Theremin, Franz - Von der Kreuzigung des Christen.

Theremin, Franz - Von der Kreuzigung des Christen.

1828.

Matthäi. K. 10. V. 38.
Wer nicht sein Kreuz auf sich nimmt, und folget mir nach, der ist meiner nicht werth.

So bin ich also berufen die Fastenzeit des Jahres achtzehn hundert acht und zwanzig unter Euch durch die Predigt des göttlichen Wortes zu eröffnen. Ich fühle die Größe dieses Berufs; denn welch ein wichtiger Abschnitt ist nicht ein Jahr in einem Leben, das höchstens siebzig bis achtzig Jahre dauert; und in dem Jahre ist wiederum keine Zeit wichtiger als die welche wir jetzt beginnen, in welcher wir so große Gnaden und Segnungen erwerben, oder auch, durch das Verschmähen derselben, so große Strafen uns zuziehen können. Der Herr hat in dieser Zeit Vieles mit euerm Herzen zu reden, und Ihr müßt wohl aushorchen, daß Ihr keines seiner Worte verliert. O möchte er doch auch mich, der ich ihm in großer Schwachheit diene, einige dieser Worte finden, und sie durch mich an Euch gelangen lassen!

Ein solches Wort glaube ich aber in dem Ausspruch des Herrn gefunden zu haben: Wer nicht sein Kreuz auf sich nimmt und folget mir nach, der ist meiner nicht werth. Ihr seyd gekommen, ihn und sein Kreuz zu betrachten, wie er es auf sich nimmt, wie er damit den Berg hinangeht, wie er daran genagelt wird und daran stirbt. Aber das ist nicht genug; auch Ihr sollt euer Kreuz auf Euch nehmen, auch Ihr sollt es tragen - und zu welchem Zweck? Um daran zu sterben! Wozu anders trägt man denn das Kreuz als um daran zu sterben? Ihr sollt sterben, Ihr sollt Euch kreuzigen, das ist das große Wort, das der Herr Euch zu sagen hat, und das er Euch durch mich verkündigen läßt. Ihr sollt sterben, Ihr sollt Euch kreuzigen: das ist das große Werk und Geschäft, das Ihr in dieser heiligen Zeit betreiben sollt. Gewähre mir der Herr, den Widerstand zu besiegen, den das Leben dieser Forderung entgegen setzt, indem ich heute mit Euch von der nothwendigen Kreuzigung des Christen rede, um Euch zu zeigen, erstlich, was darunter verstanden wird; zweitens, durch welche Mittel sie vollbracht werden kann; drittens, wie groß ihre Herrlichkeit sey.

I.

Bei einer Lehre die für Fleisch und Blut so hart und so fürchterlich ist, wird es nothwendig seyn, einen festen Grund zu legen, und uns, bei dem ersten Schritt den wir thun, auf helle und deutliche Zeugnisse des göttlichen Wortes zu berufen. Ich stelle also fest - was die Schrift uns versichert, und was von allen gläubigen Christen zugegeben werden muß - daß das vollkommene Leben, wohin wir gelangen sollen, ein solches ist, wo Christus in uns lebt, und wir in ihm leben. Er will kommen mit dem Vater, verheißt er selbst, und Wohnung bei uns machen; Christus ist mein Leben, ruft Paulus; und derselbe Apostel betheuert: Ich lebe, nun aber nicht ich, sondern Christus lebet in mir. Daraus aber schließe ich: Alles was nicht zu dem Leben Christi in uns gehört, Alles was ihm widerstrebt, mit ihm unverträglich ist, das muß ertödtet werden und untergehn - und dieß ist es was unter der nothwendigen Kreuzigung des Christen verstanden wird. Untergehn sollen also erstlich in Euch Fleischeslust, Augenlust und hoffährtiges Leben, das heißt, das Verlangen nach den Freuden, Gütern und Ehren dieser Welt. Denn was hat Christus, ich frage Euch, zu schaffen mit der lebhaften Neigung zu jenen Freuden, Zerstreuungen, von denen Ihr uns immer wiederholt, daß sie erlaubt, anständig und Bestandtheile der feineren Geselligkeit sind, und die es auch immerhin seyn können, ohne daß darum eure Unruhe, wenn Ihr sie entbehrt, und eure Trunkenheit, wenn Ihr sie genießt, weniger sündlich wären? Wie kann Christus in ein Herz einziehn, das er angefüllt findet mit den wechselnden verworrenen Bildern, die Ihr von dem Tummelplatze der Welt zurückbringt, und mit den Regungen, die sich daran knüpfen? Was hat Christus, der da will daß man irdische Güter als Mittel zu geistiger Wirksamkeit und zur Bethätigung brüderlicher Liebe benutze, was hat er zu schaffen mit allen jenen Anschlägen zur Vergrößerung und Verschönerung des Eigenthums; wie kann er Wohnung machen in einer Seele, wo vor lauter Planen, Berechnungen, Häusern, Gärten, kein Raum mehr bleibet selbst für ihn? Was hat Christus zu schaffen mit dem Durst, mit dem Verlangen nach einer Ehre, die nicht die seine ist, nicht mit der seinigen in Verbindung sieht, sondern die oft auf Unkosten derjenigen gesucht wird, die er in seinem Reich ertheilt? Dieß Alles, merkt es Euch, muß sterben und untergehn. - Ich dachte, spricht hier Einer, nur die Sünde sollte sterben. Wie, gibt es denn für Dich keine andere Sünden als grobe Verbrechen; siehst Du nicht ein daß Alles was wir bezeichneten, weil es sich mit dem Leben in Christo nicht verträgt, auch Sünde, und eben deshalb zu tödten und zu kreuzigen ist? - Würden wir doch endlich einmal, denkt ein Anderer, mit den schon so oft gehörten Strafreden gegen Vergnügungssucht, Habsucht und Ehrgeiz, verschont! Das hängt lediglich von Euch ab; ertödtet diese Neigungen; und von dem Augenblicke an soll nicht mehr die Rede davon seyn. Ich frage Euch aber, Ihr Gläubigen, Ihr Ungläubigen; Ihr Bekehrten, Ihr Unbekehrten - ist dieß geschehn? Seht, man nähme Euch auf einmal alle eure Freuden, Güter, Ehren: nicht wahr, der Schnitt würde schmerzen? Und warum schmerzen, als weil noch eine heftige Neigung vorhanden ist?

Dieß aber war nur die äußerlichste, gröbste Hülle des natürlichen Menschen; und unter ihr liegen noch manche andere, tiefere und feinere, die ebenfalls abgestreift werden müssen. Der selbstsüchtige Genuß den die Mehrzahl aus irdischen Freuden und Gütern schöpft, der wird von Einigen in geistigen Dingen, in Ausübung der Pflichten, und in den Gefühlen der Frömmigkeit gesucht! Was soll denn aber hier wegfallen, was soll ertödtet werden? Ist es etwa die Erfüllung der Pflichten, sind es etwa die Gefühle der Frömmigkeit selbst? Da sey Gott vor! Nur das Selbstsüchtige, das sich an beides gehängt hat, soll sterben. Seht Ihr nicht ein daß ein großer Unter schied ist, ob ich mich freue, daß die Ehre des Herrn durch ein Werk das ich vollbracht habe, vermehrt worden ist; oder ob ich mich freue, daß nun gerade ich es bin, der dieses Werk vollbracht hat? Die erste Freude soll stehen bleiben; die zweite soll untergehn; denn in dieser ist es nicht der Herr, sondern das eigene Ich das in mir lebt. Ist es nicht ein großer Unterschied, ob ich meinem Gemüthe die gerade, feste Richtung auf Christum gebe, nichts verlange als ihn, und im Bewußtseyn ihn zu haben, Alles was er mir geben will, Erquickung oder Trockenheit, gleich dankbar annehme; oder ob ich zuerst meinen Trost, meine Erquickung, meine Beruhigung suche, und Christum nur, in so fern er dieß Alles mir gibt? Ist diese letzte Richtung nicht bei vielen unserer jetzigen Christen vorherrschend? Sind sie dadurch nicht den Jüngern ähnlich, die sich zwar der reichen Gaben freueten, die der Herr ihnen bei dem Abendmahl spendete, ihn aber verließen, als es gen Golgatha ging, wo seiner und ihrer Seele nur Trauer bevorstand? Und ist dieß nicht ein feinerer Eigennutz? Muß das natürliche Leben, das hier vor dem Leben Christi vorherrscht, nicht ertödtet werden?

So war wieder eine Hülle weggeworfen; doch wir dürfen das Schwert welches Seele und Geist scheidet, noch nicht aus der Hand legen. Jetzt kommen die Neigungen an die Reihe, die unter allen natürlichen die schönsten sind, die zu empfinden schon allein für einen großen Ruhm gerechnet wird, die Neigungen zu dem Wirkungskreise, den Freunden und Angehörigen. Auch diesen Gefühlen sollten wir entsagen? fragt Ihr. Nein, das sollt Ihr nicht; Ihr sollt nur aufhören in diesen Gegenständen Euch selbst, und sollt anfangen in ihnen Christum zu lieben. Aber gibt es hier nicht noch ein Drittes, sagt hier Jemand um sich zu entschuldigen; kann ich nicht diese Gegenstände um ihrer selbst willen lieben?

Leere Ausflucht! Einen einzigen Gegenstand gibt es, den wir um sein selbst willen lieben können, das ist der Herr; alles Andere lieben wir nur um seinet- oder um unsertwillen. Ach leider! wenn wir Freunde, Angehörige und Kinder lieben, so geschieht's oft nicht um des Herrn, sondern um unsertwillen. Deshalb lieben wir sie so schlecht, so kalt, so lau; deshalb wird unsere Zufriedenheit in diesen Verhältnissen oft durch so elende Kleinigkeiten verkümmert. Weg mit dem was dem Ich in dieser Liebe angehört; es werde ertödtet, es sterbe. Soll Christus in uns leben, so muß Er es auch senn der in uns den Gatten und die Kinder liebt; so müssen wir sie in ihm, um seinetwillen lieben, und indem wir diese Verhältnisse leiten, seine Ehre und nicht unser Glück vor Augen haben. O Ihr unsere Angehörigen, wie viel, werdet Ihr dabei gewinnen; und wie viel bessere Väter, Mütter, Kinder, Brüder und Schwestern als bisher, werden wir für Euch seyn, wenn es der Herr ist, der Euch in uns liebt, und nicht mehr das eigene Ich!

Wohin flüchtet sich weiter das selbstsüchtige Leben? In ein geheimes Vertrauen, das wir nicht aushören in uns selbst zu setzen, und in das Verlangen nach einer Sicherheit, die wir nicht von dem Herrn, sondern von uns selbst erwarten. Wir berechnen die Wendung die unser Schicksal nehmen kann; zeichnen uns einen Weg vor, den wir für den besten und heilsamsten halten, und wollen nun keinen andern gehen als diesen, weil wir bei demselben allein ein festes Ziel im Auge haben, und bei einem andern nicht wüßten, wohin er uns führen konnte. Berechnet und überlegt, so viel Ihr wollt oder vermögt; aber wenn der Herr Euch nun zeigt, daß seine Gedanken nicht die euren sind, und daß er ganz andere Wege mit Euch gehen will, als die welche Ihr Euch vorgezeichnet habt, möchtet Ihr doch alsdann jedes Vertrauen auf Euch selbst, jedes Verlangen, ein bestimmtes Ziel ins Auge zu fassen, ertödten und aufgeben, und folgen blindlings wie Abraham, da er auf des Herrn Befehl sein Vaterland verließ, ohne zu wissen, wohin er geführt werden sollte. Ihr möchtet ein gewisses Maaß geistiger Kraft in Euch sammeln, das Euch die Sicherheit gewährte, allen künftigen Anforderungen Genüge zu leisten, und in allen künftigen Prüfungen zu bestehen. Uebt Euch in jeglicher Tugend, das ist der Wille des Herrn an Euch; aber wenn die Stunde kommt, wo Ihr einer größeren Kraft bedürft, so meint nicht, euch diese durch die früheren Anstrengungen erworben zu haben; ertödtet euer Selbstvertrauen; und erwartet von dem Herrn allein die Kraft, die Ihr nöthig habt, wie die gläubigen Israeliten an jedem Tage aufs Neue das Manna erwarteten, das nicht von dem einen bis zu dem andern bewahrt werden durfte. - Diese Aufhebung aller eigenen Sicherheit, um nur in dem Herrn sicher zu ruhn, ist schon eine ziemlich tief gehende Kreuzigung; und es läßt sich erwarten, daß wer so weit gegangen ist, auch die noch tiefer liegenden Hüllen, sobald der Herr ihm darüber Licht gibt, abstreifen und wegwerfen wird.

II.

Zweitens: Wie wird diese Kreuzigung an uns vollbracht? Durch mannigfaltige Mittel, welche die Gnade des Herrn anwendet; denn er, der sich für uns kreuzigen ließ, will uns auch selber kreuzigen, und zeigt uns seine Liebe durch das letzte fast eben so sehr als durch das erste. Er will es so, und hat es dergestalt geordnet, daß wir täglich dem Körper nach sterben, und dieß sollte für uns eine Aufforderung seyn, auch täglich in unserm Innern zu sterben. Ist dasjenige, was wir eine Entwickelung des äußern Lebens nennen, nicht auch zugleich eine Entwickelung des Todes, dessen Keim dem Keime des Lebens beigesellt ward? Ist jeder Schritt, den der Knabe und Jüngling hinein thut in das vollere, mehr bewegte und thätige Leben, nicht auch ein Schritt durch welchen er sich dem ihm gesteckten Ziele des Todes nähert? Ist nun vollends der Gipfel, die Mitte des Lebens, erreicht: wandelt man alsdann nicht schnelleren Schrittes hinab in das dunkle Thal des Todes, und zeigt sich nicht täglich das Uebergewicht, welches dieser über das Leben gewinnt? Krankheiten und Schmerzen sendet er als seine Vorboten voran, und verkündigt, durch die zunehmende Ermattung der Glieder, das Herannahen des Augenblicks, wo er sie ganz kalt und leblos auf die Erde hinstrecken wird. So geschieht in dem Körper täglich, was in ihm geschehen muß, er stirbt. Die Seele wird es gewahr; sie betrachtet oft mit Wehmuth das Hinwelken ihres irdischen Gefährten. O sollte es ihr nicht auch eine Aufforderung seyn, dem Beispiele des Körpers zu folgen, und alles Leben in ihr, das nicht aus Gott ist, fallen und sterben zu lassen?

Wie der Körper, so stirbt auch täglich um uns her das Ganze von Personen und Dingen, das wir die Welt nennen. Wo ist die Welt, die wir vor zehn, zwanzig Jahren kannten, und mit welcher damals jener zum Untergang bestimmte Theil unseres Lebens verflochten war? Die Menschen, die dazu gehörten, sind in's Grab gesunken, die Verhältnisse haben sich umgestaltet; was damals für einen Gegenstand der Bewunderung und einen Quell der Freude galt, hat diesen Einfluß, diese Kraft verloren. Und wir, Trümmer einer früheren Welt, wir gehen noch unter der jetzigen mit eben den Sorgen, Wünschen und Leidenschaften wie sonst, einher? Ach, sollten unsere Sorgen und Wünsche nicht gestorben seyn mit den Gegenständen, durch welche sie sonst erweckt wurden? Sollten unsere Leidenschaften nicht ruhen, wie diejenigen die wir sonst haßten und liebten, nun schon längst im Grabe ruhn und schlafen?

Doch dieß Kreuz ist noch viel zu gelinde, und wir sehen daß manche es Jahre hindurch ertragen, ohne daran zu sterben; und daß der natürliche Tod sie ereilt, ohne daß ihm der geistige vorangegangen sey. Es darf daher nicht befremden, daß der Herr sich noch einer schärferen Kreuzigung bedient, die das Leben mehr in seinen Tiefen angreifen soll. Er gibt uns das was uns gleichgültig oder beschwerlich ist; Ehre mit ihren Lasten und Bürden demjenigen, dem es nur um stilles, gemächliches Leben zu thun war; ein niedriges und verborgenes Loos dem Ehrgeizigen; Einsamkeit, wenn wir Zerstreuung, und Zerstreuung, wenn wir Einsamkeit begehrten. Er versagt uns streng, unerbittlich grade das, worauf unsere heißesten Wünsche gerichtet waren. Oder er gibt es uns; aber nur, um uns, wenn wir es eine Zeitlang besessen haben, dann tödtlich zu verwunden durch die sich aufdringende Erkenntniß, daß es kein wirkliches Glück gewesen sey, und daß wir es nur aus Irrthum dafür hielten; oder um, wenn es sich als ein wahres Glück bewährte, und von uns immer fester mit den Armen unserer Liebe umschlossen ward, es uns dann auf einmal zu nehmen, das damit verwachsene Herz zu zerreißen, und das Leben, insofern es noch der Erde und nicht dem Himmel zugewendet ist, gänzlich zu zerstören. Auf diese Weise wurden die Freunde Christi gekreuzigt, als er am Kreuze hing, und sie starben, während er starb. Keine Liebe auf Erden war jemals größer gewesen, als diejenige die er für die Seinigen hegte; und auch unter den Seinigen gab es solche, die ihn liebten, so sehr nur ein menschliches Herz zu lieben vermag: dieß waren namentlich diejenigen, die durch ihre Treue, zu seinem Kreuze hingezogen, und zu nahen Zuschauern seines Todes gemacht wurden. Diese frommen Herzen waren vielleicht noch nicht von aller Neigung zu irdischen Dingen, von aller Empfindlichkeit für Lob und Tadel, Besitz und Verlust, Freude und Schmerz befreit: sie konnten, sie mußten es werden, durch die Marter Christi, die sich ihnen mittheilte, durch das zweischneidige Schwert das sie durchdrang, um die Ueberreste des eigennützigen Lebens bis in den Tiefen ihrer Herzen aufzusuchen. Der von dem ganzen Volke, vor dessen Angesicht er wandelte, gepriesene; der, für den selbst der Haß seiner Feinde ein glänzendes Zeugniß ablegte; der, in welchem sie, als seine Freunde, sich selbst gelobt und gepriesen fühlten - über diesen wird ein Maaß schmachvoller Qual und quälender Schmach ausgegossen, wie es die ausschweifendste Einbildungskraft in dem entsetzlichsten Traume wohl schwerlich mit seiner Person in Verbindung gesetzt hätte. In einem Triumph, den seine Milde und Demuth nur noch mehr verherrlichten, war er vor wenigen Tagen in Jerusalem eingezogen: jetzt zog er hinaus, und trug das Kreuz. Die Menschen die ihn umgaben, wollten nicht seiner Lehre horchen, nicht durch wunderbar vervielfältigtes Brot von ihm gespeiset werden, nicht ihm Kranke bringen, daß er sie heilte - sie wollten ihn sterben sehn. Die segensreichen Hände, die Füße die sich zum Wohlthun ermüdet hatten, werden von Nägeln durchbohrt - und nun beginnt sein langsames Sterben. Das Leben kämpft viele Stunden hindurch mit dem Tode, und zieht sich mehr und mehr vor seinem Andrange zurück; in die Augen - doch nun sind auch diese erloschen; in den Mund - doch nun hat auch dieser gerufen: Es ist vollbracht! und redet nicht mehr; in das göttlich liebende Herz - doch nun hat auch dieses zu schlagen aufgehört. Indessen sind auch Maria, die heiligen Frauen, und Johannes, ob sie gleich am Leben blieben, eines langsamen Todes gestorben. Ihre Seele lebt nur noch in derjenigen ihrer Kräfte mit der sie zu Gott emporstreben, um sich an ihm festzuhalten, daß sie nicht in Verzweiflung untergehn; allen anderen Kräften und Neigungen nach sind sie gestorben. Sie sind der Welt gekreuzigt, und die Welt ist es ihnen; denn in der Welt, wo das Einzige, das eine grenzenlose Liebe verdiente, so furchtbar untergegangen ist, kann hinfort nichts mehr sie reizen und locken. Auch wir haben ihn sterben sehn; - denn die Entfernung der Zeit und des Ortes sind nur geringe Hindernisse, die von denen die ihn lieben, leicht besiegt werden können; wir haben seine Qualen und seinen Tod mitgefühlt - Und wir leben noch? unser Herz, nachdem es hier durch die Vergegenwärtigung der Leiden Christi gebrochen ward, kann noch so empfänglich als das Herz aller anderen Menschen für den Einfluß irdischer Dinge seyn? Auch andere Menschen haben wir sterben sehn, und andere theure Güter verloren; - der Herr verzeihe mir diesen Uebergang; ich bin mir des Abstandes, der so groß ist als der zwischen Himmel und Erde, wohl bewußt! - auch dieß war ein Schlag der alle niederen Kräfte und Neigungen traf und tödtete; und nur die Kraft leben ließ, durch welche wir uns zu Gott erhoben, und die Verbindung mit ihm unterhielten. Diese sollte also, nach solchen Erfahrungen, allein in uns übrig bleiben. Aber wehe uns! wehe uns! daß sie sobald ermattet; und daß die niederen Kräfte und Neigungen, die nur betäubt und nicht ertödtet waren, wieder erwachen; daß die Verbindung mit Gott so bald aufgehoben, und die Gemeinschaft mit der Welt wieder erneuert wird!

Also das Leiden, und selbst auch das Leiden Christi, wenn wir es nur als ein rührendes Schauspiel bettachten, hat noch nicht, wenigstens nicht in uns, diese ganz ertödtende Kraft für die Selbstliebe. Allerdings liegt aber auch in dem Leiden Christi ein viel tieferes Geheimniß. Kommt, ich führe Euch zu seinem Kreuze zurück; dieß Geheimniß wollen wir ergründen, und dann wird es uns gelingen mit ihm zu sterben. Opfer sind dargebracht worden von Alters her, und es verknüpfte sich mit ihnen der Gedanke daß die Sünden eines größeren Ganzen auf ein einziges Haupt geladen, durch die Leiden eines einzigen abgebüßt werden könnten. Die Schatten sollten endlich vor der Wahrheit, und die Zeichen vor der Erfüllung schwinden. Es kam ein Gottmensch, ein Heiliger, der sich darstellte zum Opfer als ein unschuldiges und unbeflecktes Lamm; der fähig war ein unendliches Leiden zu empfinden, und durch dieses eine unendliche Schuld zu büßen. Er brachte es, dieß Opfer das ewiglich gilt; er ward ein Fluch für uns, daß er uns erlösete von dem Fluch des Gesetzes; er, der von keiner Sünde wußte, ward zur Sünde gemacht, auf daß wir würden in ihm die Gerechtigkeit die vor Gott gilt. Ihr freuet Euch? Wartet! Bis zur Freude sind wir noch nicht gekommen; durch einen bittern Schmerz müssen wir uns den Weg zu ihr bahnen; denn der, welcher stirbt, uns zu erlösen, erklärt uns zugleich durch seinen Tod für Sünder, die ohne diesen Tod die Beute der Verdammniß wären. Wir fühlen ihn ja diesen Schmerz, sprecht Ihr; wir weinen über unsre Sünden. Und in der That, ich sehe Viele die am Kreuze Christi in Thränen zerfließen, die mit den Händen auf ihre Brust schlagen, und sprechen: Gott sey mir Sünder gnädig. Ich sehe viel der Reuigen, aber nicht viel der Erstorbenen, und selbst eine gewisse Wollust, die sie bis in ihrem Schmerze empfinden, verräth noch daß zu viel sinnliches Leben in ihnen ist. Sie klagen, worüber denn eigentlich? Eigentlich darüber, daß ein so vortreffliches Wesen als sie, so große Fehler hat, und so schwer sündigen konnte. Sprecht! ist es nicht so? Also mitten in der Selbstverdammniß, noch eine Selbstvergötterung! Die Verdammniß muß bleiben; und die Vergötterung muß schwinden! Wäre in uns nur das mindeste Gute, das gegen das Böse auf die Wagschaale gelegt werden könnte, wozu denn jenes Kreuz und der Tod des Herrn? Wähntet Ihr also noch einen, ganz geringen Anspruch auf eigene Werthschätzung zu haben, so gebt auch diesen auf. Erkennt eure Sünden; aber außerdem nichts Anderes in Euch; jene sind etwas; alles Andere das Ihr für etwas hieltet, ist nichts. Ihr weigert Euch, so weit zu gehn? Ihr fangt an, gegen Schwärmerei und Uebertreibung zu murren? Ach! ich weiß es ja wohl selbst, daß hier das letzte Bollwerk des eigenen Lebens ist, daß es hier verzweifelten Widerstand leistet; aber ich möchte, daß Ihr ihn alle durch die Kraft des Todes Christi überwändet! Wenn ich in menschlichem Auftrage hier stände, so würde ich auch menschliche Worte zu Euch reden, und Euch sagen, daß Ihr fromme Jünglinge und Jungfrauen, gottesfürchtige Männer und Weiber send. Aber ich erscheine hier als Verkündiger Jesu Christi des Gekreuzigten; ich schaue ihm in sein sterbendes Angesicht; und so kann ich Euch nur sagen: Ihr seyd nichts, gar nichts. O während ich diese Worte mit meiner schwachen Stimme Euch zurufe, möchte die Gnade sie Euch mit unwiderstehlicher Kraft in das Herz drücken, möchtet Ihr sie Euch mit völliger Zustimmung wiederholen! Wer da fühlet daß er nichts als ein Sünder ist, der ist wahrhaft vernichtet, der ist todt.

Und die Herrlichkeit dieses Todes ist groß! Herrlich vor allen leuchtet in der Geschichte des Christenthums das Beispiel derjenigen, die in Zeiten der Verfolgung sich durch das Bekenntniß ihres Glaubens dem Tode weihten, und ihm mit Freuden entgegengingen. Das natürliche Leben, die Neigung zu demjenigen, was wir besitzen und lieben dürfen, es mochte wohl eine Zeitlang in ihnen mit dem Leben Christi und der Gnade gekämpft haben; aber gezwungen zwischen Christo und dem Leben zu wählen, wählten sie Christum, und gaben das Leben hin. Welch ein Entschluß! Und welche Standhaftigkeit ihn während einer oft lang ausgedehnten Marter zu behaupten! Von Ihm, der in ihnen mächtig war, empfingen sie die Kraft die wir bewundern. Was nun auf dieses Märtyrerthum zunächst an Herrlichkeit folgt, das ist jene innere Kreuzigung und Ertödtung, zu der wir Euch auffordern. Mußte diese in dem wahren Märtyrer als eine Vorbereitung zu seinem Opfer Statt finden, so sind auch wir durch diese innere Kreuzigung dem Märtyrer ähnlich. Er starb Einmal - wir sterben täglich; er starb unter furchtbaren Schmerzen - aber auch in uns ist dieser sich stets erneuende Kampf mit den Neigungen, dieß Ertödten des stets wiedererwachenden, dieß Verfolgen des sich weiter und weiter zurückziehenden Lebens; dieß beständige Scheiden und Trennen dessen was dem Herrn, und was dem Ich angehört; dieß Wandeln und Folgen, ohne zu wissen wohin; dieß Verzweifeln an der eigenen Kraft um die Kraft Christi zu gewinnen - auch in uns ist dieß mit großen Schmerzen verbunden. Aber eben darum ist es herrlich! Wenn man alle Dinge hienieden untersucht, und in Rücksicht der Herrlichkeit und Größe mit einander verglichen hat, so findet sich endlich, das Größte unter allen sey der Schmerz, sey das Kreuz; das größte Schauspiel das wir haben können - sey Christus, der das Kreuz trägt, und daran stirbt; das wohlgefälligste Schauspiel, das wir Christo geben können - sey, ihm sein Kreuz nachzutragen, und mit ihm zu sterben.

Durch dieß Sterben, und nur durch dieß allein, gelangen wir zur Ruhe. Nicht die ganz in Sünden versunkenen Menschen sind es, die von der furchtbarsten Unruhe gequält werden; gewöhnlich schlafen sie am Rande des Abgrunds in völliger Ruhe und Sorglosigkeit; es sind diejenigen, in denen das Leben in Christo zu dem sie wiedergeboren wurden, mit dem noch nicht ganz unterdrückten natürlichen Leben kämpft. Diese wissen oft gar nicht ihren eigenen Zustand zu beurtheilen, noch für die Marter die sie quält, die rechten Heilmittel anzuwenden. Es scheint ihnen oft, sie wären schon weit genug in der Entsagung gegangen; und es sey nicht nöthig, sich noch mehr als sie es schon gethan haben, von allen Gegenständen der natürlichen Neigung loszureißen. Aber bei dieser Halbheit läßt ihnen die eifersüchtige Liebe des Herrn keine Ruhe; er erregt ihnen furchtbare Schmerzen, er stürzt sie in unerträgliche Schwermuth, um sie auf dem einzig heilsamen Wege des Kreuzes immer weiter vorwärts zu treiben. Und nun suchen sie wohl gar noch Erquickung in irdischen Dingen! Arme Getäuschte, wozu kann diese Erquickung Euch dienen, als das natürliche Leben zu verstärken, und den Kampf eures Innern, sammt allen seinen Qualen zu verlängern? An das Kreuz seyd Ihr schon geheftet; der Herr läßt Euch nicht los; und Ihr wünscht auch nicht einmal los zu kommen; Ihr habt angefangen zu sterben; was bleibt Euch denn übrig, wenn Ihr eurer Marter ein Ende machen wollt, als gänzlich und vollständig zu sterben? Was Johannes, und die heiligen Frauen, und die Mutter Christi, als sie sein Kreuz umringten, ohne Zweifel gewünscht haben, daß sein Herz endlich still stehen, und von seiner Arbeit ausruhen möchte, das muß man Euch die Ihr mit Christo gekreuzigt wurdet, und, wie Er, im Sterben begriffen seyd, ebenfalls wünschen. Hat das höhere Leben gesiegt, und ist das niedere erstorben, dann kommt eine süße Ruhe über das Herz, wie sie über das Angesicht dessen zu wehen scheint, der mit einem tiefen Seufzer seinen Todeskampf vollendet hat. Wie Sonnenschein und Regen, Frühlingslüfte und Sturmwind über die Gräber hingehn, ohne durch diesen Wechsel die tiefe Ruhe der Todten zu stören, so gehen auch dann Freude und Trauer, und all die mannigfaltigen Schickungen des Lebens hin über das Herz, und stören es nicht in der Ruhe seines seligen Todes.

Diese Todesruhe ist jedoch nicht das Letzte was wir suchen, sondern sie ist für uns nur ein Durchbruch zum Ziele unserer Wünsche, zu dem Leben in Christo. Jetzt sind wir vom Tode zum Leben hindurchgedrungen; jetzt sind wir gestorben, und unser Leben ist verborgen mit Christo in Gott; jetzt bietet unser Herz ihm eine Stätte dar, in welche er einziehen und Wohnung machen kann; jetzt schweigt das Getümmel um uns her, so daß wir im Stande sind, seinen leisen Fußtritt, wenn er uns naht, und sein Anklopfen an der Thür zu hören. Sonst lebten wir in und mit der Welt; jetzt leben wir in und mit ihm. O es ist keine Täuschung, kein Spiel der Einbildungskraft dieß Leben in und mit Christo; es ist etwas Wahres und Wirkliches; es hat seine Stufen, seine Ereignisse, seine Freuden und Leiden. Schon auf der untersten dieser Stufen sind wir nicht ungeschickt zum Himmel, und der Herr reicht uns seine Hand, daß wir eine nach der andern ersteigen, und uns mehr und mehr dem Himmelreich nähern. Diese Begebenheiten sind der Welt nicht bekannt; sie bleiben ein Geheimniß zwischen uns und dem Herrn, aber sie sind wichtiger als alles was uns von Außen geschah. Diese Freuden kommen von oben herab, und entzünden in dem Herzen das Brennen einer heiligen Andacht in welchem alle seine Kräfte sich nach Oben erheben. Diese Leiden sind zwar zuweilen sehr tief und schmerzlich, und eine Finsterniß ähnlich derjenigen die das Kreuz Christi umgab, kann alsdann in der Seele herrschen; aber es ist eine göttliche Trauer, durch welche man noch schnelleren Schrittes als selbst durch die heiligste Freude, der Seligkeit naht. So viel sich von dem äußern Leben, von seiner Thätigkeit, seinen Freundschaften, seinem Wechsel, seinen Freuden und Leiden mit jenem höheren Leben vereinigen läßt, so viel wird in dasselbe aufgenommen. Aber in den Freunden lieben wir jetzt nicht mehr uns, sondern den Herrn; aber die irdische Thätigkeit stört nicht das Leben in Christo und wird durch seine, nicht durch unsere Kraft vollzogen; aber der Wechsel erhebt und stürzt uns nicht mehr, zieht nicht über uns, sondern unter uns hin; aber die Freuden werden zu Schmerzen, weil der Herr ihnen sogleich das heilsame Gegengewicht der Demüthigung gibt, und die Schmerzen werden zu Freuden, weil sie uns fester mit dem Herrn verbinden.

III.

Noch Eins und zwar das Größte wollen wir rühmen von diesem Tode und von diesem Leben, nämlich daß sie die beste Vorbereitung sind, dieser Tod zum wirklichen Tode, und dieses Leben zum ewigen Leben. Wer gut sterben will, der muß schon gestorben seyn; wer selig leben will, der muß schon selig gelebt haben. Um gut zu sterben, müssen wir Alles was uns dann entzogen wird, Leben, Leib, Güter, Angehörige, Freunde, auch selber loslassen und hingeben; und damit dieß alsdann ganz freiwillig, ungezwungen geschehe, muß es schon früher geschehen seyn; wir müssen schon während wir jene Gegenstände besitzen, von ihnen getrennt seyn, um die letzte Trennung zu ertragen; wir müssen sie nur um des Herrn willen lieben, wenn wir sie ihm als freudiges Opfer darbringen sollen. Kann der Tod uns noch Vieles nehmen, so werden wir immer vor ihm erschrecken; haben wir uns aber selbst schon so entblößt, daß uns nichts mehr entrissen werden kann, dann mag er kommen und zugreifen, wir lassen es gern geschehen. Und wer, ich frage Euch, wer kann eine volle Gewißheit haben von dem zukünftigen Leben, von diesem Leben, wo Christus der einzige Mittelpunkt, um den wir uns bewegen, wo das Anschauen seiner Herrlichkeit die einzige Quelle unsrer Freude seyn wird? Wer kann hoffen, daß er dort eine ganz genügende Seligkeit finden wird? Wer anders als der, welcher schon diese Seligkeit genoß, und schon hier sich daran genügen ließ. Tod, Seligkeit, ihr möget kommen für den, der schon hier mit Christo gestorben ist, und in ihm gelebt hat; er kennt euch beide; und er wird weder vor dem Dunkel des einen, noch vor dem Glanze der andern erschrecken. So laßt uns denn hingehn - doch schon jetzt bietet sich uns, den Genossen des Abendmahls, eine Gelegenheit, die so eben empfangenen Lehren in Ausübung zu bringen. Unsere Buße, durch die wir uns zu dieser heiligen Handlung vorbereiten, sey ein Sterben, bei welchem wir alles Vertrauen auf uns selbst ertödten, bei welchem wir selbst auf unsere lebhaften Gefühle keinen zu hohen Werth legen, und nur das Gefühl unseres Nichts und das Verlangen nach einem höhern Leben in uns übrig lassen. Bringen wir dem Herrn dieß Gefühl unseres Nichts, so werden wir von ihm die größte der Gaben empfangen, Ihn selbst, der das Leben ist, und unsere Kreuzigung wird durch ein höheres Leben belohnt werden. - So laßt uns denn hingehn, sage ich, und täglich sterben, damit täglich das Leben in uns neue Kräfte gewinne. Wenn es dann wirklich zum Sterben kommt, wenn wir uns - und ich hoffe nicht ohne Freude! - dem wirklichen Tode und dem ewigen Leben nahe fühlen, dann denkt wohl mancher an die Zeit zurück, wo er sich zur Kreuzigung des alten Menschen entschloß, und spricht: Heil mir! Damals habe ich sterben, damals habe ich leben gelernt! Amen.

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