Schmitz, Richard - Fleisch und Geist - Kapitel 4

Schmitz, Richard - Fleisch und Geist - Kapitel 4

Wie behutsam der Apostel vorgegangen ist, die in Kapitel 7,14 vorgetragene Wahrheit klar und eindeutig darzustellen, ergibt sich weiterhin und mit noch größerer Deutlichkeit aus dem dritten Kreis dieser Darlegungen Vers 21-23. Er zieht hier das Ergebnis der bisherigen Ausführungen, weshalb er diesen Schlußteil mit dem Wort ára = folglich, also, einleitet. Es ist aber mehr als ein Ergebnis, das er nun vorlegt, denn er verwebt es mit einem neuen Gedanken, und er wird dabei noch genauer und massiger in seinem Ausdruck als bisher. Er zieht die letzten Register, um das harmonische Ganze voll ausklingen zu lassen.

Vers 21: „Also finde ich in mir ein Gesetz, daß mir, wo ich das Gute tun will, das Böse anhanget.“ Das Zeitwort „finden“ (heurisko) kann auch mit „entdecken“ übersetzt werden, und es bedeutet dann nicht: etwas finden, das man gesucht hat, sondern: auf etwas stoßen, das man zufällig antrifft. Der Apostel drückt hier wohl dasselbe Befremden aus, das er schon Vers 15 ausgesprochen hat: „Ich bin mir selber ein Rätsel.“ Es ist dieselbe Ueberraschung, die jeder macht und immer wieder neu macht, nachdem er Vergebung seiner Sünden erlangt und nun in einen Kampf gestellt ist, wo die Gegnerschaft im weiteren Verlauf, wie aus verborgenem Hinterhalt, fortwährend neue und andere verstärkte Truppen unvermutet ins Feld führt und dazu mit einer Taktik, die immer neue Formen annimmt. Man möchte gern um jeden Preis die Sünde bis auf ihre letzten Wurzeln ausrotten, und man „entdeckt“, daß diese so tief und so weit verzweigt liegen, daß alles Bemühen fehl schlägt. Man geht mit sich bei jeder neuen Entdeckung des Bösen in strengstes Selbstgericht und findet bis zur Ratlosigkeit immer neue Gestaltungen dieses Bösen gleich einer Hydra (sagenhaftes vielköpfiges Ungeheuer), die in dem Maße wächst, als man glaubt, ihr die Köpfe abgehauen zu haben. Der Apostel kennt diese Sisyphusarbeit; er ist längst zu der Einsicht gelangt, daß ihm, „wo er das Gute will, das Böse anhanget“, wörtlich: „zur Hand liegt“. Er will sagen, daß, wenn es zum Tun des Guten kommen soll, allsogleich das Böse ungerufen zur Hand ist, sich einmischt, in unverschämter Weise sich anbietet und mit trügerischer Gaukelei sich vordrängt. Nicht Strupelei, nicht Spintisiererei, sondern ernsteste Wirklichkeit ist es, die der Apostel hier preisgibt, und wir danken Gott, daß er es getan hat.

Die Ausdrucksweise des Apostels wird aber hier, wo es darauf ankommt, ganz genau zu sein, noch bestimmter. Jene untilgbare Wesenheit und Wirksamkeit des innewohnenden Naturhanges der Sünde nennt er jetzt mit einem schärferen und verständlicheren Wort, als in Vers 14, wo er ihn als „Versklavung unter die Sünde“ bezeichnet hat; er gebraucht jetzt ein Wort, das er mit der deutlichen Absicht, um später Kapitel 8,2 die Gnade in Christus in Parallele zu stellen, ein „Gesetz“ nennt.

Dies Wort ist, wie man sofort erkennt, hier tropisch (gewendet) gebraucht, und es ist angespielt auf eine gottgesetzte Naturordnung, dem Naturgesetz, das unter gleichen Bedingungen immer gleichartig wirkt und nur durch ein höheres Gesetz wirkungslos gemacht werden kann, so daß mit der Einführung dieses Wortes schon ein neuer Strahl der Hoffnung gleichzeitig aufleuchtet. Zunächst ist aber hier das Wort noch mit Vorstellungen verknüpft, die der Apostel darlegen will. Vor der Hand erscheint hier das Wort „Gesetz“ noch ohne Beifügung, da er, um nicht zu verwirren, mit seinen Gedanken nie vorauseilt, sondern diese in logischer Aufeinanderfolge eins nach dem anderen entwickelt. So gibt er diese Beifügungen als nähere Bestimmungen erst Vers 23, nämlich einmal als „Gesetz der Sünde“ und sodann als „Gesetz in den Gliedern“, um das erstemal die Zielstrebigkeit, die diesem Gesetz innewohnt, und das andere Mal den Sitz zu bezeichnen, wo es seine Wirksamkeit ausübt.

Mit der Bezeichnung „Gesetz“ hat die „Versklavung“ unter den Sündenhang nun einen bestimmteren Ausdruck gefunden; die Sünde ist nicht mehr als Gebieterin verpersönlicht, sondern zu einer sächlichen Potenz oder Kraft erklärt, die sowohl naturhaft, wie gesetzmäßig wirkt. Es ist damit ausgesagt sowohl ihr untilgbares Wesen, wie auch ihre gleichbleibende Strebung, die sie unaufhebbar besitzt. Ebensowenig, wie Satan selbst, kann das Fleisch - gleichbedeutend mit Sünde - fromm werden; es muß immerfort das Böse als Eigenes produzieren, hervorbringen. Keine Macht und kein Vermögen, das dem Menschen naturhaft eignet, kann ihm Halt gebieten; es läßt sich nicht stören in seiner wesenhaften Betriebsamkeit, weder durch Weherufe dessen, den es bewohnt, noch durch ein Maß von Tränen. Empfindungslos treibt es sein Werk, allezeit mit Argusaugen darauf bedacht, eine Gelegenheit zu erspähen, seine ewig gleiche Lust zu verderben, auszuüben. Gleich einem Naturgesetz sind unter gleichen Bedingungen seine Wirkungen immer gleichgeartet.

Es ist erquickend, daß der Apostel, bevor er diesem Gesetz in Vers 23 weiter nachgeht, sich zunächst in Vers 22 unterbricht, um in einem Aufschwunge seiner Seele einen Augenblick da zu weilen, wo es anders aussieht.

Vers 22: „Denn ich habe Lust an Gottes Gesetz nach dem inwendigen Menschen.“ - Ein Ausruf des Apostels, der da zeigt, wie tief seine Seele beim Niederschreiben dieses ganzen Abschnittes bewegt ist. Eigentlich ist der Ausruf: „Ich habe Lust“ noch stärker persönlich ausgedrückt: „Ich habe meine Lust (synédomai = sich mitfreuen) an Gottes Gesetz.“ Offenbar erinnert sich der Apostel eines Frohbekenntnisses zum Gesetze Gottes, das ein alttestamentlicher Gerechter in dem 119. Psalm unermüdlich in immer neuen Wendungen seiner Seele entquillen läßt: „Wie habe ich dein Gesetz so lieb!“ (Vers 97.) Es ist der Ausdruck lebhafter, gehobener Stimmung der Freude, wie sie nur der wiedergeborene Mensch haben kann, ein Glücksempfinden, das ein Gleichklang der Seele mit dem Willen Gottes verleiht: der innere Seelenpol ist zur Ruhe gekommen.

Und wo diese Freude an Gottes Gesetz sich findet, sagt der Apostel auch: „nach dem inwendigen Menschen.“ Es ist dies mehr als das von etlichen Auslegern behauptete „sittliche Bewußtsein“, das auch dem natürlichen Menschen in seinem Gewissen eignet, das sich aber nicht zur Freude an Gottes Gesetz, zu einem Aufjauchzen der Seele und Preis seiner Zeugnisse aufschwingen kann. Auch das sittliche Bewußtsein an sich kann von der verdammenden Kraft des Gesetzes mit seinem ohnmächtigen Buchstabencharakter nicht loskommen. Andere Ausleger fassen die Worte „inwendiger mensch“ (éso ánthropos) im psychologischen Sinne, d.h. im Unterschiede von dem auswendigen Menschen in seinem Leibesleben, als derjenigen Stelle im Wesensbestande des Menschen, wo die Gedanken und Pläne, Gefühle und Willensstrebungen vor sich gehen.

Aber ein Blick in die Schrift zeigt, daß Paulus diese Bezeichnung stets soteriologisch, d.h. im heilsmäßigen Sinne verwendet. Wir verweisen auf die beiden Stellen 2. Korinther 4,16 u. Epheser 3,16, wo von ihm dieselbe Bezeichnung gebraucht wird. Niemals redet die Schrift bei einem Unwiedergeborenen von einem inneren Menschen - gleichbedeutend mit „verborgener Mensch des Herzens“ in 1. Petrus 3,4. Dieser bildet sich erst durch die Erneuerung des Geistes Gottes und steht vermöge dieser Erneuerung im Gegensatz zum Fleisch mit dessen zur Sünde und Welt hinneigenden Trieben. Auch in unserer Stelle ist der innere Mensch im Gegensatz zum Fleisch gestellt, indem der Apostel sagen will, daß der innere Mensch das besitzt, was das Fleisch nicht aufbringen kann. Wenn der Apostel dies hier eine „Freude an Gottes Gesetz“ nennt, so ist es eine unzulässige Abschwächung, wenn Tholuck darunter eine „Zuneigung“ oder Meyer und Beck eine „Sympathie“ verstehen; diese Freude ist vielmehr eine Frucht des Geistes, die sich allein in dem erneuerten inneren Menschen durch Neugeburt findet.

Der Zweck dieses eingeschobenen kurzen Verses 22 kann nur dahin verstanden werden, daß der Apostel, um Mißverständnissen vorzubeugen, das Bedürfnis empfindet, jetzt schon zu sagen, daß gegenüber dem Gesetz, das ihm allezeit die Sünde „zur Hand“ sein läßt, ein anderes und neues in ihn hineingekommen ist, das zu ihm in schneidendem Gegensatz steht, - ohne jetzt schon dieses Neue in der Fülle seines Inhaltes aufzuzeigen. Er will dies einer näheren Ausführung vorbehalten, wie es in Kapitel 8 geschieht.

Vorerst ist der Apostel mit der Darlegung dessen, was er in sich selbst, unter Absehen von Christus, ist, noch nicht fertig, und er muß die völlige Hilflosigkeit des Menschen an sich in einer bisher noch nicht erörterten Beziehung noch ans Licht setzen.

Vers 23: „Ich sehe aber ein anderes Gesetz in meinen Gliedern, das da widerstreitet dem Gesetz in meinem Gemüte und mich bringt in Gefangenschaft unter das Gesetz der Sünde, das in meinen Gliedern ist.“ - Dieser letzte Vers bringt uns ein Stück „Seelenlehre“, das unsere besondere Beachtung verdient. Unvermittelt redet der Apostel von etwas im Menschen, das er in Kapitel 7 bisher unberührt gelassen hat, dem er aber auch nachgehen muß, um das Bild, das er zu zeichnen unternommen, zu vervollständigen. Es ist das, was er „das Gesetz im Gemüte“ nennt. Das Wort, was hier mit „Gemüt“, anderwärts je nach dem Zusammenhang auch mit „Vernunft“ und „Sinn“ übersetzt wird, heißt in der Grundsprache „Nous“; es ist dies ein Wort, das im Deutschen schwer wiederzugeben ist, weil die wissenschaftliche Fachsprache der Psychologie hierfür noch keine Bezeichnung gefunden hat, hiermit auch wohl nicht viel anzufangen weiß. Im Neuen Testament kommt das Wort „Nous“ ohne seine Ableitungen einundzwanzigmal vor, ein Beweis dafür, welche Bedeutung die Schrift dem Gegenstande beilegt. Wem es um klare biblische Begriffe zu tun ist, hat also reichlich Gelegenheit, hier bei der Schrift Nachfrage zu halten. Vorliegend genügt es, so viel darüber zu sagen, als zum Verständnis der vorliegenden Stelle nötig ist.

Doch müssen wir vorerst etwas ausholen. Die Leser, die bisher gefolgt sind, werden gefunden haben, daß der Apostel von „Fleisch“ als einem angeborenen Naturverderben geredet hat, das den Menschen versklavt und ihm gleich einem Naturgesetz keine Wahl läßt, diesem Naturhang sich zu entziehen oder nicht.

Ist dies aber alles, was vom Menschen, wie er an sich ist, gesagt werden kann? Es wäre dann schlimm und hoffnungslos um ihn bestellt. Findet sich im Menschen keine Stelle, von wo aus ein Einspruch, eine Gegenwirkung wider das Böse erfolgt, ist dies so sein Eigenwesen geworden, daß auch nicht ein Widerspruch gegen dasselbe laut wird, dann allerdings müßte das Böse in ihm satanisiert sein, d.h. dann müßte der Mensch das Böse als Eigenes hervorbringen, wie es bei Satan der Fall ist, wo diese Stelle fehlt und der an dem Bösen seine ungemischte Freude hat. Auch der Mensch würde dann aufhören, erlösungsfähig zu sein; unrettbar wäre er dem Bösen überliefert, und auch für Gott wäre im Menschen keine Stelle gegeben, an die eine Berufung möglich wäre, kein Punkt vorhanden, wo er mit seinen Gnadenwirkungen einsetzen könnte, - denn diese besteht eben allein im Nous, weshalb die Schrift die Buße mit dem Wort meta-noia = Aenderung des Nous oder des Sinnes, bezeichnet.

Es ist daher die Aufgabe des Apostels, hier in Römer 7, damit ihm kein Vorwurf gemacht werden kann, diese Stelle im Menschen, wo Gott auch nach dem Fall der unmittelbare Zutritt offen geblieben und die als Anlage und Vermögen des Menschen weiter besteht, in den Kreis seiner Betrachtungen zu ziehen. Schon einmal in diesem Briefe, Kapitel 2,14-16, hatte er ausführlich davon geredet, weshalb er sich jetzt damit begnügen kann, ohne weitere Erörterung diese Stelle im Menschen einfach zu nennen. Allerdings tut er dies hier mit einer anderen ihm geläufigen Bezeichnung, die zudem weiter greift als die des „Gewissens“ in Kapitel 2, das nur eine Wirkungsweise dessen bezeichnet, was der Nous als Organ im Menschen ist.

Das Wort Nous ist abgeleitet von dem Zeitwort noéo = wahrnehmen, bemerken, einsehen, begreifen. Nicht ist damit gemeint die verstandesmäßige Wahrnehmung und Einsicht, die Befähigung folgerichtigen Denkens, die allerdings auch den Menschen über die anderen Geschöpfe weit hinaushebt, sondern die gleichgeartete ethische Befähigung, sittliche Dinge wahrzunehmen und zu erkennen, das Rechte und Gute vom Bösen und Schlechten zu unterscheiden. Man hat diesen Nous auch den Seelensinn des Menschen genannt; er ist das Auge, von dem der Heiland Matthäus 5,22 redet, das sittliche Bewußtsein des Menschen, von diesem oft so hoch gepriesen, als ob ihm damit schon geholfen wäre.

Bevor wir zusehen, wie sich der Apostel zu dem Nous stellt, müssen wir einen Augenblick dabei verweilen, welche Folgerungen man aus diesem Tatbestand gezogen hat, weil auch diese bis in die gläubigen Kreise hinein vielfach Verwirrung gebracht haben. Es ist das alte Lied von der menschlichen Willensfreiheit, das vielstimmig in allen Tonarten gesungen wird. Während der Nous nur ein Wahrnehmungsorgan für das Rechte und Gute ist, hat man ihm auch gleichzeitig das Vermögen zugeschrieben, ein entsprechendes Verhalten ins Werk zu setzen. Sehen wir zu, was es damit auf sich hat.

Es ist klar, daß ein „Wille an sich“, von dem man redet, der also für sich, neben dem Seelenleben, bestehe und dieses bestimmen könne, psychologisch, d.h. danach, wie der Mensch konstruiert ist, ein Unding ist. Wenn auch nach einem logischen Bedürfnis, d.h. denkmäßig, Erkenntnis, Gefühl und Wille als Vermögen für sich unterschieden werden, so bestimmen und begleiten sich diese Formen des seelischen Lebens gegenseitig und sind immer miteinander da; das innere Geschehen selbst kümmert sich um diese begrifflichen Unterscheidungen nicht. Die Seele kann nur das wollen, was sie selbst ist; etwas anderes ist ihr nicht möglich. Daraus geht hervor, daß der Wille immer von der Seele bestimmt ist, weil er an der Seele haftet. Wie die Seele des Menschen beschaffen ist, so ist auch der Wille, oder wie Kuno Fischer sagt: „Unsere Handlungen sind Folgen des natürlichen Charakters und durch dessen Grundrichtung bedingt in ihrer ganzen Ausdehnung.“ Ist aber der Mensch in seiner natürlichen Beschaffenheit nach dem Zeugnis des Apostels fleischlich, so ist es auch dessen Gesinnung (Römer 8,5) und damit auch dessen Wille. Der „freie Wille“ ist eine leere Begriffsbildung, eine Täuschung, ein Wahngebilde. Jeder Mensch handelt aus seiner Wesenheit heraus mit einer Notwendigkeit, die weit größer ist als er ahnt. Nur nach seinem Empfinden handelt er freilich dann im Zwange, wenn Urteil und Begehren auseinandertreten und sich bekämpfen.

Nun lebt wohl in dem Nous des Menschen, weil dieser dessen wesenhafter Bestandteil ist, das Urteil über das Gute und Rechte; dies ist aber nicht stark genug an sich, den Antrieben des Fleisches erfolgreichen Widerstand entgegenzusetzen, weil - wie wir gesehen haben - dasselbe immer mit seinen betrügerischen Lockungen zur Hand ist, - und diese Zerrissenheit des menschlichen natürlichen Wesens ist es, die dessen Jammer ausmacht. Wäre es anders, so hätte Gott gewiß an dem verbliebenen Rest des Guten den Menschen und mit ihm die ganze Schöpfung wiederhergestellt und die Erlösung in Christus wäre unnötig gewesen. Die Lehre vom freien Willen führt konsequent zur Selbsterlösung; auch wo man diese letzte Folgerung nicht zieht, verleitet sie dazu, Gott etwas mitzuhelfen, anstatt unter verzicht auf jedwedes eigene Vermögen dem göttlichen Wirken Raum zu geben.

Hören wir, was der Apostel sagt. Wenn irgendwo, so wird er hier ganz deutlich. In einem Bilde redet er wieder, weil dies die Situation am besten klar stellt. Er redet von einer kriegführenden Macht, die gegen den Nous zu Felde zieht. Es ist das „Gesetz der Sünde“, das er weiter zweimal „Gesetz in den Gliedern“ nennt, um damit die Mehrheit und Verschiedenheit der im Fleisch sich regenden Begierden hervorzuheben, gleichzeitig einheitlich organisiert wie die Glieder eines Leiborganismus. Dem fügt er sogleich hinzu, daß dieser vielgliedrige Feind bei ihm - wie überhaupt bei Wiedergeborenen - bereits aus dem innersten Zentrum hinausgedrängt ist, ohne aber aufzuhören, von der Peripherie aus allezeit zum Sprung bereit zu stehen, den Nous, sowie er sich mahnend regt, schachmatt zu setzen. Wenn daneben aber noch der Ausdruck „Gesetz der Sünde“ gebraucht wird, so ist dies verständlich, da die Sünde das Böse ausdrückt, die Strebung, wohin das Gesetz abzielt. Das Sündengesetz ist es, das mit der ihm eigenen Stoßkraft, immer flink zum Angriff stehend, wider den Nous zu Felde zieht.

Bei dem überlegenen Stärkeverhältnis dieser kriegführenden Macht ist nun der Nous, immer hart bedrängt, in eine schlimme Lage gebracht. Schmerzvoll spricht der Apostel die Klage aus: das Gesetz in meinen Gliedern nimmt mich gefangen (wörtlich: macht mich zum Kriegsgefangenen) in der Sünde Gesetz. Also auch vom Nous her keine Hilfe, kein Erfolg; nur Niederlage! Das einzig Gute im Menschen - wenngleich es tut, was es kann - auch dies muß machtlos erliegen. Die Niederlage des auf sich selbst gestellten Menschen ist nun auf der ganzen Linie nachgewiesen.

Die starke Ausdruckswiese: „macht mich zum Kriegsgefangenen“ offenbart das tiefe Weh, das seine Seele durchzieht. Es ist das Entehrendste, das einem heldenhaften Kämpfer, der lieber den Tod sucht, widerfahren kann. Wohlbedacht nennt hier der Apostel den Nous und nicht den „inwendigen Menschen“ wie in Vers 22; denn auch bei einer Niederlage des Nous bleibt zunächst der „inwendige Mensch“ unversehrt. Es ist aber ein unwürdiger Zustand eingetreten, der sich im Nous mit einer Trauer bemerkbar macht, der keine andere Trauer gleichkommt und die solange besteht, bis der inwendige Mensch wieder obliegt und die Sünde aus dem Felde geschlagen ist. Keineswegs will der Apostel der Niederlage das Wort reden, sondern vielmehr nur zeigen, wohin es kommt, wenn der Mensch auf sich selbst angewiesen ist.

Wir sind am Ende der Untersuchung desjenigen Schriftteils von Römer 7, der auf das Fleisch Bezug hat. Das Letzte hat der Apostel hervorgeholt, das er gegen dies zu Felde führen konnte; nichts ist übriggeblieben, was dem Menschen, wie er an sich ist und bleibt, Hilfe zu bieten vermag. Was Dante über den Eingang der Hölle geschrieben hat, könnte auch stehen über den Pforten, die zu der menschlichen Naturheit führen: „Hier laß alle Hoffnung fahren!“ Wir sind dem Apostel gefolgt in einer Wehklage, die er mit seinem Herzblute geschrieben hat, und geben Bengel recht, wenn er sagt: „Was für ein edles und seliges Geschöpf wäre der Mensch ohne die Sünde! Jetzt aber möchte er lieber kein Mensch sein, also so ein Mensch, der hier (nämlich Römer 7) nach dem Zustand, wie er von Natur ist, genommen wird.“

Das Selbstbekenntnis des Apostel in Römer 7,14 bleibt ein wertvolles Zeugnis, das er hinterlassen; nicht möchten wir es entbehren. Mit rücksichtsloser Offenheit und unerbittlicher Wahrhaftigkeit hat er, der nie Phantast oder Schauspieler gewesen, uns schauen lassen in Tiefen menschlichen Verderbens, das selten jemand so erkannt hat wie er, gerade deswegen, weil er eine heldenhafte Natur war, der Schonung seiner selbst nicht gekannt hat. Es ist eine wahre Aufrichtung für uns, zu wissen, daß er nicht der Apostel ist, jenseits der bluternsten Kämpfe, die ein Streiter Christi auszutragen hat, sondern ein Mensch wie wir, umgeben mit all der Schwachheit, die unserer Seele die bitterste Klage auspreßt. Gottes Rat hat es für gut befunden, seine Lieblinge auskosten zu lassen, wie tief der Mensch gefallen ist und was es mit der Sünde, dem Fleische, auf sich hat, damit er seine Heiligkeit offenbare.

Nimmer aus Pergamenten kann die Wahrheit Gottes gelernt werden, sondern man muß gesessen haben auf der Schülerbank tränenvoller Erfahrung, und schmerzensreich ist der Weg, der zu dem Bankerott führt, der alles, auch das Letzte nimmt, und der uns innewerden läßt, daß alle Herrlichkeit des Menschen vergeudet und dahin ist. Gibt es eine Gnade, so muß offenkundig werden, daß sie Gnade ist, und solange wir im Leibe wohnen, kann der Zwiespalt nie enden, der zwischen Fleisch und Geist besteht, damit der Preis der Gnade rein und volltönig erklinge.

Darum bleibt es auch dabei, was Zinzendorf sagt: „Es ist des Christen Stand also hier bewandt, daß man muß bis zum letzten Odem fechten.“ Die Glückseligkeitslehre von einem ungetrübten Frieden schon hienieden ist schon deswegen nur ein schöner Traum, weil dieser Stand im Leibesleben untragbar wäre und wir nur durch Leiden vollbereitet werden können, die alles umschließen, was zu erdulden ist, weil dem Wiedergeborenen ein Leben überkommen ist, das dieser Erde nicht angehört. Auch im besten Fall bleibt aber auch dies eine Kreisbewegung, die allerdings immer wieder einläuft in dem Frieden Gottes, der höher ist denn alle Vernunft, weil dieser Friede Gottes Wesen selber darstellt. Dieser Kreislauf, in den noch Angst und Unruhe aufgenommen ist, wird erst aufhören, wenn die Sabbatruhe kommt, die dem Volke Gottes vorhanden ist. -

Noch eins drängt sich uns auf; das ist der Trost, den uns die unbefangene Betrachtung von Römer 7,14 gewährt. Der unausgleichbare innere Zwiespalt, den der Apostel so ergreifend schildert, ist es gerade, der den Gläubigen die Gotteskindschaft gewiß macht, wie es stärker kaum geschehen kann. Der Unwiedergeborene weiß nichts von dem zermalmenden und dauernden Gefühl des Fleischesverderbens. Erst mit dem Augenblick, wo durch den Geist Gottes neues Leben in den Menschen gepflanzt wird, wird das Dasein der alten natur offenbar, und der Kampf zwischen Fleisch und Geist beginnt.

Keineswegs braucht deswegen ein Kind Gottes sich zu beunruhigen oder irre machen zu lassen, da die neue Stellung in Christus hiervon nicht berührt wird. Wir finden, daß Römer 7 von der „Sünde“ als von einem bestehenden Naturzustand immer in der Einzahl redet, und, während diese „Sünde“ in uns ist, so ist das Kind Gottes doch nicht in seinen „Sünden“. Kapitel 4,7.25; vergl. Kolosser 2,13. Mit der Vergebung der „Sünden“ bleibt deren Quelle, die „Sünde“ als das angeborene Naturverderben, das Fleisch in seiner Wirkungsweise bestehen. Diesen Tatbestand festzustellen, um sich mit demselben abzufinden, dazu ist Römer 7 geschrieben. Keine Macht gibt es, das Fleisch zu verbessern, und alle darauf gerichteten Anstrengungen müssen zu Enttäuschungen führen. - Aber auch hier läßt uns der Apostel nicht auf halbem Wege ratlos stehen; Römer 7 will uns nicht in eine Sackgasse führen, wo es keinen Ausweg gibt. Gibt es keine Verbesserung, Umwandlung oder Ausrottung „der Sünde“, des Fleisches als Naturzustand, der von Adam her in uns besteht, so ist doch eine Orientierung gegeben, die uns befriedigt: es wird von uns weggewiesen auf ein neues Menschenhaupt, in dem die „Sünde“ ihr Urteil gefunden hat, das auch in uns zur Vollziehung gelangen kann und soll. Diese Vollziehung ist damit aber nicht in unsere Hand gelegt, sondern sie geht vor sich auf dem Wege des Glaubens. Diese göttliche Neuordnung des Glaubens ist es, die der Apostel durch seine Darlegungen in Römer 7,14 einleitet und freilegt. Wir bewundern die meisterhafte und gründliche Art des Apostels, Entmutigte aufzurichten. -

Zum Schluß mag es nicht unangebracht sein, hier zwei Bemerkungen einzufügen, die sich einmal für das christliche Leben und sodann für die praktische Arbeit ergeben. Wenn aus den Kräften unserer Natur, dem Fleische, keine Hilfe zu erwarten ist, so müssen auch alle Versuche fehlschlagen, welche ihre Mittel hernehmen aus dem, was dem Fleische angehört.

Einmal gehören hierher alle selbsterwählten Uebungen und menschlichen Satzungen, mit denen auch vielfach Gottes Kinder sich aufhalten und abquälen, ohne damit eine Förderung ihres inneren Lebens zu erhalten, vielmehr hierbei nicht nur ermüden und ihre geistliche Kraft einbüßen, sondern unvermerkt einem unfruchtbaren Eigenleben anheimfallen. Es sind meist gerade die redlichen Seelen, die von diesem Abwege nicht verschont bleiben. Gesetzliche Askese und alle Formen falscher Gesetzlichkeit bringen es nur dahin, daß das eigene Ich und das fromme Fleisch aufleben und genährt werden. Wenn zu irgend einer Zeit, so war es in den Tagen, wo der Heiland auf Erden lebte, daß eine Art der Religionsübung auf der Höhe war, die in Beobachtung von Aufsätzen der Aeltesten und dergleichen bestand, wie es kleinlicher und peinlicher kaum gedacht werden kann. Gerade diese Art der Religionsübung aber war es, die jene Zeitgenossen Jesu zu einer Eigengerechtigkeit führte, die ihnen das Verständnis für seine Sendung verbaute. Und Paulus, der als ein Eiferer tief in dieser Eigengerechtigkeit gestanden, er ist es, der nun am stärksten Front zu machen weiß gegen alle Abirrungen, die der Feind auch im christlichen Heerlager allezeit durch gesetzliches Eigenwesen hervorzubringen sucht, das immer den Blick für das verhängt, was uns allein wahrhaft zu fördern vermag. Namentlich der Kolosserbrief ist es, der das hinter all diesen Dingen versteckte Ich hervorholt, die verwandt sind mit den sogenannten theosophischen und anthroposophischen Aufstellungen, die neuerdings aus dem Osten, der Wiege aller Philosophie, herübergebracht werden und „das Göttliche im Menschen“ hervorzaubern wollen, - eine Lüge Satans! -

Sodann gehört dazu auch der seelische Arbeitsbetrieb, in den zu geraten heute vielfach christliche Kreise in Gefahr stehen. Guter Musik, theatralischen Deklamationen, rührseligen Geschichten und anderem mehr wird das Wort geredet, wo das Wort Gottes in seiner ursprunghaften Kraft eine Stätte haben sollte; man baut damit oftmals Brücken zurück in die Welt, der diese Dinge mehr oder weniger angehören. Nicht weit ab davon liegen auch alle Veranstaltungen, die darauf berechnet sind, schnelle Bekehrungen „zu machen“, die vielleicht für Wochen und Monate aushalten, aber nicht für die Ewigkeit bestehen, weil die Wirkungen nicht durch den Heiligen Geist in Herz und Gewissen hineingehen. Was durch das Fleisch erzeugt wird, ist auch wieder Fleisch.

Quelle: Schmitz, Richard - Fleisch und Geist

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