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Schmitz, Richard - Die Neugeburt

Schmitz, Richard - Die Neugeburt

Der Fall des Menschen hat sich ausgewirkt bis in die letzten Wurzelgebiete seines Wesens. Nichts ist mehr vorhanden, an dem er sich emporarbeiten könnte. Keine Belehrung oder sittliche Anstrengung, keine Entfaltung des Charakters, kein Fortschritt der Kultur kann einen Menschen von Grund aus ändern. Es hindert daran ein unverrückbares Gesetz: „Was vom Fleisch geboren ist, das ist Fleisch“ (Johannes 3,6). - Nicht nur fleischlich, sondern Fleisch als Naturzustand. Fleisch bleibt Fleisch; es kann wohl verfeinert, aber nicht geistlich werden. Fleisch ist in der Schriftsprache die ererbte adamitische Verderbtheit des Menschen.

Gott ist nun in jedem einzelnen Fall vor einen neuen Anfang gestellt. Dieser entspricht dem Vorgang, durch den jeder Mensch sein Dasein im Leibesleben erlangt, nämlich einer Geburt. Diese ist nicht nur Bild jenes Vorganges, sondern dieser selbst ist ein Geburtstakt: die Neu- oder Wiedergeburt. So stellt es Jesus dar. Mit einem „Wahrlich, wahrlich“ erklärt er: „Es sei denn, daß jemand von neuem geboren werde, kann er das Reich Gottes nicht sehen“ (Vers 3). Es ist der Eintritt in eine andere Daseinsweise, in eine neue Existenz. So wenig der Mensch von seiner ersten Geburt weiß, so geheimnisvoll ist für ihn die Neugeburt. Die Kräfte, die hier wirksam sind, stammen nicht aus ihm selbst, überhaupt nicht aus der diesseitigen Welt. Darum sagt auch der Heiland: „Geboren von oben her“ (wörtlich), und um Nikodemus verständlich zu sein, nennt er das Lebensgebiet, in das hinein diese Geburt erfolgt: „Reich Gottes“ - das überweltliche Lebensgebiet, wo die Gottesherrschaft aufgerichtet ist. Gerade ihr hat der Mensch durch seinen Fall abgesagt; zu ihr muß er zurück. Die ursächlich wirkende Kraft zu dieser Neugeburt von oben, wie auch das durch sie Hervorgebrachte, legt Jesus in die Worte: „Was vom Geist geboren ist, das ist Geist“ (Vers 6). Keine Brücke gibt es von Fleisch zu Geist. Alle Vorstellungen des Nikodemus, durch eigenes Tun und Mühen zurechtzukommen, sind zerstört. Aber Jesus läßt ihn nicht auf halbem Wege stehen, sondern er gibt ihm - wie weiter nachzulesen ist - in jener denkwürdigen Nacht einen Unterricht, der geeignet war, die tiefsten Fragen, die in seiner Seele lebten, zu beantworten.

Bleiben wir hier bei dem Problem der Neugeburt stehen. Es mußte Nikodemus klar werden, daß sie einer Naturordnung angehört, die von der diesseitigen grundmäßig verschieden ist - eine andere und höhere, als von dieser Welt. Schon in der ganzen irdischen Schöpfung ist der Uebergang von einem Naturgebiet in das andere verriegelt. Ihre Schwellen sind durch ein großes Gesetz gehütet und gesichert. Die Scheidelinien bleiben bestehen, und keine Kunst oder Kraft kann sie verwischen; nicht kann der Eintritt aus einer niedrigen Daseinsweise in eine höhere statthaben. Aus dem Stein ist nie eine Pflanze und aus ihr nie ein Tier geworden. Die Rose blüht und duftet, und die Nachtigall singt wie einst am ersten Tage, und noch immer bellt der Hund - das göttliche Gesetz „Art von Art“ ist aller Geschöpflichkeit unverbrüchlich eingeprägt. -

In ein Geheimnis war Nikodemus eingeführt. Nie hatte er solche Worte gehört. Und wie einleuchtend waren sie! Er mußte einsehen, und er sieht ein, daß vom Menschen her ein neues Dasein zum Gottesreich hin nicht zu gewinnen ist; die Kluft, die ihn von diesem Reich scheidet, kann von ihm aus nicht überschritten werden. Zugleich ahnt und merkt er es, daß der, der mit ihm redet, nicht von unten her ist. Und Jesus sagt es ihm auch, daß er, der Menschensohn, „vom Himmel herniedergekommen ist“ (Vers 13). In Jesus ist die Menschheitslinie durchbrochen. Nicht ist er nach den Gesetzen der Natur geboren, sondern gezeugt durch den ewigen Geist Gottes. Schon einmal im Vorbilde hatte Gott den Naturprozeß durchbrochen. Bei der Geburt des Isaak war es geschehen; dieser ward nicht wie Ismael „nach dem Fleisch“, sondern „nach der Verheißung“ geboren. Und Jerusalem droben ist aller derer Mutter, die überweltlicher Herkunft sind und göttliche Art an sich tragen (Galater 4,22-31). Bei ihnen allen ist innerhalb der alten Menschheit auch jener Naturprozeß durchbrochen. Wie einst der Geist Gottes auf der chaotischen Erde brütete und aus ihr ein Eden der Wonne schuf, so ist er seit Pfingsten dabei, aus Menschen, die Fleisch vom Fleisch geboren, „geistliche“ Menschen zu schaffen, die nicht mehr dem Trägheitsgesetz des Fleisches unterliegen, sondern unter ein neues höheres Gesetz gebracht sind, nämlich dasjenige der Herrschaftsmacht des Geistes des Lebens„ (Römer 8,2).

Nikodemus konnte dies nur von ferne gezeigt werden. Für ihn war es genug, zu erfahren, daß der überweltliche Umbruch in der Menschenwelt von Gott her geschehen werde durch den, der mit ihm redete, „auf daß alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige leben haben“ (Joh. 3,16). Weiter sollte er wissen, daß der, der mit ihm redete und der „nicht gekommen sei, die Welt zu richten, sondern daß sie durch ihn gerettet werde“, dennoch in seiner Person ein Gericht ist, weil in ihm sich die Geister scheiden: die einen hin zur Finsternis, indem sie Fleischesmenschen bleiben, die anderen zum Lichte hin, indem sie Geistesmenschen werden. (V. 17-19.)

Mit Begriffsbestimmungen, womit sich Menschen gerne plagen, gibt die Schrift sich nicht ab. Sie kann diese auch nicht geben, weil alles, was von Gott stammt, unbegreifbar ist. Kein Mensch ist schon dahintergekommen, was „Leben“ überhaupt ist, und er wird es nie ergründen, weil es jenseits menschlichen Verstehens liegt. Die Schrift geht auch nicht darauf unmittelbar begleiten; nur die Nachwirkungen kommen in Betracht, wenn es wahrzunehmen ist. Jesus redet vom „Wind“, der aus verborgenen Oertern kommt und den niemand greifen und festhalten kann; er sagt: „Also ist ein jeglicher, der aus dem Geist geboren ist“ (Vers 8). In der Natur gibt es kein treffenderes Bild für das geheimnisvolle Wirken des Geistes, als der „Wind“, der hier zur Vergleichung gestellt ist. Der Wind kommt wie ein freies Hereinbrechen des Unendlichen in das Endliche, und ebenso verschwindet er. Jeder sinnlichen Beobachtung entzieht sich auch die Neugeburt; es ist der allmächtige Lebensodem aus Gott, der wirksam ist und mit Allgewalt den Menschen ergreift. Wir stehen allemal vor einem Wunder, das sich durch keine menschliche Forschung klarlegen läßt. Es ist ein Wunder, das aller Wunder größtes ist. Dieselbe Größe der überschwenglichen Gotteskraft, die Jesus aus den Toten zu einem unauflöslichen Leben auferweckte, sehen wir in Wirksamkeit treten bei jeder Neugeburt eines Menschen (Epheser 1,19-20). Warum? Weil jede andere Kraft versagen muß, und sei es die eines Cherubs. - Von innen vollzieht sich diese Neugeburt, und sie muß sich hier vollziehen als dem Mittelpunkt und Herd alles Lebens: unser Leben ist einstweilen „verborgen mit Christus in Gott; wenn aber Christus sich offenbaren wird, so werden wir mit ihm offenbar werden in Herrlichkeit“ (Kolosser 3,3.4). Bei jeder Neugeburt kommt ein Neues in den Menschen hinein, das darauf angelegt ist und darauf wartet, einmal, wenn alle Hüllen fallen, offenbarlich in die Erscheinung zu treten.

Nicht nur persönlich wirkend ist der Heilige Geist, sondern auch personbildend. Es geht ihm allemal darum, daß ein neuer Mensch zur Welt geboren wird, der ebenso handelnd auftritt, wie es der alte Mensch adamitischer Herkunft getan hat, zu dem er in schneidendem Gegensatz steht, weil er göttliche Artung in sich trägt. Er ist ein neues Ich, das dem überweltlichen Reich angehört und unter die Gottesherrschaft gebracht ist. Die Schrift sagt von diesem personhaften neuen Menschen, daß er „nach Gott geschaffen ist in wahrhafter Gerechtigkeit und Heiligkeit (Reinheit)“ (Epheser 4,24). Gott macht bei jeder Neugeburt ganze Sache. Es wird ein neuer Anfang gemacht, mit dem wir zufrieden sein können; Kräfte treten in Wirksamkeit, in denen der Heilige Geist zu seinem Rechte kommt. Ein Wendepunkt ist eingetreten, der sichtlich erkennbar ist; es läßt sich für die Beobachtung deutlich aufzeigen, daß das neue Leben aus Ursachen hervorgeht und von Impulsen bestimmt wird, die vordem nicht wirksam waren.

Nirgends erscheinen die Heilswirkungen des Heiligen Geistes so nebeneinander, daß sie sich in ihren Phasen bestimmt unterscheiden lassen; es bleibt vor unseren Augen verborgen, an welchem Punkte sie jeweils in einem Herzen angekommen sind. Allemal hat er aber ein klares Ziel vor sich, das er zu erreichen sucht. Er will anlangen bei einem selbständigen Personleben im Menschen, wie es in der Neugeburt zustande kommt.

Allgemein läßt sich sagen, daß Berufung, Rechtfertigung und Erneuerung göttlicherseits, sowie Buße und Glauben menschlicherseits - jene als Ursache, diese als Wirkungen - miteinander Schritt halten und in der Wiedergeburt zusammentreffen. Während Petrus und Johannes in ihren Briefen gerne die vollen Ausdrücke „wiedergeboren“ und „aus Gott geboren“ brauchen, kommen diese bei Paulus - abgesehen von Titus 3,5 - nicht vor. Er liebt es, statt dessen von einer „Neuschöpfung Gottes“ zu reden, während er zugleich die einzelnen Momente dieses Geschehens schärfer als jene auseinanderhält, bei ihnen verweilt, sie lehrhaft bestimmt und damit in besonderer Weise zur Festigung im Heilsleben beiträgt. Wie viel verdanken wir in dieser Hinsicht seinem unvergleichlichen Römerbrief, auch dem Galater-, Epheser- und Kolosserbrief! Was würde uns fehlen an göttlicher Unterweisung, wenn wir diese vier Lehrbriefe nicht hätten! Durchsichtig und klar stellt er auch das Verhältnis des neuen Lebens gegenüber dem adamitischen dar, das noch nicht untergegangen, sondern mit verdoppelter Kraft bestrebt ist, wieder emporzukommen. Die Neuschöpfung ist ihm ein abschließender Akt und zugleich Beginn eines neuen Lebens, das wachstümlich sich entfaltet. Kommt ihm doch nach der Erneuerung nichts hinzu, was nicht schon in der Berufung und Rechtfertigung geschenkt worden ist, und handelt es sich bei ihm doch darum, daß fortan das Kräfteverhältnis von Fleisch und Geist zugunsten des Geistes sich auswirke und dessen Vorherrschaft aufgerichtet werde und erhalten bleibe. Gerade der Gedanke, in dauerndem Kampf gestellt zu sein, wird zum starken Unterton der Ermahnung zur Wachsamkeit, den wir aus den paulinischen Briefen heraushören.

Petrus läßt in seinen Briefen besonders die wirkende Ursache und das gottgegebene Mittel im Prozeß der Wiedergeburt hervortreten. Schon gleich Kapitel 1,3 sagt er: „die ihr wiedergeboren seid… durch die Auferstehung Christi von den Toten“. Das neue Leben in seiner Entstehung und in seinem Fortgange ist bei ihm Teilnahme an dem überweltlichen Auferstehungsleben Jesu und damit Anwartschaft auf „Herrlichkeit“ (Kapitel 5,10). Vermittelt ist bei Petrus die Wiedergeburt durch „den unvergänglichen Samen des lebendigen Wortes Gottes“ (Kapitel 1,23), das seinen Ursprung im Heiligen Geist hat (Vers 12; 2. Petrus 1,20.21), der mit dem Worte zeugt, das geistdurchhaucht ist und Geist mitteilt.

In dem ersten Johannesbrief ist unter allen Briefen am meisten (achtmal) von dem Geborensein aus Gott die Rede, und zwar immer im Sinne der Nachwirkungen. Diese leitet er wieder ab von dem Wesen Gottes selbst, das sich naturgemäß bei denen finden muß, die seine Abkömmlinge sind. Er redet von diesen Kennzeichen ausschließlich, so daß er die Neugeburt verneint bei denen, wo sie nicht vorhanden sind. Alle diese Stellen gehören dem zweiten Hauptteil des Briefes ab Kapitel 2,29 an, wo Johannes die Persongemeinschaft mit Gott (Kapitel 1,5b) nach ihrer praktischen Seite hin darstellt. Er sagt zuerst, daß, wer aus Gott geboren ist, „die Gerechtigkeit tut“ (Kapitel 2,29), ferner, daß er „nicht Sünde tut“ (Kapitel 3,9; 5,18), weiter, daß er „die Welt überwindet“ (Vers 4) und „sich bewahret vor dem Argen“ (Vers 18). Der Eindringlichkeit dieser Aussagen kann sich niemand erwehren, und an ihnen ist nicht zu deuteln. Das andere Kennzeichen ist die Bruderliebe (Kapitel 4,7; 5,1, vergl. 3,14). In der Bruderliebe fängt der Himmel schon auf Erden an; sie ist Ausfluß des eigensten Wesens Gottes, der nicht nur Liebe hat, sondern Liebe ist (Kapitel 4,16).

Es ist ein erhebender Genuß, den Spuren des Heiligen Geistes in seinem schöpferischen Wirken nachzugehen und es zu belauschen in der verborgenen Werkstatt des menschlichen Herzens. Unermüdlich ist er dabei, ein Neues im Menschen zu schaffen, und ist er so weit, dann läßt er sich die Schlüssel geben und besetzt selber die Burg. Es ist der schönste Anblick für das erleuchtete Auge, Menschen zu finden, in denen der Heilige Geist zu seinem Recht gekommen ist. Die Engel im Himmel, ja Gott selber ist an der Freude beteiligt, wenn der Schöpfergeist, der Heilige Geist, durch Wiedergeburt eines Menschen einen Erfolg seiner stillen mühenden Arbeit melden kann. Die Morgensterne jauchzten, als einstens die durch Engelfall verwüstete Erde wieder in Flor gekommen; der Jubel wird kein Ende nehmen, wenn einmal die Schar der Erstgeborenen aller Kreatur als eigenste Schöpfung des Heiligen Geistes aus der Verborgenheit in Sicht kommt und jeder einzelne, ebenbürtig und gleichgemacht dem Sohne Gottes, dem Vater dargestellt werden wird. Und - was das Größte ist - der Heilige Geist nimmt für sich nichts in Anspruch; er läßt den Jubel ausklingen in den Preis des Lammes: „Du hast uns Gott erkauft mit deinem Blut!“ (Offenbarung 5,9.)

Nicht ein Vertrag auf Kündigung ist es, wenn der Heilige Geist in der Neugeburt eine Einigung mit dem Menschen eingeht. Er weiß, was er tut, wenn er von einem Menschen Besitz ergreift. Allzuoft werden Anfänge neuen Lebens mit dem selbständigen Personleben des Geistes, beginnend in Neugeburt im Menschen, verwechselt. Sie ist mehr als Erweckung. Droben wird über jeden Zuwachs „legitimer“ Gottessöhne das Geburtsregister geführt: „Der Herr kennt die Seinen“ (2. Timotheus 2,19).

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