Thiersch, Heinrich Wilhelm Josias - Bergpredigt - Einleitung

Thiersch, Heinrich Wilhelm Josias - Bergpredigt - Einleitung

Johannes der Täufer war in das Gefängnis geworfen und sein Ruf zur Buße war verstummt. Da trat Jesus Christus auf, und was Er verkündigte, war anfangs die Fortsetzung der Predigt Seines Vorläufers:

„Tut Buße, denn das Himmelreich ist nahe herbeigekommen” (Mt 4,17), wie denn auch Seine Jünger anfangs in die Fußstapfen des Johannes traten und die Johannestaufe erteilten (Joh 3, 22.23; 4, 1.2).

Durch Empfang dieser Taufe erkannten die Israeliten an, dass sie, ähnlich wie die Heiden, einer Reinigung bedurften, dass mannigfaltige Schuld auf ihnen lag, dass sie so, wie sie waren, vor Gott nicht bestehen konnten. Indem sie sich jener sinnbildlichen Reinigung unterzogen, damit die Änderung ihres Sinnes bezeugten, und sich zu einem neuen Wandel verpflichteten, taten sie den entscheidenden Schritt zur Vorbereitung auf den Eintritt in das herannahende Reich des Messias.

Man muss in der Wirksamkeit Jesu verschiedene Stufen unterscheiden. Jene Reden des Herrn, die der ersten Stufe angehörten, werden sich nach Inhalt und Absicht an die des Vorläufers angeschlossen haben. Er konnte den Jüngern, die von Johannes zu Ihm übergegangen waren, nicht alles auf einmal mitteilen.

Zunächst galt es, sie in Erneuerung des Sinnes und Wandels, zu der Johannes aufgefordert hatte, tiefer zu begründen, und dies ist Seine Absicht in der Bergpredigt. Hier werden die eigentlichen Geheimnisse des Himmelreichs, wie die göttliche Würde des Sohnes, Sein Versöhnungstod, Sein Hingang zum Vater und die Sendung des Trösters noch nicht enthüllt, doch ist die Tür des Himmelreichs schon aufgetan, es wird ein Blick in dasselbe eröffnet, die Bedingungen für die Aufnahme in dieses neue Reich und für das Bleiben in demselben werden gezeigt.

Hier also sind die Reden der ersten Stufe zusammengefasst; einer zweiten, höheren Stufe gehören die Gleichnisse an; die Reden der letzten und höchsten Stufe finden sich bei Johannes (14.-17. Kapitel).

Christus fand das Volk Israel in einer falschen Richtung begriffen. Es fehlte nicht an Ernst und Eifer für die Religion, aber seit mehreren Menschenaltern waren die Vorsteher und durch sie das Volk auf den Weg geraten, dass sie meinten, durch ein Übermaß von Strenge in äußerlicher Erfüllung der Gebote Gottes und der von den Schriftweisen hinzugefügten Satzungen, den Messias und Sein Reich herbeiziehen zu können. Christus will sie in der Bergpredigt von den hiermit verbundenen Täuschungen völlig befreien, sie in ihr Inneres und zum wahren Sinne des Gesetzes zurückführen.

So erscheint die Rede, welche Jesus auf dem Gebirge von Galiläa an ein zahlreich versammeltes Volk aus allen Teilen des jüdischen Landes hielt (Lk 6,17), als ein Gegenstück zur Verkündigung des alten Gesetzes vom Berge Sinai an die in der Wüste versammelten Stämme Israels.

Darin jedoch besteht der Unterschied: Auf Sinai wurden die Gebote in steinerne Tafeln gegraben, jetzt aber ist der erschienen, der sie durch den Geist Gottes in das Herz der Menschen schreiben soll. Dies wäre in den Zeiten des Alten Bundes nicht gelungen. Die wiederholten Empörungen und Versündigungen des Volk es Israel in der Wüste waren der traurige Beweis davon, wie wenig das Gesetz Gottes ihnen innerlich und lebendig geworden war. Im wesentlichen wurde es auch nachher nicht anders.

Das Gesetz konnte, wie Paulus aus Erfahrung lehrt, nicht lebendig machen (Gal 3,21), seine Wirkung auf den Menschen scheiterte an dem Widerstand des Fleisches (Röm 8,3), d.h. an der noch unbesiegten, tiefgewurzelten, durch die Länge der Zeit und Gewohnheit noch mehr erstarkten Verkehrtheit und Verderbnis des menschlichen Herzens. In solchen Herzen konnte der göttliche Geist noch nicht Wohnung machen. Die menschliche Natur war noch nicht von dem alten Fluch entledigt und gereinigt. Der Herr schaute vom Himmel auf der Menschen Kinder, ob jemand da sei, der nach Gott frage; aber sie waren allesamt abgewichen und untüchtig geworden (Psalm 14,2.3).

Endlich ist der geliebte Sohn erschienen. Von der frühesten Kindheit an hat Er Glauben gehalten, Gehorsam bewiesen, den Versuchungen widerstanden, der Leitung des guten Geistes Folge geleistet und die Reinheit des Herzens bewahrt. Er hat Sich aufgemacht, um Sich ganz in den Willen Seines Vaters hinzugeben; in dieser Gesinnung kam Er zum Empfang der Johannestaufe. Nun ist Er gefunden, an welchem Gott der Vater Wohlgefallen haben und in dem der Heilige Geist Wohnung machen kann. Über Ihm hat sich der bis dahin den Menschen verschlossene Himmel aufgetan. In Ihm ist die Liebe zu Gott und den Menschen vollkommen. Das Gesetz Gottes ist zum ersten mal durch den lebendig machenden Geist in ein menschliches Herz, in das Herz Jesu Christi geschrieben.

Aber auch in unsere Herzen soll die Liebe Gottes ausgegossen werden. Im Neuen Bund soll nach der großen Verheißung bei Jeremia (Jer 31,33) das Gesetz des Herrn in unser Inneres eingeschrieben sein. Damit es dahin komme, mußte der Menschensohn erst leiden, sterben und auferstehen. Nur dadurch konnte der Fluch von uns genommen, der Sünde in unserm Fleisch der Tod angetan und ein neues Leben uns mitgeteilt werden.

Doch schon vor Seinem Leiden und vor dem durch Tod und Auferstehung zu erringenden großen Siege konnte der Herr durch die Worte des Geistes, die Er redete, Seine Jünger hierauf vorbereiten. Die Bergpredigt ist nichts anderes als eine gewaltige Vorarbeit für das, was der Heilige Geist seit Seiner Sendung am Pfingstfest in den Gläubigen und Getauften zur vollen Wahrheit gemacht hat.

Dies also ist die Bedeutung, welche die Bergpredigt auch für uns hat. Auch an uns ergeht diese Verkündigung in der Absicht, damit durch den Geist Christi Gottes Gebote in uns zur vollen Wahrheit und Wirklichkeit werden. Es ruht ein besonderer Segen darauf, wenn wir diese Rede Jesu mit willigem Herzen hören und mit Ernst unseren Charakter danach zu bilden suchen. Ohne diese Willigkeit, ohne diesen Ernst würde alle tiefergehende Unterweisung über göttliche Dinge an uns vergeblich sein; wir würden nie etwas Rechtes von den Wegen Gottes lernen und am Ende ferne vom Reich der Himmel bleiben.

Die Zeit, in der wir leben, hat große Ähnlichkeit mit den Tagen, in welche uns die Bergpredigt zurückversetzt. Denn mit dem Volk der Christen im ganzen steht es wahrlich in religiöser und sittlicher Hinsicht nicht besser, als es damals mit den Juden stand, und wie das Volk Israel eine Buße nötig hatte, um in das Reich Gottes eintreten zu können, so wird von uns Christen eine durchgreifende Sinnesänderung erfordert. Und diese Forderung ergeht in der Gegenwart ernster und dringender als je, denn die Zeit ist gekommen, wo der alte Ruf in neuer Bedeutung ertönt: „Das Reich der Himmel ist nahe herbeigekommen.”

Damals trat das Reich Gottes in Christus Selbst und in der Kirche auf eine noch verhüllte und geheimnisvolle Weise ins Dasein. Aber bei der Wiederkunft Jesu Christi soll es in Macht und Herrlichkeit ans Licht treten. Diese große Wendung der Dinge ist uns nahe gerückt, und nun gilt es für uns Christen, so gesinnt zu werden und so zu wandeln, dass uns die zweite Erscheinung Christi zum Heil und nicht zum Gericht gereichen möge. Der Wille des Herrn an uns ist aber heutzutage kein anderer als vor alters, und Seine heiligen Gebote sind noch dieselben.

Auch wir also, für welche die letzten Zeiten dieses Weltalters gekommen sind, sollen aus dieser Rede Jesu lernen, wie ein Christ gesinnt sein und wandeln muss, um, wenn Christus erscheint und wir vor Ihm offenbar werden müssen, als Seine rechtens Jünger anerkannt zu werden.

Indem Gott in unseren Tagen das Licht Seines Geistes in erhöhtem Maße leuchten lässt und uns auf den Weg der ursprünglichen Ordnung in der Kirche zurückführt, ist Seine Absicht keine andere als diese, dass Sein Gesetz wirklich in unser Herz geschrieben und unser Wandel damit in Übereinstimmung gebracht werde; denn eine Gemeinschaft, in der dies nicht der Fall ist, wird gewisslich vor dem Herrn, wenn Er kommt, nicht bestehen.

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