Funcke, Otto - Das Evangelium des Reiches - Einleitung

Funcke, Otto - Das Evangelium des Reiches - Einleitung

Wenn unser liebes deutsches Volk christlich werden, wenn es zu einem klaren, selbständigen, persönlichen Christentum durchdringen soll, so muss es nicht Predigten hören und fromme Bücher lesen, sondern es muss lernen, die Bibel lesen und in der Bibel leben. Das Hören der Predigten, die es wert sind gehört zu werden, und die Teilnahme an den Gottesdiensten, die den Namen verdienen, wird dann von selbst kommen bei denen, die Gottes Wort als lebendigen Samen in sich aufgenommen haben. Auch die Erbauungsbücher, die das sind, was sie heißen, werden dann richtig geschätzt werden.

Vornehmlich gilt es, in das Wort Jesu, der das Wort Gottes in Person, das Fleisch gewordene Wort ist, sich hineinzuleben. Aber ach! wenn man die Leute, welche noch die Kirche besuchen – denn von den andren reden wir erst gar nicht – ich sage, wenn man die sogenannten „frommen Leute“ auf ihr Gewissen fragt, ob sie die Bibel lesen, so werden unzählige mit “nein“ antworten müssen: „Nein, wir blättern wohl in der Bibel, aber recht lesen tun wir nur Erbauungsbücher.“ Diejenigen aber, die den Rest ausmachen und mit “Ja“ antworten, werden zum guten Teil hinzufügen: „Wir lesen wohl pflichtgetreu die Bibel, aber, ehrlich gestanden, wir haben nicht viel davon.“

Das ist aber ein trauriges Ding, dass sie an der lebendigen Quelle sitzen und doch das Schöpfen oder Trinken nicht verstehen. Hochwillkommen soll uns ein, wer diesem Elend abzuhelfen versteht, gleichviel ob er sich Lutheraner oder Baptist, gleichviel ob er sich römischer Priester oder Methodist nennt. Ich glaube aber, dass gerade das vorliegende Buch in dieser Richtung treffliche Dienste leisten kann. Es ist von Spurgeon, dem Schriftgelehrten durch Gottes Gnaden, verfasst worden, als seine irdische Lebenssonne sich zum Untergang neigte. Aber so viel mächtiger leuchtete der Morgenglanz der Ewigkeit in seine Arbeit hinein, wie uns das die Witwe des hochberühmten Mannes durch ihr Vorwort in ergreifender Weise mitgeteilt hat.

Spurgeon war durch leibliche Leiden aus seiner gewaltigen Berufsarbeit als Prediger einer Gemeinde, wie nur er sie auf der ganzen Erde hatte, herausgerissen. Gottes Hand führte ihn in die Einsamkeit, in das dunkle Tal des Duldens und der Schmerzen. Es waren die wonnigen Gestade des südlichen Frankreichs, wo er die letzten Winter verlebte. Aber für einen Mann, dem der Beruf sein Leben ist, - für ihn ist auch das schönste Paradies, wo er untätig sein muss, eine Wüste. Wenn ich von mir reden darf, so habe ich vor 10 Jahren, in ähnlicher Lage, ein Büchlein geschrieben: „Blumen aus der Wüste.“ Ich fürchte, man sieht daraus, dass ich in der Wüste nicht ganz viel gefunden habe. Spurgeon aber hat mitten in der Wüste große blumige Auen entdeckt.

Und offenbar ist Spurgeons Absicht, die Leser seines Buches zu Schriftgelehrten heranzubilden. Gerade die Auslegung des Evangeliums Matthäus ist geeignet, sie in die ganze Fülle der Schriftgedanken einzuführen. Das Evangelium nach Matthäus ist das Evangelium vom Reich, vom Königreich Jesu Christi. Die Hoffnung eines ewigen, göttlichen Königreiches, das vom Himmel herkommen soll, und davon alle alttestamentliche Gottesoffenbarung redet, erscheint im Matthäus-Evangelium erfüllt. Es ist absolut unverständlich ohne das Verständnis der alttestamentlichen Schriften. Andrerseits bleiben die alttestamentlichen Weissagungen dunkle Runen und Hieroglyphen ohne das Evangelium. So dient Spurgeons Buch dazu, rückwärts schauend das Dunkel alttestamentlicher Schrift und Hoffnung zu erleuchten, während es vorwärts schauend die kommenden Zeiten und Ewigkeiten erhellt. Wer freilich bei Spurgeon eine schulmäßige, regelrechte Auslegung sucht, muss sich enttäuscht finden. Aber Satz für Satz des Evangeliums wird mit einigen markigen schlagenden Bemerkungen versehen, - mit Bemerkungen, die aus dem Herzen der Materie herauskommen und ins Herz hineintreffen. Sie dienen nicht nur zum Verständnis der Sache, sondern zeigen auch dem Leser: „Du bist der Mann, von dem geredet wird.“

Es ist ein glücklicher Griff Spurgeons, das Evangelium gerade als das Evangelium des Reiches darzustellen. Dieser Gesichtspunkt ist es, der den meisten Christen fehlt. Er fehlt ihnen, obgleich nicht nur, wie gesagt, bei den Propheten immer von dem kommenden Reich die Rede ist, sondern auch gleich die Adventsgeschichte diese Auffassung in den Vordergrund rückt. Man höre doch, was die Engel der kleinen Gemeinde, die auf den Trost Israels wartet, zu verkündigen haben! (Lk. 1 und 2.) Man lausche den neuen Psalmen auf den Lippen des Zacharias, der Maria und des Simeon! Man höre, wie Johannes der Täufer predigt! Ist das nicht die Stimme des Herolds, der den König meldet? – Und nun der Heiland selbst! Zieht sich nicht durch alle seine Reden wie ein goldener Faden dieser Satz hindurch: „Das Himmelreich ist herbeigekommen!“? Und klingt nicht durch alle seine Gleichnisse dieser eine Ton: „Das Himmelreich ist gleich – einem Mann, einem Sauerteig, einem Senfkorn“ u.s.w.?

Oder sollte das nur eine bildliche Rede oder gar nur ein Spiel mit Worten sein? Dann wäre das ganze Evangelium verfehlt. Nein, ein wirklicher König will Jesus Christus sein. Ein wirkliches Reich mit scharf gezogenen Grenzen, ein Reich mit fester, klarer Verfassung will Er gründen. Und Untertanen will Er haben, die mit freudiger Begeisterung Ihm gehorchen, Untertanen, die seinen Geist atmen, seinen Willen erfüllen und für die Ausbreitung seines Reiches ihre Seele einsetzen; Untertanen, die sich selbstverständlich untereinander lieben und stützen, nicht aber bekritteln und befehden; ja, was sollte aus einem Reiche werden, das in sich selbst uneins ist? Überflüssig sollte es sein, erst hinzuzufügen, dass dieses Reich auch einmal seine leibliche Ausgestaltung finden wird. „Leiblichkeit ist das Ende der Wege Gottes,“ sagt Ötinger mit vollem Recht. Die ganze göttliche Reichsleitung zielt auf diese Verleiblichung. Und sie wird alles in Schatten setzen, was je und je Macht, Schönheit und Herrlichkeit genannt worden ist.

Der „natürliche Mensch“ versteht natürlich von diesen Dingen gar nichts. Er kann sich überhaupt nichts denken bei Dingen, die nicht handgreiflich sind und über das Gebiet der fünf Sinne hinausliegen. Aber unerschüttert blieb der Heiland dem spottenden Römerfürsten Pilatus gegenüber dabei, dass Er “dennoch ein König“ sei. Er blieb dabei, dass Er der Inhaber eines Reiches sei, obgleich dieses sein Reich “nicht von dieser Welt“ sei, und also auch nicht mit den Mitteln dieser Welt gefördert und verbreitet werde. Und auch wir wollen getrost in die Welt hineinrufen: „Dennoch ein König!“ und uns nicht dadurch bange machen lassen, dass die Welt darüber in ein Hohngelächter ausbricht.

Die römische Kirche hat diesen Gedanken, dass Jesu Reich nicht von dieser Welt sei, nicht ertragen können. Sie hat den Reichsgedanken und das Reich Gottes selbst, so viel an ihr war, verweltlicht und verfleischlicht. Die Hohenpriester auf den sieben Hügeln schmachten nach Weltherrschaft. Und sie haben auf diesem Gebiet wirklich Erstaunliches geleistet. Der „Geist“ der alten römischen Cäsaren pulsiert trotz Kreuz und Weihwasser in den Adern der Päpste. Freilich, im Gebrauch der Mittel, die sie anwandten, um ihr Reich zu bauen, sind sie auch nicht ängstlicher gewesen wie Nero und Caligula. Durch viel macht und große List, durch alle Mittel der Bedrückung und Tyrannei sind Geist und Freiheit in diesem Reiche erstickt worden. Gönnen wir dem Papst und seinen Untertanen ihre Reichsherrlichkeit und „imposante“ Einheit!

Aber wenn auf diesem Gebiete der Reichsgedanke verfleischlicht ist, so ist er bedauerlicherweise von vielen frommen Christen in den Kirchen des Protestantismus aufgegeben oder vergessen. Sie kennen wohl einen Heiland, nicht aber einen König. Sie wissen nur von einzelnen erlösten Seelen, aber von einem Königreich der Himmel wissen sie nichts. Sie trösten sich eines Himmels voll Seligkeit und Herrlichkeit. Aber, auf den Grund besehen, können sie sich bei diesem ihrem Himmel nichts Klares denken.

So kann nun Spurgeons Buch treffliche Dienste tun. Ich habe die Hoffnung, dass diejenigen, die seine Schrift nachdenklich lesen, dadurch in die tiefen Grundgedanken aller Gottesoffenbarung hineingeleitet werden.

Es soll auch niemand, gleichviel welcher „Konfession“ er angehört, befürchten, dass der Baptist Spurgeon ihn durch sein Buch zum Baptismus bekehren wolle Nein, weder zum Baptismus, noch zu seiner Dogmatik, noch zu irgend einer Dogmatik. Er will nur Jesum zur Wort kommen lassen. Alles ist großartig, universell, ökumenisch gehalten, wie auch das Königreich Gottes über alle Parteifähnlein der verschiedenen kirchlichen Gemeinschaften hoch erhaben ist. Mögen diese verschiedenen Fähnlein zur Zeit noch ihr Existenzrecht haben; - die begnadigten Seelen, die Jesum wirklich erkannt haben, schauen voll glühender Sehnsucht nach dem Tage aus, wo alle Fähnlein versinken vor dem Glanz des einen herrlichen Paniers, darin nur diese Worte leuchten: “Jesus Christus, der Gekreuzigte und Auferstandene, unser Heiland und König.“ Spurgeon stand je und je in der vordersten Reihe derer, die diesen Tag der Einheit aller Gotteskinder mit heißem Gebet erflehten. Er hat zehntausenden Christen aller Schattierungen Lebensbrot gegeben, ohne sie für den Baptismus zu werben. Ich wage auch zu behaupten, dass die Einheit der Kinder Gottes tatsächlich vorhanden ist und immer vorhanden war. Sie wird nur durch Mißverständnisse, Rechthaberei und Kleinigkeitskrämerei verhüllt.

Also nicht der Baptist und nicht der Engländer tritt in unserem Buch heraus, sondern der Christusmensch, in dessen Adern der Puls der Welt schlägt. Was in Wahrheit christlich ist, das ist auch international. Darum entschuldige ich mich auch nicht vor den Genossen meiner Kirche, dass ich zu dem Buch eines Baptisten eine Einleitung schreibe. Hier ist nicht Baptist und nicht Engländer, sondern allzumal Einer in Christo. „Ich glaube an eine Gemeinde der Heiligen“, die durch alle Denominationen hindurchgeht. Und Spurgeon ist einer der begnadigten Geister, die zu der Vereinigung der zerstreuten Kinder viel beitragen durften, denn seine Schriften haben alle Barrieren der Kirchen übersprungen. So möchte ich auch mit diesen meinen armen Worten (deren Spurgeons Buch durchaus nicht bedarf) ein Monument heiliger Union setzen und warmen Händedruck allen denen bieten, die den Herrn Jesum von Herzen lieb haben.

Wenn ich hinzufüge, dass ich mit meiner herzlichen Empfehlung des Buches, nicht jeden Ausdruck, jeden Satz, jede Behauptung unterschreiben will, so sage ich eigentlich etwas Überflüssiges. Den Kundigen ist das selbstverständlich. Der selige Spurgeon war ein Original ersten Ranges. Und Originale gehen ihre eignen Gedankenwege. Es gibt im ganzen Universum keinen selbständigen Kopf, der immer und überall mit irgend einem Original übereinstimmt, es heiße Spurgeon oder Blumhardt, Moody oder Monod. So kann ich, um eines herauszugreifen, nicht leugnen, dass Spurgeons Art mir zuweilen etwas herbe erscheint, während ich vielen lieben Christen zu weitherzig und hoffnungsfreudig bin. Aber weder dies, noch die verschiedene Anschauung der christlichen Taufe würde uns nur eine Minute lang abgehalten haben, als Brüder in Christo Arm in Arm und Herz und Herz miteinander zu wandeln; wie ich denn auch guter Zuversicht bin, dass wir (unbeschadet einiger Verschiedenheiten in unsrer Dogmatik) demnächst am Throne Jesu unsre Stimmen fröhlich zusammenmischen werden zu einem und demselben Halleluja.

Noch heute bedauere ich schmerzlich, dass ich 1882, - als ich in London war und natürlich auch Spurgeon predigen hörte, - ich bedauere schmerzlich, dass ich ihn damals nicht persönlich begrüßt habe. Ach, die böse alte Geschichte von Babylon (1. Mose 11,1 ff.) war schuld daran. Ich verfügte nämlich über ein nur sehr armseliges Englisch, darum wagte ich mich an den Mann, der die Sprache seines Volkes beherrschte, wie Paganini seine Geige, nicht heran. Heute bin ich der Meinung, dass ich eine Thorheit beging, indem ich nicht zu ihm ging. Gerade die Christen der verschiedenen Denominationen sollten oft Gemeinschaft miteinander pflegen. Das wäre der beste Weg, um die Verschiedenheiten auszugleichen.

Und dass ich (auf Wunsch der Verlagshandlung, die sich um die deutsche Christenheit durch die Herausgabe der Spurgeonschen Schriften so hoch verdient gemacht hat) diese Zeilen schreibe, sehe ich auch als ein Stück der Gemeinschaftspflege an, von welcher ich rede. An Spurgeons Sarg sagte Dr. Pearson: „Bis vor wenigen Tagen weilte Spurgeon im Lande der Sterbenden; jetzt ist er ins Land der Lebendigen versetzt.“ Das ist sehr wahr und schön gesagt. Aber obgleich er ins Land des wahren Lebens versetzt ist, soll und muss er dennoch unter uns bleiben. Wir haben diesen Mann auch sehr nötig. Theologen und Laien (das Wort „Laien“ ist mir verhaßt, aber es gibt kein andres) also Theologen und Laien können und sollen fort und fort schöpfen aus dem Reichtum, welchen Gott in dieses Gefäß niedergelegt hatte. Und das „Evangelium des Reiches“, das er mit sterbender Hand niederschrieb, soll allen teuer sein und werden, die einen Hauch seines Geistes verspürt haben.

Bremen, September 1894.

Otto Funcke

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