Spurgeon, Charles Haddon - Andachten über den Psalter - Psalm 61 - 70

Spurgeon, Charles Haddon - Andachten über den Psalter - Psalm 61 - 70

Ps. 61,2

„Wenn mein Herz in Angst ist, so wollest Du mich führen auf einen hohen Felsen.“

Die meisten unter uns wissen, was das heißt, wenn das Herz in Angst ist; leer, wie wenn ein Mensch eine Schale ausspült und sie umstürzt; untergetaucht und auf die Seite gelegt, wie ein Fahrzeug, das der Sturm als Spielball vor sich hintreibt. Das Gewahrwerden inneren Verderbens bewirkt solche Angst, wenn der Herr zulässt, dass die große Tiefe unsres Sündenelends aufgeführt wird und Schlamm und Unrat auswirft. Ungemach und Herzeleid erwecken sie, wenn eine Woge um die andre über uns hereinbricht, und wir sind wie eine zerbrochene Muschel, die von der Brandung hin und her gestoßen wird. Gottlob! dass wir in solchen Zeiten nicht ohne einen ausreichenden Trost dastehen; unser Gott ist der Hafen für sturmgepeitschte Schiffe, die Zuflucht verirrter Pilger. Höher als wir ist Er, seine Gnade höher als unsre Sünden, seine Liebe höher als unsre Gedanken. Es ist zum Erbarmen, wenn man sieht, wie Menschen ihr Vertrauen auf etwas setzen, das noch weit unter ihnen steht; unsre Hoffnung aber stehet auf einem erhabenen und herrlichen Herrn. Er ist ein Fels, denn Er verändert sich nicht; Er ist ein hoher und erhabener Fels, denn die Fluten, die über uns hereinstürmen, toben tief unter seinen Füßen; Er wird von ihnen nicht beunruhigt, sondern herrscht über sie nach seinem Willen. Wenn wir uns unter den Schutz dieses hochragenden Felsens begeben, können wir jedem Sturme trotzen. Hinter der schirmenden Mauer dieses himmelhohen Vorgebirges ist alles ruhig und stille. Ach, die Verwirrung und Ratlosigkeit, in welche das schwer geprüfte Gemüt oft gestürzt wird, ist so groß, dass wir uns in diesen göttlichen Bergungsort flüchten müssen. Aus solcher Stimmung ging das Gebet in unserer Schriftstelle hervor.

O Herr, unser Gott, lehre uns durch Deinen Heiligen Geist den Weg des Glaubens, führe uns ein zu Deiner Ruhe. Der Wind treibt uns hinaus aufs offene Meer, das Steuer folgt unserer schwachen Hand nicht. Du, Du allein kannst uns über die Sandbank und zwischen die gefährlichen Klippen hindurch steuern und uns in den sicheren Hafen bringen. Dich haben wir nötig, um zu Dir kommen zu können. Tue auch jetzt mit uns nach Deinem Wohlgefallen.

Ps. 62,2

Wahrlich, meine Seele harrt auf Gott: von Ihm kommt meine Errettung.

Gesegnete Stellung! - Wahrhaft und einzig auf den Herrn harren. Sei dies unser Stand diesen ganzen Tag und jeden Tag. Harren auf seine Zeit, harren in seinem Dienste, harren in freudiger Erwartung, harren in Gebet und Zufriedenheit. Wenn unsre innerste Seele so harrt, so ist sie in der besten und wahrsten Stellung, die ein Geschöpf vor seinem Schöpfer, ein Knecht vor seinem Herrn, ein Kind vor seinem Vater einnehmen kann. Wir gestatten uns nicht, Gott vorzuschreiben oder über ihn zu klagen; wir wollen uns keine Verdrießlichkeit und kein Misstrauen erlauben. Aber wir laufen auch nicht der Wolke voran und suchen keine Hilfe von andren: keins von diesen würde Harren auf Gott sein. Gott und Gott allein ist die Hoffnung unserer Herzen. Gesegnete Zusicherung! - von Ihm kommt Errettung; sie ist auf dem Wege. Sie wird von Ihm kommen und von keinem andren. Er soll allen Ruhm davon haben, denn Er allein kann und will es vollbringen. Und Er wird es ganz gewiss zu seiner Zeit und in seiner Weise. Er wird uns von Zweifel und Leiden und Verleumdung und Not erretten. Wenn wir auch noch kein Zeichen davon sehen, so sind wir zufrieden, auf des Herrn Willen zu warten, denn wir haben keinen Argwohn gegen seine Liebe und Treue. Er wird binnen kurzer Zeit es gewisslich tun, und wir wollen Ihn sogleich für seine kommende Gnade loben.

Ps. 62,5

„Er ist meine Hoffnung.“

Das ist des Gläubigen Vorrecht, dass er eine solche Sprache führen darf. Wenn er danach trachtet, von der Welt etwas zu erlangen, so ists wahrlich eine armselige „Hoffnung.“ Wenn er aber zu Gott aufblickt und von Ihm die Befriedigung seiner Bedürfnisse erwartet, einen Segen, seis im Leiblichen, seis im Geistlichen, so ist seine „Hoffnung“ nicht eitel und umsonst. Er darf jederzeit einen Wechsel auf die Bank des Glaubens ausstellen und sich seine Forderung zahlen lassen aus den Schätzen der Güte und Freundlichkeit Gottes. Das weiß ich, dass ich weit lieber meinen Gott zu meinem Bankier hätte, als alle Geldfürsten dieser Welt. Mein Herr lässts nie fehlen an der Erfüllung seiner Zusagen; und wenn wir seine Verheißungen vor seinen Thron bringen, so anerkennt Er sie jederzeit; Er sendet sie nicht ohne Erhörung zurück. Darum will ich getrost an seiner Tür warten, denn Er tut sie jedesmal auf mit der Hand seiner freigebigen Gnade. Auch in dieser Stunde will ichs wieder von neuem bei Ihm versuchen. Aber wir haben „Hoffnungen,“ die über dieses Leben hinausreichen. Wir werden bald sterben; und dann ist „Er unsre Hoffnung.“ Hoffen wir denn nicht, wenn wir auf dem Krankenbett liegen, dass Er seine Engel sende, die uns in seinen Schoß tragen werden? Wir glauben, dass, wenn der Puls ermattet und das Herz schwer pocht, ein himmlischer Bote bei uns stehen und mit liebevollem Blick auf uns herabschauen und sprechen wird: „Schwester-Seele, komm mit mir!“ Wenn wir der Himmelspforte nahen, hoffen wir, die selige Einladung zu vernehmen: „Kommt, ihr Gesegneten meines Vaters, ererbet das Reich, das euch bereitet ist von Anbeginn der Welt.“ Wir erwarten goldne Harfen und unverwelkliche Kronen der Herrlichkeit; wir hoffen, in Bälde bei der Schar der Verklärten zu sein vor dem Throne; wir schauen in die Zukunft und sehnen uns nach der Zeit, wo wir unserm Herrn der Herrlichkeit gleich sein werden, denn „wir werden Ihn sehen, wie Er ist.“ Wenn dies deine „Hoffnung“ ist, meine Seele, o, so lebe deinem Gott, lebe mit dem Wunsch und Willen, Den zu verherrlichen, von dem dir alle Erhörung kommt, der dich gnädig erwählt, versöhnt und berufen hat, und auf dessen Gnade du alle „Hoffnung“ der zukünftigen Herrlichkeit baust.

„O Christ, erhebe Herz und Sinn!
Hinauf! Schwing' dich zum Himmel hin!“

Ps. 62,8

„Hoffet auf Ihn allezeit.“

Sowohl im Zeitlichen wie im Geistlichen ist der Glaube die rechte Lebensregel; wir müssen unser Vertrauen auf Gott setzen, in all unsern irdischen Angelegenheiten nicht minder, als in dem, was unsre himmlische Berufung betrifft. Nur wenn wir lernen auf Gott hoffen für die Gewährung unserer irdischen Bedürfnisse, stehen wir auch erhaben über dieser Welt. Wir dürfen nicht müßig sein; das würde vielmehr beweisen, dass wir nicht auf Gott hoffen, welcher bisher wirkt, sondern auf den Teufel, welcher ist ein Vater des Müßigganges. Wir dürfen nicht unklug und übereilt handeln; das hieße dem Zufall vertrauen und nicht dem lebendigen Gott, welcher ein Gott der Weisheit und der Ordnung ist. Wenn wir weise und aufrichtig handeln wollen, so müssen wir uns einfältig und vollständig auf den Herrn verlassen allezeit. Lasset euch ein Leben voller Gottvertrauen in allen euren zeitlichen Angelegenheiten empfohlen sein. Wenn ihr auf Gott vertraut, so habt ihr nie Ursache zur Traurigkeit, wie wenn ihr auf unrechten Wegen gesucht hättet, reich zu werden. Dient Gott aufrichtig und von ganzem Herzen, und wenn euch auch alles fehlschlägt, so belastet ihr euer Gewissen doch nicht mit Sünden. Wenn ihr auf Gott baut, so macht ihr euch keines Widerspruchs im Wandel schuldig. Wer sich auf List und Schlauheit verlässt, steuert heute hierhin und morgen dorthin, wie ein Fahrzeug, das von unsteten Winden umgetrieben wird; wer aber auf den Herrn vertraut, ist wie ein Dampfschiff, das allen Winden zum Trotz die Wellen durchschneidet, und eine glänzende, silberne, geradlinige Furche zum ersehnten himmlischen Hafen in die Wogen eingräbt. Sei du ein Mensch, in dessen Brust Kräfte des Lebens walten; schmiege dich nimmer den veränderlichen Mienen und Sitten der weltlichen Weisheit an. Wandle mit festen Tritten auf dem Pfad der Aufrichtigkeit, und zeige, dass du unüberwindlich stark bist in der Kraft, welche das Vertrauen auf Gott allein zu geben vermag. So wirst du bewahrt bleiben vor ängstlichen Sorgen, es wird dich keine betrübende Nachricht in Unruhe versetzen, dein Herz wird fest bleiben, denn es vertraut auf den Herrn. Wie herrlich ists doch, den Strom der Vorsehung entlang zu fahren: Es gibt keinen seligeren Weg des Lebens, als wenn man sich dem Vertrauen auf einen treuen Bundesgott hingibt.

Ps. 65,11

„Du krönest das Jahr mit Deinem Gut.“

Gott segnet uns reichlich jede Stunde und Tag für Tag durch den ganzen Kreislauf des Jahres; wenn wir schlafen, wie wenn wir wachen, waltet Seine Gnade über uns. Die Sonne überlässt uns die gesetzte Zeit der Finsternis, aber unser Gott hört nie auf, mit Strahlen der Liebe über Seine Kinder zu scheinen. Wie ein Strom fließt Seine Freundlichkeit und Güte ohne Unterbrechung fort, mit einer unerschöpflichen Fülle, wie Er selbst. Gleichwie der Luftkreis die Erde beständig umgibt und das Leben des Menschen bereitwillig erhält, so umgibt Gottes Güte alle Seine Geschöpfe; in ihr leben sie als in ihrem Element, in ihr bewegen sie sich und haben sie das Wesen. Dennoch verhält sichs mit den Gnadenerweisungen Gottes wie mit der Sonne, die uns in den Sommertagen mit wärmern und glänzendern Strahlen erfreut als zu andern Zeiten, und wie mit den Strömen, die nach dem Regen schwellender hinabfließen, und wie mit der Luft, die manchmal von frischern Hauchen und balsamischern Düften durchwogt wird als sonst. Die göttliche Gnade hat ihre goldenen Stunden, ihre Tage des Überströmen, wenn der Herr Seine Barmherzigkeit an den Menschenkindern verherrlicht. Unter den Segnungen der sichtbaren Welt sind die fröhlichen Tage der Ernte eine besondere Zeit überschwänglicher Güte. Es ist die Herrlichkeit des Herbstes, dass in ihm die reifen Gaben der Vorsehung uns in überströmender Fülle geschenkt werden; es ist die Zeit der Verwirklichung, während vor der Zeit der Reife alles erst Hoffnung und Erwartung war. Groß ist die Freude der Ernte. Glücklich fühlen sich die Schnitter, die ihre Arme mit den reichen Gaben der Freigebigkeit des Himmels füllen. Der Psalmist erzählt uns, dass die Ernte des Jahres Krönungsfest ist. Wahrlich, diese krönende Gnade und Güte fordert uns auch zu krönendem Lob und Dank auf! Und dem wollen wir nachkommen in innigsten Gefühlen der Dankbarkeit. Ach, dass doch unsere Herzen recht warm würden! dass unser Geist sich erinnerte, und es erwöge und bedächte, wie gnädig und gütig der Herr ist! Darum wollen wir Ihn preisen mit unserm Munde, und Seinen Namen loben und erhöhen; denn aus Seiner Güte quillt aller dieser Reichtum des Segens. Wir wollen Gott damit verherrlichen, dass wir Ihm unsere Gaben weihen. (Goldstrahlen August 1)

Ps. 65,11

„Deine Fußstapfen triefen von Fett.“

Der „Fußstapfen des Herrn,“ die „vom Fett triefen,“ sind viele, aber eine ganz besondere Fußspur ist die des Gebets. Kein gläubiger Christ, der oft in seinem Kämmerlein verweilt, wird nötig haben auszurufen: „Wie bin ich aber so mager? Wie bin ich aber so mager? Wehe mir!“ Seelen, die Hunger leiden müssen, sind die, die sich vom Gnadenstuhl ferne halten; sie werden wie die verbrannten Fluren zur Zeit der Dürre. Anhaltendes Ringen mit Gott im Gebet stärkt den Gläubigen, ja, es macht ihn glücklich. Der nächste Ort an der Himmelspforte ist der Thron der himmlischen Gnade. Bist du viel in der Stille, so erlangst du viel innere Gewissheit; bist du selten mit deinem Jesu allein, so steht dein Christentum auf schwachen Füßen; es wird von mancherlei Zweifel und Furcht befleckt, und strahlt nicht in des Herrn Freude. Weil aber die seelenerquickenden Fußstapfen des Gebets auch den schwächsten Heiligen zum Vorwärtsgehen einladen; weil keine hohen Befähigungen erforderlich sind; weil dir als einem geförderten Christen nicht befohlen wird zu kommen, sondern weil dir die Einladung offen steht, sobald du überhaupt dich von Herzen zu Jesu bekennst: so siehe zu, lieber Christ, dass du recht oft auf dem Pfade der stillen Sammlung und des einsamen Gebets erfunden werdest. Wirf dich oft auf deine Knie nieder, denn damit hat Elia Regen herabgebracht auf die ausgedörrten Gefilde Israels. Noch ein andrer Pfad des Herrn trieft von Fett für die, die darauf wandeln, es ist der verborgene Wandel der Gemeinschaft mit dem Herrn. O, welche Wonne gewährt doch der Umgang mit Jesu! Die Erde besitzt keine Worte, welche die heilige Ruhe einer Seele zu schildern vermöchten, die an der Brust Jesu liegt. Wenige Christen wissen, was das ist; sie leben in den Niederungen und ersteigen selten die Höhen des Nebo; sie wohnen im äußern Vorhof und kommen nicht ins Heiligtum, noch eignen sie sich das köstliche Vorrecht des priesterlichen Amtes an. Sie schauen von weitem dem Opfer zu, aber sie setzen sich nicht mit den Priestern zum Mahl des Heiligen und erfreuen sich nicht am Fett der Brandopfer. Aber du, liebe Seele, setze dich unter den Schatten deines Jesus; komm herauf zu dieser Palme und fasse ihre Zweige; dein Freund sei dir, wie ein Apfelbaum unter den wilden Bäumen, so wirst du satt werden vom Mark und Fett. O Herr Jesu, suche uns heim mit Deinem Heil!

Ps. 66,2

„Lobsinget zu Ehren seinem Namen, rühmet Ihn herrlich.“

Es bleibt nicht unserm eignen Gutdünken überlassen, ob wir Gott loben wollen oder nicht. Auf seinen Preis und Ruhm hat Gott das allergrößte Recht, und jeder Christ ist als ein Gefäß seiner Gnade dazu verpflichtet, Gott täglich zu loben und zu erheben. Es ist freilich wahr, dass uns kein bestimmtes Gebot zum täglichen Preise Gottes gegeben ist; wir besitzen kein Gesetz, das uns gewisse Stunden zum Lobsingen und Danken vorschreibt; aber das Gesetz, das ins Herz geschrieben ist, lehrt uns, dass wir Gott lobpreisen sollen; und der ungeschriebene Befehl dringt so gewaltig in uns, wie wenn er auf den steinernen Tafeln eingegraben, oder von den Höhen des donnernden Sinai herab eingeschärft worden wäre. Ja, es ist des Christen Pflicht, Gott zu loben. Es ist nicht eine Unterhaltung zum Zeitvertreib, sondern es ist eine unumgängliche Lebensaufgabe. Ihr, die ihr stets voll Trauer seid, meint nicht, ihr wäret deshalb entschuldigt, bildet euch auch nicht ein, ihr dürftet euch eurer Pflicht gegen euren Gott entschlagen und Ihm eure Loblieder vorenthalten. Ihr seid verpflichtet durch die Bande seiner Liebe, seinen Namen zu erheben, so lange ein Odem in euch wohnt, und sein Lob sollte allezeit in eurem Munde sein, denn dazu hat Er euch gesegnet, dass ihr Ihn wieder segnet; „dies Volk habe ich mir zugerichtet, es soll meinen Ruhm erzählen;“ und wenn ihr Gott nicht preist, so bringt ihr die Frucht nicht, welche Er als der göttliche Weingärtner mit Recht von euch erwartet. So lasset denn eure Harfen nicht hängen an den Weiden zu Babel, sondern holt sie herab, und stimmt sie und sucht ihr mit dankbarem Herzen die lieblichsten Töne zu entlocken, und lasset euer lautes Loblied herrlich erschallen. Erhebt euch, und singt seinen Ruhm. Mit jedem neu dämmernden Morgen erhebt eure Melodien des Danks und jedem Sonnenuntergang folge eure Dankeshymne nach. Umgürtet die Erde, mit eurem Lob; umhüllt sie mit einem Lustkreis lieblicher Weisen, so wird Gott vom Himmel euren Gesang hören und euer Lobgetöne mit Wohlgefallen annehmen.

„Ermuntert euch und singt mit Schall
Gott, unserm höchsten Gut,
Der seine Wunder überall
Und große Dinge tut.“

Ps. 66,20

„Gelobt sei Gott, der mein Gebet nicht verwirft.“

Wenn wir aufrichtig auf die Beschaffenheit unserer Gebete zurückblicken, so müssen wir von Staunen darüber ergriffen werden, dass Gott sie überhaupt je erhört hat. Vielleicht gibts etliche unter uns, welche meinen, ihre Gebete seien wohl der Erhörung wert - das hat auch der Pharisäer gemeint; aber der wahre Christ, dessen Blick heller erleuchtet ist, weint und trauert über seine Gebete, und wenn er das Vergangene wieder nachholen könnte, so möchte er gern seine Gebete mit mehr Ernst und Eifer würzen. Bedenke, lieber Christ, wie kalt deine Gebete gewesen sind. In deinem Kämmerlein hättest du mit Gott ringen sollen, wie einst Jakob; aber statt dessen war dein Flehen kraftlos und saftlos, ferne von jenem demütigen, vertrauensvollen, inbrünstigen Glauben, welcher ausruft: „Ich lasse Dich nicht, Du segnest mich denn.“ Ja, es ist wunderlich und merkwürdig; Gott hat diese deine kalten Gebete gehört, und nicht nur gehört, sondern auch erhört. Bedenke dann, wie selten deine Gebete gewesen sind, wie nachlässig du in diesem Stücke warst; ja, wenn du in Trübsal und Traurigkeit warst, dann kamst du oft vor den Gnadenthron; wenn dir aber die Erlösung aus deinen Nöten zuteil ward, wo kam denn dein anhaltendes Flehen hin? Und trotzdem du aufgehört hast, so eifrig zu beten wie sonst, hat dennoch Gott nicht aufgehört, dich mit Segen zu überschütten. Wenn du weggeblieben bist vom Gnadenstuhl, so hat Gott ihn nicht verlassen, sondern der helle Glanz seiner Gnadengegenwart ist allezeit sichtbar geblieben zwischen den Flügeln der Cherubim. O, wie wunderbar! dass der Herr solche Rücksicht nehmen mochte auf diese unregelmäßig erscheinenden Kämpfe unserer Zudringlichkeit, welche mit unsern Bedürfnissen kamen und gingen. Was ist doch das für ein Gott, dass Er so die Gebete derer erhört, die zu Ihm kommen, wenn sie dringende Wünsche haben, und Ihn wieder vernachlässigen, wenn ihnen eine Gnade zuteil geworden ist; die zu Ihm nahen, wenn sie genötigt sind zu kommen, und die es fast vergessen, sich an Ihn zu wenden, wenn die Segen stark gehen und die Sorgen verwehen. O, dass doch seine Gnade und Güte, womit Er so armselige Gebete erhört, unsre Herzen rühren möchte, und wir hinfort erfunden würden als solche, die da „stets beten in allem Anliegen, mit Bitten und Flehen im Geist.“

Ps. 67,6

„Gott, unser Gott.“

Es ist auffallend, wie wenig Gebrauch wir von den geistlichen Segnungen machen, die Gott uns verleiht; aber es ist noch auffallender, wie wenig wir Gott selber uns zu nutze machen. Ob Er gleich „unser Gott“ ist, so wenden wir uns doch wenig an Ihn, und bitten wenig von Ihm. Wie selten begehren wir Rat aus dem Munde des Herrn! Wie oft gehen wir an unsre Berufsarbeit, ohne seinen Beistand zu suchen! Wie hartnäckig suchen wir in unsern Trübsalen unsre Last selber zu tragen, statt dass wir all unser Anliegen auf den Herrn werfen, damit Er uns versorge! Das geschieht nicht, weil wir nicht dürften; denn der Herr spricht gleichsam zu uns: „Ich bin dein eigen, liebe Seele, komme und brauche mich, wie du willst; du darfst mit Freudigkeit herzutreten und von meinem Reichtum nehmen; und je öfter du kommst, desto willkommener bist du.“ Es ist unser eigner Fehler, wenn wir mit den Schätzen Gottes nicht frei schalten und walten. Weil du denn einen solchen Freund hast, und Er dich einladet, so brauche Ihn täglich. Du darfst nimmermehr Mangel leiden, dieweil du einen Gott hast, zu dem du kommen darfst; du darfst dich weder scheuen noch fürchten, so lange du einen Gott hast, der dir hilft; gehe zu deinem Schatz, und hole, so viel du bedarfst, das ist alles, was du nur wünschen magst. Lerne die göttliche Kunst, aus deinem Gott alles zu machen. Er kann dich mit allem versorgen, oder noch besser, Er kann dir alles ersetzen. So lass dich denn nötigen, deinen Gott zu brauchen. Brauche Ihn im Gebet. Gehe oft zu Ihm, denn Er ist dein Gott. Ach, willst du ein so großes Vorrecht unbenützt lassen? Fliehe zu Ihm, klage Ihm all dein Anliegen. „Ach, öffne mir die Gnadentür! In Jesu Namen steh' ich hier.“ Brauche Ihn fort und fort jederzeit durch den Glauben. Wenn eine dunkle Schickung dich umdüstert, dann brauche Gott als deine „Sonne“; wenn ein mächtiger Feind dich anfällt, dann suche in Jehovah einen „Schild“, denn Er ist Sonne und Schild seines Volkes. Wenn du in den Irrgängen des Lebens deinen Pfad verloren hast, dann brauche Ihn als „deinen Führer“, denn Er will dich leiten. Was du auch bist, und wo du auch bist, so bedenke, dass Gott gerade das ist, was du bedarfst, und dass Er dort ist, wo du Ihn brauchst, und dass Er alles vollbringen kann, was du nötig hast.

Ps. 68,10

„Gott, Du labst die Elenden mit Deinen Gütern.“

Alle Gaben Gottes sind Güter, die zum voraus für die kommenden Bedürfnisse bereit liegen. Er sieht alles, was wir nötig haben; und aus der Fülle, die Er in Christo Jesu niedergelegt hat, sorgt Er nach seiner Güte und Treue für die Armen. Du darfst Ihm alle deine Anliegen anvertrauen, denn Er hat mit sicherem Blick alles zum voraus erkannt, was dir begegnen oder fehlen kann. Er kann jederzeit von unsern Verhältnissen sagen: „Ich wusste, dass es so und so mit dir kommen würde.“ Ein Mensch geht eine Tagereise weit in die Wüste, und wenn er so weit gekommen ist, und sein Zelt aufgeschlagen hat, entdeckt er, dass ihm viele Bequemlichkeiten und manches Unentbehrliche fehlt, das er nicht mit auf die Reise genommen hat. „Ach,“ spricht er, „daran habe ich nicht gedacht; wenn ich die Reise noch einmal zu machen hätte, würde ich das alles mitnehmen, was zu meinem Wohlbefinden so notwendig ist.“ Gott aber hat mit allwissendem Auge alle Bedürfnisse seiner armen verirrten Kinder zuvor erkannt, und wie sich der Mangel zeigt, ist auch schon genügend dafür gesorgt. Seine Güter hat Er für die geistlich Armen zubereitet, Er erzeigt ihnen Güte um Güte. „Lass dir an meiner Gnade genügen.“ „Dein Alter sei wie deine Jugend.“ Lieber Freund, hast du heute Abend Schweres auf dem Herzen? Gott wusste zum voraus, dass es kommen würde; der Trost, den unser Herz bedarf, ist in der lieblichen Versicherung unserer Schriftstelle reichlich vorhanden. Du bist arm und bedürftig, aber Er hat deiner gedacht und hat genau den Segen für dich bereit, des du bedarfst. Berufe dich auf die Verheißung, glaube daran, und empfange ihre Erfüllung. Fühlst du, dass du noch nie so strafbar gesündigt hast, wie jetzt? Sieh, der bluterfüllte Born ist noch immer offen, in aller Kraft, die je Ihm eigen war, Sünden abzuwaschen. Du wirst nie in eine solche Lage kommen, wo dir Christus nicht mehr helfen könnte. Nie wird dir in deinen geistlichen Angelegenheiten ein Schmerz oder ein Unfall begegnen, den der Herr Jesus nicht mächtig genug wäre zu beseitigen; denn in Jesu ist dein ganzes Leben zum voraus vorgesehen, und für alles gesorgt, was dich betrifft. Wir haben einen Gott, der da hilft, und den Herrn Herrn, der vom Tode errettet.

Ps. 68,28

„Dein Reich wollest Du, Gott, in uns stärken, denn es ist Dein Werk.“

Es ist sowohl unsre Weisheit als unser Bedürfnis, Gott beständig darum zu bitten, dass Er sein Werk in uns wolle stärken. Viele Christen haben sich gerade deshalb Vorwürfe zu machen, dass sie um ihrer Vernachlässigung dieser Bitte willen alle jene geistlichen Anfechtungen und Trübsale, die aus dem Unglauben entspringen, selbst verschuldet haben. Freilich sucht der Erzfeind den schönen Garten des Herzens zu überschwemmen und in einen Schauplatz der Verwüstung zu verwandeln; aber es ist ebenso wahr, dass manche Christen die Schleusen selber offen stehen lassen, und der verderblichen Überschwemmung den Weg bereiten durch Nachlässigkeit und Mangel an Gebet zu ihrem gnadenreichen Helfer. Wir vergessen öfter, dass der Urheber unsres Glaubens diesen auch bewahren und erhalten muss. Die Lampe, die im Tempel brannte, durfte nie verlöschen, sondern musste täglich mit frischem Öl versehen werden; und gleicherweise kann unser Glaube nur leben, wenn er mit dem Öl der Gnade genährt wird; und das können wir nur von Gott empfangen. Wir zeigen uns als törichte Jungfrauen, wenn wir nicht für den notwendigen Unterhalt unserer Lampen sorgen. Der die Welt erschaffen hat, erhält sie auch, sonst würde sie mit furchtbarem Krachen zergehen. Der uns zu Christen gemacht hat, muss uns durch seinen Heiligen Geist in unsrem Christenwandel erhalten, sonst bricht unser Verderben schnell und schrecklich herein. Dann wollen wir Tag um Tag und einen Abend um den andern zum Herrn gehen, und Gnade und Stärkung bei Ihm suchen, die wir bedürfen. Wir haben einen guten Grund zu unsrem Gebet, denn es ist sein eigenes Gnadenwerk, das wir Ihn bitten in uns zu stärken: „Dein Reich in uns, denn es ist Dein Werk.“ meinst du, Er werde es anstehen lassen, dasselbe zu schützen und zu erhalten? Nur lass deinen Glauben sich an seine Macht anklammern, so werden alle Mächte der Finsternis, die der höllische Fürst anführt, nicht imstande sein, auch nur eine Wolke oder einen Schatten über deinen Frieden und deine Freude zu führen. Warum wollt ihr zagen, wo ihr stark sein könnt? warum unterliegen, wo ihr könnt siegen? Ach, lasst Ihn doch euren zagenden Glauben beleben und stärken!

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