Stockmeyer, Immanuel - Die Lehre von der Gerechtigkeit durch den Glauben

Stockmeyer, Immanuel - Die Lehre von der Gerechtigkeit durch den Glauben

vom Standpunkt der Sittlichkeit aus gewürdigt.

Der Gegenstand, der uns heute beschäftigen soll, „die Lehre von der Gerechtigkeit durch den Glauben“, ruht nach seiner dogmatischen Seite auf den frühern, hier gehaltenen Vorträgen, besonders auf dem über die Sünde einerseits, und dem über die Versöhnung andrerseits. Er ist aber nun auch vom sittlichen Standpunkt aus zu beleuchten. Denn abgesehen von den dogmatischen Anzweifelungen, deren Widerlegung jene frühern Vorträge gewidmet waren, wird diese Lehre auch im Interesse der Sittlichkeit angezweifelt. Diese Lehre, im Neuen Testament hauptsächlich durch den Apostel Paulus vertreten, bildete im Zeitalter der Reformation die unterscheidende Grundlehre des Protestantismus im Gegensatz zum Katholicismus. Führen wir uns dieselbe nach einigen Stellen der protestantischen Bekenntnißschriften kurz vor Augen. Hören wir zuerst unsere Baslerconfession vom Jahr 1534: „Wir bekennen die Nachlassung der Sünden durch den Glauben in Jesum Christum den Gekreuzigten. Und wiewohl dieser Glaube sich ohne Unterlaß durch die Werke der Liebe übet, hervorthut und also bewähret wird, jedoch geben wir die Gerechtigkeit und Genugthuung für unsere Sünde nicht den Werken, so des Glaubens Früchte sind, sondern allein dem wahren Vertrauen und Glauben in das vergossene Blut des Lammes Gottes. Denn wir frei bekennen, daß uns in Christo, der da unsre Gerechtigkeit, Heiligkeit, Erlösung, Weg, Wahrheit, Weisheit und Leben, alle Dinge geschenket seien. Darum die Werke der Gläubigen nicht zur Genugthuung ihrer Sünden, sondern allein darum geschehen, daß sie damit Gott dem Herrn um die große Gutthat, uns in Christo bewiesen, sich etlicher Maßen dankbar erzeigen.“ - In sehr starker Ausprägung, aber herzlicher, volksthümlicher Ausdrucksweise trägt der Heidelberger Katechismus diese Lehre vor. Auf die 60. Frage: „Wie bist du gerecht vor Gott?“ lautet die Antwort: „Allein durch wahren Glauben an Jesum Christum, also daß, ob mich schon mein Gewissen anklagt, daß ich wider alle Gebote Gottes schwer gesündigt und derselben keines nie gehalten habe, auch noch immerdar zu allem Bösen geneigt bin, doch Gott, ohne all mein Verdienst, aus lauter Gnaden, mir die vollkommene Genugthuung, Gerechtigkeit und Heiligkeit Christi schenket und zurechnet, als hätte ich nie keine Sünde begangen noch gehabt und selbst allen den Gehorsam vollbracht, den Christus für mich hat geleistet, wenn ich allein solche Wohlthaten mit gläubigem Herzen annehme.“ - Aus den Bekenntnißschriften der lutherischen Kirche sei nur an den IV. Artikel der Augsburger Confession erinnert. „Von der Rechtfertigung. Weiter wird gelehret, daß wir Vergebung der Sünden und Gerechtigkeit für Gott nicht erlangen mögen durch unser Verdienst, Werk und Genugthun, sondern daß wir Vergebung der Sünden bekommen und für Gott gerecht werden aus Gnaden um Christus willen durch den Glauben; so wir glauben, daß Christus für uns gelitten hat und daß uns um seinetwillen die Sünde vergeben, Gerechtigkeit und ewiges Leben geschenkt wird. Denn diesen Glauben will Gott für Gerechtigkeit für ihm halten und zurechnen wie St. Paulus sagt zu den Römern am 3. u. 4.“ - Diesen protestantischen Zeugnissen stehe hier katholischerseits gegenüber nur der 2. Canon on der 6. Sitzung des tridentinischen Concils: „Wer da sagt, der rechtfertigende Glaube sei nichts anderes, als das Vertrauen in die göttliche Barmherzigkeit, welche um Christi willen die Sünden vergiebt; oder: dieses Vertrauen sei es allein, wodurch wir gerechtfertiget werden - der sei verflucht.“

Diese Lehre des Protestantismus nun, im Reformationszeitalter nicht nur unterscheidende Grundlehre, sondern bei den vielfach gepflogenen Verhandlungen eigentlich das Haupthinderniß einer Wiedervereinigung beider Confessionen, wird auch vom sittlichen Standpunkt aus angegriffen und zwar nicht nur von ihrer römischen Gegnerin, sondern von Manchem, der sich sonst zum Protestantismus bekennt, und man darf es als Thatsache hinstellen, daß Mancher, der wider die Finsterniß der römischen Irrthümer und Mißbräuche eifert und Luthers Verdienste hoch erhebt, in Bezug auf diese Lehre, gerade die unterscheidende Grundlehre, vielleicht ohne es nur zu ahnen, gut katholisch denkt. - Daß man an eine Glaubenslehre den sittlichen Maßstab anlegt, hat seine gute Berechtigung. Ja, es darf als ein Fortschritt im guten Sinn anerkannt werden, daß man gegen eine Glaubenslehre mißtrauisch wird, die sich nicht durch sittlichen Charakter an sich selbst und durch sittliche Wirkung auf den Menschen legitimiert. Nur muß solch ein sittlicher Maßstab nicht von der Oberfläche, sondern recht aus der Tiefe der sittlichen Bedürfnisse unsrer Menschennatur genommen sein.

Die Angriffe, welche im Interesse der Sittlichkeit gegen unsre Lehre gemacht werden, lassen sich etwa auf folgende zwei Fragen zurückführen: I. Ist es nicht an sich ein unsittlicher Gedanke, daß Gott um des Glaubens willen einen Menschen für gerecht erklären soll, der es doch noch nicht ist? II. Muß nicht eine solche Gerechterklärung alles sittliche Streben vernichten?

Dieser Anklage auf Unsittlichkeit gegenüber wird uns nun doch die Erwägung nahe liegen: wie wir als Christen schwerlich werden annehmen können, daß das paulinische Christenthum, und als Protestanten schwerlich werden annehmen können, daß die Reformation auf unsittlicher Basis ruhe. Auch hat sich die fragliche Lehre weder an Paulus, noch an den Bannerträgern der Reformation: einem Luther, Melanchthon, Calvin, noch überhaupt in der Culturgeschichte des Protestantismus als eine sittlich verderbliche erwiesen. Diese Erwägung soll uns indessen die Prüfung unsrer Lehre keineswegs ersparen, sondern nur uns mahnen, sorgfältig zu prüfen und tiefer auf die Sache einzugehen, ehe wir uns ein Urtheil erlauben.

Es kann sich natürlich hier für uns nicht um eine Darstellung des über unsre Lehre geführten Streites handeln; nicht um specielle Vertheidigung alles dessen, was von dieser, um Widerlegung alles dessen, was von jener Seite ist beigebracht worden. Wir würden dadurch in ein Gewebe zum Theil sehr subtiler Distinctionen hineingeführt werden. Der Streit hat sich in den dreißiger Jahren aus Anlaß der von dem katholischen Theologen Möhler mit viel Geist und Gelehrsamkeit geschriebenen Symbolik (Darstellung der Unterscheidungslehren) lebhaft erneuert und es haben dabei zur Vertheidigung der protestantischen Lehre und gerade auch der Lehre von der Rechtfertigung Männer die Feder ergriffen, die man wohl schwerlich eines bornierten Orthodoxismus beschuldigen wird, ich nenne nur Marheineke und den kürzlich verstorbenen Prof. von Baur in Tübingen. Ein genauerer Einblick in diese Streitsache zeigt, wie im protestantischen Lager in der Hitze des Streites und Gegensatzes wohl mitunter Sätze ausgesprochen, Ausdrücke, Wendungen gebraucht worden sind, die an einer gewissen Einseitigkeit, Spannung, Härte leiden und in diesem Sinne redressiert werden müssen; ja es wurde etwa auch der Bogen einmal so stark gespannt, daß er brach; so, wenn der Lutheraner Nicolaus von Amsdorf in einer besondern Schrift zu beweisen unternahm: daß die Propositio: „gute Werke sind schädlich zur Seligkeit“ - eine rechte wahre, christliche Proposition sei. Andrerseits läßt sich bemerken, wie solche Katholiken, die das Bedürfniß hatten, die Lehre ihrer Kirche tiefer zu erfassen und mit wissenschaftlichen Waffen zu vertheidigen, sich unwillkührlich in manchen Punkten der protestantischen Anschauung genähert haben. Auf dies Alles kann nun hier nicht näher eingetreten werden; wir halten uns an die Grundanschauung der protestantischen Lehre und suchen diese gegen die erhobenen sittlichen Einwürfe zu rechtfertigen.

I.

Erstens also: „nach der protestantischen Lehre,“ sagt man, „wird dem Menschen eine Gerechtigkeit, die außer ihm liegt, ihm fremd ist, nur zugerechnet; er wird von Gott gerecht erklärt, ohne doch wirklich gerecht zu sein. Das ist aber ein unwahres und unsittliches Princip.“ - Hier ist zuvörderst zu erinnern, daß der Begriff dieses Zurechnens so gefaßt werden muß, wie er gemeint ist. Man muß hier, wie überall, wo göttliche Thätigkeiten durch Ausdrücke, die dem menschlichen Leben entlehnt sind, veranschaulicht werden, das Inadäquate, das ihnen anhaftet, davon abstreifen. So geht es denn bei diesem Zurechnen freilich nicht so äußerlich zu, wie etwa im menschlichen Verkehr, wenn dem B. eine Leistung gutgeschrieben, an- und zugerechnet wird, die der A. für ihn übernommen hat; sei es eine Arbeit, die er für ihn verrichtet, oder eine Zahlung, die er für ihn entrichtet hat. Dies Alles ist für den B. etwas ganz Aeußerliches, ihm Fremdes, und gilt ihm doch; kann ihm gelten, selbst ohne daß er nur etwas davon erfährt. So ist es nun von vorn herein nicht mit den Leistungen Christi für die Menschheit. Hier handelt sichs nicht um ein gewisses Quantum von Tugenden und guten Werken, das einmal geleistet werden mußte, gleichviel von wem - und nun hätte es Christus geleistet; und wiederum ein gewisses Quantum von Strafleiden, das ausgehalten werden mußte, gleichviel von wem - und nun hätte es Christus ausgehalten. So todt muß man die Lehre von Christi stellvertretender Gerechtigkeit, seinem thätigen und leidenden Gehorsam freilich nicht auffassen. Vielmehr: Christi heiliges Leben und Wirken von der einen, sein heiliges Leiden und Sterben von der andern Seite macht sein Erlösungs- und Versöhnungswerk aus, durch welches eine entscheidende Reaction gegen die Sünde und ihre Folgen vollbracht, die Schuld der Menschheit gesühnt und für die Menschheit ein neuer Lebensanfang gesetzt ist, wie denn Christus der zweite Adam heißt; ein neues Leben, da die Menschheit durch Christum mit Gott Gemeinschaft hat.

Gleichwohl hat nicht jeder Mensch ohne Weiteres Antheil an diesem neuen Leben, sondern der Glaube an Christum ist die noth wendige Bedingung dazu. Unter Glauben aber - das ist in diesen Vorträgen nun schon mehrfach von verschiedenen Seiten her und bei verschiedenen Gelegenheiten erinnert worden - unter Glauben ist schlechterdings nicht ein theoretischer Vorgang zu verstehen, der nur innerhalb der menschlichen Erkenntniß stattfände; es ist vielmehr ein recht eigentlich praktisches Verhalten; es ist das energische Ergreifen der durch Christum innerhalb der Menschheit verwirklichten und nun in Christo dem Menschen dargebotenen Gnade Gottes; oder kürzer: es ist das energische Ergreifen Christi selbst; also ein Vorgang, der das Geistesleben des Menschen recht in seinem innersten Mittelpunkt betrifft, ein Vorgang, wodurch der Mensch Christo selbst eingepflanzt oder einverleibt wird und nun in dieser Gemeinschaft Antheil hat an der durch Christum vollbrachten Reaction gegen die Sünde und Schuld der Menschheit. Auch seine, des Glaubenden, persönliche Sünde und Schuld ist nun durch Christum gesühnt und er steht in der Gemeinschaft des durch Christum in der Menschheit gesetzten göttlichen Lebens. Luther hat sich hierüber in seiner berühmten Schrift: „von der Freiheit eines Christenmenschen“ in höchst tiefsinniger, - wenn man will mystischer Weise, aber jedenfalls im besten Sinn des Worts mystischer Weise, sofern es sich hier wirklich um das zarteste und innigste Geheimniß der Gottseligkeit handelt - also ausgesprochen: „Der Glaube vereiniget die Seele mit Christo als eine Braut mit ihrem Bräutigam. Aus welcher Ehe folget, wie St. Paulus sagt Eph. 5,20, daß Christus und die Seele Ein Leib werden; so werden auch beider Güter, Fall, Unfall und alle Dinge gemein; daß, was Christus hat, das ist eigen der gläubigen Seele, was die Seele hat, wird eigen Christi. So hat Christus alle Güter und Seligkeit, die sind der Seele eigen. So hat die Seele alle Untugend und Sünde auf ihr, die werden Christi eigen. Hier hebt sich nun der fröhliche Wechsel und Streit. Dieweil Christus ist Gott und Mensch, welcher noch nie gesündigt hat und seine Frömmigkeit unüberwindlich, ewig und allmächtig ist, so er denn der gläubigen Seele Sünde durch ihren Brautring, das ist der Glaube, ihm selbst eigen macht und nicht anders thut, denn als hätte er sie gethan, so müssen die Sünden in ihm verschlungen und ersäufet werden. Denn seine unüberwindliche Gerechtigkeit ist allen Sünden zu stark. Also wird die Seele von allen ihren Sünden lauterlich durch ihren Mahlschatz, das ist des Glaubens halben, ledig und frei und begabet mit der ewigen Gerechtigkeit ihres Bräutigams Christi.“

Es geht aus dem Gesagten hervor erstlich, daß für den Glaubenden die Gerechtigkeit Christi eben nichts Fremdes mehr ist, das ihm nur willkührlicher Weise könnte zugerechnet werden, vielmehr ist sie etwas Angeeignetes, das ihm gehört vermöge - wenn wir so sagen dürfen - der Solidarität, welche zwischen Christo und ihm nun eingetreten ist. Der Glaubende führt keine gesonderte Existenz mehr fort, sondern er lebt fortan in der Gemeinschaft Christi als ein ihm einverleibtes Glied und so wird er nun auch von Gott angesehen: nicht als das, was er ist, an und für sich betrachtet, sondern in seiner durch den Glauben vermittelten Zusammengehörigkeit mit Christo.

Ferner geht hervor, daß der Glaube durchaus nicht etwas sittlich indifferentes ist, so daß die oft gehörte Beschuldigung zuträfe: das ist ja sehr bequem! da lebt und denkt und fühlt der Mensch wie er will - er glaubt nur und nun wird er für gerecht erklärt! Nein; der Glaube in seiner energischen Richtung auf Christum und seine Gerechtigkeit ist ein Geistesakt von positiv sittlichem Charakter. „Glaube,“ sagt Luther in seiner Vorrede zum Römerbrief, „ist eine lebendige, erwegene Zuversicht auf Gottes Gnade, so gewiß, daß er tausendmal darüber stürbe.“ Und der Heidelberger Katechismus nennt den Glauben „ein herzliches Vertrauen, welches der heilige Geist durchs Evangelium in mir wirket.“ Wenn es nun gleich nach protestantischer Lehre der heilige Geist ist, der den Glauben im Menschen wirken muß und ohne welchen der Mensch nimmermehr zum Glauben kommen würde (wie auch schon der Apostel Paulus spricht 1 Cor. 12,3: Niemand kann Jesum einen Herrn heißen ohne durch den heiligen Geist), so ist es doch der menschliche Geist, in welchem er ihn wirkt und dessen Kräfte er dabei in Bewegung setzt, und es ist der menschliche Wille, dem er diese entschiedene Richtung giebt auf Christum hin, so daß der Glaube durchaus kein rein passives Verhalten, sondern ein Zustand höchster Aktivität ist. Nur das will die protestantische Lehre streng festgehalten wissen, daß nicht etwa nun dem Glauben gewissermaßen eine Verdienstlichkeit beigelegt werden darf; daß nicht der Glaube so darf angesehen werden, als ob er, als subjektiver Zustand und dem Menschen inwohnende Qualität den Menschen in Gottes Augen so wohlgefällig mache, daß er ihn deßhalb für gerecht erklärte, in welchem Falle der Mensch seine Gerechtigkeit doch wieder in sich selbst hätte, nämlich in seinem Glauben. Der Glaubende hat aber seine Gerechtigkeit nicht in sich, sondern in Christo; der Glaube aber ist das Mittel, wodurch er sich Christum und seine Gerechtigkeit aneignet. Gegen eine solche mißverständliche Schätzung des Glaubens verwahrt sich der Heidelberger Katechismus ausdrücklich, indem er auf die Eingangs angeführte 60. Frage sogleich die folgen läßt: „warum sagst du, daß du allein durch den Glauben gerecht seiest?“ und antwortet: „nicht, daß ich von wegen der Würdigkeit meines Glaubens Gott gefalle, sondern darum, daß allein die Genugthuung, Gerechtigkeit und Heiligkeit Christi meine Gerechtigkeit vor Gott ist und ich dieselbe nicht anders, als allein durch den Glauben annehmen und mir zueignen kann“ ,

Noch schärfer tritt der sittliche Charakter des Glaubens hervor, wenn wir erwägen, wie der Glaube nicht zu trennen ist von dem negativen Moment - der Buße; der Buße - im biblischen Sinn, wornach es nicht heißt Abbüßung irgend einer Verschuldung durch irgend eine Strafe, sondern Aenderung des Sinnes hinsichtlich der Sünde; ein Verurtheilen der Sünde nicht nur im Allgemeinen, sondern der eigenen persönlichen Sünde, wodurch es sich gestaltet zur Reue, zum schmerzlichen Bewußtsein sowohl der einzelnen sündlichen Akte in That, Wort und Gedanken, als des sündlichen Zustandes, aus welchem diese Akte hervorgingen; zum schmerzlichen Bewußtsein der Unmöglichkeit, aus eigenen Mitteln das begangene Böse wieder gut zu machen, oder auch nur von nun an den Zusammenhang mit der Sünde aufhören zu lassen; zum schmerzlichen Bewußtsein, wie verdammlich die Sünde ist vor dem heiligen Gott und wie sie den Menschen scheidet von Gott. Ein Bewußtsein, dessen Intensivität (Stärke) keineswegs abhängt von der relativen Größe und Auffälligkeit der einzelnen Versündigungen, sondern von der Tiefe des sittlichen Gefühls und dem Grad der Empfänglichkeit für den Gegensatz zwischen dem heiligen Gott und dem sündigen Menschen. Noch weniger aber, als beim Glauben, kann hier von irgend einer Verdienstlichkeit die Rede sein, so daß etwa die Buße des Menschen Gerechtigkeit würde. Ist doch vielmehr die Buße eben das schmerzliche Bewußtsein und Bekenntniß des völligen Mangels an aller eigenen Gerechtigkeit, welches den Menschen treibt, seine Gerechtigkeit außer sich zu suchen und so die Vorbedingung wird des Glaubens, der sie dann findet in Christo.

In dem bisher Gesagten ist nun zwar das Eigenthümliche der protestantischen Lehre auch schon enthalten, aber doch noch nicht scharf genug hervorgehoben worden. Darin, daß der Mensch gerecht und selig werde durch die Verdienste Christi, und daß zur Aneignung derselben der Glaube nöthig sei - stimmen beide Kirchen überein. Die Differenz tritt erst recht hervor bei der Auffassung des Aneignungsprocesses, hei der Bestimmung, was die Rechtfertigung eigentlich sei und wie der Mensch dazu komme. Nach katholischer Lehre ist die Rechtfertigung nicht eine Gerechterklärung, sondern eine Gerechtmachung des Sünders; d. h. durch das Verdienst des heiligen Leidens Christi gießt der heilige Geist die Liebe Gottes in das Herz des Menschen aus; der Mensch wird innerlich erneuert und kann und soll nun das Gesetz Gottes halten und solche gute Werke thun, die dasselbe befriedigen. Das Alles zusammen heißt erst Rechtfertigung. „In der Rechtfertigung selbst - sagt das tridentische Concil im 7. Capitel der 6. Sitzung - bekommt der Mensch durch Christum, dem er eingepflanzt wird, mit der Vergebung der Sünden das alles zugleich eingegossen: Glauben, Hoffnung und Liebe.“ Oberflächlich betrachtet scheint diese Auffassung von der protestantischen nicht wesentlich verschieden; sieht man aber genauer zu, so wird man gewahr, wie sehr hier das Moment der Sündenvergebung und Begnadigung in den Hintergrund tritt; die Rechtfertigung fällt so ziemlich mit dem zusammen, was wir die Heiligung nennen; sie kommt nie zu einem Abschluß, sondern wird zu einem successiven Proceß, der sich durch das ganze Leben hinzieht, denn die Gerechtfertigten, wie Cap. 10 derselben Sitzung ausdrücklich sagt, werden immer mehr gerechtfertigt. Die protestantische Lehre dagegen unterscheidet die Rechtfertigung selbst als selbstständiges Moment von der Heiligung, als der nothwendigen Folge davon. Die Rechtfertigung selbst besteht nach ihr darin, daß Gott den Menschen für gerecht erklärt, für richterlich losgesprochen von aller Schuld, so daß der Mensch sich der vollen Versöhnung mit Gott bewußt, der Gnade Gottes versichert ist und den Frieden Gottes genießt; daß ferner, wenn er mit dieser Erfahrung im Herzen alsogleich zu sterben käme, er gewiß wäre, selig zu sterben und dem Gericht entnommen zu sein; - und das alles nicht auf Grund irgend welcher eigenen Würdigkeit, so daß er seine Gerechtigkeit irgendwie in sich selbst hätte, sondern um Christi willen, dem er durch den Glauben so einverleibt ist, daß er nicht mehr für sich, sondern in Christo fortexistiert und so auch von Gott nicht mehr als für sich selbst existierend, sondern als mit Christo zusammengehörig angeschaut wird, als ein Glied des geistlichen Leibes, an dem Christus das Haupt ist. Mag nun auf den ersten Blick dem, was man den gemeinen Menschenverstand nennt, die katholische Lehre begreiflicher und einleuchtender erscheinen, so wird die genauere Erwägung, zu welcher ein tieferes religiöses und sittliches Bedürfniß führt, die Wahrheit auf Seiten der protestantischen Lehre finden. Machen wir uns dies anschaulich, indem wir auf die Erfahrung der beiden Männer zurückgehen, in welchen die Lehre von der Gerechtigkeit aus dem Glauben gleichsam verkörpert erscheint: - des Apostels Paulus, welcher sie zuerst in voller Schärfe dargestellt, und Luthers, welcher dieselbe zum Princip nicht nur seines eigenen christlichen Lebens, sondern seines ganzen Reformationswerkes gehabt hat. Als Paulus nach der ihm zu Theil gewordenen Erscheinung des Herrn in Damaskus einen dreitägigen Seelenkampf bestand, als er dem leiblichen Auge nach erblindet, aber dem innern Auge nach über seinen Zustand erleuchtet, sein ganzes bisheriges Leben als verfehlt erkennen mußte, zugebracht in Unglauben und Widerstreben gegen den Gott, dem er durch seinen blutigen Verfolgungseifer zu dienen gewähnt - da ward ihm Begnadigung, indem er sich taufen ließ auf den Namen Jesu Christi. Er brachte seinerseits nichts hinzu, als den Schmerz über sein vergangenes Leben und den Glauben an Christum; er war sich seinerseits nur bewußt, schuldbeladen zu sein und in Christo Gerechtigkeit zu suchen: und nun durfte er sich bewußt werden, bei Gott in Gnaden zu sein um des Jesus willen, den er verfolgt hatte. Während er noch, eben vermöge seiner Buße in sich selbst nichts fand, als verdammliche Ungerechtigkeit - da durfte er bereits erfahren, was es sei: in Christo erfunden werden und als seine Gerechtigkeit zu haben die vermittelst des Glaubens an Christum, die Gerechtigkeit, die aus Gott ist und auf dem Glauben beruht; denn - daß er in Christo war, dazu hatte ihm allein der Glaube verholfen. Das war seine Rechtfertigung, ein selbstständiger Akt göttlichen Erbarmens, der seinem nunmehr erst beginnenden neuen Lebenslauf voranging und der Ursprung und die Quelle alles folgenden wurde. Dies Bewußtsein von der rechtfertigenden Gnade, die lediglich durch den Glauben an Christum ergriffen wird, ist nun der Grundton seines ganzen Lebens, der in allen seinen Briefen durchklingt; für immer stand ihm fest: daß der Mensch gerecht wird ohne des Gesetzes Werke - durch den Glauben.

Blicken wir auf die innere Lebensgeschichte des Reformators Dr. Martin Luther. Er lebt in seiner Zelle zu Erfurt als frommer Mönch im besten Sinne des Worts. Er hält sich mit gewissenhaftester Strenge an seine Ordensregel und nicht etwa in heuchlerischem Sinn, als wollte er durch diese äußerlichen Casteiungen gleichsam Gott nur schadlos halten für den viel wichtigern sittlichen Gehorsam, den er ihm schuldig bleiben wollte. Nein; es ist ihm Ernst, sich Gott angenehm zu machen und seinen Frieden zu erlangen, und er hält nach dem Glauben seiner Zeit eben das Ordensleben für den sichersten Weg dazu; die Ascese soll ihm das Mittel sein, heilig zu werden und jede böse Regung zu dämpfen. Er kommt aber auf diesem Weg so wenig zum Frieden mit Gott, daß er sich vielmehr des Zwiespalts zwischen seiner sündigen Natur und Gott nur immer stärker bewußt wird und in tiefe Bekümmerniß und Schwermuth versinkt. Nichts tröstet ihn, als der Zuspruch eines alten Klosterbruders, der ihn erinnert, wie ja das christliche Glaubensbekenntniß auch die Worte enthalte: ich glaube eine Vergebung der Sünden. Da dämmert bereits die Bedeutsamkeit der Sündenvergebung als eines selbstständigen Momentes vor ihm auf und zum vollen Licht der Wahrheit und des Trostes gelangt er sodann, da er als Doctor der h. Schrift veranlaßt wird, sich mit gründlichem Studium in die Schriften des Apostels Paulus zu versenken. Da findet er als Thatsache der Erfahrung niedergelegt und zum klarsten Bewußtsein ausgeprägt die Wahrheit, daß der Mensch gerecht wird durch den Glauben an Christum und dadurch Frieden hat mit Gott. Seine eigene Erfahrung bejaht den Ausspruch des Apostels Röm. 5,1: nun wir denn sind gerecht worden aus Glauben, so haben wir Frieden mit Gott durch unsern Herrn Jesum Christum. Das ist ihm von nun an das rettende und entscheidende Evangelium. Die Gewißheit, von Gott begnadiget zu sein, nicht um irgend welcher eigenen Würdigkeit willen, nicht um des Grades von Liebe oder Heiligkeit willen, den er selbst bereits erlangt hätte, sondern gerade absehen zu dürfen von seinem eigenen, ihn selbst so wenig befriedigenden und darum den heiligen Gott noch viel weniger befriedigenden sittlichen Zustand, und schauen zu dürfen allein auf Christum und sagen zu dürfen: was Christus hat, ist mein, weil ich durch den Glauben Christi eigen geworden bin - diese Gewißheit hat ihm jene freudige Heldenkraft verliehen, in welcher er nicht nur den Kampf der eigenen Heiligung, sondern den Kampf gegen die herrschende Gewalt seines ganzen Zeitalters unternommen und durchgeführt hat. Die Macht, mit welcher ihn das Bewußtsein durchdrang: ist Gott für uns, wer mag wider uns sein? beruhte auf diesem rechtfertigenden Glauben. Ihn hatte er erfahren als „die lebendige, erwegene Zuversicht auf Gottes Gnade, so gewiß, daß er tausendmal darüber stürbe.“

An diesen beiden Beispielen tritt uns die Wichtigkeit der Rechtfertigung nach protestantischer Lehre als eines selbstständigen Begnadigungsaktes besonders deutlich entgegen. Sie erleidet aber ihre Anwendung auf das normale Christenleben überhaupt und beruht auf allgemein gültigen, gerade sittlichen Momenten. Je größer die sittliche Tiefe und Wahrhaftigkeit ist bei dem Menschen, desto mehr wird er sich des Zwiespaltes zwischen sich, dem immer sündigen und höchst unvollkommenen Geschöpf und dem heiligen Gott bewußt werden; desto mehr genöthiget werden, seine Gerechtigkeit nicht in sich, dem Unvollkommenen, sondern in Christo, dem Vollkommenen zu suchen. Auf der andern Seite wiederum beruht die Möglichkeit, Gott von Herzen zu lieben und in dieser Liebe nach der Heiligung zu streben mit der Freiheit und Freudigkeit, welche eben das Wesen der Liebe ist - also es beruht gerade das wahrhaft sittliche Streben auf einer Rechtfertigung, die nicht erst abhängig sein darf von der bereits erlangten Heiligung, sondern die als Bedingung der Heiligung selbstständig an mir vollzogen werden muß. Denn so lange ich nicht gewiß bin, daß Gott mich begnadigt hat, ich Frieden habe mit ihm, und auch die mir noch anhaftende Sünde keine Scheidewand mehr bildet zwischen Gott und mir - so lange kann ich auch Gott nicht von Herzen lieben. Erst die Erfahrung der Liebe Gottes als einer solchen, die aus freiem Erbarmen mich Sünder um Christi willen begnadiget, ruft die freie, reine, kräftige und fruchtbare Gegenliebe in mir hervor. Eben diese Gewißheit der Begnadigung aber ist es, woran die katholische Lehre vorzüglich Anstoß nimmt. Das tridentinische Concil im 9. Kap. der 6. Sitzung spricht es aus: „Ein Jeder, indem er sich selbst, seine eigene Schwachheit und Mangelhaftigkeit ansiehet, mag über seinen Gnadenstand in Furcht und Besorgniß sein, da Keiner mit der Glaubensgewißheit, der nichts Falsches zum Grunde liegen kann, zu wissen vermag, daß er die Gnade Gottes erlangt habe.“

II.

Dies führt uns nun zu unsrer zweiten Frage, nämlich: wird nun wirklich die Rechtfertigung aus dem Glauben, also die Gewißheit, durch den Glauben um Christi willen von Gott begnadigt und gerecht erklärt zu sein - wird sie wirklich die Heiligung des Menschen zur Folge haben? Wird sie nicht vielmehr alles sittliche Streben lähmen, indem der Mensch mit seiner Gerechterklärung vor Gottes Gericht sich begnügt und gar nicht begehrt, auch seinem wirklichen sittlichen Zustande nach immer heiliger zu werden?

Diese Frage erledigt sich sehr einfach, wenn nur das recht fest gehalten wird, daß die protestantische Lehre die Rechtfertigung durchaus nur dem Glauben zuspricht und zwar dem Glauben in dem Sinne, wie sie den Glauben versteht, also dem Glauben, durch welchen wir in wesentliche Lebensgemeinschaft mit Christo versetzt werden. Rechtfertigung ist demnach nur da, wo Lebensgemeinschaft mit Christus ist; wo aber diese stattfindet, da ist es ganz undenkbar, daß der Mensch bleibe, wie er ist, daß er nicht geheiliget werde. Denn in allen Gliedern, die seinem geistlichen Leibe, der Gemeinde lebendig angehören, treibt Christus durch seinen Geist und wirkt in ihnen die Heiligung.

Wie scharf und klar sich die unzertrennliche Zusammengehörigkeit der Rechtfertigung und der Heiligung darstellen lasse, ohne doch beide mit einander zu identifizieren oder zu vermischen, ohne die Rechtfertigung in der Bedeutung zu beeinträchtigen, die ihr die protestantische Lehre als selbstständigem Moment beilegt - das hat Calvin gezeigt. Er sagt im 3. Buch seiner Institutionen, im 11. Capitel und 6. Paragraph: „Wie Christus nicht zertheilt werden kann, so sind diese beiden, die wir in ihm zusammen und miteinander empfangen, unzertrennlich: die Rechtfertigung und die Heiligung. Die also Gott in seine Gnade aufnimmt, die beschenkt er auch mit dem Geiste der Kindschaft, durch dessen Kraft er sie nach seinem Bild umgestaltet. - Werden wir nun aber, weil die Klarheit der Sonne nicht getrennt werden kann von ihrer Wärme, deßhalb sagen: durch das Licht werde die Erde erwärmt, durch die Wärme aber erleuchtet? Dieses Gleichniß ist am besten geeignet, diesen Gegenstand klar zu machen: die Sonne macht durch ihre Wärme die Erde treibend und fruchtbar, durch ihre Strahlen erhellt und erleuchtet sie dieselbe; hier besteht ein gegenseitiger unzertrennlicher Zusammenhang; aber das Eigentümliche des Einen auf das Andere überzutragen, verbietet die Vernunft.“

Wie eng Rechtfertigung und Heiligung zusammenhangen, wie letztere die nothwendige Folge ist der erstern, das erhellt auch aus den Zeugnissen des Apostels Paulus über die Thatsachen seines Erfahrungslebens. Wenn Jemand in Christo ist - also durch den Glauben in die Gemeinschaft mit Christo gesetzt ist, welcher wir die Rechtfertigung verdanken, so ist er eine neue Kreatur; ) das Alte ist vergangen, siehe, neu ist Alles geworden! Diese Erneuerung ist nicht so zu denken, als ob sie mit Einem Schlag erfolgte, sondern durch die Einpflanzung in Christum ist der entscheidende Anfang gesetzt und die Erneuerung vollzieht sich nun immermehr in der Heiligung. Der herrschende Trieb in der Seele des durch Christi Tod Gerechtfertigten ist die von Christus ihm zuerst erwiesene und nun ihm mitgetheilte Liebe. „Die Liebe Christi, sagt der Apostel, „hat uns ergriffen, sintemal wir halten, daß, so Einer für Alle gestorben ist, so sind sie Alle gestorben. Und er ist dazu für Alle gestorben, auf daß, die da leben, nicht mehr sich selbst leben, sondern dem für sie Gestorbenen und Auferstandenen.“ Diese Liebe zu Gott und Christus, welche die Seele des Gerechtfertigten beherrscht, ist das Princip alles sittlichen Lebens. Sie ist nicht etwa so zu denken, als ob der Christ gegen das Gute und Heilige, gegen allerlei Tugenden und gute Werke für seine Person eher einen Widerwillen hätte, aber aus persönlicher Liebe zu Gott und Christus verstünde er sich doch dazu, Gutes zu thun. Vielmehr das Gute und Heilige ist Gottes eigenstes Wesen, „Gott ist ein Licht, in dem keine Finsterniß ist.“ ) Gott lieben heißt den Inbegriff alles Guten lieben, und Christum lieben heißt die vollkommenste Erscheinung des Guten in der Form menschlichen Lebens lieben. Vermöge dieser Liebe ist die Weissagung des Jeremias?) erfüllt, laut welcher Gott mit seinem Volk einen neuen Bund machen will, darin bestehend, daß er sein Gesetz in der Menschen Herz giebt und in ihren Sinn schreibt. Nach dem Brief an die Galater bekommen wir, indem wir durch den Glauben Christo eingepflanzt werden, auch den heiligen Geist und dieser ist ein mächtiger Lebenstrieb in uns, „dessen Frucht ist Liebe, Freude, Friede, Langmuth, Freundlichkeit, Gutheit, Treue, Sanftmuth, Enthaltsamkeit. Wider diese ist das Gesetz nicht!“ Also durch den Geist Gottes, als innern Lebenstrieb, wenn der Mensch sich diesem hingiebt und ihm folgt und in seiner Kraft die Triebe des Fleisches überwindet, wird er in einen Zustand versetzt und zu Lebensäußerungen vermocht, die dem Gesetz, dem Ausdruck des göttlichen Willens, entsprechend sind. So Paulus. Hören wir noch aus der Vorrede zum Römerbrief, wie Luther die sittliche Erneuerung des Menschen als unausbleibliche Folge des wahren, rechtfertigenden Glaubens darzustellen weiß. „Glaube,“ heißt es dort, „ist nicht der menschliche Wahn und Traum, den Etliche für Glauben halten und wenn sie sehen, daß keine Besserung des Lebens noch gute Werke folgen, und doch vom Glauben viel hören und reden können, fallen sie in den Irrthum und sprechen: der Glaube sei nicht genug, man müsse Werke thun, soll man fromm und selig werden. Das machet, wenn sie das Evangelium hören, so fallen sie daher und machen ihnen aus eigenen Kräften einen Gedanken im Herzen, der spricht: ich glaube! Das halten sie denn für einen rechten Glauben. Aber wie es ein menschlich Gedicht und Gedanken ist, den des Herzens Grund nimmer erfähret, also thut er auch nichts und folget keine Besserung hernach. Aber Glaube ist ein göttlich Werk in uns, das uns wandelt und neu gebieret aus Gott und tödtet den alten Adam und machet uns ganz andere Menschen von Herzen, Muth, Sinn und Kräften und bringet den heiligen Geist mit sich. O, es ist ein lebendig, schäftig, thätig, mächtig Ding um den Glauben, daß unmöglich ist, daß es nicht ohne Unterlaß sollte Gutes wirken. Er fraget auch nicht, ob gute Werke zu thun sind, sondern, ehe man fraget, hat er sie gethan und ist immer im Thun. Wer aber nicht solche Werke thut, der ist ein glaubloser Mensch, tappet und siehet um sich nach dem Glauben und guten Werken, und weiß weder, was Glaube noch gute Werke sind, wäschet und schwatzet doch viel Worte vom Glauben und guten Werken.“ Und weiter: „daher der Mensch“ (nämlich eben durch den Glauben) „ohne Zwang willig und lustig wird, Jedermann Gutes zu thun, Jedermann zu dienen, allerlei zu leiden Gott zu Lieb und zu Lob, der ihm solche Gnade erzeiget hat. Also daß unmöglich ist, Werke vom Glauben scheiden, ja so unmöglich, als Brennen und Leuchten vom Feuer mag geschieden werden. Darum siehe dich vor vor deinen eigenen falschen Gedanken und unnützen Schwätzern, die vom Glauben und guten Werken klug sein wollen zu urtheilen und sind doch die größesten Narren. Bitte Gott, daß er den Glauben in dir wirke, sonst bleibst du wohl ewiglich ohne Glauben, du dichtest oder thust, was du willst oder kannst.“ - Nach diesen Darstellungen werden wir das Ganze in folgendes Dilemma resümieren können: Entweder es ist ein Mensch durch wahren Glauben wirklich gerechtfertigt, dann sind auch Heiligung und gute Werke unausbleiblich die weitere Folge davon. Oder: Heiligung und gute Werke bleiben aus, dann ist auch kein wahrer Glaube vorhanden und dann findet auch keine Rechtfertigung statt. Was in solchem Falle der Mensch doch etwa noch seinen Glauben nennt, das ist Etwas, dem Paulus die Ehre dieses Namens gar nicht gönnen würde, Jacobus nennt es einen todten Glauben; eine Gestalt, die vielleicht die scharfgeschnittenen Gesichtszüge einer ausgeprägten Glaubenslehre zeigt, aber es ist ein bleiches, kaltes Todtenantlitz. Es ist, wenn man ihm den Namen überhaupt geben will, ein Glaube, der - weil er todt ist - überhaupt nichts vermag; der, wie er den Menschen nicht sittlich erneuert, so auch ihm nicht zur Rechtfertigung verhilft, weil er ihn überhaupt nicht mit Christo in lebendige Gemeinschaft bringt.

Ist nun hiemit die Beschuldigung zurückgewiesen, die Rechtfertigung aus dem Glauben lähme und hindere das sittliche Streben, so sei es noch gestattet, an zwei Punkten nachzuweisen, wie eben durch dies protestantische Princip dem sittlichen Streben seine Reinheit und Tiefe gesichert wird. Der eine Punkt betrifft die auch im Wiedergebornen unläugbarer Maßen noch zurückbleibende böse Lust oder Neigung zur Sünde. Die katholische Lehre, welche die Rechtfertigung des Menschen nicht vom Glauben und der ihm zugerechneten und geschenkten Gerechtigkeit Christi, sondern von dem wirklichen Zustand des Menschen abhängig macht, ist dahin gedrängt worden, von dieser Lust zu behaupten „sie an sich sei nicht Sünde noch Gegenstand des göttlichen Mißfallens. Sie werde im Menschen zurückgelassen zum Behuf des Kampfes. Der Apostel Paulus nenne sie nur deßhalb bisweilen Sünde, weil sie aus der Sünde stammt und zur Sünde reizt. Sie werde erst dann zur Sünde, wenn der Mensch mit seinem Willen beistimme.“ Aber - wie sollte doch, was aus der Sünde stammt und zur Sünde reizt, und nicht außerhalb des Menschen befindlich ist, sondern ihm selber innewohnt, wie sollte das nicht Sünde und Gott mißfällig sein? Ferner: wie läßt sich doch hier Lust und Wille so haarscharf von einander sondern? Wenn der Mensch in sich selbst eine einigermaßen heftige Begierde empfindet, selbst wenn es zu keinem förmlichen Willensakt, zu keinem bösen Entschluß oder Vorsatz kommt - ist nicht doch der Wille irgendwie betheiligt? Wo hört das Gebiet der bloßen Lust auf, wo fängt das des Willens an? Wie nahe liegend, fast unvermeidlich ist hier die Versuchung, diese Gränze willkührlich zu seinen Gunsten zu ziehen und manche leisere Versündigung des Willens immer noch auf Rechnung der bloßen Lust zu setzen! -

Nach protestantischem Princip nun hat der Wiedergeborene auch bei treugeführtem Kampf des Geistes gegen das Fleisch, auch bei fortschreitender Heiligung seine Rechtfertigung vor Gott doch immer noch nicht in seinem individuellen Zustand, in dem, was er bereits geworden ist, sondern nur in seiner Zusammengehörigkeit mit Christo, in welche ihn der Glaube versetzt hat und in welcher ihm Christi vollkommene Gerechtigkeit zugerechnet wird. Desto reiner und tiefer, desto idealer (daß ich mich dieses modernen Ausdrucks bediene) kann er nun die in der Heiligung ihm gestellte Aufgabe erfassen. Er geht aus nicht nur auf Vermeidung jeder förmlichen Einwilligung in die böse Lust, sondern auf Ertödtung der bösen Lust selbst. Ihn schmerzt und reut nicht nur jede wirklich zu Stande kommende Sünde, zu der er sich in Werk, Wort oder Gedanken hinreißen läßt und die ihn freilich am tiefsten betrübt, als Symptom eines Rückfalls in die alte Krankheit: - sondern ihm erweckt Schmerz und Reue jede Regung der bösen Lust selber als Symptom des noch fortwirkenden noch immer nicht völlig getilgten Krankheitsstoffes, als etwas, das Gott höchlich an ihm mißfallen muß - und er fühlt sich um so mehr getrieben, sich mit aller Energie an Christum zu halten, der ihm von Gott gemacht ist zu Beidem: zur Gerechtigkeit und Heiligung. ,. Der andre Punkt betrifft die Verdienstlichkeit der guten Werke. Man darf nur die beiderseitigen Lehren neben einander halten um zu sehen, auf welcher Seite das innerste Wesen der Sittlichkeit, die uneigennützige Liebe, in seiner Reinheit und Tiefe besser gewahrt wird. Nach der katholischen Lehre ist zwar auch alles Gute, was der Wiedergeborne thun kann, insofern Gnadengabe, als er es nur thun kann in Kraft des heiligen Geistes, den ihm Gott um Christi willen mitgetheilt hat. Aber vermöge dieser Gabe kann er (nach katholischer Lehre) solche gute Werke thun, durch welche er dem göttlichen Gesetz, so weit es für dieses Leben verlangt wird, genug thut und sich Vermehrung der Gnade, das ewige Leben, Vermehrung der himmlischen Herrlichkeit recht im eigentlichen Sinne des Wortes verdient. Ja, es ist auf diesem Boden die Lehre von den überschüssigen Verdiensten erwachsen, welche zwar die katholische Kirche nie förmlich sanctioniert, noch weniger aber jemals verworfen hat, sondern in der Praxis des Ablasses faktisch anerkennt. Nämlich - so wird gelehrt, - wer nicht nur thut, was das göttliche Gesetz fordert, sondern auch, was die sogenannten evangelischen Nachschläge empfehlen, betreffend freiwillige Armuth, Ehelosigkeit, Casteiungen u.s. w. — wer darin so viel leistet, daß die Kirche ihn canonisieren, d. i. unter die Heiligen versetzen kann, der hat so viel verdient, daß er mehr hat, als er selber braucht, und diese überschüssigen Verdienste zusammen mit dem gleichfalls überschüssigen Verdienst Christi bilden einen Schatz von Verdiensten, aus welchem die Kirche Ablaß er theilt, d. h. Nachlaß der sonst nöthigen Kirchenbußen und zeitlichen Strafen. An diesem Ausläufer der katholischen Lehre wird recht ersichtlich, wie mißlich es überhaupt ist und wie es von dem reinen Wesen lebendiger, innerlicher Sittlichkeit abführt, wenn man Gott gegenüber von eigentlichen Verdiensten reden will. Ist es schon an sich unstatthaft, dem Gott gegenüber, der von der einen Seite absolut allmächtig, von der andern Seite die Liebe und Erbarmung ist, ihm gegenüber von Verdiensten zu reden, von etwas, das er uns schuldig sei - so ist dies noch mißlicher dem durchaus heiligen Gott gegenüber, vor welchem auch unsre besten Werke nie bis ins Innerste rein, nie vollzählig und nie vollständig sind. Noch weniger ist unser individueller Gesammtzustand jemals dem göttlichen Gesetz, d.h. dem heiligen Willen Gottes so vollkommen entsprechend, daß wir sagen dürften: jetzt habe ich das ewige Leben und die himmlische Seligkeit verdient. - Dieses Alles in aller Aufrichtigkeit und Demuth anzuerkennen, überall seine Unvollkommenheit und Sündhaftigkeit einzugestehen, mithin durchweg sittlich wahr zu sein in seinem Urtheil über sich selbst, daran ist der durch den Glauben Gerechtfertigte durch sein Bewußtsein nicht nur nicht gehindert, sondern er ist darauf angewiesen. Weil er überall, wo er vor Gott als seinem Richter steht, nicht auf sich, sondern auf Christum und dessen vollkommene Gerechtigkeit baut, so will er Gott gegenüber überhaupt von keinem Verdienste wissen. Seine guten Werke thut er nicht, um sich damit das ewige Leben erst zu verdienen, sondern er thut sie aus dankbarer Liebe gegen Gott, der ihm in Christo das ewige Leben geschenkt hat. Er thut sie, weil die Liebe zu Gott und zu seinem heiligen Willen das lebendige Gesetz, der Trieb seines innern Lebens geworden ist. Und wenn er es dankbar annimmt, daß die heilige Schrift den guten Werken einen Lohn verheißt, so betrachtet er den Lohn nicht unter dem Gesichtspunkt eines Rechtes oder Verdienstes, sondern unter dem einer guten Frucht oder Folge. Wenn er im Glauben und mithin in der Heiligung treu beharrt bis ans Ende, so hat das die Folge, daß er selig wird, zur Vollendung des ewigen Lebens gelangt, - aber damit hat nicht er sich das ewige Leben verdient! Wenn er in diesem Leben schon in der Heiligung von Stufe zu Stufe steigt und damit in Gottes Frieden und wahrer Beseligung immer mehr befestiget und gefördert wird, so sieht er darin nicht ein Verdienst von seiner Seite, sondern spricht mit dem Apostel: nun ich bin von der Sünde frei und Gott unterthan geworden, habe ich meine Frucht zur Heiligung, das Ende aber das ewige Leben. Und wenn er die Freude erlebt, daß seine Arbeit nicht vergeblich ist in dem Herrn, sondern, was er aus Liebe zu Gott thut, seinen Segen stiftet, so redet er selbst da nicht von Verdienst, sondern preiset Gott, der sich auch dieses unvollkommenen Werkzeuges und seiner mangelhaften Leistungen hat bedienen mögen, um Gutes zu wirken. Deßhalb der Heidelberger Katechismus auf die Frage: „Verdienen aber unsre guten Werke nichts, so sie doch Gott in diesem und dem zukünftigen Leben will belohnen?“ in tiefer Einfalt das Wahre treffend antwortet: „Diese Belohnung geschiehet nicht aus Verdienst, sondern aus Gnade.“ Wollen wir diesen Gedanken modern ausdrücken, so können wir sagen: nach protestantischer Auffassung ist die Belohnung der guten Werke die Consequenz der Gnadenerweisung von der einen - bedingt durch die Consequenz des Glaubens von der andern Seite.

Ich habe, hochverehrte Anwesende, die beiden Fragen, in welche wir unsre Aufgabe zusammengefaßt hatten, zu beantworten gesucht, und sehe, da ich nun mit der Beantwortung zu Ende bin, sehr wohl ein, wie wenig erschöpfend meine Darstellung ausgefallen ist. Sollte es mir indessen nur einigermaßen gelungen sein, Ihnen fühlbar zu machen, wie nicht nur ein tieferes, consequenteres Denken, sondern wie vornämlich ein tieferes, sittliches Bedürfniß sowohl nach Versöhnung mit Gott, als nach Erneuerung in das Ebenbild Gottes, gerade in der Rechtfertigung durch den Glauben erst seine wahre und volle Befriedigung findet; dann darf ich auch diesen Vortrag mit der Aufforderung schließen, jetzt, da wir alle Ursache haben, die theuern, in der Reformation erworbenen Güter nach allen Seiten hin recht fest zu halten - auch die heute von uns besprochene Lehre von der Gerechtigkeit, die aus dem Glauben kommt, als die eigentliche Lebensader der Reformationszeit, als das Kleinod unsrer evangelischen Kirche in lebendiger Aneignung zu bewahren.

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