Schmitz, Richard - Die Grundfrage des Heils

Schmitz, Richard - Die Grundfrage des Heils

Jede Wahrheit der Schrift kann mißdeutet und mißbraucht werden, und dies ist oft geschehen. Nicht ihr selbst wird damit Abbruch getan; sie bleibt in Kraft wie vordem. Nur der Mensch büßt etwas ein und gibt sich Täuschungen hin, wobei er aber um so weniger schuldfrei bleibt, als jede Wahrheit sich vor seinem Gewissen beweist und er dies erst vergewaltigen muß, um die Wahrheit nicht anzuerkennen. In keinem Falle wirkt sich dies verhängnisvoller aus, als wenn es sich um höchste und letzte Fragen handelt, die dem Leben erst Sinn geben und das Gottesverhältnis zu uns und unser Verhältnis zu Gott berühren. Es ist aber eine bemerkenswerte Tatsache, daß es zumeist diese Fragen sind, die dem Angriff und der Mißdeutung unterliegen - Fragen, bei denen es sich um die ewigen Grundlagen des Heils handelt. Und doch ist dies wieder verwunderlich, um so mehr, als hierbei der Mensch nicht Unbeteiligter ist, nicht etwa Zuschauer einer fremden Sache, die ausgetragen wird, sondern sie geht ihn an. Er selber ist es, dessen Geschick zur Erörterung steht und bei dem er sich verantworten muß.

Wie ist es eigentlich möglich, daß ein Mensch überhaupt die Entscheidung hinausrücken kann in einer Frage, die ihn eigens angeht und sein ewiges Schicksal bestimmt, der er also nicht ausweichen kann, ohne sich selbst aufzugeben? Wenn irgendwie Klarheit bestehen muß, so darin: Wie werde ich selig? Wie kann ich meinem Gott begegnen? Die Antwort kann nur der geben, mit dem wir es zu tun haben: Gott selbst. Er hat sie gegeben in seinem Wort, das bestehen wird in Ewigkeit.

Man muß um den Notschrei eines aufgewachten Gewissens wissen, um zu erkennen, daß es sich nicht eher zufrieden gibt, bis es durch einen Freispruch diese Antwort von Gott selbst gefunden hat. Jene Fragen drängen sich auf mit einer Gewalt, der man nicht ausweichen kann. Wenn der göttliche Lichtstrahl in die Dunkelkammer des Herzens gefallen ist, dann ist die Schicksalsfrage gestellt, die keinen Aufschub erleidet. Die Selbstbetrügerei ist zu Ende. Eine Gerichtsstunde hat geschlagen in der Zeit, und sie ist es, die zur Gnadenstunde wird für die Ewigkeit. Eine Neuordnung beginnt, wo das Verhältnis Gottes zu uns und unser Verhältnis zu ihm neu bestimmt wird. Ein Einschnitt im Leben des Menschen wird vollzogen, der ein Altes beschließt. Fortan weiß er sich in eine Gnade gestellt, die sich über ihm wölbt als ein Himmel unverdienter Zuneigungen und Segnungen des Gottes, dessen Urteil er für sich hat.

Es steht erfahrungsmäßig fest, und es wird immer wieder erlebt, daß gerade die einfachsten Wahrheiten, die biblischen Grundwahrheiten, am schwersten verstanden und am leichtesten vergessen werden. Woher kommt dies? Gewiß nicht daher, weil es etwa an Erkenntnisvermögen mangelt. Geistliche Dinge haben es mit ihm eben am wenigsten zu tun; sie müssen erlebt werden, um sie zu verstehen. Dies Erleben vollzieht sich nicht wissensmäßig, sondern durch den Glauben, der aus dem Zusammenbruch aller eigenen Persönlichkeitswerte erwächst, um in dieser erlebten Selbstunfähigkeit all sein Heil und seine Gerechtigkeit in Christus zu finden, da» auch wieder ein Erleben ist. Was wir nun in Christus haben, ist ein Besitz, der außer uns in ihm ist und täglich durch Glauben neu gewonnen werden muß. Selbst ein Paulus sah sich genötigt, eine Eigengerechtigkeit täglich als Unrat wegzuwerfen, damit er habe die Gerechtigkeit, die dem Glauben an Christus geschenkweise zugerechnet wird (Philipper 3, 9). Anders wäre es, wenn es sich bei dem Glauben etwa um eine Welt- und Lebensanschauung handelte, die es eben nur mit einer „Anschauung“ zu tun hat, die auch anders sein kann. Es handelt sich aber bei dem Glauben um ein Entweder-Oder, bei dem keine andere Wahl bleibt, als sich in seiner Haltung völlig umzuwerfen, von sich weg zu Christus hin, um selig zu werden - oder zu bleiben, wie man ist, und verlorenzugehen. Diese Glaubenshaltung findet ihre Gegnerschaft in der Natur mit ihrer ständigen Selbstbehauptung, und so kommt es, daß wir immer wieder von neuem buchstabieren an dem Wörtlein „Gnade“, und auch am Ende unserer Tage mit Luther sagen müssen: „Wir sind Bettler! Das ist wahr!“

Es darf wohl allgemein ausgesprochen werden, daß es zu einem festen Stand christlichen Lebens nicht kommen kann, solange die einfache Wahrheit von der Vergebung der Sünden nicht voll erfaßt und Lebensinhalt geworden ist. Alle Zuversicht zu Gott in den Wechselfällen äußeren und inneren Lebens wird von ihr bestimmt Alle begnadeten Menschen Gottes haben ihre Freudigkeit und Kraft je und je geschöpft aus dem Bewußtsein, daß ihr Verhältnis zu Gott geordnet ist. Besteht die vornehmste Wirksamkeit, die dem Heiligen Geist zugefallen ist, nicht darin, daß er Jesus verkläre (Johannes 16, 14), seine Person und sein Werk ins Licht setze? Damit ist doch nichts weniger gesagt, als daß der Glaube seine Kraft und Nahrung findet in der Erkenntnis Jesu Christi, wie auch andererseits, daß uns nichts leichter abhanden kommt, als durch ihn bei Gott in Gnaden zu sein. Weiter ist damit gesagt, daß alle wirksame Verkündigung im Zeugendienst von Jesus Christus beruht. Wenn die Posaune einen hellen Ton gibt, horchen Gotteskinder auf, und selbst Augen derer erglänzen, die als Gereifte im Glauben schon lange auf dem Weg des Lebens sind. Alles gesunde christliche Leben geht aus von dem Grundverhältnis zu Gott in Jesus Christus und seiner freien, allgenugsamen Gnade.

Angesichts einer Frage, die sich erstreckt auf Leben und Tod, auf ewige Verdammnis oder ewige Seligkeit, drängt sich das Bedürfnis hervor, einmal die göttlichen Urkunden zur Hand zu nehmen und sie daraufhin zu untersuchen, ob dies Wort von der Gnade wirklich tragbar genug ist, um auf ihm die Gewißheit ewiger Seligkeit aufzubauen, und ob man sicher dabei geht, dieser Gnade ohne Vorbehalt zu vertrauen. Gott hat die Bedenklichkeiten der Vernunft und die Einsprüche des menschlichen Herzens gekannt, und er ist ihnen in seinem Wort im voraus begegnet. Wenn die Schrift irgendwo klar und unmißverständlich redet, dann ist es hier.

Das Wort von der vergebenden Gnade Gottes ist die feste Linie, die durch die ganze Schrift hindurchgeht. Sie ist schon bezeugt „durch das Gesetz und die Propheten“ (Römer 3, 21). Vor allem waren die Apostel dazu berufen, das Evangelium von Christus als Angebot der freien Gnade Gottes zu deuten. Vornan steht hier Paulus. Es ist insbesondere der Römerbrief, in dem jenem Evangelium diese deutliche Prägung gegeben hat. In ruhiger Entwicklung seiner Gedanken aus der alttestamentlichen Schrift heraus hat er hier zur Bezeugung des Evangeliums ein Beispiel verwendet, das ebenso einfach, wie einleuchtend und eindringlich ist. Es ist dem gerichtlichen Verfahren entnommen, wo strenges Recht angewendet wird: Verurteilung oder Freispruch. Dies Recht bestimmt sich nach bestehenden Vorschriften oder Ordnungen; vorliegend sind es solche, die Gott selber festgesetzt hat. Gott ist es auch, der sein Urteil darüber spricht, ob jemand den Anforderungen, die Jene Rechtsordnung stellt, entspricht oder nicht. Diese Rechtsordnung findet Paulus im Evangelium, durch das die des mosaischen Gesetzes außer Wirksamkeit gesetzt ist. War dies Gesetz auf Werke, also auf menschliche Leistungen gestellt, so das Evangelium auf Glauben ohne Verdienst der Werke. Wo Gott den Glauben findet, da spricht er gerecht, d. h. Gott rechtfertigt den Menschen. Diese Gerechterklärung Gottes ist also eine „gerichtliche“ Handlung Gottes, die uns weiterhin beschäftigen wird.

Diese Rechtfertigung durch den Glauben ist der Grundinhalt des Evangeliums, wie es der Römerbrief darstellt und näher begründet. Aber auch der Galaterbrief ist diesen Darlegungen gewidmet, nur daß hier aus besonderen Umständen heraus die Sprache des Apostels mit starkem persönlichem Einschlag überaus bewegt ist. Auch in den beiden Korintherbriefen kehrt gelegentlich dieser Gedanke wieder, während Paulus in seinen übrigen Briefen das in der Schrift durchweg verwendete Bild einer Erlösung oder Loskaufung durch einen Preis beibehält. Hierin ist beides, die Befreiung von Sündenschuld wie auch von Sündenmacht, vereinigt. Das im Römerbrief gebrauchte Bild einer gerichtlichen Freisprechung von seiten Gottes, der Rechtfertigung durch den Glauben, aus der die Heiligung erst erwächst, hat indes den Vorteil, daß beides, gesondert für sich herausgestellt, dem Verständnis nähergebracht wird: einmal die Rechtfertigung durch den Glauben als Grund des Heils, und sodann die Heiligung durch den Glauben als Erweis des erlangten Heils. Nur ist es unzulässig, beides voneinander zu trennen, da es eine Rechtfertigung nicht gibt. Beides wird gleichermaßen durch Christus erlangt und durch denselben Glauben vermittelt, wobei die Rechtfertigung den Vorrang behält.

Paulus ist insbesondere von Gott ausersehen worden, der Erklärer des Evangeliums von Christus zu sein. Ihm wurde eine Einsicht in den Gnadenrat Gottes gewährt, wie sie in gleicher Tiefe niemandem der übrigen Apostel zuteil wurde. Die Art seines eigenen Heilserlebnisses machte ihn hierzu besonders fähig; immer wieder kommt er darauf zurück. Seit beinahe zweitausend Jahren ist es vor allem seine Darlegung des Evangeliums gewesen, das eine Heilsgewißheit vermittelt, wie sie ein Mensch braucht, der sich auf seine eigene Tugend vor Gott nicht berufen kann. Dennoch ist der Mensch gerne dabei, seine eigene Leistung und Frömmigkeit bei Gott in Rechnung stellen zu wollen. Keine Wahrheit ist daher mehr untergraben worden als die der Rechtfertigung durch den Glauben aus Gnaden ohne Verdienst der Werke. Selbst in den Reihen der Kinder Gottes suchte der Lügner von Anfang eine Heiligungslehre einzuschmuggeln, die die Grundlage der Rechtfertigung durch den Glauben unterhöhlte. Nur ein Evangelium aber, das den Gottlosen, der da glaubt, gerecht spricht, kann dem Menschen helfen und Anker seiner Hoffnung sein.

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