Schmitz, Richard - Die beiden Weltzeiten

Schmitz, Richard - Die beiden Weltzeiten

Auf daß er zu diesen Zeiten darböte die Gerechtigkeit, die vor ihm gilt; auf daß er allein gerecht sei und gerecht mache den, der da ist des Glaubens an Jesum.
Römer 3, 26

Der Ratschluß Gottes hat für alles seine bestimmten Zeiten und Zeitläufe. Man redet in diesem Sinne von Weltläufen insofern, als einzelne, in sich geschlossene und abgegrenzte Gottesgedanken, mit ihren Höhen und Tiefen und allen in ihr wirkenden Kräften, in gewissen, von Gott festgesetzten und zeitlich bemessenen Abschnitten ihren geschichtlichen Ablauf finden, um wieder neue Zeitläufe einzuleiten. Die Schrift braucht dafür das Wort „Äon“, ein Wort, das im Munde Jesu oft gebraucht wird und in den apostolischen Briefen häufig wiederkehrt - von Luther mit „Welt“, auch mit „Ewigkeit“ und anders übersetzt. Diese Äonen beziehen sich naturgemäß auf die Schöpfungen und das Tun Gottes, da es in ihm selbst eine Veränderung oder einen Wechsel nicht gibt (Jakobus l, 17). Wie aber alles durch den Sohn und zu ihm geschaffen ist (Kolosser l, 16), so bestehen auch die Äonen in ihm, oder anders gesagt: sie werden nach dem ewigen Willen Gottes durch ihn gestaltet und in Wirkung gesetzt. Der Vollzug aller Gottesgedanken, auch mit dem Menschen, ist damit in die Hand des Sohnes gelegt, ohne den kein neuer Gottesgedanke ins Werk gesetzt wird.

Durch den Fall des Menschen waren die Gedanken und Absichten Gottes, die er mit dessen Erschaffung verwirklichen wollte, durchbrochen. Das mit der Welt in bezug auf den Menschen gesetzte Ziel ward aber nicht von Gott aufgegeben. Der Fall war jedoch derart, daß dem Menschen nur geholfen werden konnte, wenn etwas geschah, das gegenüber dem bisherigen Verfahren Gottes neu war. Mit einem rein schöpfungsmäßigen Handeln Gottes konnte der eingetretene Schaden nicht wieder gutgemacht werden. Gott wußte es. Er hat aber dennoch in seinem ewigen Rat einen Weg gefunden, auf dem jenem abgrundtiefen Unheil, in das der Mensch sich begeben, wirksam begegnet werden könne. Es war dies ein Weg und Verfahren Gottes, auf das der Mensch selbst nicht kommen konnte (l. Korinther 2, 6-10; Römer 16, 25), ein Geheimnis in Gott, in das auch die seligen Engel nicht zu schauen vermochten (l. Petrus l, 12): „Gott geoffenbart im Fleisch!“ (l. Timotheus 3, 16). Der Sohn Gottes ward Mensch, um die Sünde „aufzuheben“ und außer Wirksamkeit zu setzen (Hebräer 9, 26-28). Ein göttlicher Weg, aber auch der einzige Weg! Für die gefallenen Engel ward eine Rettung nicht gefunden, und es konnte dies auch nicht (Hebräer 2, 16). Mit dem Opfergang Jesu auf Golgatha schloß eine bisherige Weltzeit ab, wie auch - was gleichfalls bemerkt werden soll - mit seiner Wiederkunft die jetzige Weltzeit abschließen wird: „Am Ende des Äons ist er einmal erschienen, durch sein eigenes Opfer die Sünde aufzuheben; … zum andernmal wird er ohne Sünde erscheinen denen, die auf ihn warten zur Seligkeit“ (Hebräer 9, 26. 28).

Von dem Abschluß der vorigen Weltzeit und der neuen, in der wir uns jetzt befinden, redet auch Paulus in dem vorliegenden Abschnitt: „Den Gott vorgestellt (vorherbestimmt) hat zur Sühnung in seinem Blut zur Erweisung seiner Gerechtigkeit wegen der Übergehung der Sünden, die zuvor geschehen unter göttlicher Geduld, zur Erweisung seiner Gerechtigkeit in der gegenwärtigen Zeit, damit er selber gerecht sei und gerecht mache (rechtfertige) den, der da ist des Glaubens an Jesus“ (Römer 3, 25). Das ist deutlich, aber auch eine befriedigende Erklärung der langen Nachsicht, die Gott gegenüber der Sünde einer Welt an den Tag gelegt hat.

Gott ist gerecht; darum kann er eine Verletzung seiner Ordnungen nicht ohne Vergeltung hingehen lassen. Als Richter steht es ihm auch zu, darüber zu befinden, wann und wie diese Vergeltung geschehen soll. Seine Hoheitsrechte sind unantastbar, aber in ihrer Ausübung immer angemessen; er selber hat die Zeitläufe nach seinem allweisen Rat vor aller Zeit festgesetzt. „Er hat mit großer Geduld getragen die Gefäße des Zorns, die da zugerichtet sind zur Verdammnis, auf daß er kundtäte den Reichtum seiner Herrlichkeit an den Gefäßen seiner Barmherzigkeit, die er bereitet hat zur Herrlichkeit“ (Römer 9, 22. 23).

Schon in den Jahrtausenden, in denen Gott Nachsicht übte, hat sich seine Gerechtigkeit von Zeit zu Zeit in Gerichten ausgewirkt. Immer waren es nur Teilerscheinungen gerichtlicher Strenge, wenn jeweils das Maß frevelnder Sünde voll geworden. Aber auch dann wurde die Sünde nie vollständig gerichtet. Selbst bei der Sintflut sollte das Einschreiten Gottes die Weiterführung menschlicher Geschichte nicht unmöglich machen. Auch die Gerichte über Sodom und Gomorrha, die Rotte Korah und zu anderen Zeiten sollten nur dazu dienen, ein weiteres Übergreifen des Bösen zu verhüten und in den Menschen das Bewußtsein göttlicher Gerechtigkeit wach zu erhalten. Nicht anders war es, wenn Gott im einzelnen strafend eingriff oder die der Sünde selber innewohnende zerstörende Gewalt sich auswirken ließ. Niemals aber hat Gott so gerichtet und gestraft, wie es der Mensch verdient hatte; denn sonst hätte er ihn der Verdammnis überliefern müssen. Der Apostel drückt dies damit aus, daß er sagt, Gott habe die Sünde „übergangen“, wörtlich: „vorbeigelassen“, keine Notiz von ihr genommen. Diese göttliche Nachsicht und Geduld entsprach aber nicht der vergeltenden Gerechtigkeit Gottes, und der ungehemmte Lauf der Sünde nicht ihren sittlichen Grundbestimmungen; Gott hielt viel mehr an sich. Die richtende Gerechtigkeit Gottes blieb verhüllt, und damit entstand der Schein, als ob die Sünde nicht so schlimm sei und als ob der Gottlose denken und reden, tun und handeln dürfe, wie es ihm beliebe: „Das tust du, und ich schweige; da meinst du, ich werde gleich sein wie du“ (Psalm 50,21). Die Langmut Gottes ist aber kein Übersehen, wie der frevelnde Mensch es sich denkt; seine Gerechtigkeit verlangt es, daß sie zur Entladung kommt. Aufschub ist nicht Aufhebung.

Wenn Gott Geduld erzeigte und seine Gerichte nicht bis zur Tiefe der Vernichtung sich auswirken ließ, sondern sie wieder und wieder abbrach und ihr Wirken begrenzte, so ist dies - wie das vorliegende Wort sagt - begründet im Ratschluß Gottes. Ein Erweis seiner Gerechtigkeit wäre es gewesen, wenn er die Menschheit dem Verdammungsgericht überlieferte; ein noch größerer ist der auf Golgatha. Um des Zieles einer vollkommenen Sühne in Christus willen übte Gott Geduld. Diese Sühne konnte auch nur, wie geschehen, stellvertretend geleistet werden; denn es liegt in dem Begriff der Stellvertretung, daß der Vertreter unschuldig und freiwillig die Strafe auf sich nimmt: unschuldig, denn sonst würde die Strafe für eigene Verschuldung verbüßt; freiwillig, denn gezwungen konnte die Strafe nicht heilige Sühne bewirken. Die Vergeltung traf ihn, auf dem trotz des Gerichts das ununterbrochene Wohlgefallen des Vaters ruhte. Diese beiden Seiten des stellvertretenden Eintretens des Knechtes Gottes für uns werden daher auch in Jesaja 53 herausgestellt. Indem Jesus die Strafe in der ganzen Strenge der Vergeltung getragen, hat sich auf Golgatha die richtende Gerechtigkeit Gottes erschöpft; sie ist damit zum Abschluß, zur Ruhe gekommen (Johannes 19, 30).

Damit, daß dies geschehen ist und also die Sühne stellvertretend für eine Menschheit nach göttlichem, ewigem Recht sich als vollgültig auswirkte, während diese Sühntat zugleich williger Gehorsam unter den Vaterwillen Gottes war, kam zu der Gerechtigkeit, die Jesus als Sohn Gottes von Ewigkeit her wesenhaft besaß, die als Mensch erworbene Gerechtigkeit hinzu. Diese doppelte Gerechtigkeit ist die im Evangelium geschenkweise dargebotene Gerechtigkeit Gottes. Das Verhältnis zwischen dem Vater und dem Sohne, das von Ewigkeit her bestand, wurde auf Golgatha nicht nur unterbrochen, sondern durch die willige Gehorsamstat Jesu am Fluchholz ist nun auch ein neues Verhältnis Gottes zur Menschheit, in die Jesus als vollbürtiges Glied eingetreten, geschaffen.

Der Tod Jesu ward damit Beginn einer neuen Weltzeit: die Sünde ist gesühnt und der Menschheit ein neues Haupt gegeben. Dies wirkt sich einmal damit aus, daß Gott Jesus erhöhte 2u seiner Rechten (Philipper 2, 9-11), und sodann darin, daß die Sühne der Sünde der Welt in der Anbietung der Versöhnung in ihre Rechte eingetreten ist (2. Korinther 5, 19. 20).

Der Apostel sagt weiter: „Zur Erweisung seiner Gerechtigkeit in der gegenwärtigen Zeit, damit er selber gerecht sei und rechtfertige den, der da ist des Glaubens an Jesus“ (26). Gott mußte zwei sittliche Forderungen miteinander in Einklang bringen: die seiner Gerechtigkeit und die seiner Gnade. Er hat dies getan durch ein und dieselbe Sühnetat auf Golgatha. Diese war eine Erweisung der Gerechtigkeit Gottes, die deswegen eine herrlichere ist als die, welche in einem Verdammungsgericht über eine unerlöste Menschheit bestanden hätte, weil er nicht nur selber „als gerecht“ sich darstellt, sondern auch den Menschen, die sich von ihm helfen lassen wollen, „zur Gerechtigkeit verhilft“. An der Sühne auf Golgatha ist der Mensch unbeteiligt; sie ist außer ihm von Gott her geschehen (2. Korinther 5, 20, 21). Die Wirkungen dieser Sühne können aber nicht außer dem Menschen bleiben, wenn ihm geholfen werden soll. Diese Wirkungen werden ihm zuteil durch „den Glauben an Jesus“. Glaube oder Unglaube, Annahme oder Verwerfung dieser Sühnung ist zum Entweder-Oder geworden.

Wir knüpfen hier eine Erfahrung des großen englischen Dichters Cowper an, die er angesichts der vorliegenden Stelle erlebte. Es war zu einer Zeit, da er der Verzweiflung hingegeben war. Lange war er in heftiger Bewegung in seinem Zimmer auf- und abgegangen. Endlich setzte er sich an das Fenster, und, da er eine Bibel erblickte, schlug er sie auf, um zu versuchen, ob er in ihr Trost und Stärkung finde. Er sagt selber: „Die Stelle, auf welche ich traf, war Römer 3, 25. 26. Indem ich sie las, bekam ich unmittelbar die Kraft, zu glauben. Die ganze Fülle der Strahlen der Sonne der Gerechtigkeit fiel auf mich; ich sah das vollständige Genügen der von Christus vollbrachten Sühnung zu meiner Begnadigung und meiner völligen Rechtfertigung. In einem Augenblick glaubte ich und empfing den Frieden des Evangeliums.“ Er setzte hinzu: „Wenn der Arm des Allmächtigen mich nicht gehalten hätte, ich glaube, ich wäre erdrückt worden von der Dankbarkeit und Freude; meine Augen füllten sich mit Tränen. Die Aufwallung raubte mir die Stimme; ich konnte nichts tun, als in stiller Andacht voll Liebe und Bewunderung zum Himmel blicken. Doch ist es besser, das Werk des Heiligen Geistes mit dessen eigenen Worten zu schildern: es war die unaussprechliche und herrliche Freude.“

Erst mit der Erkenntnis der Heilstat am Kreuz werden Menschen reif zum ewigen und ungehinderten Gericht, wie andererseits zu ewiger und vollkommener Wirksamkeit der Gnade. Selbsttäuschung ist nicht mehr möglich; jede Sünde wird fortan entweder vergeben oder endlich gerichtet. Wenn aber Gottes vergeltende Gerechtigkeit sich an dem Sohne Gottes ohne Schonung auswirkte, „wo will der Gottlose und Sünder erscheinen?“ (l. Petrus 4, 18). Nachdrucksvoll sagt die Schrift an andrer Stelle: „Wie wollen wir entfliehen, so wir eine solche Seligkeit nicht achten?“ (Hebräer 2, 3.)

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