Theremin, Franz - Der gute Hirt und die Heerde.

Theremin, Franz - Der gute Hirt und die Heerde.

Evangelium Johannes, K, 10, V. 27. 28.
Meine Schaafe hören meine Stimme, und ich kenne sie, und sie folgen mir; Und ich gebe ihnen das ewige Leben, und sie werden nimmermehr umkommen, und Niemand wird sie mir aus meiner Hand reißen.

Ist es nicht als ob der Herr Alles, was in unserer Verbindung mit ihm Beseligendes, Trostreiches, Beruhigendes liegt, habe ausdrücken wollen, wenn er in diesen unaussprechlich süßen und theuern Worten von seinen Schaafen sagt: Ich gebe ihnen das ewige Leben, und sie werden nimmermehr umkommen, und Niemand wird sie mir aus meiner Hand reißen?

Da jedoch in jedem Verhältnisse eine gewisse Gegenseitigkeit Statt finden muß, da der Vater gegen den Sohn, der Gatte gegen die Gattin, der Freund gegen den Freund nur dann Alles erfüllen kann was er wünscht und was ihm obliegt, wenn auch der Andere dieselbe Treue gegen ihn beweiset: so stellt Christus in den vorhergehenden Worten die Bedingungen auf, unter denen allein wir die Segnungen der Gemeinschaft mit ihm einernten können. Meine Schaafe hören meine Stimme, und ich kenne sie, und sie folgen mir.

So tritt denn also unser Verhältniß zu Christo in seiner gegenseitigen Bestimmtheit uns deutlich vor die Augen: Wir sollen die gute Heerde senn, dann wird er als den guten Hirten sich erweisen. Meine Schaafe hören meine Stimme, und ich kenne sie, und sie folgen mir nach - wenn dieß von uns gilt, dann wird es auch von ihm gelten: Ich gebe ihnen das ewige Leben, und sie werden nimmermehr umkommen, und Niemand wird sie mir aus meiner Hand reißen. ´ Drei Bedingungen also und drei Verheißungen! Und zwar, wenn man es genauer ansieht, so findet es sich, daß immer die eine Bedingung der einen Verheißung entspricht. Erstlich: Meine Schaafe hören meine Stimme, und ich gebe ihnen das ewige Leben. Zweitens: ich kenne sie, und sie werden nimmermehr umkommen. Drittens: sie folgen mir nach, und Niemand wird sie mir aus meiner Hand reißen. - O guter Hirte, der uns so viel von seiner Treue verspricht, gib, daß wir, um es zu empfangen, die treue Heerde seyn mögen!

Erstlich: Meine Schaafe hören meine Stimme, und ich gebe ihnen das ewige Leben. Wenn wir Schaafe des Herrn sind, es dadurch sind, daß wir seine Stimme hören, so gibt er uns das ewige Leben. Sehr wichtig ist es also seine Stimme zu hören: aber was meint er damit?

Durch die in ihm erfüllten Weissagungen, durch die Wunder die er vollbrachte, mußten alle fromme Israeliten sich verpflichtet fühlen, ihn als einen Abgesandten des Höchsten zu verehren, seine Worte als Worte Gottes anzunehmen. Aber es läßt sich denken daß diese Worte auch für sich allein, durch ihre eigne Kraft und Lieblichkeit, sich zu manchem Herzen den Weg gebahnt haben mögen. Unter die Menge zu welcher der Herr redete, trat - wir wollen es annehmen - ein Mensch, der Christum nie gesehn, nie von ihm gehört hatte, der aber ein offenes und empfängliches Herz mitbrachte. Er horcht, er merkt auf, er folgt der Rede, ohne sich Zwang anthun zu müssen, denn in den Worten liegt eine Kraft, die ihn fesselt. Solche Lehre hat er noch nie vernommen; die ist etwas anderes als das Geschwätz der Schriftgelehrten und Pharisäer; die dringt gerade zu in Geist und Herz; befriedigt die Bedürfnisse von beiden; stimmt zu heiliger Freude, und zu nachdenkendem Ernst! Aber ist sie auch wahr und göttlich diese Lehre? Ja, sie ist es; das bezeugen Wunder und erfüllte Weissagungen; er muß sie glauben, und er glaubt sie gern, denn mit den Worten ist auch schon der Glaube in sein Herz gedrungen.

So hatte jene Frau gehört, die, als er seine Rede endigte, aus dem Haufen des Volkes ihre Stimme erhob, und rief: Selig ist der Leib, der dich getragen hat, und die Brüste, die du gesogen hast! So hatte Petrus gehört; deshalb, da der Herr ihn fragte: Wollt ihr auch weggehn? konnte er antworten: Herr, wohin sollten wir gehn? Du hast Worte des ewigen Lebens! So hörte Maria, zu Jesu Füßen sitzend, seiner Rede zu. So hörten ihn alle Schaafe seiner Heerde, die einen offenen, empfänglichen Sinn für das Wahre, das Göttliche hatten. Diejenigen aber, die diesen Sinn nicht hatten, oder vielmehr, die ihn nicht haben wollten, die dem Zuge des Vaters zu dem Sohne widerstrebten - die hatten Ohren, und hörten nicht; seine Rede ging an ihnen vorüber, wie ein leerer Schall, oder reizte sie nur innerlich zu einem sündlichen Widerstande auf. Die erfüllten Weissagungen, die vollbrachten Wunder, nichts zwang sie zu glauben, denn sie wollten sich nicht zwingen lassen. Ihr hört nicht Gottes Wort, sagt Christus zu ihnen, denn ihr seyd nicht von Gott.

Auch unter uns gibt es Viele, welche dieses Wort nicht hören, das Jesus, das sein Geist durch die Propheten und die Apostel geredet hat, das wir in der heiligen Schrift besitzen, das auch für uns durch Wunder, durch erfüllte Prophezeihungen, das durch seine Wirkungen, in so vielen verfloßnen Jahrhunderten, sich als das Wort Gottes erweiset. Für Einige scheint es gar nicht vorhanden zu seyn. Ob Gott vom Himmel herab zu ihnen geredet; ob sein Sohn, da Er auf Erden wandelte, die holdseligsten Worte gesprochen, ob er ihnen über ihr Schicksal in Zeit und in Ewigkeit die wichtigsten Aufschlüsse dargeboten habe - was kümmert sie das? Andere kümmern sich zwar darum - aber nur um es zu verwerfen. Während sie oft der Menschen Wort auf Treu und Glauben annehmen, soll Gott sich von ihnen meistern lassen, er soll nichts gesagt haben, was sie nicht auch allenfalls hätten sagen können; sein Wort wird von ihnen zermartert, bis der göttliche Sinn verschwunden, und nur ein menschlicher übrig geblieben ist. Ich bin gekommen in meines Vaters Namen, sagt Christus auch zu ihnen, und ihr nehmet mich nicht an. So ein Anderer wird in seinem eigenen Namen kommen, den werdet ihr annehmen. Was sind diese? Alles was Ihr wollt, denn es sollen ihnen keine ihrer Vorzüge streitig gemacht werden; aber Schaafe des Herrn sind sie nicht; denn es fehlt ihnen das erste Merkmal: sie hören seine Stimme nicht.

Die Schaafe des Herrn hören seine Stimme. Sein Wort ist für ihr Herz, ihr Herz ist für sein Wort gemacht, wie das Licht für das Auge, wie der Schall für das Ohr, wie diese Dinge eins für das andere gemacht sind. Es dringt in ihr Inneres, sie wissen selbst nicht wie. Es war vielleicht schon früh hineingedrungen, da sie als Kinder mit ihrem Vater und mit ihrer Mutter die Schrift lasen, oder es kam später, sey's wie ein sanftes Säuseln, sey's wie ein Donnerschlag, und wußte sich Eingang zu verschaffen - aber seitdem haftet es. Sie sind begierig es immer aufs neue aus der Schrift, aus dem Munde ihrer geistlichen Lehrer zu vernehmen. Bei aller ihrer Einfalt wissen sie es wohl vom Menschenworte zu unterscheiden. Das ist recht schön, sagen sie von diesem, aber es ist nichts für uns, es ist nicht was wir verlangen, es ist nicht Gottes Wort. Einem Fremden folgen sie nicht, sagt der Herr von ihnen, sondern fliehen vor ihm, denn sie kennen des Fremden Stimme nicht.

Und diesen die seine Stimme hören, gibt er das ewige Leben. Ihr habt das ewige Leben, ich will es annehmen, meine Brüder. Ihr habt völlige Gewißheit der Vergebung eurer Sünden bei Gott, und das kindliche Vertrauen zu seiner Gnade hat die knechtische Furcht vertrieben. Wodurch habt Ihr diese Gewißheit? Durch das Wort des Herrn, wenn er sagt: Des Menschen Sohn ist gekommen, daß er sein Leben gebe zur Erlösung für viele; durch das Wort, das er zu Euch selbst, wenn Ihr gläubig und bußfertig ihm nahtet, gesprochen hat: Deine Sünden sind dir vergeben, gehe hin mit Frieden. Ihr zweifelt keinen Augenblick, daß Christus, wenn Ihr gestorben seyd, Euch in seinen Himmel führen, Euch dort über alles Maß und über alle Vorstellung beglücken wird. Woher habt ihr diese Gewißheit? Durch das Wort des Herrn, wenn er spricht: Ich werde wiederkommen, und euch zu mir nehmen, auf daß ihr seyd wo ich bin. Ich lebe, und ihr sollt auch leben. Ihr wißt, daß eure Verbindung mit ihm schon hier angefangen hat, daß er, auch ungesehen von den Augen des Leibes, Euch nahe ist. Woher habt Ihr diese Gewißheit? Durch das Wort des Herrn, wenn er spricht: Wer mich liebet, der wird mein Wort halten, und mein Vater wird ihn lieben, und wir werden kommen, und Wohnung bei ihm machen. Ihr wißt das Alles nicht durch eigenes Nachdenken, nicht durch menschliche Belehrung, - auf diesem Wege lernt sich so etwas nicht; Ihr wißt es, weil Er es Euch gesagt hat, und vergebens würdet Ihr einen andern Grund dafür aufsuchen wollen. Ihr wißt es durch sein Wort das in euer Herz gedrungen, und dort der Keim des ewigen Lebens geworden ist.

Denn in der That, eure besten, eure seligsten Stunden sind es nicht diejenigen, wo diese oder andere Worte des Herrn Euch das Herz erfüllen; wo sie darin durch tausend andächtige Gefühle lebendig werden; wo sie hervor aus allen äußern Gegenständen, aus allen Ereignissen des Lebens ertönen; wo Alles nur Ein großes, immer forthallendes Wort des Herrn wird, wodurch er Euch seiner Allmacht, Gnade und Liebe versichert? Und eure trüben Stunden sind es nicht diejenigen, wo das Wort des Herrn aus der Schrift matter Euch anspricht, wo die Stimme des Herrn in eurem Innern, in der Natur zu schweigen scheint? Ja, dergleichen Stunden kommen wohl, es kann nicht anders senn; sonst wären wir zu selig, zu groß wäre sonst die Aehnlichkeit zwischen diesseits und jenseits. O namenlose Wonne, wenn dort, hervor aus dem Munde des Herrn, den wir von Angesicht schauen, hervor aus allen Wundern des neuen Himmels und der neuen Erde, hervor aus unserm entsündigten Herzen, immer gleich deutlich, gleich entzückend, die Stimme des guten Hirten uns ertönt! Das wird eine köstliche Weide für seine in den Auen des Himmels versammelte Heerde seyn! Laßt uns indeß horchen auf dieß Wort! Und Ihr, die Ihr es verschmäht, wißt, es ist ein allmächtiges Wort! Es rief Himmel und Erde hervor aus dem Nichts. Es macht selig, wenn der Herr spricht: Kommt her zu mir! Es tödtet für immer, wenn er spricht: Geht hinweg.

Zweitens: ich kenne meine Schaafe, und sie werden nimmermehr umkommen. Wir werden nimmermehr umkommen, wenn wir Schaafe des Herrn sind - warum? weil er uns kennt; oder um es als eine von unserer Seite zu erfüllende Bedingung auszudrücken, weil er uns bekannt ist. Denn beides, daß er uns kennt und daß er uns bekannt ist, fällt zusammen; wie er denn auch sagt: Ich kenne die Meinen, und bin bekannt den Meinen.

Der Herr, der allwissend ist, kennt alle Dinge. Er kennt den vom Winde getriebenen Staub, und den Ort, wo er niedersinken wird; die Pflanze die in nie betretenen Einöden blüht. Er kennt alle Menschen, und die verborgensten Geheimnisse ihres innern und äußern Lebens sind ihm offenbar. Er bedurfte nicht, sagt Johannes, daß Jemand Zeugniß gäbe von einem Menschen, denn er wußte wohl was im Menschen war. Er unterscheidet die Seinigen von denen, die nicht zu seinem Reiche, seiner Heerde gehören, und niemals dazu gehören werden. Und indem er die ersten beschützt, daß sie nicht umkommen, daß sie in keiner Gefahr des Leibes und der Seele zu Grunde gehn, müssen auch sie ihn nothwendig als ihren Beschützer kennen lernen; so daß sie nun um so weniger umkommen, weil sie wissen daß er sie nicht umkommen läßt, und deshalb von Muth und von Zuversicht erfüllt sind.

Der Hirt ist ausgezogen mit seiner Heerde. Nicht auf Triften, wo giftige Kräuter wachsen, nicht zu trübem, unreinem Wasser, nicht dem Wolfe entgegen führet er sie; nein, er leitet sie auf eine grüne Aue, zur frischen lebendigen Quelle, und umgibt sie mit einer sicheren Hürde, mit einer schützenden Wacht. Die Schaafe scheinen es zu wissen, darum folgen sie ihm so ruhig, so unbesorgt; sie wollen nicht sich selbst leiten, nicht selbst die passende Weide für sich ausersehn; diese ganze Sorge überlassen sie ihm. Wird aber bei einer so großen Anzahl nicht das Einzelne unbeachtet bleiben; durch das was den Andern heilsam ist Schaden nehmen; und während für die übrigen gesorgt wird - umkommen? Das möchte zu fürchten seyn, wenn der Hirt ein Miethling wäre, dem die Schaafe nicht gehörten. Aber da sie ihm gehören, so ist auch sein Blick durch die Vorliebe für das Eigenthum geschärft; er kennt ein jedes, er ruft sie mit Namen; keines soll gegen die andern zurückgesetzt werden, keines soll umkommen. - Woran liegt es, meine Brüder, daß unser Verhältniß zu dem Herrn nicht ganz diesem lieblichen Bilde entspricht; daß wir nicht eben so ruhig und unbesorgt uns von ihm leiten und führen lassen; nicht eben so unbedingt ihm vertrauen, er werde unser, auch wenn wir die allergeringsten sind, mit derselben Liebe und Treue, wie der übrigen wahrnehmen? Er kennt uns wohl, er weiß Alles was wir bedürfen, er will es uns gewähren. Aber wir kennen ihn nicht in seiner ganzen Liebe und Treue, in seinem namenlosen Erbarmen; fragen noch immer, ob es denn wohl möglich sey, daß er in seiner unermeßlichen Schöpfung, bei den umfassenden Absichten seiner Weltregierung, uns niemals aus den Augen verlieren werde; harren deshalb nicht, bis er uns mit Namen ruft, uns ausführt und uns leitet; wollen unsere eigenen Wege gehn; wollen selbst unsere Sorgen tragen, anstatt sie alle auf ihn zu werfen; und gerathen deshalb, wenn wir auch nicht umkommen, doch in manche Gefahren, denen wir entgehen würden, wenn wir nichts anderes senn wollten, als fromme, unbesorgte Schaafe seiner Heerde. Und daß wir ihn so wenig kennen, ist das wohl zu verzeihen, da es doch Keinen, sey's der Aelteren sey's der Jüngeren, unter uns gibt, der nicht gerührt die Hände falten, und sprechen müßte: Ich habe es erfahren, o Herr, von meinem ersten Athemzuge an, daß du beschützend und bewahrend, erfreuend und beglückend an jedem Tage um die Deinigen bist!

Aber wie? Scheint es nicht zuweilen in der That, als müßten wir umkommen; als würden wir von der grünen Aue, von dem frischen Wasser, hinweggetrieben in eine brennende Wüste, um dort, ohne Nahrung für Leib und Seele zu verschmachten? Könnte es nicht also dem Unglücklichen scheinen, der schon von manchen Schlägen der göttlichen Hand getroffen ward, und den sie nun, da er Friede zu haben wähnte, noch tiefer, noch schmerzlicher als sonst, niederbeugt? Dem, welchen: schon viel Theures und Geliebtes genommen ward, dem nur Weniges übrig blieb, und der auch dieses verliert? Könnte dieser nicht sprechen: Der Herr hat mich verlassen; der Herr hat mein vergessen! Andern gibt er mit vollen Händen, und erhält ihnen, was er gab. Mir gibt er nichts mehr; mir nimmt er Eines nach dem Andern bis auf das Letzte. Er kennet mich nicht; was ist ihm daran gelegen, ob ich umkomme? - Hinweg mit diesem Schein, meine Brüder; hinweg mit diesen Gedanken, die, wenn sie Macht gewönnen, in der That die Gefahr des Umkommens sehr nahe bringen könnten! Der feste Grund Gottes bestehet und hat dieß Siegel: Der Herr kennet die Seinen! Ja, er kennt Euch, denn Ihr seyd ja Schaafe seiner Heerde. Und solltet Ihr ihn nicht auch kennen? Ihn, euren Erlöser, der für Euch gestorben ist; ihn, der Euch mitten in dieser ungläubigen Welt aus lauter Gnade zu sich gezogen, und durch einen Strahl von Oben erleuchtet hat? Ihn durch dessen unerwartete Hülfe Ihr schon aus so manchen Gefahren errettet wurdet? Sprecht denn auch jetzt: Mag es gleich scheinen als stürzte ich hinunter von einer Tiefe zur andern: Er läßt mich nicht sinken; er hält mich schwebend über dem Abgrund. Mag es gleich scheinen, als müßte ich verschmachten: er tränkt mich mit lebendigem Wasser, mit den unsichtbaren Strömen seines Geistes. Mag es gleich scheinen, als müßte ich untergehen: ich werde es nicht, die Prüfung wird also ein Ende nehmen, daß ich sie könne ertragen. Sprecht also, hegt diese Hoffnung! Sie wird in Erfüllung gehen. Er wird Euch erretten, und Ihr werdet ihn preisen.

Und dennoch drängt sich uns hier ein Gedanke auf, der nahe an das Umkommen streift. Der Hirt, der das ganze Jahr hindurch auf die Erhaltung seiner Heerde bedacht gewesen war, wählte er nicht, wenn das Passah herannahte, ein Lamm aus derselben um es zu opfern? Blieb er nicht ein guter Hirte, indem er es that? Würde nicht Christus der gute Hirte bleiben, indem er also mit uns verführe, und liegt es nicht dunkel angedeutet in dem Gleichniß von dem Hirten und von den Schaafen, dessen er sich hier bedient, daß wir ein solches Schicksal von ihm zu erwarten haben? Dieser Gedanke, sage ich, drängt sich uns auf, er erschreckt uns, wir suchen ihn zurückzuweisen; es gelingt nicht. Nun so wollen wir uns denn nicht dagegen sträuben, wir wollen ihn in seiner Wahrheit anerkennen, und uns erinnern, daß Christus allerdings verlangt hat, wir sollen das Leben lassen um Seinetwillen. Und warum sollte er es nicht verlangen? Hat er nicht ein Recht dazu? Hat er nicht selbst das Leben gelassen für seine Schaafe? Er sahe den Wolf kommen, der die Schaafe erhascht und erwürgt hätte. Ein Miethling wäre geflohn; aber Er, der Eigenthümer der Schaafe ging seinem und ihrem Feinde entgegen, und bestand gegen ihn einen Kampf, in welchem der Feind zu siegen schien, aber nur, um in dem vermeinten Siege eine wahre und ewige Niederlage zu finden. Der Hirte erstand, verklärt, verherrlicht, mit einem neuen, unermeßlichen Anspruch an die Liebe und an den Gehorsam der Seinigen. Und wenn er nun hinweiset auf sein Opfer, und ein ähnliches von uns verlangt, wer dürfte es verweigern? Die Apostel, die ersten Christen verweigerten es nicht; sie waren geachtet wie Schlachtschaafe, sie starben täglich unter Trübsalen und Verfolgungen. Dürften wir es verweigern, geistig zu sterben, und alles das zu verlassen, was uns hindert, ein heiliges Leben zu führen? Verweigern, die von ihm auferlegten Opfer der Entbehrung, des Verlustes darzubringen? Heißt das umkommen und das Leben verlieren? Nein, das heißt, das Leben finden; denn wer das Leben verlieret um Christi Willen, der wird es finden.

Aber am Ende müssen wir dennoch umkommen. Ihr meint, sterben? Aber sterben ist nicht umkommen; wir müssen es uns, wenn wir Schaafe des guten Hirten sind, ganz anders, viel lieblicher und freundlicher denken. Er hat eine große Heerde, die er auf zweien verschiedenen Triften weidet. Die eine dieser Auen befindet sich hier unten auf dieser Erde; da haben es die Schaafe zwar gut, sehr gut unter seiner Obhut, aber ihr Zustand ist dennoch nicht vollkommen. Hier wechselt die brennende Sommerhitze, wo sie nur im Schatten des Kreuzes Kühlung finden können, mit dem strengen Froste des Winters. Hier tobt der Sturm, hier schreckt der Donner, hier geht der Feind brüllend um die Hürde, und sucht, welchen er verschlinge. Dort oben aber ist es besser, dort ist es vollkommen gut. Dort herrscht ewiger, milder Frühling, ohne Sommerhitze und Winterfrost; dort tobet kein Sturm, dort schreckt kein Donner, dort drohet kein Feind. Niemals welkt dort das Grün auf den Auen, niemals versieget das Wasser in dem Strome des Lebens. Zwischen diesen beiden Triften nun liegt ein enges und dunkeles Thal, und freilich könnte dem armen Schäfchen bange werden, wenn es allein hindurchgehn müßte. Aber es geht nicht allein, der gute Hirte ruft es, wenn die Zeit gekommen ist, und geht ihm voran. Der Jünger folgt muthig und spricht: Und ob ich schon wanderte im finstern Thale, fürchte ich kein Unglück, denn Du bist bei mir, Dein Stecken und Stab trösten mich. Bald hat er das finstre Thal überwunden, und er ist nicht umgekommen; er ist vom Tode zum Leben hindurchgedrungen.

Drittens spricht Christus: Meine Schaafe folgen mir nach, und Niemand soll sie mir aus meiner Hand reißen. Welches ist wohl, meine Brüder, von allen Gedanken die uns beschleichen können der furchtbarste, entsetzlichste? Es ist der, daß unsere Verbindung mit Christo vielleicht nicht von rechter Art und Beschaffenheit seyn, daß sie vielleicht nicht für immer bestehn möchte. Ach! spricht ein frommes, aber ängstliches Herz, ich fühle mich oft so schwach, sündhaft und elend, ich finde oft in mir eine solche Kälte, einen solchen Mangel an Liebe zu dem Herrn, ich werde oft von solchen Anfechtungen geplagt, daß ich erschrocken und zweifelnd frage: Gehöre ich dem Herrn, oder nicht? Und sey's daß ich ihm jetzt gehöre - ich weiß ja daß der Feind meiner Seele begehrt mich zu sichten wie Weizen, und mir mein Heil zu rauben: wird es ihm nicht gelingen? Werden nicht vielleicht künftig Versuchungen, noch mächtiger als diejenigen, gegen die ich mit so vieler Mühe mich vertheidige, Versuchungen des Glücks und des Unglückes, des Uebermuths und der Verzagtheit, mich umgeben, mich bestürmen? Wenn ich dann abfiele in einem unseligen Augenblicke; wenn dieser Augenblick der letzte hienieden wäre, und die Trennung von dem Herrn, worin ich die Welt verließe, dann für die Ewigkeit bestände? Ist dieß nicht möglich, nicht denkbar? Ist es nicht schon manchem begegnet; könnte es nicht auch mir begegnen? O durch welches Trostwort des Herrn soll ich diese Angst verscheuchen; an welchem Merkmal soll ich jetzt, soll ich künftig erkennen, ob ich im Stande der Gnade und in der Gemeinschaft mit Christo mich befinde?

Hier habt Ihr dieß Trostwort: Niemand soll sie mir aus meiner Hand reißen; hier habt Ihr auch das Merkmal: Meine Schaafe folgen mir nach. Die Versicherung daß Euch Niemand aus seiner Hand reißen werde, ist dadurch bedingt, daß Ihr ihm nachfolgt; oder wie der Herr an einem andern Orte es ausdrückt: Wer zu mir kommt, den werde ich nicht hinausstoßen. Denjenigen, der keine Beziehung unterhalten will zwischen sich und Christo, der seinen erlösenden Tod verachtet, und seine Gebote muthwillig übertritt, denjenigen, der einen Weg verfolgt, der ihn nicht zu Christo, sondern in die entgegengesetzte Richtung führt: den können wir nicht beruhigen durch die Versicherung, daß der Herr ihn in seinen allmächtigen Schutz aufgenommen habe; wir müssen ihm vielmehr erklären, daß er dem furchtbaren Andrang feindlicher Kräfte ausgesetzt ist, ohne eine andere Stütze, als die unvollkommene, die er in sich selber findet. Und wir beschwören ihn, daß er sich der Hand des Herrn nicht länger entziehn wolle, die ihn doch zuvor ergriffen haben muß, ehe sie ihn fast sey und festhalten kann. - Zu einem frommen und doch bekümmerten Christen aber sprechen wir: Du zweifelst ob Dein Heil jetzt und für die ganze Ewigkeit feststehe? Dein Zweifel soll schwinden. Was willst Du in der Tiefe Deines Herzens? Willst Du Christo nachfolgen; willst Du zu ihm kommen? Oder willst Du Dich von ihm wenden, und Dich der Welt hingeben? Ach! rufst Du: Er weiß es; ich will zu ihm kommen; ich will ihm nachfolgen. Wohl Dir! Nun aber höre auch sein Wort: Niemand soll Dich aus seiner Hand reißen.

Niemand, nichts auf der Welt! Und laß uns hier gleich das Schlimmste nehmen, die Sünden die Du begangen hast. Warest Du vielleicht zurückgeblieben, armes, verirrtes Schaaf, angelockt durch einen selbstgewählten, verführerischen Weideplatz, an welchem der gute Hirt die Heerde vorüber trieb? Freilich, dein Zustand ist sehr traurig, aber laß uns sehen, ob er zum Verzweifeln sey.

Was fühlst Du? Etwa den Drang, Sünde auf Sünde zu häufen; etwa eine Abneigung gegen ihn, der Dich vielleicht zeitlich strafen wird, um Dich ewig verschonen zu können? Ach nein, rufst Du, ich hasse die Sünde, er strafe mich wie er will, nur nehme er mich wieder auf. Siehe! da kommt er schon der gute Hirt. Er hat die neun und neunzig Schaafe gelassen in der Wüste, und ist hingegangen nach Dir dem verlornen, bis er Dich finde. Er nimmt Dich auf seine Schultern mit Freuden; und solltest Du jetzt noch fürchten, daß Dich Jemand aus seiner Hand reißen könnte?

Dir ist dein Loos auf das lieblichste gefallen, und Dir wird plötzlich bange auf dem Gipfel des Glückes. Was ist das, fragst Du; was hat der Herr mit mir vor? Alles was ich unternehme gelingt, alle meine Gebete werden erhört, in meinem Herzen ist ein immerwährendes Jauchzen; Andere werden getroffen rings um mich her, und ich bleibe verschont. Will der Herr etwa mich hier auf Erden abfinden, um mich ewig darben zu lassen; oder könnten nicht seine Gaben ihn aus meinem Herzen verdrängen? - Diese letztere Gefahr ist allerdings vorhanden; darum prüfe Dich stets und frage Dich: Ist der Herr mir immer noch theurer als Alles was er mir schenkt? Wenn ich wählen müßte zwischen ihm und meinem Glücke, würde ich es gern für ihn hingeben? Wenn Du diese Fragen bejahen kannst, so sey getrost, dein Glück wird Dir nicht schaden, Dich nicht aus seiner Hand reißen. - Dich dagegen hat er tief in Leiden versenkt; und Du sprichst: Ach! dieser Verlust, diese Schmerzen, dieser nagende Kummer, sie sind nicht das Schlimmste!

Aber wenn ihre Schwere meinen Geist lähmte, niederbeugte; wenn falsche Tröstungen mich von dem Herrn, der mein einziger Trost seyn sollte, entfernten - das wäre entsetzlich; und weiß ich, ob es nicht geschehen könnte? Wie könnte es geschehn, da Du es fürchtest, da Du vor diesem Gedanken zitterst; da Du zu Ihm kommen, und ihm folgen willst? Sey getrost, Niemand wird Dich aus seiner Hand reißen! Seyd Beide getrost, Du Glücklicher und Du Unglücklicher; weder Tod noch Leben, weder Hohes noch Tiefes mag Euch scheiden von der Liebe Gottes, die in Christo Jesu ist unserm Herrn.

Dort wird ein Sterbender in seinen letzten Augenblicken von namenlosen Schrecken bestürmt. Alle Sünden seines vergangenen Lebens treten vor seine Augen, und drohen ihm mit Ausschließung aus dem Himmel, mit ewiger Strafe und Pein. O wie freut sich mein Herz, daß ich durch die große Verheißung des Herrn ihm Trost bringen kann! Du darfst nicht, so spreche ich zu ihm, Dich von deinen eigenen Gedanken und Gefühlen beherrschen lassen. Höre statt dessen das Wort des Herrn! Höre diese eine Frage, und beantworte sie: Wohin ist, in dieser ganzen, weiten, unsichtbaren Welt, die sich nun bald Dir öffnen wird, dein Verlangen, und deine Sehnsucht gerichtet? Nach Christo, ruft er, nach Christo allein! Ihn allein sehe ich deutlich vor mir, zu ihm zieht mich mein Herz. Aber werde ich zu ihm gelangen? Werde ich nicht vor seinem Thron all meine Sünden antreffen, die mich verklagen? - Und wenn Du sie anträfest, sie sollen Dir nicht schaden. Höre was ehrliches Herz gegen uns schlägt, ausgedrückt, wodurch Du unserm armen, bekümmerten Herzen einen unermeßlichen Trost gewährt hast. So werde denn heute der Bund erneut zwischen uns und Dir. Du willst uns das ewige Leben geben, wir sollen nimmermehr umkommen, Niemand wird uns aus deiner Hand reißen. Wir aber wollen dein Wort hören; wir wollen endlich Dich, unsern göttlichen Erlöser, kennen lernen; wir wollen Dir nachfolgen. Amen.

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