Theremin, Franz - Wir müssen seyn in dem, das des Vaters ist.

Theremin, Franz - Wir müssen seyn in dem, das des Vaters ist.

Am ersten Sonntage nach Epiphanias 1833.

Evangelium Lucä, 2, 49
Und er sprach zu ihnen: Was ist es, daß ihr mich gesucht habt? Wisset ihr nicht, daß ich seyn muß in dem, das meines Vaters ist?

Mit Maria und Joseph - wie Ihr in dem heutigen Evangelio gehört habt, meine Brüder - war der zwölfjährige Jesus nach Jerusalem zur Feier des Osterfestes gereiset. Das Fest war vorüber; Maria hatte sich schon um eine Tagereise von Jerusalem entfernt, ohne zu bemerken, daß Jesus daselbst zurückgeblieben sey. Sie geht wiederum nach Jerusalem, sucht ihn; und nach dreien Tagen findet sie ihn sitzen im Tempel, mitten unter den Lehrern, daß er ihnen zuhörte und sie fragte. Mein Sohn, ruft sie, Warum hast du uns das gethan? Siehe dein Vater und ich haben dich mit Schmerzen gesucht. Und er sprach zu ihnen: Was ist es, daß ihr mich gesucht habt? Wisset ihr nicht, daß ich seyn muß in dem, das meines Vaters ist? Ein Wort von tiefer, umfassender Bedeutung, welches seine Eltern, wie der Evangelist bemerkt, nicht verstanden, welches sich nicht allein auf den gegenwärtigen Fall bezog, sondern worin er zugleich erklärte, in welchem Sinn und Geist sein ganzes Leben hienieden geführt werden sollte.

Und dadurch hat er auch uns, die wir berufen sind, ihm nachzufolgen, unsre Bestimmung vorgezeichnet. Auch wir sollen seyn in dem, das des Vaters ist; das heißt erstlich, wir sollen Gottes Kinder seyn; zweitens, wir sollen im Hause des Vaters verweilen; drittens, wir sollen das Werk des Vaters vollenden.

I.

Im Anfange dieses Jahres, in einer Zeit, die so angemessen und gesegnet ist, um neue, gute Entschließungen zu fassen, laßt uns, meine Brüder, diese Worte beherzigen, die Jesus in seinen früheren Jahren gesprochen hat, und die die ersten sind, welche die Schrift von ihm anführt; und Gottes Gnade mache uns diese Worte zu einem leitenden Stern für die ganze folgende Zeit dieses Jahres, ja für unsere ganze Zukunft hienieden!

Wisset ihr nicht, daß ich seyn muß in dem, das meines Vaters ist? Jesus nennt Gott seinen Vater in einem Sinne, wie Er allein ihn so nennen konnte; denn er, der Sohn der Maria, war auch der eingeborne, ewige Sohn Gottes. Was er von Natur war, in dem höchsten und erhabensten Sinne, das können wir, die wir von Natur Kinder der Welt sind - werden in einem geringeren Sinne; können, um des Eingebornen willen, wenn wir an ihn glauben und ihn lieben, von dem himmlischen Vater zu Kindern angenommen werden; und wir sollen es werden; das ist erstlich unsere Bestimmung.

Wollt Ihr sie nicht erfüllen, meine Brüder? Nicht lieber Kinder Gottes seyn, als Kinder der Welt? Denn - täuschet Euch nicht - Eins von beiden könnt Ihr nur seyn; lebet entweder als Kinder der Welt, das heißt, ohne Kenntniß Gottes, ohne Gewißheit seiner Liebe, ohne Liebe und Vertrauen zu ihm, weit, unermeßlich weit von ihm entfernt; immer zweifelnd, ob das, was Euch begegnet, von ihm herrühre, oder von einem blinden Zufall, einer unbeugsamen Nothwendigkeit; immer gequält durch Sorgen, durch innere Vorwürfe beunruhigt; rechtschaffen und ehrbar vielleicht in dem äußern Verhalten, aber mit vielen unlautern, unüberwindlichen Neigungen im Herzen; sterbet, nachdem Ihr also gelebt habt, vielleicht ohne Buße, ohne Glauben, ohne Hoffnung, also auch nicht selig. Oder Ihr lebet als Kinder Gottes, das heißt, mit einem tiefen Eindruck, mit einem seligen Gefühle von seiner Liebe, das Euch bewegt, Euch antreibt, Euch täglich, stündlich, über alle Himmel, über alle Sterne zu ihm zu erheben, offen und frei von allen euern Sorgen und Wünschen mit ihm zu reden; lebt in dem festen Vertrauen, daß Euch nichts begegne, Frohes oder Trauriges, das nicht von ihm komme, und das nicht zu euerm Besten dienen müsse; freuet Euch, daß Ihr bei ihm in Gnaden sieht, und daß er aller von Euch bereuten Sünden nicht gedenken wolle; erhaltet von ihm die Kraft, nicht nur zu handeln, sondern auch zu fühlen, zu begehren, zu wollen, wie es ihm gefällt; sterbet endlich, wenn Ihr als Kinder gelebt habt, auch als Kinder, um einzugehn in das Haus des Vaters. Wollt Ihr, frage ich, nicht lieber Kinder Gottes seyn, als Kinder der Welt? Die Antwort kann nicht zweifelhaft seyn. Aber, fragt Ihr weiter, wie werden wir Kinder Gottes?

Wir gehen hier auf unser Evangelium zurück, und vergegenwärtigen uns die Umstände, unter denen Jesus zuerst Gott seinen Vater nennt, und dieß höhere Bewußtseyn ausspricht. Das Osterfest sollte in Jerusalem gefeiert werden. Aus allen Gegenden des Landes, ja aus entfernten Ländern strömte die Menge herbei, um in der heiligen Stadt das hohe Fest zu begehen. Kinder vom zwölften Jahre an durften die Eltern auf dieser Wallfahrt begleiten. Die Schaaren zogen dahin, sich mit frommen Liedern die Länge des Weges verkürzend. Und wenn nun zuerst von fern ihnen die Zinne des Tempels erschien, wenn sie eingingen in die Thore der Stadt Gottes, wenn sie das Heiligthum betraten, wenn die majestätische Feier begann: o wie mochte da manches Alten, manches Jünglings, manches Knaben Herz aufbeben vor unnennbaren Gefühlen der Andacht! Der Knabe Jesus ist dieß Mal unter der feiernden Menge. Er hört, wie Alle den Gott Abrahams, Isaaks und Jacobs preisen, der sein Volk aus Aegypten geführt hat; er sieht, wie die Gebräuche vollzogen werden, die als Schatten und Bilder hindeuten auf die in ihm herannahende Erfüllung: da spricht er es aus, daß Gott sein Vater, daß er der Sohn Gottes ist.

Haben wir nicht vielleicht, indem wir diese Umstände anführten, Einige unter Euch, meine Brüder, an die reich begnadigte Zeit ihrer Kindheit und ihrer Jugend erinnert? War nicht vielleicht das Leben eurer frommen, gottesfürchtigen Eltern gleich einer Festreise zu dem frohen Ziele der Befreiung von allem irdischen Uebel? Theilten sie Euch nicht ihre Gesinnungen mit; erfüllten sie Euch nicht mit ihrer Hoffnung; unterwiesen sie Euch nicht in ihrem Glauben? Und wenn sie Euch von dem Jesus sprachen, den Ihr schon als Kinder liebgewonnen hattet; von ihm, dem wahren Osterlamme, das der Welt Sünde trägt, und das geschlachtet am Stamme des Kreuzes, uns Gnade und Vergebung bei Gott erworben hat: dämmerte es da nicht auf in euerm Herzen; keimte es nicht das Bewußtseyn, das sich seitdem entwickelt und befestigt hat: Gott ist mein Vater, ich bin sein Kind?

Wir können uns noch einen andern Fall denken. Jesus war, der zwölfjährige Knabe, allein in der großen, volkreichen Stadt, wie verloren unter der sich hin und her bewegenden Menge, verlassen von seinen Eltern, welche die Rückreise angetreten hatten, ohne ihn. Ohne ihn? Wie war es möglich? Wie konnten sie ihn vergessen? ihn verlassen? Ich weiß nicht, die Schrift sagt nichts darüber, ich weiß nur, daß ich mir die Umstände so viel als möglich zu Gunsten der theuern Mutter des Herrn denke, die ich nicht gern beschuldigen möchte. Genug - Jesus war allein in Jerusalem. So sieht auch Ihr vielleicht da allein in der Welt. Eure Eltern haben Euch früh verlassen, sind heimgekehrt, nicht nach Nazareth in Galiläa, sondern in den Himmel, in ihr wahres Vaterland. Freunde hattet Ihr wohl niemals; oder - wenn auch - Freunde können, wollen oft so wenig thun! Die Menschen bewegen sich um Euch her, gehen ihrer Arbeit, ihrem Vergnügen nach; nur für Euch will sich kein passendes Verhältniß, will sich kein Geschäft, und noch weniger eine Freude finden. Unter dem Gedränge seyd Ihr so einsam; werdet von einem so angstvollen Gefühle des Alleinseyns, der Verlassenheit beschlichen. Aber wie? Findet Ihr auch kein Erbarmen auf Erden, werdet Ihr es nicht im Himmel finden? Habt Ihr nicht dort einen Helfer, einen Vater? Einen Vater, der Euch aufnimmt, wenn Vater und Mutter Euch verlassen? O möchte die Angst und die Noth schnell in Einem Augenblick in Euch das Bewußtseyn zur Reife bringen, das sich in Andern langsam entwickelt: Gott ist mein Vater, ich bin sein Kind!

Ihr seyd also in Jerusalem; aber dieses Jerusalem ist in mancher Hinsicht ein Babel. Da ist nicht nur ein Tempel, wo der Gott Israels verehrt wird; da stolzieren auch die Pharisäer einher, mit einem Gepränge gleissender Tugend, und verbreiten menschliche Satzungen, um die göttliche Wahrheit zu verdrängen. Da gibt es Sadducäer, welche sich eine Weisheit erfunden haben, deren Kernspruch also lautet: laßt uns das Leben genießen, denn im Tode werden wir gänzlich untergehn; welche sich und Andere zur Sünde ermuntern durch die Aussicht auf Vernichtung. O daß Ihr doch nicht in die Gemeinschaft der Einen oder der Andern geriethet; nicht in ihre Schlingen fielet! Seyd Ihr etwa schon darein gefallen? Seyd Ihr stolz auf eigenes Verdienst, auf eigene Weisheit, verschmäht Ihr eine Begnadigung durch fremde Gerechtigkeit? Unterstützt Ihr die Neigungen euers sündlichen Herzens durch die trostlose Lehre derer, die alle Hoffnung aufgegeben haben? O Ihr Armen, so habt Ihr denn in beiden Fällen keinen Vater im Himmel, weil Ihr keinen haben wollt. O möchtet Ihr anstatt der Lehrer, denen Ihr bisher gefolgt seyd, einen andern wählen, auf den wir Euch heute hinweisen, den zwölfjährigen Knaben Jesus! Dann werdet auch Ihr, bekehrt von euerm Irrthum, Gott euern Vater, Euch seine Kinder nennen.

II.

Indem Christus Gott seinen Vater nennt, erklärt er zugleich, daß er seyn müsse in dem, das des Vaters ist, das heißt, in seiner Wohnung, und so ist es auch zweitens unsere Bestimmung, in der Wohnung Gottes zu verweilen.

Der Tempel zu Jerusalem, den Christus selbst das Haus seines Vaters nennt, ward als eine Wohnung Gottes betrachtet, der hier auf die von ihm vorgeschriebene Weise verehrt, dessen Gegenwart hier von den frommen Israeliten empfunden ward. Kein Aufenthalt geziemt also dem Sohne Gottes besser als dieser; und seine irdischen Eltern hätten ihn zuerst daselbst aufsuchen sollen. Und welcher Aufenthalt wird uns, wenn wir Kinder Gottes sind, vornehmlich geziemen; welche Orte werden von uns am fleißigsten besucht werden müssen? Unstreitig, meine Brüder, sind dieß unsere christlichen Tempel, die ja auch mit Recht Wohnungen Gottes genannt werden können, weil der Herr hier in der Mitte derjenigen ist, die sich in seinem Namen versammelt haben; weil er hier in seinem Abendmahle sich ihren Seelen zur Speise gibt.

Hätte aber Jesus nichts weiter gemeint als den Tempel, der ihm als Haus seines Vaters zum Aufenthalt gezieme, so würde der Evangelist wohl nicht bemerken, daß seine Eltern ihn nicht verstanden; denn dieser Sinn springt ja deutlich in die Augen, und ist leicht genug zu fassen. Er mußte noch etwas Anderes meinen, mußte noch von einer anderen höheren Wohnung Gottes reden. Und welche ist diese? Welches ist für den Gott, der die Unermeßlichkeit ausfüllt, doch der Ort, wo er eigentlich wohnt, wo er sich in seiner ganzen Herrlichkeit, in seinem ganzen seligmachenden Einflusse offenbaret? Es ist der Himmel, es ist jene Welt, die wir die unsichtbare nennen, weil unsere blöden Augen sie nicht schauen, so nahe sie auch vielleicht uns seyn mag; die aber den geschärften Blicken ihrer Bewohner sich in unnennbarer Majestät und Lieblichkeit zeigt. Dort ist die Stadt Gottes, die von keiner Nacht umdunkelt wird, weil das Angesicht des Herrn sie mit immerwährendem Scheine erleuchtet. Dort wogt der krystallne Strom, dessen Ufer mit den stets blühenden und früchtetragenden Bäumen des Lebens bekränzt sind. Dort, allen Leiden, allen Beschwerden entronnen, wandeln die Auserwählten, im Gefühl ewiger, stets zunehmender Wonne, und mischen ihre Gesänge in die Chöre der Engel, die einander antworten, von einer unermeßlichen Ferne zur andern. Dort ist das höhere Heiligthum Gottes, nach dessen Muster, das er dem Moses auf dem Sinai zeigte, sein irdisches Heiligthum errichtet ward. Dort sieht sein Thron, vor welchem ihn die Seraphim anbeten, indem sie mit ihren Flügeln die durch seinen Glanz geblendeten Augen bedecken. Dort war der Sohn Gottes von Anfang an bei dem Vater gewesen; diesen Aufenthalt, wo er ewig hätte mögen Freude haben, den hatte er verlassen, hatte ihn um unsertwillen mit diesem dunkeln Thränenthale vertauscht. Aber schwebte dem zwölfjährigen Knaben, der mit einem so deutlichen, so lebhaften Bewußtseyn Gott seinen Vater nennt, schwebte ihm nicht auch ein deutliches, lebhaftes Bild von dem Hause des Vaters vor den Augen? Wenn er gern in dem Tempel zu Jerusalem verweilte, war es nicht, weil er in diesem das irdische Abbild jenes himmlischen Urbildes fand? Könnten wir glauben, daß ihm diese arme, elende Erde, so lange er auf derselben wandelte, jemals das Bild des Himmels verdunkelt, ihn jemals vom Anschaun desselben herabgezogen habe? Nein, sein Wandel auf Erden war auch zugleich ein Wandel im Himmel; er war immer in dem, das des Vaters ist, das heißt, in seinem himmlischen Hause.

Sollten wir es nicht auch seyn? Haben wir nicht schon durch unsern Geist eine Ahndung von der unsichtbaren Welt? Drücket einmal die Augen zu, so daß Ihr nichts Irdisches sehet; oder denkt Euch die Erde, die Sonne, den Mond, den Himmel mit allen seinen Sternen, diese ganze sichtbare Welt, hinweg: wie? sieht Ihr nun dem Nichts gegenüber; oder hebt sich nicht wie aus einem Schleier, einer Dämmerung, eine andere Welt hervor, die Ihr als die höhere, die unvergängliche ansprechen müßt? Habt Ihr nicht von dieser Welt, die Ihr ahndet, auch eine sichere Kunde erhalten durch den Sohn Gottes, der aus ihr gekommen, und in sie zurückgekehrt ist? Wißt Ihr nicht, daß Er, euer Erlöser, dort sitzet zur Rechten des Vaters, dort einhergehet unter den Seligen, die er durch sein Blut sich erkauft hat? Daß Euch dort die Stätte durch ihn bereitet ist neben so manchen der Eurigen, die schon früher hinübergingen, und den Platz einnahmen, der ihnen bereitet war? Daß Euch, die Ihr hienieden darbt, sey's in Armuth, sey's in irdischem Reichthum, daß Euch dort der Besitz von Schätzen erwartet, die euer unendliches Verlangen allein zu stillen vermögen? Und sollte euer Herz nicht da seyn, wo euer Schatz ist; da, wo euer himmlischer Vater wohnt, da, wo euer Erlöser zur Rechten seines Vaters sitzt, da, wo eure früher verklärten Angehörigen seine Herrlichkeit schauen, da, wo Ihr dereinst in ihrer Mitte, frei von Sünde und Mängeln, anzubeten hofft? Statt dessen - o trauriger Vorwurf, der nicht nur den Kindern der Welt, sondern auch den Kindern Gottes gemacht werden muß! - Statt dessen ist ihr Herz, sind ihre Neigungen und Gedanken immer auf Erden, immer angelockt, immer gefesselt durch diesen Wechsel vergänglicher Dinge, immer haftend an dieser äußeren Rinde, die ihnen, mit ihrem eigenen Willen, das Wahre, Wesentliche verbirgt! Wir müssen ja hienieden arbeiten und wirken, sagt Ihr; also müssen wir uns auch eine deutliche Vorstellung von den irdischen Verhältnissen entwerfen. Das müssen wir freilich; müssen also auch die Augen darauf richten, so weit die Pflicht, oder so weit eine der Pflicht folgende Neigung uns führt. Aber sollte die Neigung uns denn ganz und gar in das Irdische versenken, wie es doch geschieht? Sollte sie, wenn der Pflicht durch die Erwägung der äußeren Dinge genügt ward, nicht durch ihren frommen Aufschwung uns zum Himmel erheben? Woher soll denn unser Geist, wenn er sich nicht dahin emporschwingt, und so mit ewigen Kräften erfüllt wird, woher soll unser Geist die Kraft nehmen, die Dinge um uns her nach Gottes Willen zu gestalten? Woher soll unser Herz, wenn es sich nicht durch das Vorgefühl der Seligkeit stärkt, die Kraft nehmen, den immer wiederkehrenden Erdenschmerz zu ertragen? Kinder Gottes, beherzigt es wohl, Ihr müßt seyn in dem, das des Vaters ist, das heißt, in seiner himmlischen Wohnung.

Aber ist dieß die einzige; hat er nicht noch eine andere, die ihm nächst jener die wohlgefälligste ist? Solltet Ihr nicht, meine Brüder, ehe ich sie Euch nenne, sie Euch im Stillen nennen können? Ihr könnt es nicht? Laßt uns doch hören, was der Prophet von der Wohnung Gottes sagt: Der ich in der Höhe und im Heiligthum wohne, spricht der Herr im Jesaias, und - nun, was setzt er hinzu; welches wird die andere Wohnung Gottes seyn? und - bei denen, so zerschlagenen und demüthigen Geistes sind. Euer Geist also, euer Inneres, euer Herz, meine Brüder, das ist die zweite Wohnung Gottes, ihm wohlgefälliger als die Erde, als die ganze sichtbare Natur; denn von der Erde heißt es, sie sey der Schemel seiner Füße; aber von euerm Innern wird gesagt, daß es sein Tempel sey, in welchem er wohnen und wandeln will. Aber wer weiß es, und wer sucht Gott gerade hier, wo er doch am nächsten und sichersten zu finden wäre? Daß er sich kund thue in der sichtbaren Natur, das wird von einem Jeden zugegeben; und es gilt schon für ein Zeichen von Frömmigkeit, und mit Recht - wenn man seine Herrlichkeit schauet in dem Glanze der aufsteigenden und niedergehenden Sonne; wenn man seinen Odem fühlt in dem Wehen des Frühlings, und in dem Wintersturm; aber wenn man die Menschen auf ihr Inneres verweiset, und ihnen sagt: dort suchet Gott! - das begreifen sie nicht. Und sie könnten doch in ihrem Innern die Gegenwart Gottes spüren, an Zeugnissen, deutlicher und glänzender als die Pracht der Sonne und des gestirnten Himmels, an seinem Gesetze, das er darein gegraben hat, an den Ermahnungen und Tröstungen seines Geistes, der darin zu uns redet, der es Gott zu einem Tempel einweihen will, den er bewohne, und worin wir ihn anbeten sollen.

So war Jesus in dem, das des Vaters ist; so versenkte er sich, als zwölfjähriger Knabe, anstatt das in diesem Alter gewöhnliche äußerliche Leben zu führen, in die heiligen Tiefen seines Herzens, das so innig mit der Gottheit verbunden, das ihr vollkommenster und schönster Tempel war. So bewegte er in seiner stillen und gesammelten Seele Gedanken von der Größe und Erhabenheit desjenigen, den er hier gegen seine Eltern ausspricht, den sie nicht verstanden, und den wir wahrscheinlich auch nicht ganz verstehen. So, wenn er die Nächte allein war, und betete, führte er in seinem Innern, wo er die Gegenwart des Vaters am lebhaftesten empfand, mit ihm unaussprechliche, göttliche Unterredungen. So, wenn er lehrte und handelte, blieb er, bei der äußern Wirksamkeit, doch immer eingekehrt und gesammelt in sich selbst. O Ihr so leicht zerstreuten, und Euch so gern zerstreuenden Menschen, wann werdet Ihr die Zerstreuung als eines der größten Uebel fliehen; wann wird endlich euer Sinn ruhig in Euch selber verweilen, vor dem Angesichte Gottes, der in Euch wohnet? Du freilich, du Eitler, du Stolzer, ziehst Dich in Dich selber zurück; aber nicht um Gott, sondern um dein Ich, diesen Götzen, den Du darin aufgestellt hast, anzubeten. Dieses Götzenbild werde zuerst zerbrochen; von den Käufern und Verkäufern, von dem Schwarm unheiliger Neigungen, werde das Heiligthum befreit. Dieß muß geschehen; aber wie ist es möglich, wenn man sein Inneres unbeachtet läßt, und mit demselben weniger bekannt ist, als mit der ganzen übrigen Welt? Ist es aber geschehen; hat Gott von seinem Eigenthum Besitz genommen, hat er mit seinem Sohne Wohnung gemacht in euerm Innern, dann sey es auch für Euch selber die liebste Wohnung. Sammelt hier die sich in eitle Neugier und Schaulust zerstreuenden Kräfte, sammelt sie hier um den Thron des Herrn, wie dort oben im Himmel die Engel seinen Thron umgeben; dann werden sie, wie jene, sobald er winkt, fähig und bereit seyn zur Vollstreckung seiner Gebote. Dann werdet Ihr beten können, denn das Kämmerlein, in welches Ihr zu diesem Zwecke eingehen müßt, das ist der Grund euers Herzens; und hier muß auch die Jakobsleiter angesetzt werden, wenn Ihr auf derselben zum Himmel emporsteigen wollt.

III.

Wenn Jesus sagte, daß er seyn müsse in dem, das des Vaters ist, so meinte er nicht nur, daß er in dem Hause des Vaters verweilen, sondern auch, daß er das Werk des Vaters vollbringen müsse. Und so ist es auch drittens unsere Bestimmung, das Werk des Vaters zu vollbringen.

Sie hatte ihren Sohn gesucht, diese Mutter, welcher der einzige, mit so vielen Schmerzen verbundene Beruf zugefallen war, das göttliche Kind zu erziehen; sie hatte ihn gesucht, und sie hatte ihn gefunden, beschäftigt mit dem Werke seines Vaters, mit seinem Worte, das die Lehrer auslegten, indem er sie befragte, und auf ihre Fragen Antwort gab. Wenige Jahre vergingen; wenn sie ihn dann suchte, wenn ihr Mutterherz nach seiner Gegenwart verlangte, so fand sie ihn nicht mehr in ihrem Hause; er hatte es verlassen, um in dem zu seyn, das seines Vaters war; erzog umher in dem Lande, ohne einen Ort zu haben, wo er sein Haupt hinlegen konnte, das Wort des Vaters verkündigend, Kranke heilend, schwache Freunde ertragend und belehrend, erbitterten Feinden in der Kraft der Wahrheit begegnend, Beschwerden und Mühseligkeiten übernehmend, in dem einzigen Verlangen, von welchem sein Herz brannte, zu vollenden das Werk, welches ihm der Vater übertragen hatte.

War dieß Werk das größte unter allen, die jemals hier auf Erden vollbracht worden sind, so ist doch jedem unter uns, meine Brüder, auch ein Werk, zwar ein geringeres, aber dennoch vom Vater kommendes, übertragen. Dazu gehört unser äußerer Beruf in der menschlichen Gesellschaft; aber es ist nicht in diesem beschlossen, es reicht weit darüber hinaus, es ist unser heilsamer Einfluß in dem unsichtbaren Gottesreich, die Fortpflanzung, die Verbreitung des Segens, den wir empfingen. Treibst Du dieses Werk Gottes, bist Du in dem, das des Vaters ist, Du, der Du diese Bestimmung noch niemals erwogen, Dich von diesem großen Gedanken noch niemals begeistert gefühlt hast? Wohin ist dein Streben gerichtet? Du willst Dir ein Haus bauen, willst Dir einen irdischen Wohlstand gründen; willst ihn mit den Deinen genießen, willst durch das, was Du für sie aufsammelst, ihr äußeres Schicksal auch nach deinem Tode sicher stellen. Das möchtest Du thun; aber wie darfst Du das Andere lassen? Wie kannst Du glauben, daß hiermit das Werk des Vaters auch nur an ihnen, an diesen deinen nächsten Angehörigen, vollbracht sey? Andere, höhere Güter sollst Du ihnen mittheilen; sollst über diesen engen Kreis hinaus, irdische Wohlthaten und geistige Segnungen verbreiten. Dieß wäre das Werk des Vaters; o möchtest Du doch endlich anfangen, es zu treiben, nachdem Du bisher nur das eigene getrieben hast! - Treibst Du etwa das Werk Gottes, Du, der Du nicht den Namen des Herrn, unsers hochgelobten Erlösers, sondern deinen eigenen Namen, der ein so armes, elendes Wesen bezeichnet, zu verherrlichen suchst; der Du, selbst wenn Du scheinbar für die Ehre Gottes wirkest, doch im Grunde des Herzens nur Dich selber meinest, und deinen Ruhm vor den Menschen? O, erkenne deinen traurigen Irrthum, deine schreckliche Verblendung! Erkenne, daß Du nicht auf den Geist säest, von dem Du das ewige Leben ernten könntest, sondern auf das Fleisch, von dem Du das Verderben ernten wirst. Erkenne, daß Du selbst bei diesem Streben zu Grunde gehst, und daß dein ganzer Einfluß, den Du so hoch anschlägst, wenn wir den allergünstigsten Fall annehmen, hinausläuft - auf Nichts.

Und was sollen wir von Dir sagen, der Du bisher ein Knecht der Sünde gewesen bist, der Du einer verdammlichen Leidenschaft nach der andern, oder vielmehr allen zugleich gedient, und in diesem Zustande, worin Du schon manche Jahre verlebtest, auch dieses Jahr begonnen hast? Wessen Werk hast Du bisher gethan? Nicht das Werk des Vaters, dieß mußt Du fühlen, wenn Du an die Neigungen denkst, die Dich beherrschen Dich herabwürdigen, und die nicht vom Vater sind, sondern von der Welt; wenn Du denkst an deinen Widerwillen gegen Gottes Wort, und gegen christliche Wahrheit; wenn Du an so manche theure, unsterbliche Seele denkst, welche angesteckt durch dein Beispiel, hinein gezogen ward in dein Verderben. Nicht das Werk des Vaters hast Du gethan; wessen Werk also? Diese Frage magst Du dir selbst beantworten. Und gehörtest doch zu denen, die nicht einen verpesteten, sondern einen segensreichen Einfluß verbreiten, die nicht als ein schwarzer schimpflicher Fleck, sondern als ein leuchtender Stern in den Augen Gottes dastehen konnten. Doch sein Werk zu beginnen, dazu ist es auch für Dich nicht zu spät, und dieß Werk, es ist zunächst deine Heiligung! Dieß, meine Brüder, unsere Heiligung, dieß ist, auf welcher Stufe wir auch stehen mögen, Gottes vornehmstes Werk, das uns ohne Unterlaß beschäftigen soll, mit dessen Fortschritt allein jedes andere heilsame Wirken fortschreiten kann.

Zu dem Werke des Vaters, das Jesus vollenden sollte, gehört aber auch sein Leiden und sein martervoller Tod. Was der Vater beschlossen hatte, zum Heile der Menschen, und zur Verherrlichung des Sohnes, das wollte auch dieser; immer war sein Wille eins mit dem des Vaters; er wußte, was ihm bevorstand, wußte, daß er sich mußte taufen lassen mit einer schmerzlichen, blutigen Taufe; und wie war ihm so bange, bis sie an ihm vollzogen wurde! Er begab sich nach Jerusalem, nicht, um nach fröhlich gefeiertem Feste zurückzukehren, sondern um, als das wahre Osterlamm, daselbst am Kreuze zu bluten. Seinen Jüngern verkündete er, wie er müßte viel leiden von den Aeltesten und Hohenpriestern, und als Petrus ihn abmahnen wollte, verwies er es ihm streng, daß er nicht was göttlich, sondern was menschlich ist, meine. Er langte an; die Bosheit und die Gewalt seiner Feinde umgab ihn; hätte er nicht von seinem Vater Legionen Engel zu seinem Schutze fordern können? Aber wie wäre dann erfüllt worden, was geschrieben stand in den Propheten? Es mußte also geschehen. Und es geschah also; er starb am Kreuze. Hochbegnadigte und hochgeprüfte Mutter, auch jetzt warst du ihm gefolgt; unter dem Kreuze, wo er mit zerrissenen Gliedern hing, standest auch du, das Herz durchbohrt von dem Schwerte, das dir Simeon verkündigt hatte. Jetzt fragtest du nicht mehr; auch dein Wille, so scheint es, war ganz dem Willen Gottes unterworfen. Aber hättest du gefragt, hättest du gerufen: Mein Sohn, warum hast Du uns das gethan? Du würdest wohl dieselbe Antwort erhalten haben: Wußtet Ihr nicht, daß ich seyn muß in dem, das meines Vaters ist?

Auch wir müssen leiden, meine Brüder. Dem zwölfjährigen Knaben, dem Jüngling, dem Manne, dem Greise kann man vorher verkündigen, daß ihn Trübsale und Schmerzen erwarten - und es geschieht. O wie sträubt sich unsere Natur gegen den Schmerz! Wie gern möchte sie der Krankheit, der Noth, des Verlustes, des Sterbens überhoben seyn! Was soll man den Menschen sagen, um sie mit dem Leiden zu versöhnen? Soll man sagen, es ist das allgemeine Erbtheil unseres Geschlechts, die unerläßliche Strafe der Sünde, es dient zu eurer Heiligung, es dient, wenn Ihr es fromm ertragt, zur Erbauung des Nächsten? Dieß Alles soll man sagen, denn dieß Alles ist wahr; - aber dieß Alles ist zusammengefaßt in dem Einen: Es ist der Wille des Vaters. O Ihr, die Ihr Euch so tief erniedrigt, so tief gedemüthigt glaubt durch euer Leiden, wißt Ihr, daß Ihr, indem Ihr leidet, das Höchste thut, was der Mensch zu thun vermag; denn was gibt es Höheres, als den Willen des Vaters zu vollbringen? Es war sonst sein Wille, daß Ihr manches Glück, manche Freude genösset, daß Ihr in erfolgreicher Thätigkeit eure Kräfte übtet; jetzt ist es sein Wille, daß Ihr leidet; er sey Euch eben so theuer; dieser Beruf erscheine Euch eben so ehrenvoll als der frühere. Versinkt nicht in allzugroßes Mitleid mit Euch selbst; ermuntert Euch durch den Gedanken, daß Ihr jetzt vielleicht den erhabensten Theil eurer Bestimmung vollbringt. Und wenn weichherzige Freunde Euch beklagen, und über Euch weinen, so ruft ihnen zu: Wisset Ihr nicht, daß ich seyn muß in dem, das des Vaters ist? Betet für uns, daß wir seinen Willen ganz und freudig vollbringen.

Es ist vollbracht! Dieß waren die letzten Worte Christi, mit welchen er starb. Wir haben mit den ersten Worten angefangen, welche die Schrift von ihm anführt; laßt uns schließen mit diesen letzten. Waren die ersten die Richtschnur unsers Lebens, so werden wir es mit diesen letzten beendigen können. Es ist vollbracht; das Kind Gottes hat seinen Lauf hienieden vollendet, und geht nun ein zum Hause des Vaters. Es ist vollbracht; wir verlassen den Tempel Gottes, den wir uns hienieden erbauten, und sein höheres Heiligthum nimmt uns auf. Es ist vollbracht; wo wir Gottes Werk vollbrachten, da sey Er dafür gepriesen, und für unsere Mängel möge das Verdienst seines Sohnes, welcher den Willen des Vaters vollkommen erfüllt hat, uns Verzeihung erwerben! Amen.

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