig und herrlich zu machen.

Er ist nicht gekommen die Erde zu vernichten, sondern sie zum Schauplatz des Reiches Gottes umzugestalten.

Eben darum heißt Er Heiland, das ist Retter und Erhalter.

Unter den Werken Gottes, die Er nicht zerstören will, stehen das Gesetz des Alten Bundes und die Schriften der Propheten obenan. Unter „Gesetz und Propheten” ist die ganze Offenbarung des Alten Testaments, wie sie in den heiligen Schriften niedergelegt ist, verstanden.

Das „Gesetz” im Unterschied von den Propheten bedeutet die fünf Bücher Moses.

Unter dem Namen der „Propheten” sind die geschichtlichen Bücher mit inbegriffen, denn diese vom Buch Josua bis zum zweiten Buch der Könige heißen bei den Hebräern „die ersten Propheten”; Jesaja, Jeremia, Hesekiel und die Sammlung der zwölf kleinen prophetischen Bücher heißen „die späteren Propheten”.

Aber es ist nicht zu bezweifeln, dass der Herr auch die übrigen Schriften, die Hagiographa, im Auge gehabt und bestätigt hat. Denn auch diese, die Psalmen usw., waren eben deswegen unter die heiligen Schriften mit aufgenommen, weil sie von prophetischen Männern verfasst sind.

Dagegen wurden Schriften der späteren Zeit nach Maleachi, wo keine Propheten in Israel mehr aufstanden, - wie köstlich ihr Inhalt sein mochte ‚ z.B. die Weisheit Salomos - den heiligen Schriften nicht beigezählt.

Diese Auskunft gibt uns Flavius Josephus, und damit stimmt das Zeugnis der Synagoge, das ist des gesammelten Judentums, überein.

Der heilige Paulus sagt es uns, dass den Juden die Offenbarungen Gottes anvertraut worden sind (Röm 3,2).

Von den Juden hat die christliche Kirche das Alte Testament empfangen, und wenn wir wissen wollen, welche Bücher dazu gehören, sind wir auf die Aussage der Juden angewiesen, und an ihr Zeugnis müssen wir uns halten.

Also diese, die heiligen Schriften Israels sind es, welche der Herr bestätigt. Sie werden gegenüber dem Evangelium „das Gesetz” genannt, und von diesen soll, wie der Herr sagt, bis Himmel und Erde vergehen, nicht ein Jota (der kleinste Buchstabe der hebräischen Schrift) oder ein Häkchen (wodurch mitunter ein Buchstabe von dem andern sich unterscheidet) vergehen oder zunichte werden.

Der Herr will das Gesetz und die Propheten erfüllen.

Darin liegt nicht ein doppelter Sinn: die Gebote befolgen, die Voraussagen wahr machen, sondern ein einfacher Sinn:

die Absicht Gottes, die Er in Gesetz und Propheten kundgetan hat, zur Ausführung bringen, die göttlichen Gedanken, welche darin niedergelegt sind, verwirklichen. Denn den ganzen Offenbarungen des Alten Bundes liegt eine göttliche Absicht zugrunde, ein großer göttlicher Ratschluss ist darin auf mannigfaltige Weise in Geschichten, Weissagungen und heiligen Gebräuchen angedeutet und seine Ausführung angebahnt, und dieser Ratschluss ist: die Offenbarung und Verherrlichung Gottes in Christus und der Kirche, im Haupt und in den Gliedern, und zwar durch die Rettung und Heiligung des edlen göttlichen Geschöpfes, der menschlichen Natur.

Das untrügliche Wort Jesu bestätigt also alle Teile des Alten Testaments, nicht ausgenommen die zum größten Teil zeremoniellen Gebote des mosaischen Kultus und die mitunter seltsamen biblischen Geschichten. Dennoch würde man das Wort des Herrn ganz falsch verstehen, wenn man darin eine Verewigung des buchstäblichen Sinnes und der buchstäblichen Befolgung der Zeremonialgesetze finden wollte. Es ist dem Herrn um die göttliche Absicht zu tun, und diese ist in den Zeremonien sinnbildlich ausgesprochen.

Jesus Christus Selbst saß in Seiner Kindheit und Seinem Jünglingsalter zu den Füßen der Schriftweisen (Lk 2,46). Er hörte und lernte von ihnen die biblische Geschichte, das Gesetz und die Worte der Propheten. Er wohnte schon früh dem mosaischen Kultus bei, und alles das fesselte Ihn, Er fand Licht und Förderung Seines inneren Lebens in den heiligen Schriften und im Gottesdienst; denn Sein reines und erleuchtetes Auge nahm in dem allen einen tiefen Sinn wahr und unterschied die Gedanken des göttlichen Geistes von dem Mißverstand und dem Mißbrauch der Menschen.

Eben darum konnte Er das ganze Gesetz anerkennen und bestätigen, weil Er überall im Gesetz und den Propheten die gotteswürdige Absicht erkannte. Der Fehler der Schriftgelehrten bestand nicht darin, dass sie über dem Buchstaben des Alten Testamentes wachten und ihn heilig hielten, sondern darin, dass sie das Zeremonielle für den göttlichen Zweck, für das eigentlich von Gott Gewollte ansahen, anstatt es als Mittel für diesen Zweck ‚ als sinnbildliche Darstellung und Anleitung zu verstehen. Die Schriften des Neuen Bundes geben uns mannigfaltige Winke über die tiefere Bedeutung des Gesetzes, wie wenn Paulus von dem Passahlamm und der Entfernung des alten Sauerteigs spricht oder im Brief an die Hebräer die in der Feier des großen Versöhnungstages liegenden Geheimnisse enthüllt. Die alte christliche Kirche las in ihren Gottesdiensten das ganze Alte Testament, sie fand reiche Erbauung darin, indem es ihr keineswegs an Licht über den vorbildlichen und mystischen Sinn gebrach. Die Schriften der Väter sind voll von solchen Deutungen, und ihr Glaube an die Inspiration des Alten Testaments war mit der Überzeugung verbunden, dass es in allen seinen Teilen voll tiefer Bedeutung sei, die nur der göttliche Geist aufschließen könne, die Er aber der christlichen Kirche wirklich zu erkennen gebe.

Der Glaube an die göttliche Eingebung des Alten Testamentes ist in unserer Zeit bei unzähligen Christen wankend geworden. Den meisten ist es, abgesehen von einigen biblischen Geschichten, Psalmen und vereinzelten Sprüchen, ein fremdes und unbekanntes Buch. Manche scheuen sich nicht, einen großen Teil seines Inhalts für Fabeln und die wichtigsten Bücher für untergeschoben zu erklären. Aber auch bei denen, welche für rechtgläubig gelten, findet man oft, dass ihre Überzeugung von der göttlichen Eingebung des Al-ten Testaments auf schwachen Füßen steht. Gegen das alles warnt und schützt uns der feierliche Ausspruch des Herrn: „Eher soll Himmel und Erde vergehen, als dass ein Buchstabe des Gesetzes vergehe.” Also alles darin ist bedeutungsvoll, und nach der Bedeutung, die Gott hineingelegt hat, wird es verwirklicht werden; ja gerade während dieser Himmel und diese Erde vergeht, werden Gesetz und Propheten ihre wahre und ewig bleibende Erfüllung und Bestätigung finden.

Aber wie war es möglich, dass der Glaube der Israeliten an ihre heiligen Bücher, für den der Herr mit diesen Worten einsteht, den Christus, Seine Apostel und die christliche Kirche der Vorzeit unverbrüchlich festgehalten haben, so sehr untergraben worden ist?

Es ist nicht plötzlich und auf einmal soweit gekommen. Erst hat man das Alte Testament brach liegen lassen, anstatt es mit aller Sorgfalt und mit Gebet um Erleuchtung zu durchforschen. In den meisten christlichen Gemeinden vergehen Jahre um Jahre, ohne dass Abschnitte des Alten Testaments in heiliger Versammlung gelesen und zur Erbauung des Volkes Gottes ausgelegt werden. Man hat die darin enthaltenen Schätze wie ein totes Gut unbenützt liegen lassen; für die Psalmen, welche man sich weniger als andere Teile des Alten Testaments hat rauben lassen, blieb in dem Maß, als man sie zur Erbauung gebrauchte, noch einiges Verständnis.

Wohl erhielt sich unterdessen der Glaube der Väter an das Alte Testament, gestützt auf die Worte Jesu und Seiner Apostel und auf die Autorität der Kirche, noch eine Zeitlang, aber er wurde mehr und mehr ein unfruchtbarer und toter Glaube. Das Tote aber muss zuletzt in Staub zerfallen. Ein Glaube an die Bibel ohne lebendige Erfahrung von der darin liegenden Wahrheit und ihrer segensreichen Kraft, kann gegen den anstürmenden Zweifelgeist der neueren Zeit nicht standhalten. Wohl wurde auch in den Zeiten des Verfalls einzelnen gottesfürchtigen Forschern einiges Licht über die Geheimnisse des Alten Testamentes gegeben und durch ihre Nachweisung der wankende Glaube gestärkt. Im ganzen genommen vernehmen die Gelehrten in der Christenheit heutzutage den Sinn des Geistes in den alttestamentlichen Schriften ebensowenig wie vor Zeiten die jüdischen Schriftgelehrten, nur mit dem Unterschied, dass die Schriftgelehrten den Buchstaben ohne Geist als göttlich festhielten und einschärften, die zweifelnden Theologen dagegen den Buchstaben, in dem sie den Geist nicht finden, für etwas bloß Menschliches erklären.

Es ist unmöglich, alle Einwürfe des trockenen Verstandes gegen die Bibel auf eine für diesen Verstand befriedigende Weise zu beantworten. Die Belebung und Befestigung unseres Glaubens an die heiligen Schriften wird auf einem anderen und gesegneteren Weg gewonnen, in dem Maße, wie wir wieder den rechten Gebrauch von ihnen machen. In der Gemeinde, die im Namen Jesu versammelt ist, müssen sie als vor dem Angesicht Gottes gelesen, im Geist der Ehrfurcht und Anbetung müssen sie durchforscht werden, so findet man in ihnen, was zur Erleuchtung und Heiligung der Kinder Gottes dient.

Der prophetische Geist, von dem diese altheiligen Schriften durchweht sind, ist es allein, welcher durch lebendiges und gegenwärtiges Wirken Licht über ihren geheimnisvollen Inhalt verbreiten und die wohltätige Anwendung desselben auf die christliche Gemeinde lehren kann. Die Gabe der Weissagung ist, wie der heilige Petrus lehrt, einer Fackel an düsterem Ort gleich, welche uns leuchten soll, bis der Morgenstern in unseren Herzen aufgeht und der Tag anbricht (2 Petr 1,19), d.h. bis die Kirche durch die Wiederkunft Christi dorthin erhoben wird, wo sie Ihn von Angesicht schauen und Seine Ratschlüsse vollkommen erkennen soll. Die prophetische Gabe, die köstlichste unter den Gnadengaben des Heiligen Geistes (1 Kor 14,1) ist es, welche jetzt, seit der Herr nach Seiner Treue sie neubelebt hat, die tiefe Bedeutung des Alten Testaments in herzerquickender und heiligender Weise enthüllt. So werden auch Abschnitte, die früher wertlos und unfruchtbar schienen, voll Licht und Leben. Diese Erfahrung ist es, durch die unser Glaube an das Alte Testament neu befestigt wird, und das Wort Jesu Christi wird dadurch bewährt: Es soll kein Buchstabe des Gesetzes dahinfallen, es soll die ganze Bedeutung, die der Geist Gottes hineingelegt hat, verwirklicht werden.

Wer nun eines von diesen kleinsten Geboten auflöst und lehrt die Leute also, der wird der Kleinste heißen im Himmelreich. Es ist eine Rüge für die Schriftgelehrten, welche durch künstliche Deutungen dieses und jenes Gebot umgingen oder entkräfteten, so z.B. durch die Frage: „Wer ist denn mein Nächster?” (Lk 10,29).

Es ist eine Anweisung zugleich für die Jünger, ehrfurchtsvoll, gewissenhaft und treu mit der Heiligen Schrift umzugehen, „wer es aber lehrt und tut, der wird groß heißen im Reich der Himmel” eine Anspielung auf die im Reich Jesu nicht gültigen Ehrentitel der Rabbinen.

Wer den göttlichen Anforderungen vor allem sich selbst unterwirft, auch wenn sie zunächst Schuldgefühl und Demütigung bei ihm hervorbringen, wer dann diese göttlichen Anforderungen bei anderen geltend macht, wird geistliches Wachstum als Lohn empfangen und in dem neuen Reich, welches Christus eröffnet, Aufnahme und Anerkennung finden.

„Denn ich sage euch, wenn eure Gerechtigkeit nicht viel besser ist als die der Schriftgelehrten und Pharisäer”,

wenn sie dieselbe nicht weit übertrifft, „werdet ihr in das Reich der Himmel nicht eingehen.”

Dies mußte für die Zuhörer ein erschreckendes Wort sein, und wahrlich, auch uns sollte es in den Tiefen unseres Gewissens erschüttern. Pharisäer und Schriftgelehrte ist nicht gleichbedeutend mit Heuchler, wie man gewöhnlich annimmt Pharisäer, oder Abgesonderte, hießen die Anhänger der strengsten und eifrigsten Richtung im Judentum; Schriftgelehrte oder Gesetzeskundige waren die weisen Meister in Israel, die nicht nur wegen ihrer Kenntnis der Schrift und Tradition, sondern auch wegen ihrer Beobachtung des Gesetzes in der größten Achtung bei dem Volk standen. Zu den Männern, auf welche der Herr hinweist und deren Gerechtigkeit Er für ungenügend erklärt, gehörten auch Nikodemus, Gamaliel und dessen jugendlicher Schüler Saul aus Tarsus; und dieser, als er ein Jünger des Herrn und Apostel geworden war, blickte mit Achtung und Liebe auf seine früheren Lehrer und Mitschüler zurück; er gibt den strengen Israeliten das Zeugnis, dass sie Eifer für Gott haben, nur nicht der rechten Erkenntnis gemäß (Röm 10,2).

Wohl fand sich bei ihnen auch jene Heuchelei, welche der Herr (Mt 23), aufgedeckt hat. Aber Er hat jenes strenge Urteil nicht über alle Pharisäer und Schriftgelehrten gesprochen. Hier aber spricht Er von ihnen allen und sagt, dass unsere Gerechtigkeit und Gesetzeserfüllung auch die Leistungen der besten unter ihnen übertreffen soll. Wie war es aber möglich, mehr als jene zu leisten? Es ist möglich und es ist notwendig, weil sie bei allem Eifer für Gott, und bei aller Sorgfalt in der Befolgung der Gebote, die wahre Absicht Gottes im Gesetz nicht erkannt hatten. Diese ist die vollkommene Liebe zu Gott und zum Nächsten. Die größten Gebote verloren an Gewicht, je mehr Aufmerksamkeit und Kraft man auf die Beobachtung äußerlicher, d.h. untergeordneter Vorschriften wandte. Die mannigfachen Gebote und Verbote des Zeremonialgesetzes waren durch die Tradition der Schriftgelehrten noch vervielfältigt und geschärft worden. Ihr Bestreben war, einen Zaun um das Gesetz aufzurichten. Man sollte nicht nur das im Gesetz Verbotene meiden, sondern sich noch einen Schritt weiter davon zurückziehen, um auch nicht in die Gefahr einer Berührung mit dem Verbotenen zu kommen. Man durfte den Namen des Allerhöchsten gar nicht nennen, damit man nicht Gefahr laufe, ihn zu missbrauchen.

Aus dem Gesetz: „Du sollst das Böcklein nicht kochen in der Milch seiner Mutter”, wurde abgeleitet, dass man überhaupt nicht Fleischspeisen mit Milch oder Butter bereiten darf, weil ja die Milch von der Mutter des geschlachteten Tieres sein könnte.

Das Gebot: „Du sollst keine Knechtsarbeit am Sabbat tun”, wurde soweit bis ins einzelne und ins kleinste ausgeführt, dass gegenwärtig ein Talmud-Gelehrter über 2000 Bestimmungen kennen sollte, um lehren zu können, was am Sabbat erlaubt und nicht erlaubt sei.

Weil das Gesetz nach Berührung eines Toten oder der Leiche eines unreinen Tieres eine Waschung vorschreibt, fanden es die Pharisäer für nötig, vor jeder Mahlzeit eine Waschung anzuordnen, da man sich ja, ohne es zu wissen, irgendwie verunreinigt haben könnte (Mk 7,1-8).

Die großen und unvergänglichen Gebote Gottes nehmen bereits den ganzen Menschen mit allen seinen Kräften in Anspruch. Wenn nun Menschengebote aufgestellt und zur Gewissenssache gemacht werden, so ist die unausbleibliche Folge, dass die Hingebung und Sorgfalt des Menschen in dem Maße, wie sie sich diesen Menschensatzungen zuwendet, den Geboten Gottes und den höchsten Aufgaben entzogen wird. Ohnehin ist ja das menschliche Herz geneigt, auf seine eigenen Erfindungen und auf selbsterwählte Pflichten mehr Wert zu legen, als auf Gottes Offenbarungen und Gebote, und man hat auch in der christlichen Kirche die traurige Erfahrung gemacht, dass die Aufstellung von menschlichen Lebensregeln, die mehr verlangen und anderes verlangen als die Gebote Christi, der Befolgung dieser Gebote und der Wertschätzung der echt christlichen Tugenden Eintrag getan hat.

Wohl war es ernsten Pharisäern auch um Heiligung des Innern zu tun. Das Gebot: „Lass dich nicht gelüsten”, welches Reinheit des Herzens und Übereinstimmung seiner Wünsche mit dem göttlichen Willen verlangt, war ihnen nicht umsonst gegeben. Sie kämpften den Kampf gegen das Gesetz der Sünde, das von Natur in uns haftet, wie es Paulus Röm 7,7.24 beschreibt. Aber dieser Kampf unter dem Gesetz war erfolglos, und nun trat die Gefahr ein, sich über die innere Unreinheit durch einen um so größeren Eifer im Äußerlichen zu beruhigen und zu täuschen.

Diese Täuschungen will Jesus Christus zunichte machen: so kommt man nicht ins Himmelreich. „Schaffe in mir, o Gott, ein reines Herz, und gib mir einen neuen, gewissen Geist” (Psalm 51,12), - dieses Sehnen, dieses Gebet muss festgehalten werden, und es soll jetzt seine Erhörung finden.

Christus ist gekommen, um nicht nur in Seinem eigenen Leben und Wandel, sondern auch in uns das Gesetz zu erfüllen. Die Sünde soll getilgt, der alte Mensch dem Tode übergeben werden. Ein neues Herz soll geschaffen, um in dieses soll die Liebe Gottes durch den Heiligen Geist ausgegossen werden.

Also keine Zufriedenheit mit den Leistungen, die nicht besser sind als die der Pharisäer und Schriftgelehrten, kein Nachlassen, keine Ruhe, bis wir zu dieser Erfahrung gelangen, bis Christus uns in die wahre Freiheit von der Macht der Sünde einführt und in uns die bessere Gerechtigkeit zustande bringt, nämlich die Erfüllung des Gesetzes der vollkommenen Liebe und die Beobachtung aller Gebote und Verbote aus Liebe zu Gott.

Als Nikodemus, der Meister in Israel, welcher meinte, schon sehr weit in der Gerechtigkeit zu sein, zu Jesus kam, mußte er das Wort hören:

„Es sei denn, dass jemand von neuem geboren werde aus Wasser und Geist, kann er das Reich Gottes nicht sehen” (Joh 3,3.5).

Es ist eine neue innerliche Gerechtigkeit, welche der Herr hier verlangt und welche Er Selbst, wenn wir Ihm glauben und gehorchen, durch Seinen Heiligen Geist in uns wirken will. „Welche Ihn aufnahmen, denen gab Er Macht, Gottes Kinder zu werden, denen, die an Seinen Namen glauben” (Joh 1,12).

Er nimmt uns auf in die Kindschaft, die Ihm gehört, Er wendet uns das Wohlgefallen des Vaters zu, Er stellt uns unter den Schutz Seiner Fürbitte und erfüllt uns mit den Tröstungen Seines Geistes. Auf solchem Grund ruht das neue Leben und die bessere Gerechtigkeit. Aber diese bessere Gerechtigkeit ist wahrlich nicht eine bloß zugerechnete, die außer uns bliebe. Wollten wir mit einer solchen uns begnügen und damit eine fortdauernde Unreinheit des Herzens bemänteln, so wären wir wieder auf demselben Punkt wie einst die Schriftgelehrten und Pharisäer, und so weit entfernt vom Reich der Himmel wie jene. Es grenzt an das Unglaubliche, wenn man die Worte Jesu von der besseren Gerechtigkeit so deutet, dass eben den Pharisäern die Kenntnis der Zurechnung des Verdienstes Christi gemangelt habe. Mit einer solchen Beruhigung über die mangelhafte Beschaffenheit ihres Innern wären die Pharisäer wahrscheinlich sehr zufrieden gewesen; und wäre der Herr willens, uns die bessere Gerechtigkeit nur äußerlich zuzuschreiben und den Zustand unseres Innern mehr oder weniger beim alten zu lassen, so wäre Er wahrlich nicht gekommen, das Gesetz Gottes zu erfüllen, sondern es aufzulösen.

Ach wie teuer sind wir erworben,
Nicht der Menschen Knecht zu sein.
Drum so wahr Du bist gestorben,
Musst Du uns auch machen rein,
Rein und frei und ganz vollkommen
Und verklärt ins beste Bild:
Der hat Gnad um Gnad genommen,
Wer aus Deiner Füll sich füllt.
Ist‘s doch Deines Vaters Wille,
Dass Du endest dieses Werk.
Hierzu wohnt in Dir die Fülle
Aller Weisheit, Lieb ‘und Stärk,
Dass du nichts von dem verlierest,
Was Er dir geschenket hat,
Und es von dem Treiben führest
Zu der süßen Ruhestatt.
Liebe, zeuch uns in Dein Sterben,
Lass mit Dir gekreuzigt sein,
Was Dein Reich nicht kann ererben,
Führ ins Paradies uns ein.
Doch wohlan, Du wirst nicht säumen,
Wenn nur wir nicht lässig sein;
Werden wir doch als wie träumen,
Wenn die Freiheit bricht herein.

(Gottfried Arnold)

Das Verbot des Tötens und das Gebot der Versöhnlichkeit – Mt 5,21-26

„Ihr habt gehört, dass zu den Alten gesagt ist: Du sollst nicht töten; wer aber tötet, der soll des Gerichts schuldig sein. Ich aber sage euch: Wer mit seinem Bruder zürnet, der ist des Gerichts schuldig; wer aber zu seinem Bruder sagt: Racha, der ist des Hohen Rats schuldig; wer aber sagt: Du Narr, der ist der feurigen Gehenna schuldig. Darum, wenn du deine Gabe auf dem Altar opferst und wirst dort eingedenk, dass dein Bruder etwas wider dich habe, so lass vor dem Altar deine Gabe und gehe zuvor hin und versöhne dich mit deinem Bruder, und alsdann komm und opfere deine Gabe. Sei willfährig deinem Widersacher bald, dieweil du noch bei ihm auf dem Wege bist, auf dass dich der Widersacher nicht dermaleinst überantworte dem Richter, und der Richter überantworte dich dem Diener und du wirst in den Kerker geworfen. Ich sage dir wahrlich: Du wirst nicht von da herauskommen, bis du auch den letzten Heller bezahlst.”

„Ihr habt gehört, dass zu den Alten gesagt sei”

- mit diesen Worten beginnt der Herr Seine Auslegung der einzelnen Gebote und knüpft dieselbe an das an, was dem Volk zu der Zeit von den Gesetzeslehrern gepredigt wurde.

Was Er anführt, ist eine Erinnerung aus Vorträgen, die Er wahrscheinlich Selbst gehört hatte, und aus Seinem Bericht ist deutlich zu erkennen, wie wenig man die einzelnen Gebote in ihrer Tiefe und im Zusammenhang mit den höchsten Forderungen Gottes auffasste.

„Ihr habt gehört, dass zu den Alten gesagt sei: Du sollst nicht töten, wer aber tötet, soll des Gerichts schuldig sein“

d.h. er soll zur Bestrafung vor den Gerichtshof erster Instanz gestellt werden, welcher in jeder Stadt des jüdischen Landes bestand

(vgl. 5 Mo 16,18; 21,2.19).

Hiermit, so scheint es, hielten manche Schriftgelehrten die Auslegung des fünften Gebotes für abgetan. Sie erkannten nicht, dass Gott mit dem Wort: Du sollst nicht töten, den Menschen selbst anredet, nicht nur seine Hand. Auch deine Zunge soll nicht ein Werkzeug des Hasses sein und dein Herz kein Wohnsitz gehässiger Wünsche oder rachsüchtiger Gefühle gegen den Nächsten.

Sie bedachten nicht, dass auch dies Gebot durch das neunte und zehnte verschärft wird, womit Gott schon das Begehren nach dem, was Ihm missfällig ist, zur Sünde macht. Sie vergaßen, dass Gott das Herz ansieht und dass Er mit dem fünften Gebot eine liebende, wohlwollende und versöhnliche Gesinnung gegen den Mitmenschen verlangt.

Sie behandelten das Gebot so, als hätte es nur mit solchen Taten zu schaffen, die auch das weltliche Gericht bestraft. Aber der Sohn Gottes, dem der Vater alles Gericht übergeben hat, sagt uns, dass auf Seiner Waage schon die lieblosen Gefühle und die gehässigen Worte gegen den Nächsten so schwer wiegen wie auf der Waage des menschlichen Gerichts ein Totschlag. Eingehend auf die Lehrweise der Gesetzeskundigen erklärt Er:

Wer mit seinem Bruder zürnt, gehört schon in jenes Gericht erster Instanz, vor das ihr den Totschläger stellt. Wer aber zu seinem Bruder sagt: Racha, gehört vor den Sanhedrin, den Hohen Rat der Siebzig zu Jerusalem, d.h. vor das Gericht der höheren Instanz, welches über die schwersten Verbrechen urteilt. Wer aber zu seinem Bruder sagt: Du Narr, der ist schuldig, dass nach der Hinrichtung sein Leichnam in das Tal Hinnom oder das Thophet geworfen werde, wo man unreines Aas verbrennt (Jer 7,32; 19,2-5).

Der Herr will hiermit nicht eine neue Vorschrift für das Verfahren der Gerichtshöfe geben, welche unausführbar wäre, aber Er bezeichnet den Maßstab, nach welchem Gott der Herr uns und unser Verhalten messen will. „Wer seinen Bruder hasst, der ist ein Totschläger” (1 Joh 3,15). Bitterer Groll im Herzen, Rachbegierde und Schadenfreude sind schon Todsünden, neben welchen die göttliche Liebe nicht in uns wohnen kann, mit welchen wir also nicht selig werden können. Bricht die Bosheit des Herzens in bittere Worte aus, die den Nächsten verwunden und zur Sünde reizen, so verunreinigen wir uns dadurch noch mehr; das böse Wort, das zum Mund ausgeht, wirkt auf den Menschen zurück, sein Zustand wird dadurch verschlimmert und das Gericht, das über ihn ergehen muss, erschwert (Mt 15,11.15-20).

Hat man den Nächsten verletzt, so wird man, wenn keine Reue und Gutmachung eintritt, gereizt, ihn zu hassen, ihn auf feindselige Weise zu beurteilen und alles Böse von ihm zu denken, indem man meint, dadurch eine Rechtfertigung für die ihm angetane Verletzung zu gewinnen.

Wir wissen nicht, warum der Herr zwischen den beiden Schmähworten: Raka (das ist einer, den man anspeit) und Narr (oder Götzendiener?) einen so großen Unterschied macht. Es muss auf dem damaligen Sprachgebrauch beruhen, denn der Gebrauch ist es, der das Gewicht solcher Worte bestimmt - Wir sollen mit unserem Munde Gott anbeten und loben, dies ist nicht möglich, wenn wir mit unserem Munde den Nächsten schmähen und lästern. Beides lässt sich nicht vereinbaren, das eine oder das andere muss aufhören (Jak 3,9-11).

Es gibt ein Richteramt auf Erden und eine Obrigkeit, der das Schwert verliehen ist. Sie hat die Macht, Mörder mit dem Tode zu bestrafen. Diese Macht beruht auf einem göttlichen Auftrag. Gott sprach zu Noah: „Wer Menschenblut vergießt, des Blut soll auch durch Menschen vergossen werden” (1 Mo 9,6).

Als Er dann durch Moses das Gesetz gab: Du sollst nicht töten, hat Er damit diese Anordnung nicht zurückgenommen.

So hat auch der Herr in der Bergpredigt das richterliche Amt nicht aufgehoben, und als Pilatus, die höchste weltliche Obrigkeit in Judäa, zu Ihm sprach: Weißt du nicht, dass ich Macht habe dich zu töten? -bestritt der Herr Jesus Christus diese Macht nicht, sondern erkannte sie an, dass sie dem Pilatus von oben herab, d.h. durch göttliche Fügung und Anordnung, gegeben sei und erinnerte ihn daran, dass er Gott für den Gebrauch dieser Macht Rechenschaft geben müsse (Joh 19,10.1 1). So hat Er uns auch durch Seinen Apostel Paulus gelehrt: „Die Obrigkeit trägt das Schwert”, das Zeichen der Macht über Leben und Tod, „nicht umsonst; sie ist Gottes Dienerin, eine Rächerin zur Strafe über den, der Böses tut” (Röm 13,4).

Der Herr hat also die Todesstrafe nicht abgeschafft; doch muss sie nach christlichen Grundsätzen auf den Fall des vorbedachten Mordes beschränkt werden, und das Recht der Begnadigung, das edelste Vorrecht christlicher Könige, muss aufrecht erhalten bleiben.

Ebenso steht die Befugnis der höchsten Obrigkeit eines Volkes, Krieg zu führen, fest. Auch hierfür ist ihr das Schwert gegeben, aber auch das Kriegsschwert soll sie nur im Dienste der göttlichen Gerechtigkeit gebrauchen. Dieser Fall tritt ein, wenn die Obrigkeit ihr Land und ihr Volk gegen feindlichen Überfall nicht anders schützen kann oder wenn sie Bundesgenossen, welche Gewalt und Frevel erleiden, wie Abraham den Lot, retten und beschützen soll. Führt aber eine Obrigkeit Krieg, um Ruhm und Glanz zu erwerben, um ihren Länderbesitz, ihr Machtgebiet oder ihre Einkünfte zu vermehren, so begeht sie eines der größten Verbrechen, deren ein sterblicher Mensch fähig ist. Ebenso verwerflich ist es nach Christi Sinn, wenn ein Krieg gegen nichtchristliche Völker in der Absicht, die Herrschaft des Christentums zu erweitern, unternommen wird.

Die Lehre Jesu Christi soll nicht durch Blutvergießen verbreitet werden, sie wird dadurch entweiht, verfälscht und zum Gegenstand der Verabscheuung gemacht, wie geschrieben steht: „Um euretwillen wird Mein Name gelästert unter den Heiden” (Röm 2,24; Jes 52,5; Hes 36,20-23).

Der rechtmäßigen Obrigkeit ist so große Gewalt vom Himmel verliehen, dass sie über Frieden und Krieg entscheiden und den Dienst ihrer Untertanen für den Krieg in Anspruch nehmen kann. Sie hat es dann zu verantworten, ob der Krieg rechtmäßig oder unrechtmäßig war, nicht der zum Kriegsdienst gezwungene Soldat. Das Volk ist in die Hand des Fürsten gegeben, aber eben darum wird das göttliche Gericht schrecklich sein über einen Herrscher, der ein treues und gehorsames Volk zu einem ungerechten Krieg missbraucht.

Der Herr zeigt nun, welche Liebe und Versöhnlichkeit im fünften Gebot nach Gottes Sinn von uns gefordert wird.

„Wenn du deine Gabe auf dem Altar darbringst und dich daselbst erinnerst, dass dein Bruder etwas gegen dich habe, so lass daselbst vor dem Altar deine Gabe und gehe hin, versöhne dich zuerst mit deinem Bruder und dann komm und opfere deine Gabe.“

Dieses Wort versetzt uns in die alttestamentliche Zeit und das gottesdienstliche Leben der Juden.

So brachte die fromme Hanna Geschenke zum Altar des Herrn (1 Sam 1,24) und die Jungfrau Maria (Lk 2,24).

Wenn du nun schon so weit bist, sagt der Herr, wenn du in den Vorhöfen des Herrn stehst und die heilige Handlung soll anfangen und es kommt dir in den Sinn, dass dein Bruder etwas wider dich habe, so denke nicht: es hat Zeit, es schadet nichts, ich will erst mein Opfer darbringen, ich kann mich immer noch versöhnen; nein, lege deine Opfergabe nieder, eile zu deinem Bruder, sprich ihm freundlich zu, mache dein Unrecht gut, gewinne und versöhne ihn; dann komm wieder, und du wirst angenehm sein mit deinem Opfer.

Diese Vorschrift galt nur für kurze Zeit, wo das mosaische Heiligtum noch bestand. Es liegt wüst und das jüdische Volk hat keinen Tempel, keinen Altar und kein Opfer mehr. Aber uns Christen ist nun gesagt: Ihr seid das königliche Priestertum, das heilige Volk, berufen, geistliche Opfer darzubringen, die Gott angenehm sind durch Jesum Christum (1 Petr 2,5.9).

Der Unterschied besteht nicht darin, dass die Israeliten Opfer darzubringen hatten, wir nicht; sondern dass wir edlere und herrlichere Opfer zu bringen befähigt sind. Hierzu gehören die Gebete und Gesänge der Gemeinde, der häusliche Gottesdienst, das Gebet im Verborgenen, die heiligen Gefühle des Herzens.

Doch sind unsere Opfer nicht darauf beschränkt, der Herr gibt vielmehr zu verstehen, dass auch Seine Gemeinde einen Altar haben soll und dass in ihrer heiligen Versammlung ein wirkliches Opfer feierlich dargebracht werden soll.

Wir bringen irdische Güter und legen sie als ein Opfer in den Gotteskasten. Wir werden aufgefordert, etwas Köstlicheres als alle Schätze der Erde, nämlich uns selbst als ein Opfer hinzugeben, welches lebendig, heilig und Gott wohlgefällig sei (Röm 12,1).

Doch ist auch dies noch nicht das höchste‚ was die christliche Kirche im priesterlichen Dienst zu leisten berufen ist. Christus erscheint vor dem Angesicht Gottes als der Hohepriester nach der Weise Melchisedeks. Dort legt Er Fürbitte ein, dort macht Er Sein Opfer geltend.

Die Verdienste Deiner Leiden
Stellest Du dem Vater dar,
Und vertrittst vor Ihm mit Freuden
Deine teuer erlöste Schar,
Dass Er wolle Kraft und Leben
Seinem Volk auf Erden geben,
Und die Seelen zu Dir ziehn,
Die noch Deine Freundschaft fliehn.

(Joh Jac. Rambach)

Die christliche Gemeinde auf Erden blickt zu Ihm auf; sie sieht Ihn im Allerheiligsten priesterlich wirken, und sie hat nicht nur das Zusehen bei dem Dienst des Melchisedek im Himmel, sie darf an Seinem Tun teilnehmen, denn sie steht in geheimnisvoller Einheit mit Ihm. Sie feiert die heilige Eucharistie, sie stimmt ein in die Fürbitte des himmlischen Priesters, sie schließt sich der Darbringung Seines Opfers an, und die Feier ihres höchsten Gottesdienstes ist ein Abglanz dessen, was der Herr im Himmel ausrichtet. Sie genießt in der heiligen Kommunion das Opfermahl des Neuen Bundes, wie der Apostel (Heb 13,10) sagt:

„Wir haben einen Altar, von dem nicht Macht haben zu essen, die der Hütte dienen” d.h. die Juden haben einen Altar, von dem uns himmlische Speise dargereicht wird; nur ein mit Christo in das himmlische Wesen versetztes Volk hat das Recht, diese Opferspeise zu genießen.

Wenn wir uns diesem Altar nahen, so geziemt uns, dass wir den priesterlichen Dienst in Reinheit feiern. Menschen haben solche Reinheit in diesem und jenem gesucht, aber der Herr zeigt uns die Hauptsache die dazu gehört: „Gehe zuvor hin und versöhne dich mit deinem Bruder.”

Die Hauptsache ist die Liebe. Kein Opfer darf ohne die Liebe dargebracht werden, keines will Gott von unversöhnlichen Herzen annehmen. Dies gilt im höchsten Sinn von dem Opfer der Eucharistie, denn es ist die Feier dessen, was die vollkommene Liebe gelitten und geleistet hat. Um so verabscheuungswürdiger müsste, der Liebe Christi gegenüber, jede Lieblosigkeit und Unversöhnlichkeit in den Herzen der Anbetenden erscheinen.

„Gehe zuvor hin und versöhne dich mit deinem Bruder”, dies Wort gilt nicht nur dem einzelnen, der Herr ruft es auch der christlichen Gemeinde zu. Soll ihr Dienst dem Herrn wieder wohlgefallen wie zur Zeit ihrer Jugend, so hat sie viel gutzumachen. Die Heiden haben gegen uns, dass wir ihnen Ärgernis gegeben, die Juden, dass wir sie verspottet und verfolgt, die Mitchristen, dass wir Hass und Herrschsucht ausgeübt haben. Alle diese Schuld zusammen muss dem Wohlgefallen Gottes an unserer Anbetung im Wege stehen und die Fülle des göttlichen Segens, der auf dem christlichen Kultus ruhen soll, verkümmern. Zwar wir können wenig gutmachen, aber wir können diese aufgehäufte Schuld herzlich beklagen, einen Geist der Versöhnlichkeit beweisen und vor Gott und den Menschen unsere und unserer Väter Sünde bekennen. Mit solchen Gebeten, in denen sich die Reue, die Liebe zur gesamten christlichen Kirche und die Versöhnlichkeit gegen alle Menschen ausspricht, sollen wir vor Gott kommen. So dürfen wir auf Annahme und Erhörung hoffen, wie der Herr uns mit dem tröstlichen Wort sie zusichert: „Alsdann komm und opfere deine Gabe.”

Der Herr fügt eine Lebensregel der wahren Weisheit hinzu. Er verweist auf das unter den Menschen übliche Verfahren in Rechtsstreitigkeiten über Mein und Dein, und zwar auf das römische Recht, wie es damals galt, und die in demselben verordnete Schuldenhaft. Ist die Klage einmal eingebracht, so tritt die Gerechtigkeit in Kraft. Der Richter hat nichts mit Vergleich, Erlass oder Verzeihung zu tun, sondern wenn die Schuldforderung begründet ist, nach dem strengen Recht zu entscheiden; der Zahlungsunfähige kommt in das Schuldgefängnis auf so lange, bis alles berichtigt ist. Hierin zeigt uns der Herr ein Bild des göttlichen Verfahrens. Der Widersacher ist jeder Mensch, gegen den wir gesündigt haben; der Weg, auf welchem wir uns jetzt mit ihm befinden, ist das irdische Leben; das Ende dieses Weges ist der Tod oder die Wiederkunft des Herrn; der Richter ist Christus; die Diener sind die Engel des Gerichtes.

Auf dem Weg ist ein Vergleich noch möglich, so lange wie das irdische Leben währt, die Zeit der Gnade. Jetzt können wir durch Reue und Versöhnung mit dem Nächsten die Sache noch gutmachen, nach dem Tod nicht mehr. Jetzt waltet über uns noch die göttliche Gnade, dann aber wird die strenge Gerechtigkeit eintreten. Darum sagt der Apostel: „Zürnet, und sündigt nicht; laßt die Sonne über eurem Zorn nicht untergehen” (Eph 4,26).

Wollte man aus den Worten des Herrn “…bis du auch den letzten Heller bezahlst” den Schluss ziehen, dass man auch nach dem Tod und Gericht noch etwas gutmachen könnte, so wäre dies der Absicht des Herrn bei diesem ernsten Wort gerade entgegengesetzt, und die hierauf begründete Hoffnung könnte sich als schreckliche Täuschung erweisen. Wer darf behaupten, dass der Verstorbene etwas zu sagen oder etwas zu tun vermöge, was zur Versöhnung des beleidigten Nächsten dient?

Der Herr verlangt, dass wir jetzt uns zu Ihm wenden und Versöhnung mit Ihm und mit den Brüdern suchen.

Deiner Sanftmut Schild,
Deiner Demut Bild
Mir anlege, in mich präge,
Dass kein Zorn und Stolz sich rege;
Vor Dir sonst nichts gilt,
als Dein eigen Bild.
Deines Geistes Trieb
in die Seele gib,
Dass ich wachen mög und beten,
Freudig vor Dein Antlitz treten:
Ungefärbte Lieb
in die Seele gib.

(Joh Anastasius Freylinghausen)

Das Gebot der Keuschheit und die Unauflöslichkeit der Ehe - Mt 5, 27-32

„Ihr habt gehört, dass zu den Alten gesagt ist: Du sollst nicht ehebrechen. Ich aber sage euch: Wer ein Weib ansieht, ihrer zu begehren, der hat schon mit ihr die Ehe gebrochen in seinem Herzen. Ärgert dich aber dein rechtes Auge, so reiß es aus und wirf es von dir. Es ist besser, dass eines deiner Glieder verderbe und nicht der ganze Leib in die Hölle geworfen werde. Ärgert dich deine rechte Hand, so haue sie ab und wirf sie von dir. Es ist dir besser, dass eines deiner Glieder verderbe und nicht der ganze Leib in die Hölle geworfen werde. Es ist auch gesagt: Wer sich von seinem Weib scheidet, der soll ihr geben einen Scheidebrief. Ich aber sage euch: Wer sich von seinem Weib scheidet (es sei denn aufgrund der Hurerei), der macht, dass sie die Ehe bricht; und wer eine Abgeschiedene freit, der bricht die Ehe.”

Der unerleuchtete Mensch meint, er habe das sechste Gebot gehalten, wenn er sich keines äußerlichen Ehebruchs schuldig weiß; aber der Sohn Gottes, der den Sinn Seines Vaters kennt, gibt uns tieferen Aufschluss. Gott verlangt mit den Worten: Du sollst nicht ehebrechen nicht nur Vermeidung des äußerlichen Ehebruchs und jener Laster, die unter den Christen nicht einmal genannt werden sollen (Eph 5,3 nach dem Grundtext), sondern Reinheit des Herzens, Reinheit der Gesinnungen, der Wünsche und der Einbildungskraft. Der Herr gestattet uns nicht, dass wir unreinen Begierden und verbotenen Wünschen in Gedanken nachhängen und der Augenlust Raum geben; ebensowenig, dass wir unanständige Rede führen oder uns an solcher Rede und Schrift belustigen. Mit Recht sagt Luther, wenn auch kein anderes Gebot als das sechste gegeben wäre, so würde schon dieses für sich allein genügen, um Gottes Gericht über uns herbeizuführen. Andere Versuchungen, sagt Bischof Joh Michael Sauer, sind wie mit Wasserfarben gefertigte Bilder, die Versuchungen dieser Art haben den Glanz und das verlockende eines mit Ölfarben ausgeführten Gemäldes.

Wären wir nun allein auf uns und auf unsere natürlichen Kräfte angewiesen, so könnten wir dieses Gebot wohl noch weniger als die anderen erfüllen. Aber anders verhält es sich mit uns, seitdem wir die Worte des Apostels hören:

„Ihr seid mit Christo begraben durch die Taufe in den Tod; haltet euch dafür, dass ihr der Sünde abgestorben seid und lebt Gott in Christo Jesu unserm Herrn” (Röm 6,4- 11).

Die Sünde ist im Tode Christi gerichtet, und in Seiner Auferstehung ist die menschliche Natur mit der unbesiegbaren Kraft des göttlichen Lebens erfüllt worden. Wir sind nun in Christo, und durch Glauben bleiben wir in Ihm. Wir haben in Ihm nicht nur die Vergebung unserer Sünden, sondern auch das neue Leben und den Geist, durch welchen wir des Fleisches Geschäfte töten können, was wir sonst nicht vermöchten (Röm 8, 13).

Dieser Geist lehrt Mäßigung und Zucht, Er wirkt Freude und Wohlgefallen an Sittsamkeit und Keuschheit, Ernst und Abscheu gegen alles, was ihr widerspricht. Er befestigt die eheliche Treue. Er heiligt das Familienleben und beschützt das häusliche Glück.

Indessen lehren uns die ernsten Worte des Herrn, dass auf unserer Seite Vorsicht und Entschlossenheit fortwährend nötig ist, damit wir nicht in Versuchung fallen. „Ärgert dich dein rechtes Auge”, d.h. gereicht es dir zum Anstoß und verleitet es dich zum Bösen, „so reiß es aus und wirf es von dir.”

Wenn ein Christ nicht wacht und betet, wenn er schonend und zärtlich gegen sein Fleisch verfährt und wenn er die Gelegenheiten zur Sünde nicht flieht, kann er auch nach den heiligsten Erfahrungen in die Stricke des Teufels geraten.

„Fliehe vor der Sünde wie vor einer Schlange, denn so du ihr zu nahe kommst, so sticht sie dich” (Sirach 21,2).

„Kann auch jemand ein Feuer im Busen behalten, dass seine Kleider nicht brennen?” (Spr 6,27).

Die Weisheit lehrt uns, die inneren Anfänge der Versuchung zu meiden und mit allem Ernst darüber zu wachen, dass unsere Einbildungskraft rein erhalten bleibe; denn wenn erst diese gefangengenommen ist und wir uns innerlich an den Bildern verbotener Dinge ergötzen, so ist schon der erste Schritt, der zum Fall führt, geschehen, wie Jakobus (Jak 1,14.15) sagt:

„Ein jeder wird versucht, wenn er von seiner eigenen Lust gereizt und gelockt wird; danach, wenn die Lust empfangen hat, gebiert sie die Sünde”, d.h. wenn unser Wille sich mit der eindringenden bösen Lust vereinigt, so gewinnt diese an Macht, sie wächst immer mehr, sie erfüllt das ganze Innere des Menschen, und dann geschieht es unversehens, in einem Augenblick, dass aus diesem Zustand die äußere sündige Tat ausgeboren wird. „Die Sünde aber, wenn sie vollendet ist, wirkt sie den Tod.”

Wenn es geschieht, dass die unreinen Vögel um dein Haupt herumflattern, so verhindere (du, kannst es verhindern), dass sie nicht auf deinem Haupt nisten.

Das Auge, das wir ausreißen, die Hand, die wir abhauen sollen, sind nach dem Sinn Jesu nicht die Glieder dieses unseres Leibes, den Gott geschaffen hat, sondern jene Glieder des alten Menschen, von denen auch Paulus spricht: „Tötet eure Glieder, die auf Erden sind” (Kol 3,5).

Es sind die verschiedenen bösen Gelüste des Herzens, die unter sich zusammenhängen, miteinander im Bund stehen und ein Ganzes, den Leib der Sünde, bilden.

Diese, die Christus uns zugut getötet hat, sollen wir durch die Kraft, die Er darreicht, im Vertrauen zu Ihm und aus Liebe zu Ihm im Tode erhalten. Wenn durch das Abhauen eines Körperteils die Versuchung beseitigt und das Herz gereinigt werden könnte, dann dürften wir auch ein solches Opfer nicht scheuen, um die Seele zu erretten. Aber so ist es nicht, die Erfahrung zeigt vielmehr, dass selbst durch eine körperliche Verstümmelung die Neigung zum Bösen nicht ausgerottet und das Herz nicht gereinigt wird. Wollte jemand das Wort des Herrn buchstäblich ausführen, wie es einst Origenes tat, der würde dadurch beweisen, dass er den Sinn Christi nicht erfasst hat, und mit Recht hat die alte christliche Kirche Gesetze gegen die, welche solches tun, gegeben.

Die Entschlossenheit, welche der Herr fordert, müssen wir besonders da beweisen, wo es gilt, die Veranlassungen zur Sünde, die uns früher ein Fallstrick geworden sind, zu vermeiden. Den Freund, der uns so wert war wie das rechte Auge, müssen wir zurückweisen und die Freundschaft mit ihm abbrechen, wenn er uns zum Bösen verleiten will. Einer Gewohnheit, welche uns anscheinend so unentbehrlich geworden ist wie unsere rechte Hand, müssen wir entsagen (auch wenn es uns so schmerzt wie der Verlust eines Gliedes), weil sie erneuerten Anlass zu Versündigungen mit sich bringen würde. Einen Ort, wo die Verführung auf uns lauert, müssen wir meiden. Dies gehört zur Weisheit der Gerechten und zur Entschlossenheit der Streiter Christi, und diese Weisheit, diese Entschlossenheit ist zu unserer Bewahrung ebenso notwendig wie das beständige innere Vertrauen auf den Herrn.

Es ist im Gesetz gesagt: Wer sein Weib entlässt, soll ihr einen Scheidebrief geben. So predigten die Gesetzeslehrer und sie nahmen es mit den Scheidungsgründen außerordentlich leicht. Die Worte des Gesetzes 5 Mo 24,1 („um etwa einer Unlust willen” - nach Luther) bedeuten eigentlich: wegen einer geschmackvollen Sache.

Diesen Sinn der Stelle hielt zwar ein Teil der Schriftgelehrten, die Anhänger Schammais, fest; aber andere, die Schüler Hillels, legten sie so aus, dass irgend etwas dem Manne Missliebiges als Scheidungsgrund genüge, z.B. wenn ihm die Frau die Speise verbrannt hat.

Dem allem entgegen eröffnet uns Christus den heiligen Willen und die Anordnung Gottes hier und in Mt 19,3-9. Es ist wahr, im mosaischen Gesetz hat Gott den Juden die Ehescheidung erlaubt. Er hat es getan, um noch größere Übel, Zerrüttung des Hausstandes, unglückliche Lage der Frauen unter tyrannischen Männern und regellosen Ehebruch zu verhüten. In dieser Erlaubnis lag ein Vorwurf für die Juden; sie waren ein fleischlich gesinntes und hartherziges Volk; man konnte von ihnen nicht erwarten, dass sie die Ehe nach dem Sinn Gottes führen würden. Man konnte es von der gefallenen Menschheit überhaupt nicht erwarten, ehe die Zeit erfüllt, ehe durch Christus die Macht der Sünde überwältigt und die menschliche Natur geheiligt worden war.

Nun aber ist die Zeit gekommen, wo dies geschehen ist und der eigentliche Wille Gottes zur Ausführung gebracht werden soll. Gegenüber den herzlosen Schriftgelehrten, die sich auf jene Erlaubnis versteiften und sie ausbeuteten, spricht Jesus Christus das große Wort:

„Von Anfang ist es nicht also gewesen. Habt ihr nicht gelesen, dass der Schöpfer am Anbeginn einen Mann und ein Weib geschaffen und gesagt hat: Darum wird ein Mensch Vater und Mutter verlassen und seinem Weib anhangen? Sie sind nicht mehr zwei, sondern ein Fleisch. Was nun Gott zusammengefügt hat, soll kein Mensch scheiden.”

So versetzt uns der Herr mit einem mal auf den rechten Standpunkt. Er weist uns zurück auf den Stand der Unschuld und auf jene Anordnung, welche Gott damals getroffen hat. Darin zeigt Er uns den Ausdruck der wahren göttlichen Absicht, das Urbild der Ehe, welche dem Willen Gottes entspricht. Christus aber ist nicht nur gekommen, um den Willen Gottes zu verkündigen, sondern damit Er für Sich ein Volk als Sein Eigentum reinige, welches voll Eifer für gottgefällige Werke sei (Tit 2, 14).

Dieses Volk sind wir Christen, diese Aufgabe ist uns mit dem Empfang der heiligen Taufe zuteil geworden. Unser Beruf ist nicht, in die Herzenshärtigkeit der Juden zurückzufallen, sondern nach dem Sinn des Geistes zu wandeln. Christus hat uns kein geringeres Ziel gesteckt als die Verwirklichung des vollkommenen Willen Gottes, und die christliche Kirche darf keinen anderen Maßstab und kein anderes Gesetz anerkennen als das Wort ihres Herrn.

Dieses Wort lautet: „Was Gott zusammengefügt hat, darf der Mensch nicht scheiden.”

Der Ehebund der Christen beruht also nicht bloß auf einem Entschluss der Menschen, auf einem gegenseitigen Vertrag und Einverständnis der Gatten, sondern auf einer Tat Gottes.

Diese Tat, durch welche Gott diesen Mann und dieses Weib verbunden hat, kann der Mensch nicht ungeschehen machen; und wenn er sie aus den Augen setzt und ihr zuwiderhandelt, indem er sich benimmt, als wäre er nicht gebunden, in welchen nicht bloß der Mensch wirkt, sondern eine göttliche Wirkung geschieht, nennen wir Sakramente, und zu diesen wird mit Recht die christliche Ehe gerechnet. Sie beruht auf einem inneren mystischen Band, welches der Mensch zwar vergessen oder verachten, aber nicht auflösen kann. Er kann dagegen freveln, indem er sich von seinem Weib losreißt und eine andere nimmt, aber das Band besteht fort, vor Gottes Richterstuhl wird es anerkannt und geltend gemacht und der Mensch als dadurch gebunden beurteilt.

Darum sprach der Herr zu dem samaritischen Weib am Jakobsbrunnen das ernste Wort: „Rufe deinen Mann” (Joh 4,16). Er erinnert sie an ihre erste und allein rechtmäßige Ehe. Nur Gott kann das Band der Ehe auflösen, und Er löst es durch den Tod. Erst nach dem Tod des Gatten, nicht eher, ist dem andern Gatten eine neue Ehe erlaubt (Röm 7,3; 1 Kor 7,39).

Christus hat uns auf jenes unentweihte Urbild der Ehe zurückgewiesen, welches einst auf Erden im Paradies gesehen wurde. Aber die Zeit kam, wo uns Paulus auf ein noch höheres und heiligeres Urbild, dem die christliche Ehe entsprechen soll, hinweisen konnte, nämlich auf die Verbindung zwischen Christus und Seiner Kirche (Eph 5‚22-33). Da ist die vollkommene Liebe und Treue zu schauen, die Aufopferung und Fürsorge des Mannes, die Würde und doch zugleich Unterordnung des Weibes, welche in der christlichen Ehe zur Erscheinung kommen soll. Die Unauflöslichkeit des Bandes wird durch diese Hinweisung bestätigt; denn Christus hält den Bund, der zwischen Ihm und Seiner Gemeinde besteht, unwandelbar fest. Er hat Sich mit ihr verlobt in Ewigkeit, und obwohl auf ihrer Seite Untreue eingetreten ist, welche Ihm Schmach und Bekümmernis bereitet, obwohl Er auf eine Zeit Sein Angesicht vor ihr verbergen muss, ist Er ihr doch treu geblieben, Er hat sie nicht verstoßen, Er hat sich nicht von ihr losgesagt, Er wartet auf ihre Wiederkehr, um Seine Treue gegen sie zu beweisen und sie zur vollen Heiligkeit und zum Mitgenuss Seiner Herrlichkeit zu erheben.

Darum darf es unter uns Christen keine Ehescheidungen, d.h. Lösung des Bandes und Erlaubnis zu anderweitiger Vermählung, geben.

Wenn diese Wahrheit mannigfaltigen Widerspruch erfährt, so darf uns das nicht wundern, denn auch die Jünger hörten das Wort des Herrn mit Befremden und konnten es anfangs nicht fassen (Mt 19,10).

Und doch bleibt dieses Wort die Grundlage der christlichen Sitte und allen Gedeihens und Glückes in der Familie.

Christus baut die Lebensordnung, die in Seinem Reich gelten soll, nicht wie Muhammed, der falsche Prophet, auf das Fleisch und die Verstocktheit des natürlichen Menschen, sondern auf den Geist und auf die Wiedergeburt.

Dadurch hat Er den im Heidentum zerrütteten Hausstand wieder aufgerichtet und zur Pflanzstätte aller Tugenden gemacht.

Dadurch hat er die Würde der Frauen hergestellt, welche sonst der Rohheit und Tyrannei der Männer überlassen waren, jetzt aber als Miterbinnen der Seligkeit anerkannt und durch das Gesetz der Unauflöslichkeit der Ehe von Gott in Seinen Schutz genommen sind.

In der Heidenwelt und selbst unter den Israeliten hatte die Frau nicht das gleiche Recht wie der Mann; erst in der Kirche Christi ist ihre rechte Stellung zur Anerkennung gekommen. Die Verpflichtung zur Treue ist auf beiden Seiten gleich heilig.

Die Worte des Herrn bei Markus (Mk 10,11.12) lauten:

„Wer sein Weib entlässt und freit eine andere, der bricht an ihr die Ehe, und wenn ein Weib ihren Mann entlässt und freit einen anderen, so bricht sie die Ehe.”

Dies also ist der Grundsatz, an welchen alle, die den Namen Christi nennen, sich zu halten haben; damit Er nicht zu uns sagen müsse: Warum heißt ihr mich Herr, Herr, und tut nicht was ich gebiete?

Ebenso bestimmt lauten die Worte des Herrn bei Lukas (Lk 16,18):

„Jeder, der sein Weib entlässt, bricht die Ehe, und jeder, der eine vom Mann Entlassene freit, bricht die Ehe.”

Paulus endlich, der treue Jünger des Herrn, überliefert uns dasselbe Gebot seines Meisters:

„Den Verheirateten gebiete ich nicht ich, sondern der Herr - dass das Weib vom Manne sich nicht scheide - wenn sie aber vom Mann sich scheidet, soll sie ohne Ehe bleiben - und dass der Mann das Weib nicht entlasse” (1 Kor 7,10.11).

Abermals lehrt derselbe Apostel:

„Ein Weib ist gebunden, solange ihr Mann lebt; wenn aber ihr Mann entschläft, dann ist sie frei, sich zu verheiraten mit welchem sie will, nur dass es in dem Herrn geschehe.” 1 Kor 7,39.

Wiederum beruft er sich auf diesen göttlichen Grundsatz im Brief an die Römer (1 Kor 7,1-3):

„Wisset ihr nicht, dass das Gesetz über den Menschen herrscht, so lang er lebt? Denn das Weib, das unter dem Mann (vermählt) ist, ist gebunden durch das Gesetz an den lebenden Mann; wenn aber der Mann stirbt, so ist sie los von dem Gesetz des Mannes. Also wird sie, solange der Mann lebt, eine Ehebrecherin heißen, wenn sie einem anderen Mann (zu eigen) wird; wenn aber der Mann stirbt, so ist sie frei vom Gesetz, so dass sie nicht eine Ehebrecherin ist, so sie einem anderen Manne (zu eigen) wird.”

Der wirkliche Zustand der Christenheit, der mit diesen Worten so wenig übereinstimmt, muss uns also mit Trauer und Besorgnis erfüllen, denn wir erkennen in der Entweihung der Ehe durch unheiligen Wandel und in den Gesetzen, welche Ehescheidung und Wiederverheiratung der Geschiedenen erlauben, Beweise des eingetretenen Abfalls.

Wenn schwere Kränkungen und Versündigungen zwischen den Ehegatten vorgegangen sind, so mögen es christliche Seelsorger für eine moralische Notwendigkeit erkennen, dass auf kürzere oder längere Zeit eine äußerliche Trennung eintrete; aber die Überzeugung muss hierbei festgehalten werden, dass das innere Band bleibt und fortbesteht, bis Gott es durch den Tod auflöst.

Vor Gott und der christlichen Kirche sind die Gatten noch aneinander gebunden, und jene Trennung hat nicht zu bedeuten, dass eines von dem andern los sei und dass jedes von beiden oder nur eines, welches für unschuldig gilt, sich anderweitig verheiraten dürfe.

Die Trennung ist vielmehr dazu bestimmt, dass jedes in sich gehe und seinen Anteil von Schuld erkenne. Der Unschuldige soll auf die Reue und Wiederkehr des schuldigen Teiles hoffen, die Aussicht auf Versöhnung und die Möglichkeit, dass der Schuldige Vergebung finde, soll festgehalten werden; und wenn es auch nicht dazu käme, soll doch das von Gott geknüpfte Band in Ehren gehalten werden, bis durch das Sterben des einen Teiles die Verbindlichkeit des andern erlischt.

Auch in der Bergpredigt sagt der Herr ohne Ausnahme:

„Wer eine Abgeschiedene freit, der bricht die Ehe.”

Was will nun aber der Herr sagen mit dem andern Satz:

„Wer immer sein Weib entlässt” (verstößt) „ausgenommen aufgrund der Hurerei, der macht” (verursacht) „dass sie die Ehe bricht.”

Wenn ein Mann zu diesem harten Entschluss kommt, sein Weib aus dem Hause fortzuschicken, so soll er die für sein Weib sich ergebenden Folgen wohl bedenken.

Die einsame Lage, in die er sie gestoßen hat, kann leicht Anlass zu einer anderweitigen Verbindung werden. Eine solche aber, selbst wenn sie in den Formen des mosaischen Rechts geschähe, ist, wie der Herr uns lehrt, Ehebruch, solange der rechtmäßige Mann noch lebt.

Wer ist nun an der großen Sünde, in die das Weib gerät, schuldig?

Der Mann wenn er nämlich das Weib wegen einer geringeren Ursache aus dem Hause verwiesen hat‚ er ist mitschuldig, er gibt Ursache dazu, dass sie die Ehe bricht. Nur dann ist er ohne Schuld und Verantwortlichkeit, wenn von Seiten des Weibes solche Sünde schon früher begangen war und aufgrund der schon geschehenen Sünde die Entlassung erfolgt ist. Hierbei bleibt der Grundsatz bestehen, dass nur durch den Tod das innere Band gelöst wird.

Mit Berufung auf ein anderes Wort des Herrn (Mt 19,9) hat man in einem Teil der christlichen Kirche angenommen, dass in jenem schrecklichen Fall des schon verübten Ehebruchs völlige Scheidung und anderweitige Verheiratung des unschuldigen Teils erlaubt sei.

Dennoch hat man damit den Sinn des Herrn verfehlt.

Die traurige Erfahrung hat gezeigt, dass, wenn einmal der richtige Grundsatz durchbrochen wird, kein Aufhalten mehr möglich ist; man wird weiter gedrängt, auch andere Scheidungsgründe gelten zulassen, endlich dem schuldigen Teil sowohl als dem unschuldigen eine anderweitige Verbindung zu gestatten.

Eine zunehmende Verderbnis in der Praxis und in der Gesetzgebung hat sich eingestellt. Hier ist kein Ausweg, keine Hilfe, keine Rettung, außer in der Rückkehr zu dem von Christo wiederholt verkündigten Grundsatz: Beugung unter Sein Wort, Bekenntnis unserer Gesamtschuld und Wiedereinführung einer wahrhaft christlichen Eheordnung.

Weil wir Christen so tief gesunken sind, dass sich bei uns oft dieselbe Herzenshärte wie einst bei den Juden offenbart, haben weltliche Gesetzgeber es auf sich genommen, Grundsätze über Scheidung und Wiederverheiratung aufzustellen, die dem Wort Christi widersprechen.

Mögen sie selber zusehen, wie sie sich vor Ihm verantworten können, nachdem sie auf solche Weise den unter uns eingerissenen Abfall legalisiert haben. Aber sie sollten nie verlangen, dass auch die christliche Kirche Gesetze gebe oder sich Gesetzen unterwerfe, welche Christus, der höchste König und Gesetzgeber, verwirft. Nie sollte man von Dienern Christi verlangen, dass sie „ ja” sagen, wo ihr Herr und Meister „ nein” sagt; dass sie für heilig erklären, was Er als Sünde bezeichnet und dass sie den Namen des Dreieinigen Gottes missbrauchen, um zu segnen, wo Gott den Segen verweigert. Jedes christliche Trauungsformular enthält die Worte Jesu: „Was Gott zusammengefügt hat, soll der Mensch nicht scheiden”, wie kann ein Geistlicher es wagen, diese Worte in dem Augenblick auszusprechen, wo er, im Widerspruch mit diesem Wort des Herrn, geschiedene Personen anderweitig verbindet!

Ich und mein Haus, wir sind bereit,
Dir, Herr, die ganze Lebenszeit,
Mit Seel und Leib zu dienen.
Du sollst der Herr im Hause sein,
Gib Deinen Segen nur darein,
Dass wir Dir willig dienen.
Eine kleine, fromme, reine Hausgemeine
Mach aus allen;
Dir nur soll sie wohlgefallen.
Und endlich flehn wir allermeist,
Dass in dem Haus kein andrer Geist,
Als nur Dein Geist regiere.
Der ist‘s, der alles wohl bestellt,
Der gute Zucht und Ordnung hält,
Der alles lieblich ziere.
Sende, sende Ihn uns allen,
bis wir wallen Heim,
und droben Dich in Deinem Hause loben.

(Karl Joh Phil Spitta)

Das Gebot der Wahrhaftigkeit und Lauterkeit der Rede - Mt 5, 33-37

„Ihr habt gehört, dass zu den Alten gesagt ist: Du sollst keinen falschen Eid schwören und sollst Gott deinen Eid halten. Ich aber sage euch, dass ihr allerdinge nicht schwören sollt, weder bei dem Himmel, denn er ist Gottes Stuhl; noch bei der Erde, denn sie ist Seiner Füße Schemel; noch bei Jerusalem, denn sie ist eines großen Königs Stadt. Auch sollst du nicht bei deinem Haupte schwören; denn du vermagst nicht ein einziges Haar weiß oder schwarz zu machen. Eure Rede aber sei: Ja, ja, nein, nein; was darüber ist, das ist vom Übel.”

Der Eid ist eine feierliche Anerkennung Gottes, des Allmächtigen, Allwissenden und Gerechten. Man unterscheidet den Zeugeneid, wo es sich um Tatsachen handelt, die festgestellt werden sollen, und den Verheißungseid, nach dem unser zukünftiges Verhalten sich richten soll. In beiden Fällen rufen wir Gott an; wir nehmen Ihn zum Zeugen der Wahrheit, die wir aussprechen; wir unterwerfen uns Seinem Gericht, falls unsere Rede als unwahr sollte erfunden werden. Darum ist Meineid der schwerste Missbrauch des göttlichen Namens, die höchste Beleidigung der göttlichen Majestät, die Herausforderung zeitlicher und ewiger Strafen; denn Gott lässt Seiner nicht spotten.

Der Eid kommt in der göttlichen Rede vor, bei großen Veranlassungen, in feierlichen Augenblicken.

„Ich habe bei Mir Selbst geschworen”, sprach Gott zu Abraham, „weil du solches getan hast und hast deines einzigen Sohnes nicht verschont, dass ich deinen Samen segnen will und mehren wie die Sterne des Himmels” (1 Mo 22,16.17).

Bei der Einsetzung des Menschensohnes in das unvergängliche Priestertum lauten die Worte: „Der Herr hat geschworen, und es wird Ihn nicht gereuen: Du bist ein Priester in Ewigkeit nach der Weise Melchisedeks” (Psalm 110,4).

„Die Menschen schwören bei einem Höheren, und der Eid macht ein Ende alles Haders, dabei es fest bleibt unter ihnen” (Heb 6,16. Vgl. 2 Mose 22,10.11).

Es gibt eine göttliche Anordnung in der menschlichen Gesellschaft, durch welche der Hader geschlichtet, das Recht zur Geltung gebracht, der Friede gesichert, Leben und Eigentum geschützt werden soll. Solcher Art ist der Auftrag, den die Obrigkeit von oben empfangen hat, und sie soll ihn ausführen in einer Welt voll Unwahrhaftigkeit, Lüge und Betrug.

Deshalb bedarf sie des Eides. Sie muss bei wichtigen Veranlassungen ihn fordern, um sich der Wahrheit der Aussagen, der Treue und Zuverlässigkeit ihrer Diener und Mithelfer zu versichern. Es muss eine letzte Instanz geben, und diese kann nur gefunden werden in der feierlichen Berufung auf Gott, den Richter über alle. Geringere Mittel reichen nicht aus, und wer der Obrigkeit auf ihr Verlangen einen wahren Eid leistet, hilft ihr in der Erfüllung ihres Berufs.

Christus fand auch in Beziehung auf das Schwören Entartung und Missbräuche unter den Juden. Eidliche Beteuerungen im gewöhnlichen Leben waren üblich, wie sie hier und von Jakobus 5,12 angedeutet werden. Unwahrhaftigkeit in der Rede war verbreitet, und nicht vielen konnte man sagen, was der Herr von Nathanael sagte: „Siehe da, ein rechter Israeliter, in welchem kein Falsch ist” (Joh 1,47).

Dabei hatte das jüdische Volk noch Ehrfurcht und Scheu vor dem göttlichen Namen. So entstand die Gewohnheit, Eidesformeln in die alltägliche Rede einzuflechten, bei denen der göttliche Name vermieden wurde. Man beteuerte dies und jenes beim Himmel, bei der Erde, bei Jerusalem, bei dem eigenen Haupte, und man nahm es mit der Wahrheit nicht genau. Der üblen Praxis folgte eine noch schlimmere Theorie, welche jener zur Beschönigung dienen sollte. „Wer da schwört bei dem Tempel, das ist nichts; wer aber schwört bei dem Gold am Tempel, der ist schuldig. Wer da schwört bei dem Altar, das ist nichts; wer aber schwört bei dem Opfer, das droben ist, der ist schuldig.”

Gegen solche Unterscheidungen hat der Herr geeifert, Mt 23,16-22; und hier schließen wir aus Seiner Rede, dass es Schriftgelehrte gab, welche meinten, wenn nur der Name Gottes nicht ausdrücklich genannt sei, so komme es auf die Wahrheit der Aussage nicht viel an. Es sei genug, wenn man den Gott geleisteten Eid halte. Wir erwähnen es zur Ehre der Juden, dass diese Entschuldigungen der Lüge im Talmud nicht gefunden werden. Das Zeugnis Christi gegen das alles ist nicht vergeblich gewesen.

Christus tritt auf und schafft die eidlichen Beteuerungen im gewöhnlichen Leben gänzlich ab. Christus verlangt, dass Seine Jünger im steten Bewusstsein der Allgegenwart und Allwissenheit Gottes handeln und reden. An Ihn erinnert der Himmel, die Erde, die Stadt Jerusalem. Die Erwähnung deines Hauptes mahnt dich an deine gänzliche Abhängigkeit von Gott. Wir sind verantwortlich für alles, was aus unserem Munde geht.

„Aus deinen Worten wirst du gerechtfertigt und aus deinen Worten wirst du verdammt werden” (Mt 12,37).

Darum sollen sich die Jünger Christi durch die vollkommene Lauterkeit und Schlichtheit ihrer Rede auszeichnen.

„Eure Rede sei: Ja‚ ja; nein, nein; was darüber ist, das ist vom Übel.”

Des Christen einfaches ernstes Ja und Nein soll für jeden, der ihn kennt, das Gewicht einer eidlichen Versicherung haben.

So ist es in der christlichen Kirche. Das Ja, feierlich und in der Gegenwart Gottes ausgesprochen, gilt bei der heiligen Taufe, gilt bei Ordinationen an Eides Statt. Im christlichen Altertum wünschte man, dass die Obrigkeit von einem Bischof oder Priester das einfache Ja und Nein annehme und demselben das Gewicht eines Eides beilege.

Indessen verlangt die Obrigkeit fort und fort von uns Christen und auch von den Dienern des Herrn den Eid, wenn ein Zeugnis abzulegen und Treue zu versprechen ist. Wir leisten ihn auf rechtmäßige Aufforderung hin, wir tun es mit dem Bewusstsein der Heiligkeit des Eides, wir sehen auf zu Gott und geben Ihm, dem Gerechten und Allwissenden, Ehre. Wir tun dies mit gutem Gewissen, weil Christus es nicht verboten hat.

Wohl sind viele ernste und achtungswürdige Christen der Meinung, auch dies habe der Herr untersagt. Wir ehren ihre Gewissenhaftigkeit und Überzeugungstreue, aber wir stimmen ihrer Auslegung nicht bei. Denn fürs erste sehen wir, dass Christus in Seinem Verbot nur die Beteuerungsformeln des gewöhnlichen Lebens anführt. Bei dem Himmel und der Erde, bei Jerusalem, bei dem eigenen Haupt - dies sind keine gerichtlichen Eidesformeln.

Sodann nehmen wir wahr, dass Er auch im folgenden, wo Er sagt:

„Ihr sollt nicht widerstreben dem Übel”, die Rechtspflege vorbehalten hat. Der Bruder soll dem Bruder nicht Böses mit Bösem, nicht Scheltwort mit Scheltwort vergelten. Aber die Obrigkeit soll dem Bösen widerstreben. Sie trägt das Schwert nicht umsonst, sie ist Gottes Dienerin, und Gott hat es ihr übergeben. Diesen Auftrag von oben hat Christus nicht abgeschafft, sondern anerkannt. So lässt Er auch hier die Berechtigung und Verpflichtung der Obrigkeit bestehen, in Ausführung ihres Auftrages den Eid zu Hilfe zu nehmen, welcher allein ein Ende alles Haders unter den Menschen macht, dabei es fest bleibt unter ihnen.

Leider haben wir Christen insgemein nicht so gehandelt und geredet, dass die Obrigkeit unsere Christenwürde hoch halten und sich bei uns mit dem einfachen Ja und Nein begnügen könnte. Dies ist eine Gesamtschuld; sie demütigt uns, und dieser Demütigung müssen wir uns unterwerfen. Es sind die Zeiten des Abfalls gekommen, und Gottlose sind aufgetreten, welche sich nicht scheuen - indem sie sagen: „Es ist kein Gott” - den Eid, die Anrufung Gottes für widersinnig zu erklären und aus diesem Grund den Eid verweigern. Es kommt dahin, dass die ehrfurchtsvolle Ablegung des Eides am rechten Ort als ein Zeugnis und Bekenntnis des christlichen Glaubens anzusehen ist.

Wie unter den Juden Missbräuche eingerissen waren, so ist es unter uns Christen geschehen. Alle Heiligtümer sind entweiht worden, so auch der Eid. Diesen Entweihungen soll nicht das Wort geredet werden; wir müssen vielmehr unsere Stimme erheben. Vor Gericht werden auch bei solchen Prozessen, wo es sich um kleine Gegenstände handelt, Eide gefordert. Der Eid wird mit Gleichgültigkeit abgenommen. Der Ernst der Sache leidet; die Wirkung auf das Gewissen des Volk es ist verderblich. Die Menge der Eide ist eines der großen Übel, an denen die bürgerliche Gesellschaft krankt, und der wäre ein Wohltäter der Menschheit, welcher diesen Missstand beseitigen würde, so dass der Eid nur bei großen Veranlassungen stattfinden sollte und mit hoher Feierlichkeit umgeben wäre. Politische Eide werden leichtsinnig gefordert, leichtsinnig geleistet und frevelhaft gebrochen. Die öffentliche Meinung ist in dieser Hinsicht so verdorben, dass man das Nichthalten politischer Eide für selbstverständlich ansieht; und doch zieht dieser Missbrauch des göttlichen Namens Gerichte herbei.

Die Missbräuche im gewöhnlichen Leben sind bei uns anderer Art als bei den Juden, und sie sind schlimmer. Jene tragen Scheu davor, den Namen des Herrn eitel zu nennen. Unter uns ist es vorherrschende böse Gewohnheit, den Namen Gottes und Jesu bei jeder Kleinigkeit gedankenlos auszurufen. Wie Christus der Herr hierüber urteilt, ist keinem Zweifel unterworfen. Er ist nicht gekommen, die Gebote Gottes aufzulösen, sondern zu erfüllen, und das Gebot lautet:

„Du sollst den Namen des Herrn deines Gottes nicht missbrauchen, denn der Herr wird den nicht ungestraft lassen, der Seinen Namen missbraucht.”

Wenn man den göttlichen Namen unnütz im Munde führt, so ist die erste traurige Folge, dass unser Gebet an Kraft verliert und auf unsere Anrufung des göttlichen Namens keine Erhörung folgt. Christen sollen sich dadurch auszeichnen, dass ihnen Gottes Name, Gottes Wort, das Gebet, der Tag des Herrn und alle Stiftungen Gottes hochheilig sind.

Gib, dass ich rede stets,
womit ich kann bestehen,
Lass kein unnützlich Wort
aus meinem Munde gehen;
Und wenn in meinem Amt
ich reden soll und muss,
So gib den Worten
Kraft und Nachdruck ohn Verdruss.

(Joh Heermann)

Das Gebot der vollkommenen Liebe - Mt 5, 38-48

„Ihr habt gehört, dass da gesagt ist: Auge um Auge, Zahn um Zahn. Ich aber sage euch, dass ihr nicht widerstreben sollt dem Übel; sondern so dir jemand einen Streich gibt auf deine rechte Backe, dem biete die andere auch dar. Und so jemand mit dir rechten will und deinen Rock nehmen, dem lass auch den Mantel. Und so dich jemand nötigt eine Meile, so gehe mit ihm zwei. Gib dem, der dich bittet, und wende dich nicht von dem, der dir abborgen will. Ihr habt gehört, dass gesagt sei: Du sollst deinen Nächsten lieben und deinen Feind hassen. Ich aber sage euch: Liebet eure Feinde, segnet, die euch fluchen, tut wohl denen, die euch hassen, bitte für die, so euch beleidigen und verfolgen; auf dass ihr Kinder seid eures Vaters im Himmel. Denn Er lässt Seine Sonne aufgehen über die Bösen und über die Guten und lässt regnen über Gerechte und Ungerechte. Denn so ihr liebet, die euch lieben, was werdet ihr für Lohn haben? Tun nicht dasselbe auch die Zöllner? Und so ihr euch nur zu euren Brüdern freundlich tut, was tut ihr Sonderliches? Tun nicht die Heiden auch also? Darum sollt ihr vollkommen sein, gleichwie euer Vater im Himmel vollkommen ist.”

Es gibt im mosaischen Gesetz Vorschriften, welche für die Richter bestimmt sind und wonach sie bei Ausübung der weltlichen Rechtspflege verfahren sollten. Eine solche lautet: „Auge um Auge, Zahn um Zahn” (2 Mo 21,24), und sie zeigt, dass das Kriminalrecht in dem alttestamentlichen Staat auf dem Grundsatz strenger Vergeltung beruhte.

Wir wissen nicht, ob es Schriftgelehrte gab, welche aus diesen Worten eine Regel für die Gesinnung und für das Verfahren gegen die Brüder machten, aber soviel ist gewiss, dass ein solcher Grundsatz dem fleischlich gesinnten und selbstsüchtigen Menschen eben recht ist.

Wo die Liebe Gottes nicht in den Herzen Wohnung gemacht hat, da wird man, sooft einem eine Beleidigung oder ein Unrecht widerfahren ist, geneigt sein auszurufen: „Auge um Auge, Zahn um Zahn!” und in diesem Sinne zu handeln.

Die menschliche Gesellschaft, so weit sie nicht nach göttlichen Grundsätzen geordnet und vom Geist Christi durchdrungen ist, ist ein großes Gebäude der Selbstsucht, und ihr ganzes Getriebe besteht aus einem unablässigen Kampf der Eigenliebe jedes einzelnen gegen die Eigenliebe jedes anderen. In eine solche Welt ist Christus eingetreten, und nun verkündigt Er den Grundsatz, nach welchem eine neue und bessere Welt, das Reich der Himmel, gestaltet werden soll. Es ist der Grundsatz der vollkommenen Liebe. Es ist die Liebe, die in Christus wohnt und die Paulus, der sie von Christus gelernt hat, so beschreibt:

„Die Liebe ist langmütig und freundlich, sie sucht nicht das Ihre, sie lässt sich nicht erbittern, sie trägt das Böse dem Nächsten nicht nach, sie verträgt alles, sie hofft alles, sie duldet alles”(1 Kor 13,4-7).

„Ich sage euch, dass ihr nicht widerstreben sollt dem Übel.”

Der Herr, der dies gebietet, hat es auch gehalten. Er sprach zu Petrus: „Stecke dein Schwert in die Scheide;” „Er schalt nicht wieder, da Er gescholten ward, Er drohte nicht, da Er litt“.

Dieses Nichtwiderstreben ist im Grunde das erfolgreichste Widerstreben. Wer sich selber rächt, der ist vom Bösen überwunden, wer aber die Rache ganz ruhig Gott anheimstellt und nach dem Vorbild Christi willig duldet, der beweist sich stärker als das Böse, er überwindet das Böse mit Gutem, er sammelt feurige Kohlen auf das Haupt des Feindes, so dass dieser endlich sein stolzes Haupt beugt und sein starres Herz erweichen lässt. (Röm 12,18-21).

An dieses Wort Jesu hat sich die Kirche in den Zeiten der großen Verfolgung gehalten. So haben die heiligen Märtyrer geduldet und durch williges Leiden und Sterben über die Macht der Finsternis gesiegt und die Bekehrung der Heidenwelt herbeigeführt. In jenen Zeiten hat kein Christ einen Mordversuch auf einen verfolgungssüchtigen Kaiser oder Statthalter gemacht, um die Gemeinde von dem Tyrannen zu befreien, und die Christen, obwohl zahlreich, haben sich an keinem Aufstand gegen die heidnische Reichsgewalt beteiligt. Christus gab Seinen Aposteln, als Er sie wie Schafe mitten unter die Wölfe aussandte, kein anderes Schwert als das Schwert des Geistes, das Wort der Wahrheit, und zu allen Zeiten sollten die Diener Christi, wenn sie um der Wahrheit willen bedroht und verfolgt werden, keine fleischlichen Waffen zu ihrer Verteidigung gebrauchen, sondern nach dem Vorbild Christi und der Märtyrer dulden und ihre Sache Gott befehlen.

Der Herr also will, dass in den Seinen die Rachbegierde, die Selbstsucht und die Eigenliebe gänzlich ersterbe. Du sollst, wo es dich, deinen Vorteil, deine Ehre gilt, stets bereit sein zu weichen, nachzugeben und zur Erhaltung des Friedens Opfer zu bringen.

„Ihr sollt nicht widerstreben dem Übel”, dies Wort könnte auch auf eine unverständige Art angewendet werden. Wir müssen im Sinn behalten, dass der Herr zu Seinen Jüngern redet nicht als zu Unweisen, sondern als zu Verständigen. Es bestehen in der menschlichen Gesellschaft göttliche Anordnungen, es besteht ein Vateramt, ein Richteramt, ein Lehramt, und mit einem solchen Amt ist die Pflicht verbunden, dem Bösen zu widerstehen. Solche Verpflichtungen hat der Herr nicht aufgehoben, denn Er ist nicht gekommen‚ die Ordnungen Gottes aufzulösen oder die Werke Seines Vaters zu zerstören.

Ein Vater muss dem Übel widerstreben, d.h. er muss das Böse, was sich bei den ihm Untergebenen zeigt, bekämpfen und seine Kinder nötigenfalls züchtigen. Ein Richter muss die Missetäter verurteilen; ein König muss die Gerechtigkeit aufrecht erhalten und sein Volk beschützen. Das sind nicht die Ausbrüche der Selbstsucht, es sind nicht Dinge, die Christus verboten hat. Tut dies ein Vater, ein Richter, ein König, so tut er es eigentlich nicht, sondern der Herr tut es durch ihn. So muss auch ein Diener Christi in seiner Gemeinde dem Bösen widerstreben, er darf keinen Frieden mit der Sünde machen, keinen Vertrag mit ihr schließen, keinen Missbrauch dulden, wie der Herr sagt (Offb 2,2.6):

„Ich weiß deine Werke, dass du die Bösen nicht tragen kannst; das hast du, dass du die Werke der Nikolaiten hassest, welche Ich auch hasse.”

Wenn wir nun in unserem Beruf dem Bösen widerstreben, so müssen wir eben deswegen, weil Gott durch uns wirken will, von Selbstsucht, Zorn, Hass und Bitterkeit frei sein. Mit einer heiligen Gesinnung müssen wir das Amt unseres Gottes ausrichten, auf dass Er mit uns sei und Sein Werk durch uns tue.

Indem der Herr spricht:

„Gib dem, der dich bittet, und wende dich nicht von dem, der dir abborgen will“

erwartet Er von uns ein mildes Herz, das sich gegen die Not der Brüder nicht verschließt. Aber gewiss erwartet Er zugleich von uns Weisheit in der Abwägung unserer Pflichten. Ein jeder von uns muss seine Hausgenossen versorgen und muss seinen Erwerb so zu Rate halten, dass er sein eigen Brot essen könne und nicht selbst anderen zur Last falle. Diese Verpflichtung hat der Herr nicht aufgehoben. Wollten wir Sein Wort ohne Verständnis unserer Aufgabe als Haushalter der mannigfaltigen Gnade Gottes in Ausführung bringen, so würden wir unverschämte Bettler in ihrer Arbeitsscheu und Gewissenlosigkeit bestärken, wahrhaft Bedürftige vernachlässigen und die eigenen Angehörigen berauben; und damit könnten wir nicht vor Ihm bestehen.

„Wenn jemand mit dir rechten will und deinen Rock nehmen, dem lass auch den Mantel.”

So soll unsere Gesinnung sein, dass wir, soweit unser eigener Vorteil in Betracht kommt, lieber einen Verlust erleiden, als einen Prozess führen (vgl. 1 Kor 6,7).

Dennoch ist uns erlaubt, den Rechtsweg zu betreten, wenn uns nicht der Eigennutz, sondern ein Bewusstsein der Pflicht dazu bestimmt.

Die weltlichen Richter sind auch von Gott eingesetzt, sie haben ihre Pflicht auch an uns zu erfüllen, und wir dürfen diese Wohltat in Anspruch nehmen. So machte Paulus in Philippi und Jerusalem sein Recht als römischer Bürger geltend, um sich vor Misshandlungen zu schützen (Apostelgeschichte 16,37; 22,25), und brachte seine Sache bis vor den Kaiser. Aber wenn wir in einen Rechtsstreit verwickelt werden, so müssen wir uns frei von Aufregung und Erbitterung halten und mit Ruhe und Ergebung abwarten, zu welchem Ende durch Gottes Fügung die Sache kommen wird.

„Ihr habt gehört, dass gesagt ist: Du sollst deinen Nächsten lieben und deinen Feind hassen.”

Dies findet sich mit diesen Worten nirgends im Alten Testament, doch scheint es, dass die Schriftgelehrten so predigten, und sie konnten auf diese Weise zusammenfassen, was über die Ausrottung der Völkers Kanaans gesagt war und was sich von Anwünschungen des göttlichen Gerichts in den Psalmen findet. Auf solche Stellen mochten sich die fleischlich gesinnten Juden stützen, wenn sie voll Hass und Verachtung gegen Samariter und Heiden waren. Selbst Jakobus und Johannes wollten wie Elias Feuer vom Himmel fallen lassen auf das samaritische Dorf, wo man dem Heiland die gastliche Herberge verweigert hatte. Aber Er sagte zu ihnen: „Wisset ihr nicht, welches Geistes Kinder ihr seid? Des Menschen Sohn ist nicht gekommen, der Menschen Seelen zu verderben, sondern zu erhalten” (Lk 9,51-56).

Es gab eine Zeit, wo sich der Ernst und die strafende Gerechtigkeit Gottes gegen die Übeltäter offenbaren sollte. Josua, Saul, David mussten als Werkzeuge dazu dienen. Aber eine andere Zeit ist gekommen, die vollkommene göttliche Liebe ist in Christus erschienen. Auch sie soll offenbar werden, und die Werkzeuge, durch welche dies geschehen soll, sind wir. Unser Beruf ist in den Worten ausgesprochen:

„Liebet eure Feinde, segnet, die euch fluchen, tut wohl denen, die euch hassen, bittet für die, so euch beleidigen und verfolgen, auf dass ihr Kinder seid eures Vaters im Himmel.”

Von der Liebe des Vaters gibt auch die Natur ein Zeugnis. Christus, der den Vater kennt, nahm in den Naturereignissen das Walten der göttlichen Liebe wahr:

„Er lässt Seine Sonne aufgehen über die Bösen und über die Guten und lässt regnen über Gerechte und Ungerechte.”

Aber weit herrlicher ist die Liebe erschienen in Dem, der für die Übeltäter gebeten hat und Sich für uns hingegeben, da wir noch Sünder waren. Eine Welt, in der Er keinen einzigen fand, an dem Er Freude haben konnte, keinen, der Ihn nicht beleidigt oder betrübt hätte, hat Er mit vollkommener Liebe umfasst. Von Ihm hat die christliche Kirche gelernt, auch für ihre Verfolger zu beten. Jede christliche Seele hat eine solche Aufgabe, und die Fürbitte ist ein Prüfstein, woran erkannt werden soll, ob die Liebe in unseren Herzen ist. Den Feinden Wohltat zu erzeigen, ist eine beseligende Pflicht. Wer sie übt, genießt zugleich tiefen, inneren Frieden; denn er ist von dem, was die Seelen der Menschen beunruhigt und verwirrt, von den Anwandlungen der Lieblosigkeit, befreit.

„Darum sollt ihr vollkommen sein, gleichwie euer Vater im Himmel vollkommen ist.”

Das Geschöpf aber ist unvollkommen. Wir sind nicht allmächtig, nicht allweise und werden es auch nie. Welche Vollkommenheit meint also der Herr, die sich auch an uns finden soll? Die, welche unter den Vollkommenheit Gottes die höchste ist, nämlich die Liebe. Der Sohn hatte darauf verzichtet, Seine Allmacht und Allwissenheit bei dem Werk, das Er auf Erden zu tun hatte, anzuwenden. Diese Eigenschaften sah man an Ihm nicht, und doch war Er vollkommen wie Sein Vater und offenbarte den Vater, denn Er bewies die vollkommene Liebe. Diese ist es, worin die Kinder Gottes sich ihrem Vater ähnlich beweisen sollen; und wenn endlich diese Liebe in den Jüngern Christi sich vollkommen entfaltet, dann wird auch Seine Kirche vollendet und Gottes Absicht mit ihr erreicht sein.

Jesu, stärke Deine Kinder
Und mach aus denen Überwinder,
Die Du erkauft mit Deinem Blut.
Schaffe in uns neues Leben,
Dass wir uns stets zu Dir erheben,
Wenn uns entfallen will der Mut.
Gieß aus auf uns den Geist,
Dadurch die Liebe fleußt
In die Herzen:
So halten wir getreu an Dir
Im Tod und Leben für und für.

(Wilh. Erasmus Arends)

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