Schulz, Eduard Wilhelm - Die Wunden Jesu.

Schulz, Eduard Wilhelm - Die Wunden Jesu.

Predigt über Jesaias 53, 5. von E. W. Schulz, ev. Pfarrer in Mülheim an der Ruhr.

Die Gnade unsers Herrn Jesu Christi, und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des heiligen Geistes, sei mit uns allen. Amen.

In Christo dem Herrn versammelten Zuhörer, beim Propheten Zacharias im 13. Cap. im 6. Verse heißt es in Beziehung auf den leidenden Messias, unsern gekreuzigten Erlöser: So man aber sagen wird zu ihm: was sind das für Wunden in deinen Händen? wird er sagen: so bin ich geschlagen im Hause derer, die mich lieben.

Ein inhaltreiches, tiefes Wort der Weissagung!

Dem Gläubigen muß stets vor den Augen seines Geistes der gekreuzigte Heiland stehen und immer mehr soll er sich in die rechtfertigende, heiligende und beseeligende Gemeinschaft seiner versöhnenden Leiden hineinleben. Was sind das für Wunden in deinen Händen? Diese Frage tönet allezeit in der Christum liebenden Seele. Sie verweilet täglich auf Golgatha, an dem Gnadenstuhle Gottes, in dem Blute seines Sohnes und schauet im Glauben ohne Aufhören dem Heiland in sein sterbendes Antlitz, in seine offenen Wunden, erwägend: wozu der Herr der Herrlichkeit gemartert, gekreuzigt, getödtet ist und was das für Wunden sind in seinen Händen!

Auf die Frage: was sind das für Wunden in deinen Händen? antwortet nun der Herr: so bin ich geschlagen im Hause derer, die mich lieben. Geschlagen, mit Schmach und Schande beladen, mit den ausgesuchtesten Qualen gefoltert, in den Staub getreten, - bin ich im Hause derer, die mich lieben: unter dem Volke meines Eigenthums, das ich vor allen andern Völkern erwählt hatte, und das sich meiner Liebe rühmte, und mit seinen Lippen meine Wunder pries. So spricht der Gekreuzigte auch noch immer zu der gläubigen Seele, die zu ihm als dem Leidenden aufschauend die rechte Herzensfrage an ihn richtet: was find das für Wunden in deinen Händen? sie zu demüthigen und zu heiligen. Er spricht: für dich, o gläubige Seele, die du mich liebst, für deine Sünden bin ich geschlagen. Fliehe jetzt ernstlich in der Kraft meines rein waschenden Blutes die Sünde, daß es immer weniger der Fall sei, daß ich im Hause, von der Gemeinschaft derer, die sich meiner Liebe rühmen, geschlagen - durch muthwillige Sünden verwundet werde!

Möchten wir denn alle unser ganzes Leben lang die Frage beherzigen: was sind das für Wunden, o Jesu! in deinen Händen? und die Antwort des Herrn stets zu unserer Demüthigung und Ermunterung vernehmen: so bin ich geschlagen im Hause derer, die mich lieben!

Die jetzt anzustellende Betrachtung mache unter dem Einflusse des heiligen Geistes jene Fragen und diese Antwort uns insgesammt und besonders den Abendmahlsgenossen recht wichtig und die Wunden des Heilandes über Alles theuer und werth!

Text: Jes. 53, 5.

“Durch seine Wunden sind wir geheilet.“

Auf das anschaulichste und rührendste schildert uns der Prophet Jesaias in unserm Textcapitel den zu unserem Besten leidenden und sterbenden Heiland, und faßt den ganzen Segen, den wir den Qualen und dem Blutvergießen des Herrn Jesu zu verdanken haben, eben so kurz und einfach, als schön und kräftig in die so eben vorgelesenen Worte zusammen: durch seine Wunden sind wir geheilet. Wir betrachten demnach in stiller Andacht:

Die Wunden Jesu.

  1. An wem sehen wir diese Wunden?
  2. Von welcher Beschaffenheit sind sie?
  3. Für wen wurden sie Jesu geschlagen?
  4. Wie trug der Herr sie?
  5. Wozu ließ er sich mit ihnen beladen? und endlich:
  6. Wem sind sie die Quellen eines unvergänglichen Segens?

Sehet da die sechs Fragen, welche wir unter Gottes Beistand uns beantworten wollen. Also:

I.

Erstens: an wem sehen wir diese Wunden?

„Durch seine, d. h. Jesu Wunden sind wir geheilet.“ An Jesu sehen wir diese Wunden. Und dieser Jesus ist die erhabenste Person im Himmel und auf Erden, wahrhaftiger Mensch und wahrhaftiger Gott.

Der mit Wunden beladene, blutende Jesus ist wahrhaftiger Mensch, einen Leib tragend wie wir, der Thränen vergoß, jeden Schmerz empfand, und für alle Pein und Plage auf Erden empfänglich war, - dessen Adern Blut vergießen, dessen Nerven von unsäglicher Qual zerrissen, dessen Hände, Füße und Seite mit Nägeln und Spieß durchbohrt werden konnten. Und in diesem Leibe wohnte eine menschliche Seele, welche Angst und Mitleiden, Trauer und Verzweiflung zu fühlen, ja betrübt zu werden vermochte bis in den Tod. So war der Verwundete uns in allem gleich; nur Eins ausgenommen: die Sünde. Ihr Gift, von dem alle vom Weibe Geborenen angesteckt sind, hatte ihn unberührt, seinen Leib wie seine Seele unbefleckt gelassen und ihr Fluch, unter dem das ganze Menschengeschlecht seufzt, ging vor Ihm vorüber, welcher keine Sünde gethan und in dessen Munde auch kein Betrug ist erfunden worden.

Doch dieser Jesus, den wir als den Verwundeten betrachten, ist nicht allein ein wahrhaftiger Mensch uns in Allem gleich, ausgenommen die Sünde, sondern auch wahrhaftiger Gott, hochgelobet in Ewigkeit! Wir verehren in der Person des Gekreuzigten den Sohn des lebendigen Gottes, gleiches Wesens mit dem Vater, den man sieht, wenn man Ihn sieht; das ewige Wort, durch welches Himmel und Erde und alle Dinge gemacht sind; das Ebenbild des unsichtbaren Gottes, den Abglanz seiner Herrlichkeit, den Erstgeborenen vor allen Creaturen, in dem Alles besteht. Durch Ihn, den Sohn, sind wir erschaffen vom Vater, durch ihn erlöst, durch seinen Geist werden wir geheiligt. Er erweckt vermittelst seiner Allmacht uns einst aus den Gräbern und vor seinem Richterthrone müssen wir offenbaret werden und aus seinen Händen unser ewiges Loos empfangen.

O! in welche Tiefen der Weisheit und Erbarmung, in welche Abgründe himmlischer Geheimnisse blicken wir hier. Ein Verwundeter, ein mit Schmach, Schande und Hohn Beladener, ein Blutender, mit einer Dornenkrone Bekränzter, schwebt vor uns an dem Fluchholze des Kreuzes und dieser ist: kein Verbrecher, wie wir auf den ersten Blick meinen möchten, kein sündiger Mensch, wenigstens gleich uns, wie Jemand wähnen könnte, - sondern ein von den Sündern abgesonderter, heiliger, unbefleckter Mensch, und - höher denn der Himmel, unser Herr und unser Gott! Und, so fragen wir zweitens:

II.

Von welcher Beschaffenheit sind diese Wunden unseres Jesu?

„Durch seine Wunden“ heißt es in unserm Texte. Unter diesen Wunden haben wir das versöhnende Leiden und bittere, verdienstliche Sterben des Herrn zu verstehen. Sein ganzes Leben war ein festgesetztes tiefes Leiden, eine große brennende Ihm geschlagene Wunde. Aber besonders am Ende seines Lebens erreichte sein Leiden den größesten Umfang, gleich einem Strom, der, wo er ins Meer sich ergießt, am weitesten wird und brannten seine Wunden am schmerzlichsten!

Fragen wir näher nach ihrer Beschaffenheit, so ist die Antwort: es waren Wunden des Leibes und der Seele!

Wunden des Leibes! Der, welchem alle Schätze im Himmel und auf Erden gehören, und dem Ehre und Anbetung gebühret von Ewigkeit zu Ewigkeit, - wandelt in Armuth und Niedrigkeit dahin und hat nicht, wo Er sein müdes Haupt niederlege, und muß von den Menschen, denen Er Leben und Seligkeit bringt, und die Er mit Wohlthaten überschüttet, sich verfolgen und anfeinden und nach dem Leben stellen zu lassen. Ach! und als nun seine Stunde und die Macht der Finsterniß gekommen war, da sehen wir Ihn in Gethsemane schlaflos, zitternd am ganzen Leibe, den blutigen Schweiß auf seiner Stirne, einem Wurm gleich im Staube sich krümmen; sehen Ihn von rohen grausamen Händen angetastet, gefangen genommen, mit schweren Ketten beladen; sehen ihn die ganze Nacht und den halben Tag, wie er in Jerusalem hin und her geschleppt, mit den Fäusten ins Gesicht, mit dem Rohrstab freventlich aufs Haupt und mit Geisseln blutig geschlagen wird. Vor unsern Blicken trägt er auf seinen müden Schultern das Marterholz zur Schädelstätte; mit durchbohrten Händen und Füßen schwebt Er zwischen Himmel und Erde, glühender Durst versenget seinen Leib, spitze Dornen dringen in sein Haupt, gräßliche Qualen durchzucken seine Glieder, bis Er endlich den verfluchten Tod eines Missethäters am Kreuze stirbt und noch im Tode sein Herz mit einer Lanze durchstochen wird. Welche Wunden des Leibes! O Sohn Gottes und des Menschen Sohn, du bist geleget in des Todes Staub; deine Hände und Füße sind durchgraben. Alle deine Gebeine möchtest du zählen, sie aber schauen und sehen ihre Lust an dir. Dein Herz ist in deinem Leibe wie zerschmolzen Wachs. Deine Kräfte sind vertrocknet wie eine Scherbe und du rufest uns zu: schauet und sehet doch, ob irgend ein Schmerz sei wie mein Schmerz, der mich getroffen hat?!

Und neben diesen Wunden seines Leibes - nun noch die weit schmerzlicheren seiner Seele!

Von dem größten Theile seines Volkes wird er verschmäht, verkannt, mißverstanden; von seinen eigenen Jüngern auf mannichfache Weise mit Kummer beladen, von einem Petrus verleugnet, von einem Judas verrathen. Unbeschreibliche Angst der Seele macht sein Herz betrübt bis in den Tod; die Verzweiflung der Hölle liegt zentnerschwer auf seinem Geiste, der Fluch der Sünde belastet sein Inneres. Die Menschen, deren größter Wohltäter er ist, schleppen ihn ans Kreuz, verspotten ihn aufs schändlichste und selbst das Angesicht Gottes verbirgt sich vor ihm, so daß der Angstruf seinen Lippen entfährt: „mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Die Pfeile des Seelenmörders von Anfang durchbohren seine Seele feuriger, als die Dornen sein Haupt; der Fersenstich der alten Schlange verwundet tiefer und umfassender seinen ganzen innern Menschen, als die durch Hände und Füße geschlagenen Nägel seinen äußern Leib, die ewigen Höllenqualen der durch die Sünde Verdammten brennen glühender in seinem Geiste, als die blutenden Wunden in seinem Fleisch und der flammende Durst auf seiner lechzenden Zunge. Ach! du Sohn Gottes und der Menschen, wie verachtet bist du am Kreuze, daß man das Angesicht vor dir verbirgt und dich für nichts achtet. Sie haben ihren Mund wider dich aufgesperrt und ihren Muth an dir gekühlt. Eine Wunde über die andere ist dir gemacht, wie wohl kein Frevel in deinen Händen ist! Für wen bist du so geschlagen, für wen so verwundet? Ja:

III.

Drittens fragen wir: für wen wurden diese Wunden Jesu geschlagen?

Nicht für sich selbst, sondern für uns erduldete er sie!

Nicht für sich selbst! Alle Leiden und Wunden des Lebens sind Strafen und Züchtigungen wegen unserer Sünden. Er aber hatte keine Sünde, und nie Gottes Gebot übertreten. Wo bliebe nun die Gerechtigkeit Gottes, wie müßte sie sich vor unserem Geiste in die grausamste und willkührlichste Tyrannei verwandeln: wenn er dem heiligen, unschuldigen Jesus für sich diese Wunden hätte schlagen und dieß unermeßliche Leiden über sein Haupt hätte kommen lassen! Hier blicken wir in den Abgrund eines Geheimnisses, in welches selbst die Engel gelüstet zu schauen, und dessen Länge und Breite, Höhe und Tiefe alle Seligen in Ewigkeit nicht werden ausdenken, ausfühlen, und lobsingend nimmer hoch genug werden preisen können. Doch des Herrn Wort und Geist offenbaren uns dieses Geheimniß - so weit es zum Heile der Seelen erforderlich ist und sprechen zu uns: Gott hat den, der von keiner Sünde wußte, für uns zur Sünde gemacht.

Ja nicht für sich selbst, sondern für uns, erduldete der Heiland seine Wunden!

Für uns, weil wir Sünder sind! Sünder sind wir, denn unser Herz ist durch und durch verderbt, von Natur dem Eitlen zugewandt und ohne wahre Furcht und Liebe Gottes; Sünder sind wir, indem wir von Jugend auf wissentlich und unwissentlich, in Bosheit und in Schwachheit, mit Gedanken, Worten und Werken unzählige Male Gottes heiliges Gesetz übertreten haben und selbst die durch den Glauben Gerechten und Wiedergebornen, so lange sie im Fleische wallen, wenn auch in Christo neue Creaturen geworden, doch nicht fleckenlos und ohne Tadel sich darstellen. Für uns, an denen nichts geistig Gesundes ist von der Fußsohle an bis aufs Haupt; für uns, deren Wunden so gar böse sind, daß wir selbst nicht und kein Mensch sie heilen können, für uns, in deren Gebeinen kein Friede ist vor unsern Sünden; für uns, deren Schaden so verzweifelt groß sich zeiget: erduldete er seine Wunden! Für uns - weil wir nicht allein Sünder sind, sondern als solche auch unter dem gerechten Zorne des heiligen Gottes, unter dem drohenden Fluche des nicht zu brechenden, majestätischen Gesetzes stehen, und die ewige Verdammniß verdient haben. Für uns, denen die Sünde die glühenden Wunde der Trostlosigkeit, der innern Unruhe geschlagen hat, und in deren Herzen kein kindlich froher Pulsschlag zu Gott als unserm Vater sich erheben kann; für uns, die wir in unserem Abfalle von dem höchsten Gut zerschlagenen Gewissens und verwundeter Seele, nur mit Furcht an Tod, Gericht und Ewigkeit zu denken vermögen; für uns, die wir aus eigener Kraft gänzlich untüchtig, von der Sünde und ihrem Elende uns zu erlösen, unfehlbar nach dem Schlusse dieses Lebens, hinausgestoßen in die äußerste Finsterniß, fern, fern von dem Angesichte Gottes und seiner herrlichen Macht, unselig ohne Ende dahin wandeln werden: für uns arme, elende, fluch- und verdammungswürdige Sünder, nicht für sich selbst, wurden Jesu dem Herrn der Herrlichkeit seine Wunden geschlagen! Ja Lamm Gottes - für uns, für uns, um unsertwillen, an unserer Stelle, hast du dich bis zum blutigen Opfertode auf Golgatha, von uns, von Welt, Sünde, Teufel, ach! so schrecklich verwunden lassen. Wir, wir abtrünnigen verlaufenen Schaafe, machten dir dem treuen Hirten die schwere Leidens-Arbeit mit unsern Sünden und die saure Mühe voll Schweiß und Blut und Thränen und starkem Geschrei, mit unseren Missethaten. Und wie übernahmst du diese Wunden, die wir, deine Feinde dir zufügten? O! keiner auf Erden ist ja gleich dir verwundet worden; keiner auf Erden hat auch je gleich dir so seine Wunden getragen! Wir fragen:

IV.

Viertens, wie trug der Herr seine Wunden? Er trug sie in stiller Geduld und aus freier Liebe!

In stiller Geduld trug er sie! Mochten diese Wunden noch so schmerzlich und groß sein: er murrte nicht und ergab sich ganz seinem himmlischen Vater, dessen Willen zu thun seine Speise war. Unter der unermeßlichen Last unserer unendlichen Sündenschuld und unserer ewigen Sündenstrafen fast erliegend, seufzte er zwar in namenloser Seelenangst: ists möglich, Vater, so gehe dieser bittere Kelch vor mir vorüber; aber sogleich setzte er wieder hinzu: doch nicht wie ich will, sondern wie du willst! Das prophetische Wort ging an ihm in seine volle Erfüllung: da er gestraft und gemartert ward, that er seinen Mund nicht auf; wie ein Lamm, das zur Schlachtbank geführet wird; und wie ein Schaaf, das verstummet vor seinem Scheerer und seinen Mund nicht aufthut, - und Petrus hat Recht, wenn er von ihm sagt: welcher nicht wieder schalt, da er gescholten ward, nicht dräuete, da er litte, er stellte es aber dem heim, der da recht richtet. Ja unter den qualvollsten Schmerzen bittet er für die, die sie unmittelbar ihn schlugen: Vater, vergieb ihnen, denn sie wissen nicht, was sie thun!

Und wie in stiller Geduld, so trug er seine Wunden auch aus freier Liebe.

Er hatte Macht sein Leben zu behalten und es dahinzugehen; er konnte, wenn er wollte, dem Leiden und Blutvergießen, dem bitteren Kreuzestode entgehen und alle Wunden des Leibes und der Seele vermeiden. Aber das Feuer seiner Liebe gegen uns brannte viel zu heftig! Nur allein aus seinen Wunden erblühte uns verlorenen Menschen Heil, Leben und Seligkeit. Das wußte er, und darum ließ er sich schlagen und plagen, sich verwunden und tödten für uns. Seine freie unendliche Liebe, mit der er uns liebt, die war es, welche ihn drang, Hände und Füße sich durchbohren, mit Dornen sein Haupt umkränzen und seine Glieder am Kreuze ausspannen und von glühendem Durste sich martern zu lassen. Seine freie unverdiente Barmherzigkeit gegen eine fluchwürdige Sünderwelt, die war es, welche ihn bewog, für uns die Schrecken des Gottverlassenseins, den Fluch der Sünde, die Pein der Verdammniß zu schmecken. Sein treues, mit der zärtlichsten Sorge uns, die Untreuen, umfassendes Freundesherz, das war es, welches ihm die Todeswunde schlug! In stiller Geduld und aus freier Liebe, o Jesus Christus! trugst du deine Wunden, und dein Herzens-Blut war dir nicht zu theuer, liebevoller Hirte, es mitleidig für eine arme, elende Heerde zu versprühen, die durch eigene Schuld den Untergang sich zugezogen und nur den ewigen Tod verdient hat. - Deine stille Geduld auch im Uebermaaße der Leiden, du um unsertwillen so schmerzlich Verwundeter, lehre deine Glieder bei allen äußern und innern Wunden, während dieser Pilgrimfahrt, dir ähnlich, stille und geduldig sein! Deine freie Liebe, womit du das Kreuz zu unserm Besten auf dich nahmst, flöße den Deinen die Herz und Geist, Sinn und Kräfte durchdringende Liebe zu dir ein, welche den bittersten Kelch versüßet und Stärke gibt Alles zu dulden, und auch die schmerzlichsten Wunden zu tragen!

V.

Wozu aber, so fragen wir fünftens weiter, ließ der Herr sich mit seinen Wunden beladen? „Durch seine Wunden sind wir geheilet,“ so lesen wir in unserm Texte. Das heißt: zu unserer Heilung und zu unserer Heiligung ließ er sich mit seinen Wunden beladen.

Zu unserer Heilung! Von der alten Schlange gebissen, von der Sünde verwundet zum Tode, sind wir krank und elend, die trostlosesten und unglücklichsten Geschöpfe, wenn das leider die meisten, noch im Tode der Sünde und im Schlafe der Sicherheit liegend, auch nicht fühlen und erkennen, und rufen: Friede, Friede, wo doch kein Friede ist! Außer Christo aber ist keine Salbe in Gilead und kein Arzt nicht da. Unversöhnt mit Gott, ohne Vergebung der Sünden, Sclaven aus Furcht des Todes, Knechte des Satans, Kinder der Verdammniß, gehen wir durch das Leben dahin. Doch wie einst die Israeliten in der Wüste von dem tödlichen Bisse der giftigen Schlangen geheilt wurden durch das Anschauen der am Pfahle erhöheten ehernen Schlange, so auch wir durch das gläubige Anschauen dessen, der am Kreuze erhöhet und verwundet ist zu unserer Heilung. Er heilet die zerbrochenen Herzens sind und verbindet ihre Schmerzen, wie er selbst bei dem Propheten sagt: ich will dich Verstoßene in Zion, nach der niemand fragt, wieder gesund machen und deine Wunden heilen. Er ist der barmherzige Samariter, der zu uns, dem Seelenmörder Anheimgefallenen, kommt, unsere Wunden verbindet und Wein und Oehl darin geusset, und uns in die Herberge seiner seligen Gemeinschaft führet und uns pfleget. Seinen Wunden, seinem verdienstlichen Leiden und Sterben, seinem Gehorsam bis zum Tode am Kreuze, indem er gelitten, was wir hätten leiden, und geleistet, was wir hätten thun sollen, haben wir allein unsere Gerechtigkeit, die vor Gott gilt, die Versöhnung mit unserem himmlischen Vater, die Vergebung der Sünden, die Erlösung von dem Satan und seinen Banden, die Befreiung von der Verdammniß, den Frieden des Herzens, das ewige Leben und das himmlische Erbe, also die wahre Heilung von allem Elende zu verdanken. Denn Gott, dessen Wohlgefallen es gewesen ist, daß Alles durch seinen Sohn versöhnt würde zu ihm selbst, daß er Friede stiftete durch das Blut an seinem Kreuze durch sich selbst, hat den, der von keiner Sünde wußte, für uns zur Sünde gemacht, auf daß wir würden in ihm, die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt. Sind wir durch den lebendigen Glauben an unsern Herrn Jesum, jener aus seinen Wunden uns zufließenden Heilsgütern und Gnadenwohlthaten theilhaftig geworden: dann erfreuen wir uns der wahren Heilung, der rechten Genesung, und können sprechen aus eigener Erfahrung: fürwahr, er trug unsere Krankheit und lud auf sich unsere Schmerzen. Er ist um unserer Missethat willen verwundet, und um unserer Sünde willen zerschlagen. Die Strafe liegt auf ihm, auf daß wir Frieden hätten, und durch seine Wunden sind wir geheilet.

Was ich so lang gesucht und nimmer doch gefunden,
Das fand ich endlich ganz in meines Heilands Wunden.“

Und wie zu unserer Heilung, so ließ er sich auch zu unserer Heiligung mit seinen Wunden beladen. Die Heiligung ist die fortgesetzte Heilung, und kann nur aus ihr entspringen und durch sie möglich werden. Hier gilt die nicht zu verrückende Ordnung, erst begnadigt, dann gebessert; erst geheilt, dann geheiligt! Christus ist für uns verwundet und getödtet, daß er in unseren Herzen lebe und wir innerlich vom Seelenaussatz je mehr und mehr hergestellt, von der Herrschaft der Sünde eben so wohl, wie von ihrer Strafe errettet, geistig gesund, zu seinem Bilde wieder erneuert und geheiligt würden. Ja, durch die Kraft seiner Wunden sollen wir nicht allein geheilet, das heißt gerecht und angenehm vor Gott in seinem Geliebten und losgesprochen von der Verdammniß das Recht auf die Seligkeit des Himmels wiedererlangen, sondern auch geheiligt werden, der Sünde absterben, den alten Menschen kreuzigen, die Lüste und Begierden des Fleisches tödten und dem Vorbilde des Heilandes, seinen Fußstapfen nachfolgen. Deßhalb sagt auch Petrus, welcher unsere Sünden selbst geopfert hat an seinem Leibe auf dem Holze, auf daß wir der Sünde abgestorben, der Gerechtigkeit leben, durch welches Wunden ihr seid heil worden. Grade aus den Wunden Jesu quillt der rechte Lebenssaft für unsern geistlich erstorbenen inneren Menschen! Die Wunden Jesu sind es, die die Liebe zu Gott und die Dankbarkeit gegen den, der uns mit seinem Blute geliebt hat und damit die wahre Kraft zu jedem Guten in den gläubigen Herzen erwecken; die uns, wenn wir vertrauungsvoll uns in sie versenken, von der knechtischen Furcht vor Tod und Verdammniß befreien und so ein neues Lebenselement uns einflößen, das rechte Vermögen und die rechte Freudigkeit, dem Herrn anzuhangen unser Lebenlang, und in seinem Geiste ohne Zwang, mit Willigkeit und Lust aus innerem Liebestrieb, dem Dienste der Sünde und Welt zu entsagen, seine Gebote zu erfüllen, und ihm uns zu einem lebendigen Dankopfer darzustellen! So sind die offenen Wunden Jesu die alleinige Reinigungsquelle von todten Werken unseres Gewissens; so erblühet einzig aus dem ihnen entströmenden kostbaren Blute für den, der da von Herzen glaubt, das wahre geistliche Leben in tausend anmuthigen Blüthen und Früchten! O! Herr Jesu, in dessen Wunden allein der armen kranken verlorenen Menschheit die Quelle des Heils und der Genesung fließt, wann, wann wollen endlich alle und auch wir insgesammt, keiner ausgenommen, dir die Ehre geben und uns kindlich vertrauend an deine liebende Brust werfen, um da von allen Wunden, welche Welt, Sünde und Teufel uns geschlagen haben, zu genesen?! So du willst, kannst du uns wohl heilen. Sprich denn das Allmachtswort deiner Gnade auch über uns aus: ich wills durch meine Wunden! und wir sind geheilt! Doch endlich:

VI.

Sechstens fragen wir nun noch: wem sind denn die Wunden Jesu Quellen eines solchen unvergänglichen Segens?

Nur denen, die sich auf den Weg des Heils begeben und bleibend darauf wandeln.

Gott hat in seinem Worte einen Weg, eine Ordnung des Heils geoffenbart, in die wir eingehen müssen, wenn wir in Jesu Wunden Heil, Segen und Leben finden wollen. Und dieser Weg ist kein anderer, als der Weg einer rechtschaffenen Buße und eines lebendigen Glaubens an den Herrn Jesum. Jesu Wunden stehen als eine sichere Friedensstätte, als das rechte Zoar dem unvermeidlichen Untergange zu entgegen, nicht offen für die unbußfertigen und ungläubigen Menschen, welche muthwillig in ihren Sünden beharren, oder selbstgerecht der Buße nicht zu bedürfen meinen; sondern für die, welche ihre Sünden und ihr verderbtes Herz aufrichtig erkennen und bereuen, sehnsüchtig Gottes Gnade suchen, mit dem verlorenen Sohne sich aufmachen und zu ihrem in Christo versöhnten Vater gehen und vertrauungsvoll den Heiland als die einzige Ursache ihrer Gerechtigkeit und Seligkeit umfassen, in seinen Wunden Vergebung ihrer Sünden begehren und ihm nach Leib und Seele, mit Herz und Sinnen sich übergeben, und mit ihm, ohne den Niemand zum Vater kommen kann, einen Bund machen für die Ewigkeit.

Aber dann müssen auch die, welche sich auf den Weg des Heils begeben, sollen ihnen die Wunden Jesu Quellen eines unvergänglichen Segens sein, bleibend darauf wandeln. Wer fromm ist, der sei immerhin fromm! Der Herr will treue Jünger, die ihm nicht heute oder morgen, sondern immer anhangen, und die ihm dem höchsten Gute den Vorzug geben vor Allem, und zwischen ihm und der Welt nicht länger unentschieden hin und herschwanken, und bietet ihnen dazu seine Gnadenkraft an. Vergebens rühmst und tröstest du dich der Wunden Jesu, wenn du sie zu einem falschen Ruheküssen deiner Sünden und deiner fleischlichen Trägheit machst, und nicht eifrig ihre Lebenskraft und ihren heilenden Balsam zur geistlichen Genesung und zu einem frommen Wandel benutzest und in der Liebe deines gekreuzigten Jesus der Heiligung nicht nachjagst und ihm treu bleibst bis in den Tod. Magst du zwar mit Welt und Sünde und Teufel und deinem alten Menschen im Streite liegen müssen, so lange dies Leben dauert, hast du wahrhaft in den Wunden Jesu Friede und ein neues geistliches Leben gefunden, so darfst du versichert sein, daß dein Herr dich, die gläubige Seele, nach seiner Verheißung beständig bewahren wird, und in dieser Bewahrung wirst du immer mehr siegen, wachsen und fortschreiten von Kraft zu Kraft, bis du endlich nach Zion gelangst, wo du die verklärten Wunden deines Erlösers küssen und den durch sie errungenen Gnadenlohn, Freude und liebliches Wesen zu seiner Rechten ewiglich aus seinen durchbohrten Händen empfangen wirst.

Möchte denn die nun vollendete Betrachtung der Wunden Jesu um dieser Wunden willen, nicht ohne Segen bleiben an unser aller Herzen.

Ihr Unbekehrten, euch mögen diese Wunden Jesu heilsam erschüttern und euch erwecken aus eurem Sündenschlafe. Sehet unsere und eure Sünden haben dem unschuldigen Heiland diese Wunden geschlagen; sehet, was der Herr litt, das stehet euch in der Ewigkeit bevor, wenn ihr nicht umkehret; sehet, so schrecklich zürnet der heilige und gerechte Gott über unsere Missethaten, daß sie zu versöhnen, das Lamm Gottes mit den schmerzlichsten Wunden beladen ist. Noch scheint die Sonne der Gnade über eurem Haupte. Soll die blutige Aussaat der Wunden eures Bürgen denn nimmer Früchte bei euch bringen?! Wollt ihr es nicht endlich wagen, euch von der Welt und Sünde loszureißen, so sehr euch auch die durch diesen Riß eurem alten Menschen bereiteten Wunden schmerzen mögen?! So nehmet denn reumüthig zu dem Gekreuzigten eure Zuflucht, daß die Brand- und Wundenmahle eures bösen Gewissens geheilet werden, und nicht einst in einer andern Welt euch ewige Qualen verursachen.

Ihr mühselig und beladenen, ihr göttlich traurigen und zerbrochenen Herzen! euch mögen die Wunden Jesu zum süßesten Trost und zum erquicklichsten Labsal gereichen. Aus ihnen quillt das rechte Freudenöhl für bekümmerte Gemüther, das alle Schmerzen des innern und äußeren Lebens lindert und heilet. Zweifelt nicht länger; sitzet nicht mehr im Sack und in der Asche mit thronenden Augen; bleibt nicht ferner blöde von weitem stehen, sondern wagt es, die offenen Wunden eures Jesu zu küssen und ihr werdet es selig erfahren, daß er ein treuer Hirte ist, der das Verwundete verbindet, das Kranke heilt und das Schwache stärkt.

Ihr Begnadigten, ihr im Glauben auf dem schmalen Wege Wandelnden, euch mögen die Wunden Jesu eine unerschöpfliche Quelle der Ermunterung und Kraft zu einem heiligen Pilgerleben sein und bleiben. Ihr habt es erfahren: in Jesu Wunden Kraft und Ruhe gefunden! Nun! laßt euch aus dieser über den Wogen der eitlen Welt unerschütterlich festerbauten, sicheren und schützenden Burg nicht wieder heraustreiben; werdet immer tiefer eingewurzelt in dieses Lebenselement und lebet und sterbet dem, der für euch gemartert und geschlagen und getödtet ist!

Und endlich ihr Abendmahlsgenossen, denen das Brod diesen Morgen gebrochen und dargereicht und der Wein ausgeschüttet und gegeben wird zum Zeichen und Siegel, daß das Lamm Gottes für eure und der Welt Sünde geopfert, sein heiliger Leib zerschlagen, und sein theures Blut aus fünf offenen Wunden geflossen ist, bedenket mit allem Ernste, was ihr nun aufs Neue bekennt und gelobt. Ihr bekennt an jenem Bundestische: nur allein in Jesu Wunden ist Heil und Frieden, Leben und Seligkeit! Ihr gelobt, der Welt und Sünde abzusterben und dem zu leben, der für euch verwundet und gestorben ist! Zu diesem Bekenntniß stärke, zu der Erfüllung des Gelübdes mache euch der tüchtig, dessen gekreuzigten Leib und dessen vergossenes Blut ihr im wahren Glauben jetzt genießen möget und der, wie er einst auf Erden für uns mit seinen blutenden Wunden am Fluchholze bezahlte, noch immer im Himmel mir feinen verklärten Wunden uns vertritt und dem sammt dem Vater und dem heiligen Geiste sei Ehre, Preis und Anbetung von Ewigkeit zu Ewigkeit! Amen.

Herr Jesus, hochgelobter Gottes-Sohn, unaussprechlich theurer, zur rechten der Majestät im Himmel erhöhter Mensch und Bruder! segne, segne mit deinem hohenpriesterlichen Segen diese Betrachtung deiner Wunden, und besprenge unsere Herzen mit deinem theuern Blute, daß die sichern Sünder aus ihrem Schlafe aufgeweckt, die Leichtsinnigen vor der Verdammniß gewarnt, die Angefochtenen beruhigt, die Traurigen getröstet, die Selbstgerechten ihres eigenen Schmuckes beraubt, die wahrhaft Gläubigen in dem Bunde mit dir befestigt und in deiner Gemeinschaft geheiligt werden, und die Abendmahlsgenossen in dem von dir zu schenkenden Hochzeitskleid wahrer Demuth und Heilsbegierde deinem Tische sich nahen mögen. Reinige und heilige uns von allen auch den geheimsten Befleckungen unserer Seele; ertödte durch deinen Tod in uns auch die letzten Ueberreste von Eigenliebe und Selbstgerechtigkeit. Mache uns deine Wunden immer. kostbarer und theurer und unser Herz erfahre es von Tage zu Tage je mehr und mehr, wie dieselbigen der alleinige Grund unserer Gerechtigkeit, die nie versiegende Quelle unserer Heiligung, unser einiger Trost im Leben und im Sterben sind, und einst droben, wo sie der Gegenstand der ewigen Preisgesänge aller selig Vollendeten sein werden, laß uns völlig erlöst, aus deiner Gnade, mit einstimmen in das neue Lied: Du bist würdig zu nehmen das Buch, und aufzuthun seine Siegel; denn du bist erwürget und hast uns Gott erkauft mit deinem Blute! Amen.

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