Tersteegen, Gerhard - An einen (christlichen) Freund.

Tersteegen, Gerhard - An einen (christlichen) Freund.

Mülheim, den 23. Septbr. 1721.

Die Gnade Gottes in Christo Jesu beherrsche unsere Seelen durch die Wirkung des heiligen Geistes, Amen!

In demselben dreieinigen Gott herzlich geliebter Bruder und Mitpilger!

Die Liebe, womit der Herr uns aus Gnaden in ihm verbunden, und die derhalben durch keine leibliche Gegenwart oder Abwesenheit unterhalten oder geschwächt werden kann, hat mich gedrungen, dich mit diesem Schreiben auch äußerlich zu begrüßen. Des Herrn Vorsehung müsse herzlich Dank gesagt sein, der uns in dieser Fremde einander noch hat antreffen lassen, so daß wir Ursache gefunden haben, uns in der Gnade Gottes an unserer Seele in so weit erwiesen, unter einander zu erfreuen und den guten Gott dafür zu preisen. Ja, er sei gepriesen aus dem innersten Grund der Seele, daß er uns die betrübte Sklaverei unsres ewigen Geistes unter dem Dienst der Finsterniß, da er von dem Feinde durch allerhand Affecten, Begierden und Gedanken herumgetrieben wird, in etwa hat zu erkennen gegeben; indem er unser durch die Sünde eingeschläfertes Gewissen erwecket hat, so daß wir uns auch durch seine Gnade haben suchen solchem tiefen Verderben zu entreißen, und den Forderungen des Gewissens ein Genüge zu leisten. Aber ach! muß man ja klagen (wie uns solches unser Gewissen ohne Zweifel erweisen wird), wie oft hat es hier nicht an gefehlt! Und wenn man ja dasjenige gethan hat, was unser überzeugtes Gewissen forderte, wie so gar träg, unwillig und als gezwungen kam es nicht noch dazu! Und wenn es endlich geschah, mit wie vielen Gebrechen und untermengtem Eigenen, war solches nicht beflecket, daß auch unser Gewissen in allem nicht damit zufrieden sein konnte! Und wie subtil und leicht schrieb man nicht sich selbst solches zu, als wenn man nun etwas wäre! Und wie oft ist hingegen der freimüthige Zugang zum Gnadenstuhl durch vorfallende Fehler gehindert worden! Und weil man noch so wenig von Gottes Geist gewirkten Glaubens hat, wie kann man sich dann bisweilen so schlecht die Gnade und das Verdienst Jesu, zur Versöhnung beim Vater einprägen! Zwar wollte sich der inwendige Grund gern dem Dienst der Begierden und der Eitelkeit ganz entziehen, um sich wiederum seinem rechtmäßigen Herrn zu übergeben, und ihm mit freiwilligem Herzen vollkommen zu dienen und zu gefallen, aber er findet dazu nicht die erforderlichen Kräfte und Vermögen. Wollen findet er, aber das Vollbringen fehlet. Denn mir dünkt, daß es unsrem Gewissen gehet, wie ich meine, daß irgendwo vom Gesetz stehet, daß es uns zwar unser Elend zu erkennen gibt, und sagt, wie es sein müsse, auch uns sehnen und durch allerhand Wege und Mittel bestreben macht, solches zu thun, aber uns keine genügsame Kraft gibt, solches zu vollbringen, daß man auch oft in solchem Zustand ausruft, wie Paulus Röm. 7: Ich elender Mensch, wer wird mich erlösen u. s. w.

Nun dünkt mir, geliebter Bruder, daß der treue Herzog zur Seligkeit eine Seele darum in solche Enge bringt, damit wir recht an unserer eigenen, so gar gebrechlichen Gerechtigkeit mögen verzagen und den Muth recht verloren geben, (um) durch unser eigenes Können und Wirken jemals aus unsern Sünden und aus unsrem Elend zu gelangen, und also kein Fleisch sich vor dem Angesichte Gottes rühme, sondern alle Ehre ihm allein bleibe, und wir, nachdem wir vorher alle unsere Kräfte genugsam angespannt und uns müde und gleichsam ausgewirket haben, um durch unser eigenes Können und Wollen fromm und gerecht zu werden, so als Mühselige und Beladene zu Jesu kommen, nämlich ihn in dem Grunde unserer Seele, allwo er nach seiner Zusage Joh. 14, 21. erscheinen will, mit unabläßigen Glaubens- und Liebesbegierden zu suchen, zu nöthigen, und in geduldiger Ausharrung zu erwarten, gleichsam mit denen, so im alten Testament nach seiner Zukunft aussahen, seufzend: ach! daß du den Himmel zerrissest rc.! ach, daß die Hilfe aus Zion käme! Bis er selbst sich in uns offenbart, seine Wohnung in uns aufrichtet, uns belebet, und wir mit ihm inwendig gleichsam überkleidet werden, und so er selbst in uns alle Gerechtigkeit des Gesetzes erfüllet, Röm. 8., und er in uns und wir in ihm nun mit Lust seine Gebote, die uns dann nicht mehr schwer fallen werden, erfüllen, nicht mehr gebrechlich, sondern vollkommen und ohne Tadel; nicht mehr nun und dann uns bald auf diese, bald auf jene Tugend legen werden: sondern alle Tugend wird da wesentlich von selbst und ohne Zwang unaufhörlich hervorfließen aus dem durch die neue Geburt in uns neugebornen neuen Menschen Jesu und der uns dadurch mitgetheilten göttlichen Liebe; da wir uns auf einmal von der Sklaverei der Lüste und Gedanken werden befreit sehen und von den ängstlichen Beschuldigungen unsres Gewissens, und an dessen Statt die holdselige Stimme der Gnade und des Evangeliums in unsere Seelen hören werden. Da nun Gott selber durch die Sendung seines Sohnes in uns das thut, was dem Gesetz unmöglich war, und uns in Ewigkeit durch unser eigenes Wirken nicht würde möglich gewesen sein, so werden wir in uns selber ja wohl daraus abnehmen können, daß Christus nicht gekommen sei, das Gesetz aufzulösen, sondern zu erfüllen; und daß der Glaube das Gesetz nicht aufhebe, sondern es bestätige, Röm. 3. und sodann unsre Rechtfertigung, aus lebendiger Erfahrung, der freien Gnade und Erbarmung des Gottes der Liebe und dem Glauben an Jesum wissen zuzuschreiben, kraft dessen wir dann die Welt werden überwinden können, und aus Jesu Kraft Nahrung und Erquickung schöpfen werden, als der uns dann von Gott zur Weisheit, Gerechtigkeit, Heiligung und Erlösung geschenkt ist.

So lasset uns nun nicht müde werden, unsere Herzen, Sinne und Gedanken soviel möglich von allen anderen Vorwürfen keusch zu bewahren, um den Herrn Jesum mit innigstem kindlichen Glaubens- und Liebessehnen im Grunde unserer Seele zu nöthigen, in beständigem und langmüthigem Aussehen nach seiner Zukunft, daß er selber einmal das Werk möge auf sich nehmen, damit wir ihm willig, freudig und vollkommen zu allem Gefallen dienen mögen, in seiner innigsten Nahbeiheit und in dem Lichte seines Angesichts, wenn wir aus dem Schrecken der Finsterniß des Gesetzes durch ihn selber ausgeführt, als kleine Kinder an den Brüsten seiner Gnade und Liebe in sanfter, wonnereicher Stille von ihm erquickt werden und Ruhe finden für unsere Seelen, Matth. 11., und der dreieinige Gott also in uns sein Reich möge haben und sein Heiligthum, worin er ohne Aufhören an Geist und in der Wahrheit möge angebetet, geehret und verkläret werden. Lasset uns doch den Muth nicht fallen lassen! Es ist ihm ein Geringes, uns in einem Augenblick dasjenige in unserer Seele finden zu lassen, auch ohne Mühe, was wir vielleicht Jahre lang außer uns mit vieler Arbeit möchten gesuchet haben. Der Gott der Liebe, der seine Lust hat bei den Menschenkindern, befördere uns zu diesem so heiligen Zustande, Amen!

Quelle: Renner, C. E. - Auserlesene geistvolle Briefe der Reformatoren

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