Tauler, Johannes - Von dem gottgefälligen Sehnen des menschlichen Geistes nach Gott.

Tauler, Johannes - Von dem gottgefälligen Sehnen des menschlichen Geistes nach Gott.

Meine allerliebsten Kinder in Christo! Es fragte mich ein gutes Herz und sprach: „Ich bin ein armes Waislein Gottes, ganz einsam und verlassen, und weiß nicht, was ich thun soll. Nachdem es mir so befohlen ward, so habe ich mich etliche Tage in mich zurückgezogen und mich geübt in Anfachung und Erhaltung des geheimen Fünkleins der Begierde, alle Dinge, außer Gott, für nichts zu achten. Ich überstieg alle Gaben, Erleuchtungen, Süßigkeiten, Bilder der Vernunft, und was sonst noch die Seele mit natürlicher Freude in sich selbst gestalten kann. Da fand ich nichts als Armuth; da kam ich in eine weite, inwendige Wüste, wo weder gute noch böse Phantasien Statt haben mögen. Und so bin ich nun wie ein Bettler, der vor der Thür liegt, und auf die Gnade seines Herrn wartet. Und ich weiß nicht, wie es kommt: das Fünklein der Begierde ruhet nicht, bis alle Kräfte meines Herzens und Kopfes verzehrt sind; und wann mir dann eine kurze Ruhe gegönnt wird, so sind die Kräfte zur Stunde wieder ersetzt. Je mehr ich von allen Dingen abgeschieden bin, desto mehr Lust hat mein inwendiger Mensch in all dieser Demuth. Aber der auswendige Mensch wollte gern davon fliehen, wenn er könnte. Was hieraus geboren werden soll, das Leben oder der Tod, das weiß ich nicht. Aber nach meinem Bedünken werden hierdurch Glaube, Hoffnung und Liebe sehr gestärkt. Darum hätte ich nun eine bleibende Stätte hierin; ich bliebe gern.“

Hierauf antwortete ich nach der Gnade Gottes, die mir gegeben ist: „Wer sich in diesem Zustande befindet, muß sich mit unwandelbarem Gemüthe und in freier Gelassenheit, mit dem liebsten Willen Gottes einigen, wie Paulus, als er fragte: „Herr, was willst Du, daß ich thun soll?“ und diesen Vorsatz der Einigung oft erneuern und darin bis ans Ende verharren. Hierzu kommt kein menschliches Laufen und Rennen, nur das wahrhaftige Innebleiben und Nachjagen nach Gott, das allein hilft. Die Werke des Herrn im Menschen sind so freithätig, daß, wenn sie der Mensch selbst nicht hindert, sie Alles aufs höchste vollbringen.“

Christus ist das Ziel für alle Menschen. Wie nahe Du zu dem Ziele kommst, so nahe kommst Du zu Gott. Wie viel Du Tugend hast, so nahe bist Du bei Christus. Hast Du alle Tugend, und bist ganz von Dir ausgegangen, so hast Du das Ziel erreicht. - Ein gottergebener Wille macht alle Werke gut, denn es ist die gute Quelle, aus der nur gute Abflüsse kommen. - Wie die Sonne den Tag erleuchtet, so das Leiden die Vernunft. Bitterkeit der Dinge nöthigt die Vernunft, daß sie sich von allen Dingen kehre; und so wird im Menschen durch Leiden Abgeschiedenheit, und in dieser ist Erkenntniß der bloßen Wahrheit. Durchgelittene Menschen sind die allervernünftigsten Menschen. - Jeder sei ein Inwohner seines Herzens und ergebe sich Gott ganz, und folge, wohin und welchen Weg er ihn führen will. - Das Nichthaben ist oft mehr nütze als das Haben, denn im Nichthaben erkennt sich der Mensch besser als im Haben, und das Darben an zeitlichen Dingen bereitet den menschen zur Empfangung der ewigen.

Quelle: Beck, Johann Tobias - Der Grundfehler unserer Zeit

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