Tauler, Johannes - Medulla Animae - Erstes Kapitel. Von der Schwere der Sünde, und wie wir durch wahre Buße zur lieblichen Vereinigung mit Gott kommen sollen.

Tauler, Johannes - Medulla Animae - Erstes Kapitel. Von der Schwere der Sünde, und wie wir durch wahre Buße zur lieblichen Vereinigung mit Gott kommen sollen.

Tut Buße, denn das Himmelreich ist nahe herbeigekommen1). Unser getreuester Gott und Herr Jesus Christus, Der uns in Seinem heiligen Evangelium den nächsten Weg zur ewigen Seligkeit durch Sein Leben, Seine Gebote und Räte vollkommen gezeigt hat, fing sein heiliges Predigtamt mit diesen Worten an: „Tut Buße, denn das Himmelreich ist nahe herbeigekommen.“ Wollen wir je und einmal selig werden, so ist uns vor allem Buße nötig, und so lange wir leben, dürfen wir diese Besserung unserer selbst nie bei Seite setzen, denn Niemand lebt ohne Sünde; nun können wir aber nie wahre Buße wirken, nie uns bessern, wenn wir zuvor die Schwere der Sünde nicht gehörig zu erwägen wissen; denn jeder Sünder begehet solche Schmach und Unehre gegen den allmächtigen Gott, und ziehet sich selbst so großen und unermesslichen Schaden zu, dass, wenn er es erkennte, er mit Vorbedacht weder um des Himmels noch der Erde willen, noch alles dessen, was in ihnen ist, auch nicht die geringste Sünde begehen, ja vielmehr jeden Tag einen leiblichen neuen Tod ausstehen, als irgend eine Sünde begehen wollte. Die Sünde nämlich ist eine Trennung von Gott, eine Zukehr zu der Eitelkeit der Kreatur, eine Befleckung der Seele, der Tod des Geistes, ein Strick des Satans, ein Verlust der Zeit, eine Beraubung der Gnade Gottes, aller Tugenden und der ewigen Seligkeit. Die Sünde ist eine Trauer des Gewissens, eine Verfinsterung des Verstandes, ein Verderben des Willens, ein Unfriede des Herzens, eine Unruhe der Sinne; sie ist ein wahrer Götzendienst, eine Verleugnung des Glaubens, eine Erhebung des Feindes, ein süßes Gift, der Anfang der Verdammnis, die Mutter vieler anderer Sünden und Vergehen, eine kurze Freude, eine lange Pein, eine ewige Schande, zwar geliebt von der Welt, aber verabscheut von Gott und allen guten Menschen, mit einem Wort: die Schwere der Sünde ist unaussprechlich, der Schade unbegreiflich, unaustilgbar die Schande, unerträglich die Strafe.

Weil denn nun jeder Sünder durch die Sünde das schnöde und vergängliche Gut und seine eigene Lust über das höchste und unveränderliche Gut, über Gott den Allerhöchsten setzt und liebt, seinen eigenen Willen dem göttlichen Willen vorzieht, und so das allerheiligste Wesen unendlich und unaussprechlich entehrt und verachtet, - wie viel nämlich Gott besser ist, denn solche schnöde Lust und Kreatur, - und er deshalb von Rechtswegen die ewige Verwerfung verdient, so ist zur wahren Buße und Besserung vor allem nötig, dass der Sünder diese Unehre und Verachtung Gottes vor Gott aufrichtig und herzlich bekenne, sich in tiefer Demut vor Ihm schuldig gebe, um Gnade und Verzeihung bitte, Ihn von Grund des Herzens lobe und ehre, sich unter alle Menschen demütige und Gottes allerliebstem Willen sich vom ganzen Herzen übergebe. Und weil er in den Kreaturen seine Lust und Freude gesucht, die er doch einzig als wahre Freude in Gott hätte suchen sollen, so muss er mit bitterer Reue seine Sünden beweinen, und in wahrer Neue und Leid und ernstlichem Vorsatz, sich künftig davor zu hüten, vor dem Priester an Gottes Statt - der da Macht hat, ihn zu lösen und zu binden, - in der Beichte sich schuldig geben, und nach Ordnung der heiligen Kirche die Buße empfangen und würdige Früchte derselben hervorbringen.

Dieser Reue nun und diesem Schmerz darf aber nicht knechtische Furcht vor ewiger oder zeitlicher Strafe, nicht sinnliches, schmerzliches Gefühl, nicht Berücksichtigung seines eigenen Schadens mit Übergehung der Gott angetanenen Schmach und Entehrung zu Grunde liegen; denn solche Reue würde den Sünder nur niederdrücken, ihn in Misstrauen und zweifelnde Angst versetzen, ob Gott seiner Sich ferner auch annehmen wolle und werbe. Diese knechtische Furcht und diese betäubende Reue würde ihm nicht zur Vergebung auch einer einzigen Sünde gedeihen, wenn der Schmerz darüber auch noch so groß wäre; denn sie urspringt ja nicht aus wahrer Liebe Gottes, die doch einzig die Ursache und Quelle der wahren Reue sein muss. Göttlichen und übernatürlichen Ursprunges soll unsere Reue sein, so, dass der seiner Sünden wegen leidtragende Mensch nicht seinen eigenen Schaden, der ihm durch die Sünde erwachsen ist, berücksichtige, sondern vielmehr Gott, seinen treuesten Vater, seinen Schöpfer, Erlöser und allseitigen Wohltäter, den er durch seine Sünde so schwer und mannigfaltig verunehrt, verachtet und beleidigt hat. Erwägt aber der Sünder auch das geringste Vergehen, als einen gegen Gott begangenen Frevel, mehr als allen Schaden, Pein und Schande, die ihm deshalb zugekommen, so wird diese schmerzliche Überzeugung auch in ihm ein festes Vertrauen zu Gott erregen und gründen, dass der allmächtige Gott ihm seine Sünden gerne vergeben werde und wolle, und diese Reue ist die Reue der Liebe, die voll des Trostes und süßer Erquickung ist.

Erkennt er nun, dass Gott, das allerhöchste Wesen, ihm nicht nur allein seine Sünden vergeben wolle, sondern ihn - den schnöden Sünder - nach Seiner grundlosen Güte sogar noch zu trösten Sich würdigt, so wird das eine solche Reue in ihm erwecken, dass er meinen wird, er könne nimmermehr Reue genug haben; er wird Gott nicht allein bitten, dass Er ihm nach Seiner Güte vergebe, sondern auch nach seiner Gerechtigkeit die Sünde an ihm strafe, wenn Strafe zur Vermehrung Seiner Ehre diene, denn je gnädiger und liebevoller der Herr gegen ihn ist, um so tiefer fühlt er seine Missetat gegen den Gütigen. Wer aber dahin gekommen ist, dass er Gottes Gerechtigkeit eben so liebt und schätzt als seine Barmherzigkeit, dem wird die Sünde, wie die Strafe dafür sogleich erlassen, und es ist wirklich tröstlicher, sich Gottes Gerechtigkeit, als Seiner Barmherzigkeit zu übergeben; denn in ersterer ist mehr Abtötung und Sterben, als in der zweiten, und wo des Sterbens mehr ist, da ist auch die Fülle des göttlichen Trostes größer, und je gebrechlicher sich der Mensch findet, um so kräftiger und ernstlicher ist sein Vorsatz, in unverbrüchlicher ewiger Liebe und Treue sich mit Gott zu vereinigen, nimmermehr zu sündigen, und den Bund der Liebe mit ihm ewig und unverletzt zu erhalten.

Wer aber solcher Reue sich noch nicht fähig fühlt, der bereue wenigstens seine Sünden mit dem ernstlichsten Verlangen, diese vollkommene Reue, die mehr die Gott erwiesene Schmach, als seinen eigenen Schaden betrauert, noch zu erhalten, und so vertraue er in heiliger Zuversicht, der allmächtige Gott, dessen Erbarmnisse ohne Ende sind, werde ihm alle seine Sünden vergeben; er erkenne und bekenne seine Sünde, werfe sich im tiefsten Schmerzgefühl zu den Füßen des Herrn, und klage Ihm vertrauensvoll seine Sündennot. Je tiefer und inniger er nun seine Sünden fühlt und erkennt, je schneller wird sie ihm Gott vergeben; denn „obgleich eine Mutter ihres eigenen Kindes vergessen könnte, so kann doch der Herr, nach seiner eigenen Zusage2), unserer nicht vergessen,“ denn Seine Barmherzigkeit ist so groß, dass kein Flachs in Mitte des Feuers so schnell verbrennt, als der Herr bereit ist, dem wahrhaft reuigen Sünder seine Missetaten zu vergeben3). Denn zwischen der Güte Gottes und dem bußfertigen Sünder ist weder Zeit, noch irgend ein störendes Mittel, von nun an besteht zwischen Gott und ihm ein so vollkommener Bund, als ob die Sünde nie wäre begangen worden, und so gütig und über allen Begriff gnädig und hold ist der Herr, dass er dem reuevollen Sünder das, was Er ihm einmal gänzlich vergeben, nun und nimmermehr, so lange er in der Besserung verharrt, zurechnen oder an ihm ahnden will.

Der Grund aber einer wahren Buße und der nächsten Versöhnung mit Gott ist der: der Mensch muss sich in Wahrheit und Liebe zu Gott, und zu allen Tugenden wegen Gott kehren, dagegen von allem, was wider Gott ist, männlich und entschlossen sich abwenden, mit festem und unerschütterlichem Willen, und kostete es das Leben und alles, dergleichen nicht mehr zu begehen; aus ganzem Herzen vertraue er der Güte Gottes und den Verdiensten Seines heiligsten Lebens und bittern Leidens, das sei der Anker seiner Hoffnung und seiner Zuversicht; er unterhalte einen stets brennenden Eifer und eine unausgesetzte Übung, seinen Gott zu loben, Ihm unaufhörlich zu danken, dass Er seiner, da er noch in Sünden war, verschont, ihm zur wahren Reue und zu dem ernstlichen Willen der Besserung huldvoll geholfen habe, während Er so viele andere, die nicht so viel gesündigt, und besser waren, denn er, auf ewig, nach Seinem gerechten Urteil, verstoßen habe.

Aus diesem Grunde fließen dann die äußeren Werke der Buße, Fasten, Wachen, Beten, Almosengeben u. dgl., die Gott um so angenehmer sind, je mehr sie aus dieser lieblichen Zukehr zu Ihm entspringen. Darum, in welchen Werken er die Güte Gottes am meisten, seine Sünden am deutlichsten erkennen und sie vor Gott bereuen kann, in diesen übe er sich am meisten, diese mache er sich vor allen eigen; denn jemehr er darin wirkt, je näher kommet er in wahre Buße. Zu dieser echten Buße gehört nämlich vorzüglich die ernste Betrachtung der Güte und unaussprechlichen Treue Gottes gegen uns; diese wird uns wahrhaftig die wahre Demut lehren, wird uns zeigen, wie verächtliche Geschöpfe wir seien, wie wir alle Ursache haben, uns selbst zu verachten, wie unbedeutend und wertlos alle unsere sogenannten guten Werke seien, wie unwert wir Seiner Erbarmung, Seiner bisherigen Langmut, Seiner uns erwiesenen Wohltaten, ja wie unfähig wir seien, Ihm auch nur für die kleinste Seiner Guttaten würdig zu danken. Ja, mein Gott! wie sind wir im Stande, Dir für Deine große Treue gegen uns, die wir nichts als Untreue gegen Dich begangen haben, zu danken, oder Dir etwas zu vergelten! Darum wiederhole ich es: alle unsere guten Werke, und sollten wir derer so viele gewirkt haben, als alle Menschen tun können, sind als Nichts zu achten, in Vergleichung des Vielen, was uns noch fehlt; verachten müssen wir uns, und als Unwerte erkennen, unserm Gott aber allein alle Ehre und allen Dank erweisen.

Und das sollt ihr wissen, dass keine Übung kräftiger und heilsamer sei, die Sünde samt der durch sie verdienten Strafe zu tilgen, als diese hier verzeichnete; ja, würde ein Mensch aus wahrer Liebe Gottes und in aufrichtiger Verachtung seiner selbst einzig zur Verherrlichung Gottes sich ernstlich und kräftig von der Sünde abwenden: so würden ihm dadurch alle und jede Sünden, und sollten es die Sünden der ganzen Welt sein, zusamt den dafür verdienten Strafen nachgelassen, und stürbe er in diesem Augenblick, er käme unmittelbar zu Gottes Anschauung. Denn dass uns nicht allemal nach der Vergebung der Schuld und Sünde auch die Strafe der Sünde nachgelassen wird, das kommt daher, weil unserer Reue, unserer Abkehr von der Sünde, und unserer Zukehr zu Gott jene Liebe aus ganzem Herzen, aus ganzer Seele, aus ganzem Gemüte, aus allen unsern Kräften mangelt, die Gott von uns verlangt, und die zu haben, Er uns geboten hat. Echte wahre Liebe und festes Vertrauen zu Gott, verbunden mit ernstlicher Verachtung unserer selbst, ist ein köstliches Kleinod, alles zu erlangen, und alles zu erkaufen, was wir begehren, ja, mehr als wir verlangen und erwarten; denn hier kann Sich Gott nicht enthalten, er muss gleichsam uns geben, was wir verlangen, wir haben jene Seite getroffen, wo er nichts mehr verweigern kann.

Diese Buße aber erlangt der Mensch am gewissesten, wenn er sich mit Seele und Gemüte zu dem heiligsten Leiden, zu der bitteren Marter, zu dem schmachvollen Tod, zu dem heiligsten Leben Jesu Christi unseres Herrn, das voll Liebe und Treue war, wendet. Dieses Leiden des Herrn soll er sich möglichst vor die Augen seiner Seele stellen, sich darein versenken und bedenken, wer der sei, der solches für uns gelitten hat; diese Betrachtung ist die lieblichste und huldvollste, und es ist wirklich zu wundern, wie wir das auch nur einen Augenblick je vergessen, oder von etwas andrem hören, oder reden können, als was zur Erkenntnis unseres Herrn, Seiner Herrlichkeit, Seiner Liebe und Treue, und im Gegenteil unserer eigenen Nichtigkeit und Untreue einzig dient. Dies ist die nützlichste Übung, die wir haben können, zur Verachtung unserer selbst, zur Reue über unsere Sünden und Unordnungen zu gelangen; deshalb sollen wir uns allzeit in dem Leiden unseres Herrn üben, und nicht sowohl das, was er gelitten hat, als vielmehr Seine unermessliche Liebe und Treue gegen uns erwägen. Wir sollen uns dazu gewöhnen, dass wir uns in allen unsern Werken, in unserm Tun und Lassen, in die treue Liebe und in das Leben unsers Herrn bilden und vergestalten; und fällt uns Leiden zu oder sonst Widriges, so wollen wir zu Ihm rufen und beten: Allerliebster und treuester Herr und Gott! wie Du von Ewigkeit her, und ehe ich noch geboren war, das gewollt und angeordnet hast, was mir jetzt geschieht, so geschehe es denn, es geschehe Dein allerliebster Wille, nimmermehr der meinige; denn Deinen allerliebsten Willen liebe ich mehr, als Alles, was ich sonst wünschen kann in Zeit und Ewigkeit!

Die beste Buße endlich ist, nach einem über alle Hindernisse erhabenen, mit Gott ganz vereinigten Gemüte und Willen streben; was Dir dazu verhilft, und am dienlichsten ist, dem unterziehe dich am liebsten, und was dich von diesem Ziel entfernt, oder sonst aufhält, dem entsage, und vor dem hüte Dich; nur suche in keinerlei Weise dich selbst, gehe den Weg, er ist der sicherste, welchen Christus und alle Heiligen uns vorgegangen sind. Bist du aber noch einer der Schwachen, und kannst den rauen Pfad noch nicht wandern, tue wenigstens, so viel du kannst, der Gütige nimmt auch das Wenige von dir an. Er, Der nicht sowohl schaut auf unsere Werke, als auf unsere Liebe, auf die Meinung, auf den Grund, aus welchem unsere Werke urspringen, ob wir einzig Ihn meinen, einzig zu Ihm alles richten? Sieh, das nur will er, darauf einzig sieht Er; übergib dich Ihm nur ganz und gar, und lasse Ihn machen mit dir, was Er will, Er wird wohl alles dass an dir bessern, was du durch deine Sünden verdorben hast, und solltest du Leib, Seele, Sinne und Kräfte, und alles, was an und in dir ist, verdorben haben, so fliehe nur getrost zu Ihm, zu dem Heiligsten und Reinsten, in dem kein Gebrechen ist, der dich mehr liebt als du dich selbst, der dich liebte, da du Dich noch selbst gehasst und verdorben hast; hat Er dich nun, da du noch im Ungehorsame gegen Ihn dich empörtest, geliebt, sprich, wie sollte er nicht, wie wird er nicht lieben, retten, unterstützen den, der im demütigen Gehorsam zu Ihm zurückkehrt? Höre zu deiner Ermunterung und Belehrung das Folgende:

Einem Seiner Freunde auf Erden gab Gott so hohe Erleuchtung, dass er die heilige Schrift nach ihrem ganzen Sinn und Verstand ihm offenbarte; er gab ihm den Blick in das Leben der Menschen, enthüllte ihm den Schein vom Sein, zeigte ihm, wie so vieler Menschen Leben und Werke äußerlich zwar gut scheinen, inwendig aber und vor Gott nichts taugten, wie im Gegenteil viele zwar von außen geringe, vor Gott aber und in jener Welt hochgeachtet seien, wie es ja wahrlich hienieden noch immer ist, kurz: der Herr zeigte diesem Seinem Freund bisweilen große und außerordentliche Dinge; er aber bat den Herrn: Weder das noch jenes will ich, nimm es hinweg o Herr, das alles ist nur Qual für mich! - Da entzog ihm nun der Herr alle diese Gnaden-Wirkungen, er ließ ihn fünf Jahre hindurch in großen Anfechtungen und Nöten ohne allen Trost. Da er nun einst heftig weinte, und der Herr ihm Seinen Engel sendete, ihn zu trösten, sprach er zum Herrn: O Herr, mein Gott! Ich begehre keinen Trost, mir ist genug, dass ich die Stelle bewahre, wo Du wohnst in meiner Seele, damit außer Dir nichts anderes darin leuchte, noch komme. Nach dieser Äußerung umstrahlte ihn ein großes Licht, und der himmlische Vater sprach zu ihm: Ich will dir Meinen Sohn geben, dass Er dich überall begleite. Der Freund erwiderte: Nicht doch mein Vater, in Dir, in Deinem eigenen Wesen begehre ich zu sein! Da sprach der Vater: Du bist mein Sohn, an welchem ich ein Wohlgefallen habe.

Dieser ausgezeichnete Freund Gottes nun wurde einstmal gefragt, was er denn tun wollte, wenn er sein ganzes Leben, wie mancher Sünder, in großen Sünden gelebt hätte? Da antwortete er: Würde ich Alles, was mir ein weiser und bescheidener Beichtvater befohlen hätte, getan und verrichtet, auch die Sünde gänzlich verlassen und ihr entsagt haben, so wollte ich daran auch nicht einmal mehr denken, und mit ihr weiter mein Herz beflecken, ich würde mich einzig bestreben, mit der Hilfe Gottes in Zukunft so unsträflich zu leben, dass Gott alle meine Sünden an mir vergessen würde; denn die Sünde ist ein Nichts, und hat kein Wesen, sie wirkt nichts, als das Böse, sie macht zu nichts, die sie begehen. Darum, wenn wir sie nicht mehr tun, noch wollen, und wir uns gänzlich von ihr abkehren, so vergisst auch Gott sie; kommt sie nun nimmermehr in mich, so sieht sie auch Gott nicht mehr, denn sie selbst ist nicht mehr, weiß aber Gott nichts mehr von ihr, so ist meine Seele ganz gesundet. Ja, auch das fügte er noch bei: Hätte ich vierzig Jahre in Sünden gelebt, und es käme die Stunde meines Todes, und hätte ich meine Sünden aufrichtig gebeichtet, mich gründlich und mit vollkommener Liebe zu Gott gekehrt, und folglich bekehrt, und wäre es auch nur eine Minute lang, mich ihm gänzlich ergeben, so stürbe ich als ein ganz reiner und unbefleckter Mensch; und hätte ich nur eine einzige Sünde begangen, hätte aber nur Reue und Leid ohne vollkommene Liebe zu Gott, so stürbe ich als ein betrübter Büßer. Ich strebe nicht, sprach er, meinen Gott zu kennen, das ist mir hienieden zu hoch, sondern ich lasse mich von ihm bereiten, dass ich ganz Sein werde, so nehme und empfange ich in dem Seinen das meine, mit dem Seinen das meine, ohne das meine; das Überlassen und Hingeben an Ihn ist mein, das Erleuchten ist Sein; Ihn kennen und liebhaben ist gut, aber die Vereinigung der Seele mit Gott ist besser. Wenn ich schlafe, wirke ich nichts, dennoch bin ich, übergebe ich mich aber Gott ganz, so werde ich mit Ihm vereinigt, bin ich aber durch Seine Gnade ganz eins mit ihm, dann kann mir Niemand schaden: denn wer mit Christo vereinigt ist, der scheidet und trennt sich von Allem ohne Schmerzen, und wer dahin gelangt ist, der nehme seiner wohl wahr in allen Dingen, dass er nicht wieder daraus falle, oder mit Lust und Neigung an einem geschaffenen Ding klebe; denn was wir mit Gott besitzen, das können wir auch ohne Betrübnis verlassen, was wir aber nur mit Trauer verlassen, da verrät sichs von selbst, dass wir es gegen Gottes Willen besessen haben. Endlich ist keiner wahrer Buße, Reue und Besserung würdig, als der sich aufrichtig und herzlich nach ihr sehnt; und dieses Sehnen muss Gott geben, denn Gott ist eine Gabe, die sich selbst geben muss. Er ist ein Licht, das in uns sich selbst entzünden muss, Er Selbst ist die Gnade, und Er wirkt die Gnade, Er ist das Leben in Sich Selbst, Er ist das Wesen aller Kreaturen. Er gebe uns, dass wir nach erstgesagter Lehre und Weisung die wahre und wesentliche Buße erreichen mögen. Amen.

1)
Mat. 4
2)
Jesaja, Kapitel 49
3)
Der gottselige Heinrich Suso sagt in den „Dialogen zwischen der ewigen Weisheit und ihrem Schüler“ dasselbe: „Wenn die ganze Welt,“ spricht die ewige Weisheit, „mein brennendes Feuer, und in Mitte darin eine Handvoll dürrer Flachs wäre, so würde er doch nicht sobald von dem Feuer entzündet, als der tiefe Abgrund Meiner unerschöpflichen Barmherzigkeit bereit ist, ein bußfertiges Menschenherz zu Gnaden aufzunehmen!“
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