Schlachter, Franz Eugen - Resli der Güterbub

Schlachter, Franz Eugen - Resli der Güterbub

Vorwort

Das vorliegende Buch ist die erste große Erzählung von Franz Eugen Schlachter. Eigentlich ist es eine Nacherzählung der Geschichte des Berner Verdingkindes Andreas Balli.

Im Stil eines Jeremias Gotthelf erzählt Franz Eugen Schlachter (FES) die erschütternde Geschichte des jungen "Resli".

Um dieses wertvolle Werk Schlachters auch in seiner Eigenart wirken zu lassen, habe ich auf eine eigentliche Bearbeitung verzichtet und nur die übersetzungsbedürftigen Worte in der Fußnote erklärt.

Wie die meisten Werke Schlachters war der "Resli" zuerst in den "Brosamen", der Zeitschrift Schlachters, erschienen.

Herzlich danken möchte ich Paul Blösch sen., der , mir das Originalbüchlein "Resli" freundlicherweise geschenkt hat - aber auch den Schwestern Elisabeth Mcartney und Ursula Berger, die mir die "Brosamen" in denen der "Resli" abgedruckt war, im Staatsarchiv in Bern besorgt haben und meinem Sohn Peter-Michael, der das Buch Wort für Wort abgetippt, die "unverständlichen" Begriffe herausgesucht, im Lexikon nachgeschlagen bzw. als offenen Punkt festgehalten hat.

Nicht zuletzt gebührt mein Dank aber auch Pfarrer i.R. Franz Baumann, dem Enkel von Franz Eugen Schlachter, der mir freundlicherweise und unermüdlich die spezifischen - für mich schwer verständlichen - Berndeutschen und Altschweizer Ausdrücke "übersetzt" hat.

Man muß sich des weiteren ja fragen, was einen "Schwaben" bewegt, dieses Werk von Franz Eugen Schlachter - vorläufig nur im Manuskriptdruck - neu aufzulegen.

Im Zuge der Biographie mußte ich mich natürlich auch mit den Werken von FES auseinandersetzen. Frühzeitig stieß ich auf den Resli und meine Neugier kannte keine Grenzen, dieses Geschichte kennen zu lernen.

Lange sah es danach aus, als wäre es unmöglich ein Exemplar vom "Resli" zu bekommen. Ich war deshalb um so mehr erfreut und sehr dankbar, als Paul Blösch sen. mir das Büchlein freundlicherweise geschenkt hat.

Schon als ich die ersten Seite las, hat mich die Geschichte dieses Bernerkindes erschüttert.

Nachdem schon lange der Entschluß gereift war, die zugänglichen Schriften von Franz Eugen Schlachter neu aufzulegen, liegt nur "Resli" als zweites Werk, nach "Berechtigung und Aufgabe der Predigt", im Manuskriptdruck vor.

Ich wünsche dem Leser Gottes Segen und ein vertieftes Nachdenken darüber, wie gut es uns heute geht und was wir Gott alles zu danken schuldig sind.

Albstadt, den 22.11.2004

Karl-Hermann Kauffmann

Kapitel 1

Die Verdinggemeinde 1

Es war an einem jener schönen Februarmorgen, wo der Bär seine Tatzen sonnt, um sich nachher noch weitere sechs Wochen in die Höhle zu verkriechen. Unerfahrene Leute hängen an einem solchen Tag die Vorfenster aus, suchen die Sommerkleider hervor, und in manchem Hause gibt es Tränen, weil die Mädchen gerne ihre Strohhüte aufsetzen würden und die Mutter es nicht haben will. Sogar ein Margritli steckt da und dort den Kopf unter der schützenden Mutter Erde hervor und schaut verwundert in die neue Welt; von wegen, so ein Margritli ist eben auch ein unerfahrenes Ding, es hat noch nicht manchen Winter erlebt.

Die ehrbaren Gemeindsmannen von Kurzenwyl waren nun freilich keine unerfahrenen Neulinge mehr auf dem Gebiet der Wetterkunde, und doch saßen sie heute samt und sonders in der "Sonne" zu Kurzenwyl. Gab es doch nicht alle Tage einen so guten Vorwand, um unbeschrauen2 zu einem Schoppen3 zu gelangen, wie an diesem Tag.

Auf 9 Uhr war die Verdinggemeinde angesetzt, und daß es heute etwas lange gehen könnte im Schulhaus drüben, das bewies das dicke Buch des Gemeindeschreibers, in dem ein ganzes Heer von Notarmen verzeichnet stand. Die Gemeinde Kurzenwyl war von jeher nicht reich gewesen, und nun hatten sich auch noch die Folgen der Hungerjahre eingestellt, die nach den Kriegen des großen Napoleon Europa heimsuchten und noch vollends zertraten, was diese Geißel Gottes nicht getroffen hatte. Man zählte zwar jetzt Anfangs der 20er Jahre, aber die Wunden, welche das 17er Hungerjahr geschlagen, waren noch nicht verschmerzt; dazu kam, daß in der armen Gemeinde sieben Jahre hintereinander das Hagelwetter minder oder mehr die Ernte zerstörte. In einer Zeit, wo man in den abgelegenen Schweizertälern noch kein russisches Getreide aß, wie dies heute dank der Eisenbahnen der Fall ist, bedeutete eine solche Vernichtung der Ernte noch einen viel schwereren Schlag, als jetzt.

Kein Wunder, daß heute das Schulhaus der besuchteste Ort in der ganzen Gemeinde war. Die Kurzenwyler hielten zwar sonst nicht viel drauf. Sie fanden es nicht nötig, daß die Jungen mehr wissen sollten als die Alten gelernt. Wenn ihre Kinder Gedrucktes und etwa noch Geschriebenes lesen konnten, war das nicht genug? Sie schickten sie also nicht gar zu fleißig in die Schule; zwei bis drei halbe Tage in der Woche war übergenug. Heute aber, wo es sich nicht ums Lernen, sondern um Armenversorgung handelte, war das Schulhaus viel zu klein. Vielleicht stand die große Armenlast der Gemeinde in einem gewissen Zusammenhang mit der Gleichgültigkeit gegen die Schule? Wir wissen gar wohl, daß die Bildung nicht alle Quellen der Armut verstopft, aber Manches wäre nicht auf die Gemeinde gekommen, wenn es in der Jugend mehr gelernt hätte.

Während die Gemeindsmannen sich in der "Sonne" drüben stärkten für die bevorstehende schwere Pflicht, sammelten sich die Armen vor dem Schulhause. Sie waren froh, daß der liebe Gott eine Sonne gemacht hat, in der man sich erquicken kann ohne Geld und umsonst.

Dort auf der Bank hinter dem Schulhause hatte sich eine Mutter mit drei Kindern hingesetzt. Das Älteste, ein Mädchen, mochte etwa 11 Jahre alt sein; ihr Jüngstes, ein Knabe, hatte eben das 7. zurückgelegt. Die Kinder hielten die Mutter fest, und die gute Frau trocknete ihre Tränen und rang nach Trost. Sie kam sich vor wie Abraham, als er an jenem Morgen in der Frühe seine Hütte verließ, um seinen geliebten Sohn auf dem Berge Morija zu opfern. War doch auch sie heute Morgen von zu Hause aufgebrochen, um diese ihre drei Kinder auf den Altar zu legen. Nur schien es ihr, ihre Lage sei unendlich trauriger als diejenige Abrahams. Er hatte nur einen Sohn zu opfern, sie aber ihren Jüngsten und noch zwei Töchter dazu. Abraham wusste, wo sein Isaak hinkomme, wenn er ihn geopfert hatte; er gab ihn ja Gott; sie aber wusste nicht, wo ihre Kinder hinkommen konnten, wenn sie heute von der Gemeinde an den Mann versteigert würden, der das geringste Kostgeld verlangte für sie. Da konnten sie ja zu einem wahren Teufel kommen, in eine wahre Laster- oder Zankhölle, jedenfalls kamen sie nicht wie Isaak in den Himmel hinein. Diese Gedanken plagten die betrübte Mutter, und wie ein Schwert ging es ihr durch die Seele, wenn eins ihrer Kinder ums andere sie schluchzend fragte: "Gelt Mutter; Du verlässest uns nicht; gelt, man nimmt uns nicht von Dir weg?"

Ja, die arme Mutter, sie hätte ihre Kinder jetzt nicht verlassen müssen, wäre sie nur im Witwenstand geblieben. Aber sie hatte das Los ihrer Kinder und ihr eigenes zu verbessern gedacht, dadurch daß sie zwei Jahre nach dem Tode ihres Mannes einen Witwer heiratete, der zwar ein Heimet4, aber ein verschuldetes und dazu vier minderjährige Kinder besaß. Als Witwe hatte sie wenigstens nur für drei zu sorgen gehabt, bekam den Bürgernutzen5 in ihrer Heimatgemeinde und war als fleißige Arbeiterin im Stande, Tagelohn zu verdienen da und dort. Ihre Kinder erzog sie ordentlich, und der gute Gott, auf den sie vertraute, sorgte väterlich für sie. Wenn die Kinder um ein Stücklein Brot baten, so hatte sie es ihnen nie abschlagen müssen, und wenn sie sich zusammen an den Tisch setzten, so mußten die Kleinen das Verslein singen:

Er ist's, der die Witwen schützt,
Er versorgt das Waisenkind,
Er erhält und unterstützet
Alle, die bedürftig sind!

Aber nach ihrer zweiten Verheiratung sah sie sich bald bitter getäuscht und lernte das Wort der Schrift verstehen: "Verflucht ist, wer sich auf Menschen verläßt und Fleisch für seinen Arm hält." Mit einem Male war sie nun Mutter von sieben Kindern geworden. In der neuen Heimat, auf die sie sich vertröstet, fand sie, als sie mit ihren drei Kindern einzog, alles öd und leer. Als das Wenige, was sie noch mitgebracht hatte, aufgezehrt war, ging das Hungern an. Die vier hungrigen Wölfe, deren Stiefmutter sie geworden, nahmen ihren eigenen Kindern die Speise vom Munde weg. Resli, so hieß ihr Jüngster, wurde vom Stiefvater manchmal ungegessen mit den Ziegen auf die Weide geschickt. O, wie oft hat er da gewünscht, wenn er nur auch eine Ziege wäre, damit er doch Gras essen und so wenigstens wieder einmal seinen Hunger stillen könnte! Einmal, im Herbst, saß der sechsjährige Knabe am Saume des Waldes. Während die glücklichen Ziegen ihr Futter suchten, weinte Resli bitterlich, weil der Hunger ihn plagte. Endlich fing er an zu beten, das hatte ihn ja die Mutter gelehrt: "O treuer Gott, in meiner Not ruf' ich zu Dir!" Und sieh', da kam eine Frau aus dem Wald mit einem Korb am Arm. Ob sie den Knaben gehört hatte, oder ob Gottes Geist sie unbewußt dazu trieb, sie stellte den Korb ab, nahm einen Laib Brot herunter, groß genug, um seinen Hunger damit zu stillen.

Aber nicht genug an dem, daß die armen Kinder hungern mußten, ihre Mutter mußte auch Zeuge davon sein, wie der Stiefvater, ein rauher, grober und selbstsüchtiger Mann, sie lieblos behandelte, und wie sie ihm überall im Wege waren. Daß er seine eigenen Kinder nicht viel besser behandelte, war kein besonderer Trost. Diese hielten sich auch darnach; wie der Baum, so die Frucht. Sie waren wild und unbändig, konnten weder lesen noch beten, dafür hatten sie das Fluchen um so besser los. Es wollte der Mutter das Herz brechen, daß ihr Resli solche Buben zu seinen Brüdern und Vorbildern bekommen hatte; denn sie waren älter als er, und er mußte ihnen folgen, oder sie schlugen ihn. Das erstemal, als sie mit ihm die Ziegen hüteten, sagten sie dem arglosen Jungen die schrecklichen Flüche vor, er mußte sie ihnen nachsprechen; zuerst tat er`s gezwungen, nach und nach aber gewöhnte er sich daran. Sie belehrten ihn über die schändlichsten Dinge, so daß sein jugendliches Herz nach und nach von der Sünde vergiftet ward.

Nach zweijährigem Ehestand erklärte der Stiefvater seiner Frau, er könne ihren Kindern nicht mehr länger zu essen geben, sie müßten auf die Gemeinde. Seine zweite Verheiratung hatten die Gemeindebehörden ihm nur unter der Bedingung gestattet, daß er zwei Jahre lang die drei Kinder seiner zweiten Frau bei sich behalte. Er hielt sein Versprechen pünktlich, denn es waren gerade zwei Jahre seit der Hochzeit verflossen, als die Mutter unter Tränen den drei Kindern ihre wenigen Habseligkeiten in Bündeli zusammenschnürte und schluchzend den Weg zum Schulhaus unter die Füße nahm. Den Gang haben die Kinder in ihrem Leben nie vergessen. Besonders Resli, dem Jüngsten, schien der Gedanke an die Trennung von der Mutter unmöglich zu sein, denn er hing mit ganzer Seele an ihr, und die Tränen der Mutter, die auf dem ganzen Weg ins Dorf hinunter das Gesicht im Lumpen verbarg, redeten laut in die Kinderherzen hinein. Hier saß sie nun mit ihren Würmlein und wartete der Stunde, die ihr das Liebste, was sie auf Erden noch hatte, vielleicht für immer vom Herzen reißen sollte. Doch nein, man kann die Kinder wohl von einer Mutter trennen, aber von ihrem Herzen reißt sie keine Kreatur; eine Mutter, wenigstens eine solche, wie Resli eine hatte, liebt ihre Kinder bis in den Tod.

Mit diesem festen Entschluß, ihre Kinder im Herzen zu behalten, auch wenn sie ihr nun entrissen würden, trat die Mutter mit ihnen in die Schule hinein, als es 9 Uhr schlug. Ach, was bot sich da ihrem feuchten Auge für ein trauriger Anblick dar! Eine solche Verdinggemeinde ist eine Gelegenheit, wo alles Elend einer ganzen Gemeinde zusammenströmt. Alte, gebrechliche Leute werden da von ihren eigenen Kindern hergebracht, damit die Gemeinde sie versorgt oder ihnen ein Kostgeld für sie zahlt. Leichtsinnige Personen werfen hier der Gemeinde ihre armen Würmlein in den Schoß, die oft genug büßen müssen, was ihre gewissenlosen Väter verschuldet haben. Blinde und Taubstumme, Mißgeburten und vergleichgültigte6 Geschöpfe, beschränkte und verkrüppelte Personen, die ihr Brot nicht selber verdienen können, werden da zusammengeschleppt, daß es aussieht, wie am Teich Bethesda. Dazu kommen dann erst noch die eigentlichen Waisenkinder, und es fehlt auch nicht an solchen Eltern, welche von ihrem reichen Kindersegen schon während ihren Lebzeiten der Gemeinde gerne eine Abtretung machen würden.

Die Verdinggemeinde zu Kurzenwyl wickelte an jenem Tage ihre Geschäfte in zwei Akten ab. Der erste Akt war die Musterung, der zweite die Versteigerung. Gemustert wurden diejenigen Kinder und Pfleglinge, welche bisher schon von der Gemeinde verkostgeldet gewesen waren. Ihre Meister und Pflegeeltern hatten sie zu diesem Zweck in sauberer Kleidung vor die Gemeindsbehörde zu stellen, damit diese sehen könne, ob sie ihre Sache haben. Nachdem dieser weniger wichtige Teil der Tagesordnung erledigt war, ging man zur Versteigerung der Neuzuversorgenden über. Diese las nun der Gemeindeschreiber der Reihe nach aus seinem Armenrodel7 ab. Resli`s Schwestern waren unter den ersten, die an die Reihe kamen. Sie wurden in ein Dorf verdingt, zwei Stunden von der Heimat entfernt. Es war der Mutter ein Trost, daß die beiden Mädchen wenigstens nicht auseinander gerissen wurden, und als sie weinen wollte und jammern, daß sie so weit fort kämen von ihr, sagte der Mann, der sie ersteigert hatte: "Häb nit Chummer, es geiht `ne nit übel by mir, mys Bäbi isch nit öppe die leidischt Meisterfrau und mir hei scho z`ässe für sie. Es isch de nit, daß mir sie näh wegem Chostgeld, mir hei vill z`werche u Ching z`gaume, u cheu fettig Meitscheni bruuche."8

"Andreas Balli!" tönte es jetzt vom Richterstuhl des Gemeindeschreibers herab, der im Ablesen der zu verdingenden Kinder weiter fuhr. Aller Augen richteten sich auf den Knaben, der sich krampfhaft an der Mutter festhielt und aus Leibeskräften schrie: "Mutter, Mutter, laß mich nicht, ich bin Dein!"

"Wer will den Knaben nehmen?" fragte der Präsident. "Man muß ihn hie und da in die Schule schicken, nebenbei kann er hüten und werchen9 was man will; wenn er schon jung ist, er hat arbeiten gelernt."

Ein alter freundlicher Mann trat vor. "Der Bub gefällt mir", sagte er. "Er dauert mich, daß er die Mutter verlassen muß, aber ich will ihm ein Vater sein. Zu werchen habe ich nicht viel, aber seitdem mir mein Fraueli gestorben ist, macht meine Tochter die Haushaltung, und weil sie taubstumm ist, so muß ich jemand haben, der mir die Kommissionen10 macht und die Sachen zuträgt. Wenn der Bub das besorgt und ein wenig holzen kann Winterszeit, so darf er meinetwegen daneben in die Schule gehen, so viel er will."

Der Mutter war es, als ob ihr ein Stein vom Herzen fiele, der Alte machte einen guten Eindruck auf sie. Dem Präsidenten ging es ebenso. "Du kannst ihn haben," sagte er zu ihm, "wenn du nicht zu viel verlangst."

"Versprecht mir 30 Franken, so will ich ihn ein Jahr lang nähren und kleiden dafür."

"Verlangt jemand der Anwesenden weniger für das Kind?" Alles blieb mäuschenstill. Nur der Knabe wimmerte leise und verbarg in der Schürze der Mutter sein Gesicht.

"So nimm ihn!" sagte der Präsident zu dem alten Mann; "du wirst wohl keinen großen Profit machen; er sieht verhungert genug aus; es braucht schon etwas, bis er zweggefüttert11 ist."

"Mutter, Mutter!" schrie der Knabe und brach in lautes Schluchzen aus; "laß mich nicht, ich bin dein!"

"Schweig du nur, Resli," beschwichtigte die Mutter, "ich geh` mit dir." - Die beiden verließen das Zimmer, und der Alte trappete ihnen nach. "Kommt", sagte er, "wir wollen in die "Sonne" hinübergehen, ich will eine Halbe zahlen, es leichtet ihm dann vielleicht."

"Danke", sagte die Mutter, "wir wollen lieber gleich gehen und sehen, wo mein Bub hinkommen soll. Ich muß eilen, daß ich nach Hause komme, sonst macht mir der Mann noch Vorwürfe, wenn ich schon das ganze Jahr nirgends hinkomme, nicht einmal z`Predigt läßt er mich."

"Wie du willst", sagte der Alte. "Mein Haus steht dort oben auf dem Hubel12, es ist nicht weit, aber es geht ein wenig langsam mit mir, ich habe kurzen Atem und die Gliedersucht plagt mich heute, es wird wohl bald ander Wetter geben wollen; der Horner13 wird seine Sache noch wollen verrichten. Zum Laufen bin ich nicht mehr viel wert, darum muß ich so einen Buben haben, der hurtiger14 ist als ich."

Oben angekommen, ließ der Mann einen guten Kaffee bereiten und stellte Käse und Butter dazu auf. Resli fing es an wohl zu werden hinter dem Tisch, es war seit langer Zeit das erste Mal, daß er genug zu essen bekam. Noch etwas anderes fiel ihm auf; hier wurde gebetet vor und nach dem Essen, der alte Mann entblößte sein schneeweißes Haupt, betete vor dem Essen das Unservater und sprach nach Tisch ein herzliches Dankgebet. Das hatte die Mutter früher auch so gehalten, aber seitdem sie beim Stiefvater wohnten, war das Gebet verstummt.

Nach Tisch nahm der Alte den Jungen mit in den Stall und zeigt ihm seine schöne Kuh. Unterdessen machte sich die Mutter aus dem Staub, und Resli hatte über all dem Neuen, das er sah, die Trennung wirklich bald verschmerzt. Der Alte war so gut gegen ihn, er schenkte ihm ein paar Äpfel und einen schönen neuen Batzen15. Am Abend nahm er ein Buch vom Schrank herunter und stellte mit dem Knaben ein Examen an. Resli konnte schon recht ordentlich lesen und erhielt nun die Aufgabe, die Morgen- und Abendgebete, die in dem Buch standen, auswendig zu lernen. "Du hast bei mir nichts zu tun", sagte der Alte, "als zu lernen und in die Schule zu gehen, hie und da werde ich dich zwischenhinein da- und dorthin schicken."

Resli hatte Freude an den Büchern und ging gerne in die Schule. An den langen Winterabenden lernte er die Katechismusfragen, der Pflegevater war ihm dabei behülflich, und bis zum Examen war er im Fragebuch hinten aus.

Kapitel 2

Die erste Morgenandacht

Als Resli zum erstenmal im Hause seines Pflegevaters erwachte, lag auf der Erde ein weißes Leichentuch und die Flocken wirbelten durch die Luft. Der Aetti16 meinte, als man beim Morgenessen saß, es habe nicht umsonst so schuderhaft geluftet in der vergangenen Nacht, als wollte der Luft mit dem Haus ins Tal hinunter, und er habe es ja schon gestern gesagt, es werde bald ändern wollen. Die Gliedersucht sei doch ein guter Wetterprophet und koste noch dazu nicht so viel wie ein Barometer, es sei doch am Ende alles für etwas gut, der liebe Gott habe nichts umsonst gemacht in der Welt, wie es ja auch heiße in der heiligen Schrift, daß denen, die Gott lieben, alles zum Besten dienen müsse.

Mit diesen Worten wischte er den Löffel am Tischtuch ab und steckte ihn neben sich an die Wand, dann nahm er aus der Ecke hinter dem Tisch die alte, mit Blech beschlagene Bibel hervor, die schon sein Großvater hatte einbinden lassen, und fragte Resli, ob er ihm etwa sagen könne, wo der schöne Spruch stehe, den er soeben angeführt. Der Knabe wusste zwar, das der Spruch im Herzen seiner Mutter stand, denn in ihrer Trübsal hatte sie sich mehr als einmal damit getröstet, daß denen, die Gott lieben, alles zum Besten dienen muß; aber daß der Spruch in einem Buche zu finden sei, davon hatte er noch keine Ahnung gehabt. Auch war es ihm wirklich zu verzeihen, wenn er noch nicht so viel Bibelkenntnis besaß, um angeben zu können, ob ein Spruch im ersten Buch Mose oder im Römerbriefe zu finden sei, denn es gibt ja bekanntlich Jünglinge und Männer, die mehr wie drei und fünf mal älter als der siebenjährige Resli sind, und doch suchen sie den Römerbrief im ersten Buche Mose auf, und wenn sie ihn dort nicht finden, so blättern sie das ganze Gesetz und die Propheten durch in der Hoffnung, es führen endlich alle Wege einmal nach Rom.

Während Resli sich besann, schlug der Pflegevater das achte Kapitel im Römerbriefe auf. Die Bücher der Bibel waren ihm längst keine spanischen Dörfer mehr, und wenn er nur seine Brille nicht verlegt hatte und kein Glas darin fehlte, so fand er sich darin ebenso gut wie in seinem Spycher17 zurecht, wo ja doch auch kein Bauer das Garn mit dem gedörrten Speck verwechseln wird, wenn auch beides an ein und derselben Stange hängt.

Besonders gut war aber der alte Mann im Römerbriefe zu Haus, der für ihn, den schlichten Bauern, ebensowohl wie weiland18 für Doktor Martin Luther, der Wegweiser zu der Gerechtigkeit, die aus dem Glauben kommt, geworden war. Der liebe Gott macht nach diesem Briefe zwischen Doktoren und Bauern keinen Unterschied; sie sind allzumal Sünder und werden ohne Verdienst gerecht durch den Glauben an die Erlösung, die durch Christum geschehen ist. Dieses "Trom"19 hatte Resli`s Pflegevater erfaßt, es war ihm aus dem Herzen gesprochen, wenn der Apostel im fünften Kapitel dieses Briefes bezeugt: "Nun wir denn sind gerecht geworden durch den Glauben, so haben wir Frieden mit Gott durch unsern Herrn Jesum Christ." Heute morgen schlug er aber nicht das fünfte Kapitel, sondern das achte auf. Offen gestanden, verstand Resli nicht viel davon, als der Vater mit herzlicher Inbrunst diesen Abschnitt zur Morgenandacht las. Aber es ging ihm wie einem Kind, das zum Sternenhimmel emporblickt; es versteht zwar noch gar nichts von der Beschaffenheit der Gestirne und ihrem wunderbaren Lauf und ahnt doch schon etwas von der Herrlichkeit, die dort oben verborgen ist. So konnte auch Resli aus den freudestrahlenden Augen des Alten lesen, was er aus Römer 8 noch nicht zu lesen im Stande war, daß nämlich hier ein Schatz im Acker liegen müsse. Was dieser Schatz sei, an dem er sich so freute, das verbarg ihm denn auch der Pflegevater nicht. "Höre", sagte er zu Resli, als er im Lesen zum 18. Verse des Kapitels kam: "Ich halte dafür, daß dieser Zeit Leiden nicht wert sind der Herrlichkeit, die an uns geoffenbaret werden soll." Bei diesen Worten nahm der Alte seine Brille ab und schaute Resli an: "Du weißt noch nicht, was Leiden sind; du hast zwar schon Hunger gelitten und wohl auch manchmal Schläge gekriegt; bedenke jedoch, daß dies nur die ersten Tröpflein von einem ganzen Leidenskelch gewesen sind. Damit du nun mit dem Heiland sagen könnest: Soll ich den Kelch nicht trinken, den mir der Vater gegeben hat? ist es nötig, daß du wie Er dich auf die Herrlichkeit freuen könnest, die ganz gewiß nach dem Kreuze kommt. Und da kann ich dir denn als ein alter Mann bezeugen, der`s in Sturm und Wetter erprobt hat: Wer ein Kind Gottes ist, der kann sich in allen Lagen freuen auf die zukünftige Herrlichkeit, wie der Apostel in diesem Kapitel schreibt: Sind wir denn Kinder, so sind wir auch Erben, nämlich Gottes Erben und Miterben Christi. Ja", so schloß der Pflegevater seine erste Morgenandacht mit Resli, gerade wie der Apostel auch das achte Kapitel im Römerbriefe schließt: "Ich bin gewiß, daß weder Tod noch Leben, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, noch keine andere Kreatur mich scheiden kann von der Liebe Gottes, die in Christo Jesu ist, unserm Herrn! Wie froh bin ich jetzt in meinen alten Tagen, daß ich diese selige Gewißheit in meinem Herzen tragen darf. Ich weiß ja nicht, wie lange ich noch zu leben habe. Der Tod kann ung`sinnet20 kommen, besonders wenn man das 70. Jahr schon überschritten hat. Wie der liebe Gott heute über Nacht das weiße Leichentuch über die Felder gebreitet hat, so ist es auch schon manchmal vorgekommen, daß das Leintuch, womit einer sich am Abend zudeckte, ihm über Nacht in ein Leichentuch verwandelt worden ist."

Kapitel 3

Zu früh

Resli`s Augen füllten sich mit Tränen, als der Pflegevater so vom Sterben sprach. "Du wirst längi Zyti21 nach der Mutter haben, daß du plärest?" fragte ihn der Alte teilnahmsvoll. - "Nein, aber es duret mich gar grusam, daß Ihr schon sterben wollt und ich wieder auf die Gemeinde soll", antwortete der Knabe, der offenbar in der kurzen Zeit schon recht anhänglich an den alten Vater geworden war.

"Du bist es Babi", sagte dieser lachend, "so weit ist es noch lange nicht. Daneben ist es gut, wenn du früh genug das Wort der Schrift beherzigen lernst: "Lasset ab von dem Menschen, der Odem in der Nase hat, denn was ist er zu achten? Er ist wie des Grases Blume, die bald verblüht." Es ist darum viel besser, lieber Resli, wenn du dich nicht an Menschen, sondern an den Heiland hängst, der gestern und heute derselbe ist und in Ewigkeit; wenn Vater und Mutter dich verlassen, so nimmt Er dich auf."

Es war wirklich gut, daß der Alte es verstand, sein Pflegekind darauf vorzubereiten, daß irdisches Glück etwas Unzuverlässiges ist; denn die Gliedersucht, die ihn seit Jahren jeden Winter regelmäßig aufgesucht, nahm diesmal mit dem nahenden Frühling nicht ab, sondern einen immer beschwerlicheren Charakter an. Nesseln und Hanf, Bockbart und Brombeerstauden und noch ein halbes Dutzend andere Kräuter, welche die längst verstorbene Mutter sorgfältig gedörrt und aufgehoben hatte, wurden zwar von der Tochter geflissentlich aus dem Versteck hervorgeholt und ein Topf voll Thee um den anderen daraus gebraut. Allein der gute Alte, der bisher geglaubt hatte, um`s Herz herum sei er noch ganz gesund, litt an zunehmender Atemnot, die Füße fingen an zu schwellen und es stellte sich heraus, daß die Gliedersucht sich auf´s Herz geworfen hatte und die Wassersucht im Anzug sei. Ein Nachbar, der gerade im zwei Stunden entfernten Pfarrdorfe etwas zu verrichten hatte, wurde zum dortigen Arzt geschickt. Er brachte einen großen Gutter22 mit einem bittern Trank und eine Drucke23 voll Pülverli mit, aber auch den Bericht, der alte Doktor habe beim Wasserg`schauen ein bedenkliches Gesicht gemacht und gesagt, es müsse gut gehen, wenn der Kranke die Kirschenblust24 noch erlebe.

Und der Doktor hatte leider Recht. Als die Passionszeit kam, hatte das Leiden einen solchen Grad erreicht, daß der Alte nicht mehr aufzustehen im Stande war. Bald wurde er so schwer, daß Resli und die Tochter ihn nicht mehr heben konnten. Ein starker Mann mußte jedesmal gerufen werden, um ihn auf und nieder zu tun, und der versicherte jedesmal, der Kranke sei wenig leichter als ein doppelzentneriger Sack. Doch der liebe Gott machte es gnädig mit ihm; wenn ihm auch das Wasser immer näher zum Herzen drang, daß er mit David beten mußte: "Gott hilf, denn das Wasser geht mir bis an die Seele!" so löschte dasselbe doch den Glaubensfunken nicht aus, nein, Gottes Geist blies denselben immer mehr zur hellen Flamme an. Denn Der, welcher keines seiner Kinder versuchen lässet über Vermögen, sondern allezeit einen erträglichen Ausgang schafft, sorgte dafür, daß die beschwerliche Krankheit verhältnismäßig rasch zu Ende ging. Für seinen Pflegesohn und seine taubstumme Tochter freilich viel zu früh, von ihm selbst aber längst ersehnt, erschien die Stunde der Ablösung von diesem sterblichen Leib, noch ehe der Ostermorgen durch die Fenster schien.

Warum, so spricht nun die menschliche Vernunft, wurde Resli das Glück, in der segensreichen Nähe eines solchen Mannes zu sein, nur zwei Monate lang zu teil? Diese kurze Zeit hatte gerade hingereicht, um ihn die Flüche vergessen zu lassen, die er bei seinen Stiefbrüdern eingeübt. Wie gut hatte ihm nach der Hungerkur beim Stiefvater das Brot des Pflegevaters geschmeckt, der ihn ja nicht nur mit Bibelsprüchen abspies, sondern dem das leibliche Wohl des armen Knaben nicht minder als dessen Seelenheil am Herzen lag. In der kurzen Zeit hatte er solche Fortschritte im Lernen gemacht, daß der Lehrer sagte, zwar nicht zu ihm, aber zum Pflegevater: Aus dem wird einmal etwas anderes als nur ein Taglöhner, wenn du ihn so fleißig zur Schule schickst.

Doch nun war mit einem Schlag die ganze Herrlichkeit vorbei. Es gab Leute in der Nähe, denen der Tod seines Pflegevaters nicht so zu Herzen ging wie ihm, an denen sich vielmehr das Wort erfüllte: Wo ein Aas ist, da sammeln sich die Adler. Der Lehrer redete diese Leute beim Leichengebet als die werte Trauerversammlung an, aber daß ihr Geschrei, das sie bei der Leiche erhoben, aus traurigem Herzen kam, bezweifelte man in der Nachbarschaft. Zuerst suchten diese Verwandten des Verstorbenen, um der taubstummen Tochter nicht alle Mühe aufzubürden, Keller und Speicher ab und veranstalteten mit den vorhandenen Vorräten eine respektable "Gräbd"25; es war ja begreiflich, daß man von dem zweistündigen Weg bis zum Friedhof hungrig werden mußte. Besonders gute Dienste leistete da das Kirschwasser, das man in einer unangebrochenen großen Strohflasche entdeckte, denn der Alte hatte das "Gläseln"26 nicht geübt. Wie bei Simsons Tode mehr Philister umkamen, als er in seinem ganzen Leben vertilgt hatte, so wurden hier bei der Beerdigung des alten Mannes mehr Gläschen vertilgt, als er selbst in seinem ganzen Leben je getrunken hatte. Unter der zu unbesonnenen Taten begeisternden Wirkung des Getränks fingen dann Etliche an, von der Teilung zu reden; es wäre ihnen kommod27, wenn sie gleich etwas mitnehmen könnten. "Ja", erklärte der nächste Verwandte, "den Buben da, den er gedinget hat, den könnt ihr haben, wenn ihr wollt, der muß allweg irgendwo gefüttert werden bis zur nächsten Verdinggemeinde im Brachmonat; aber vom Teilen redet nicht, es gibt nichts aus dem Käs. Die Tochter ist die einzige Erbin; sie hat zwar das Alter längst, um mündig zu sein, aber weil sie keinen Mund hat, so steckt die Vormundschaftsbehörde allweg ihre Nase in die Sache hinein. Einstweilen nehme ich als Onkel das Eisi zu mir, allein kann man es ja hier nicht hausen lassen, den Bub kann nehmen wer will." - "Wenn dem so ist," sagten die Andern und machten ein langes Gesicht, "so nimm du den Bub auch gleich dazu, es wird am Platz sein, daß, wer den Nutzen hat, auch den Schaden übernimmt."

Und so nahm denn der besorgte Onkel mit der gewinnversprechenden taubstummen Nichte auch den armen Resli mit. Die erstere hatte es nicht schlecht, man setzte große Hoffnungen auf sie, wenn sie bleiben würde, denn wer die Erbin hat, dem winkt auch das Erbe zu. Resli dagegen, der von Anfangs April bis erste Woche Juni um der Gottswillen, wie man ihm oft genug vorhielt, hier aufgenommen wurde, bekam es zur Genüge zu fühlen, ein wie unwillkommener Gast er war, er, an dem kein Erbteil, sondern nur ein elendes Kostgeld hing. Außer Schlafens- und Essenszeit durfte er nicht im Hause sein. Er wurde aber in der Zwischenzeit nicht etwa in die Schule geschickt. Das wäre ihm eine schöne Ordnung, begehrte der neue Meister auf, als Resli um Erlaubnis zum Schulbesuche bat, wenn jeder Bettelbub in die Schule gehen sollte und noch dazu im Frühling, wo so viel Arbeit sei. Werchen28 sollte ein solcher lernen, was trage ihm das Lesen und Schreiben ab. Zu rechnen werde er einmal doch nicht viel haben, und wo kämen die Bauern hin, wenn bald jeder Talner29 so gut rechnen könnte, wie sie. Resli sagte denn auch nichts mehr von der Schule, seitdem ihm dieser Bescheid zu Teil geworden war. Er ging bei Regen und bei Sonnenschein und hütete die paar Schafe seines Meisters, indem er sie das Gras bei den Zäunen abätzen30 ließ, denn eine Weide besaß der Meister nicht, obschon er in seinen Augen ein so großer Bauer war, der himmelhoch über einem Tagelöhner und Bettelbuben stand; das machte, er sah sich bereits durch das Vergrößerungsglas des in Aussicht stehenden Erbes an. So brachte Resli den ganzen Tag mit ähnlichen, verschnupften31 Kindern zu. Phantasiereiche Städter malen sich oft das Leben eines Hirtenbuben so idyllisch aus, als rege der Umgang mit den Schafen und mit der Natur schon von selbst zur Gottesfurcht an. Wenn sie aber wüßten, was für eine Schule des Lasters für manche arme Kinder dieses gemeinsame Hüten von einigen Schafen oder Ziegen ist, sie fänden Resli`s Los nicht eben beneidenswert. Nein, hier beim Schafehüten brachen die alten Sündenwunden des armen Knaben, die unter der Pflege des alten, frommen Mannes vernarbet waren, von neuem wieder auf, und hier war niemand, der den Balsam des Wortes Gottes in dieselben goß. Fluchen und Schwören hörte er im Haus, aber kein Gebet, und wenn er draußen an den Gassen hütete, so traf er hier eben die Gassenbuben an, denen sah er ihre Unarten ab, oder er wurde von ihnen selbst zur Zielscheibe ihrer Bubenstücke gemacht. Da seine Kleider zu zerreißen begannen, niemand sie ihm flickte und er auch keine neuen erhielt, so machten sich die andern Kinder Spaß daraus und rissen ihm die Fetzen vom Leibe, um, wie sie sagten, ihre eigenen Löcher zu verstopfen damit. Die ehrbaren Leute, die des Weges kamen, gingen an ihm vorüber wie der Priester und der Levit an dem, der unter die Räuber gefallen war, nein, sie schalten ihn noch einen Hudel, was in feinerem Deutsch einen Lumpen bedeuten will.

Resli wartete vergeblich auf den barmherzigen Samariter, er kam nicht, und so blieb dem armen Jungen nichts anderes übrig, als fortan hinter eine Hecke zu schlüpfen, wenn jemand vorüberging, und sich zu vertrösten auf die nächste Verdinggemeinde, wo der liebe Gott ihm wieder einen Engel zuschicken konnte, wie der verstorbene Pflegevater einer gewesen war.

Kapitel 4

Wie Resli vom Regen unter das Dachtrauf kommt

Resli wurde auf keinen afrikanischen Sklavenmarkt geschleppt. Dort werden ja die schwarzen Heidenkinder an den Meistbietenden verkauft, die Verdinggemeinde aber gab den Knaben an den Mindestfordernden hin. Er kam in ein Haus im Reckholderberg, nahe bei Kurzenwyl. Zwei Brüder bauerten dort insgemein. Verheiratet waren sie nicht, ihre Mutter lebte auch nicht mehr, eine Schwestertochter war das einzige Weibervolk im Haus, sie besorgte den beiden Hagestolzen32 die Haushaltung. Eine Mutter hatte Resli selbstverständlich an dieser Tochter nicht, dazu war sie noch zu jung, sie hätte selbst noch eine nötig gehabt, und daß zwei ältere Junggesellen keine Väter sind, weiß Jedermann. Es erfüllte sich an dem armen Knaben demnach das Wort: "Wenn ihr gleich zehntausend Zuchtmeister hättet, so habt ihr doch keinen Vater." Das war ein großer Schade für ihn, denn wie sehr hätte der achtjährige Knabe der väterlichen Erziehung und der mütterlichen Pflege bedurft. Was für eine Herzlosigkeit liegt doch in einer derartigen Verkostgeldung armer Kinder, bei welcher nur zwei Gesichtspunkte maßgebend sind, der Kostenpunkt und die Rücksicht darauf, daß ein solches Kind werchen lernen muß. Ganz richtig ist es ja an und für sich, wenn man die Verdingkinder vor dem Müßiggang bewahren will, weil dieser in der Tat aller Laster Anfang ist, aber ist denn damit einem Kinde schon eine gute Erziehung zugesichert, daß man ihm für schwere Arbeit sorgt? Als ob die Anstrengung aller Tugenden Anfang wäre! Resli wenigstens hat`s erfahren, daß dem nicht so ist. Arbeit hatte er genug unter der Junggesellenmeisterschaft, für die ein Kind nur so viel Wert hatte, als man an ihm Tagelöhne ersparen konnte; um seine Erziehung zur Tugend und Gottesfurcht kümmerte man sich aber in diesem Hause keinen Pfifferling. Nun denken Manche, diesen Mangel empfinde so ein Bub ja nicht; auf einen groben Klotz gehöre ein grober Keil. Aber Resli hatte keinen groben Klotz, sondern ein weiches Herz in seiner Brust. Hatte er das von seiner Mutter geerbt, oder war`s Gottes Gnade, die ihn frühe zog; wohl wurde es ihm die sechs Jahre hindurch, die er in diesem Hause zubrachte, nie in dem Heidentum, in das er hier mitten in der Christenheit, nur zwei Stunden von der nächsten Kirche entfernt, hineingegangen war.

Wir sagen "Heidentum". Gab es denn Götzen in diesem Haus? Ja, der große Götze Mammon hatte hier alles in seiner Gewalt. Über seinem Altar hatten die beiden Brüder einen Bund gemacht, keiner von ihnen wolle sich verheiraten; lieber einen Sack voll Geld als eine Schar Kinder im Haus, sagten sie. Sie hielten ihr Versprechen treulich, das ist wahr; es kam auch etwas dabei heraus: Sie machten ihren Hof schuldenfrei, zahlten ihren Geschwistern, was ihnen heraus gehörte und machten noch ordentlich für. Aber sie merkten nicht, daß ihr Geldmachen auf Kosten der Seele ging. Die sechs Jahre hindurch, so lange Resli in ihrem Hause war, hat keiner von ihnen ein Gotteshaus besucht, als wo sie vor das Chorgericht mußten.

Aber warum mußten sie denn vor das Chorgericht? Das kam so: Die Haushälterin der beiden Junggesellen hatte das Unglück, wie man zu sagen pflegt, zweimal Mutter zu werden während jener Zeit. Damals fiel aber, nach gutem altem Brauch, die Untersuchung solch delikater Fälle noch dem kirchlichen Sittengericht zu, das aus dem Pfarrer und den Kirchenältesten bestand. So wurden denn vom Chorgericht die beiden Brüder vorgeladen, sie sollten angeben, wer der Vater dieser Kinder sei. Genau anzugeben vermochten sie das aus guten Gründen nicht, aber sie hatten wohl aus ebenso guten Gründen nichts dagegen zu sagen, als das Chorgericht ihnen die Sorge für die Kinder überband, obgleich man dieselben auf den Namen der Mutter ins Taufregister schrieb.

So hatte denn der Bund, den die beiden Brüder am Altare Mammons miteinander geschlossen, einen Riß gekriegt, sintemal33 es noch mehr Götzen gibt in der Welt, von denen der eine dem andern gar zu gerne einen Streich spielt, wenn er kann, denn sie kämpfen allesamt um die Herrschaft über das Menschenherz. Welcher Götze in diesem Fall über den Mammon Meister geworden ist, brauchen wir nicht erst zu sagen, unsere Leser wissen`s schon.

Die beiden Brüder sahen ein, daß Mammons Herrschaft bedenklich ins Wanken geraten sei, so sannen sie denn auf neue Mittel zu deren Befestigung. Es war Winter geworden, wo der Bauer, wenn er nichts zu holzen hat, manche Stunde auf dem Ofen sitzt. Dies war auch die Zeit, wo sogar Resli in die Schule ging; im Sommer gab es nichts daraus. Allein, nun kam den Brüdern in den Sinn, es gäbe doch auch noch eine nützlichere Winterbeschäftigung, als auf dem Ofen zu sitzen oder in die Schule zu gehen, bei der zudem ein hübsches Stück Geld zu verdienen sei, wenn viele Hände daran gehen. Die ärmern Leute spannen nämlich damals den sogenannten Gremplerflachs und um etwas Ordentliches dabei zu verdienen, saß an vielen Orten vom frühen Morgen bis zum späten Abend Jung und Alt, Mann und Weib, zum Spinnrad hin. Bisher hatte nur Lisi, die Haushälterin, das Spinnen besorgt; ihre Arbeit reichte für die kleine Haushaltung hin. Nun aber war der Flachs gut geraten im verwichenen34 Sommer, sie hatten viel, und die Brüder rechneten aus, wie viel mehr sie lösen könnten aus dem Garn, als aus dem ungesponnenen Flachs. Flugs machten sie für sich und Resli drei alte Spinnräder zurecht, und nun schnurrte es in der Bauernstube den ganzen Tag, während draußen der Sturm die weiße Baumwolle zu einer schneeweißen Decke verwob. Resli wurde in der noch ungewohnten Kunst von Lisi unterrichtet, er zeigte Geschick dazu und hatte auch Freude daran. Bald erhielt er aber die Aufgabe, alle drei Wochen ein ganzes Pfund zu spinnen. Konnte er neben seinen übrigen Hausgeschäften zwischen der Schule damit nicht fertig werden, so blieb ihm eben keine andere Wahl, als das Lernen an den Nagel zu hängen und hinter dem Spinnrad zu studieren, was natürlich nach der Ansicht seiner Meistersleute viel vernünftiger war. Daß er unter solchen Umständen kaum notdürftig schreiben und rechnen lernte, versteht sich von selbst; es fehlte ihm ohnehin am Schreibmaterial, dazu gab ihm niemand Geld, und die Schule verabfolgte35 in damaliger Zeit noch keine Lehrmittel, von wegen sie arbeitete noch nicht unter so hohem Steuerdruck wie heutzutage, was Wunder, daß auch ihre Leistungen damals noch nicht so hoch gestiegen sind wie in einer glücklicheren Zeit, die sich zu der "guten alten Zeit" ausnimmt wie die fetten Kühe zu den sieben magern Pharaos. Resli suchte sich freilich den Schulbesuch so viel wie möglich dadurch zu sichern, daß er Morgens sehr früh ans Spinnen ging und Abends bis 9 und 10 Uhr bei der Arbeit blieb, was für den kleinen Knaben gewiß keine geringe Leistung war. Überwältigte ihn bei der Nachtarbeit der Schlaf, was sich allemal am Stillstehen seines Spinnrades zu erkennen gab, so zupfte man ihn nicht gar sanft am Haar, daß ihm der Spengler aus den Augen wich.

Gewöhnlich sorgten aber die Männer, die an den langen Winterabenden zum Abendsitze kamen, schon dafür, daß Resli nicht schläfrig ward. Die ganze Nachbarschaft hatte hier freien Zutritt, wo kein Vater und keine Mutter auf Zucht und Ordnung hielt. Und leider fanden sich aus diesem Grunde nicht gerade die Besten ein. Hätten sie nur allerlei Kurzweil getrieben und mit Hand- und Mundharmonika musiziert, oder hätten sie gar Geschichten vorgelesen wie W.O. von Horn sie in der "Spinnstube" erzählt, so hätte Resli wenigstens noch etwas dabei gelernt; nun aber überboten diese wilden Männer sich im Erzählen ihrer Schandtaten, die sie als "Nachtbuben" beim Kiltlaufen36 verübt. Sie begnügten sich nicht etwa mit der Erinnerung an ihre lustigen Bubenstreiche, sie erzählten nicht bloß wie sie einem Bauern Nachts den Heuwagen auf den Dachgiebel gestellt oder einem andern den Pflug in den Baum hinauf gehängt, nein, die schlüpfrigsten Geschichten mußten her, und hatte man keine solchen mehr auf Lager, so wurde eine gemacht, daß der Schmutz davon dem Erzähler über die Maulecken herunter troff. Und das alles wurde natürlich nicht nur vor den Ohren der jungen Haushälterin, sondern auch vor Resli ausgekramt. Dieser hatte anfangs an solchem Schmutz nicht sonderlich Geschmack, er fühlte so etwas dabei, er wusste selbst nicht was. Er kam sich wie verlassen von Gott und Menschen vor, als ob er unter eine Räuberbande geraten sei. Das war er auch; denn diese elenden Menschen raubten ihm mit ihrem wüsten Geschwätz die Unschuld weg, die er noch mitgebracht, und traten mit ihren groben Füssen jedes Schamgefühl in den Kot. Der Lichtfunke, der noch in des Knaben Herz wie ein glimmendes Docht geleuchtet hatte, fing allmälig an zu erbleichen, und das junge Herz geriet durch die gewissenlosen Nachtbuben in die Nacht der Sünde hinein. Wehe darum den Menschen, die einen dieser Kleinen ärgern, wie es diese Männer taten mit ihren ungewaschenen Mäulern, wahrlich, es wäre ihnen besser, ein Mühlstein würde ihnen an den Hals gehängt und sie würden ersäuft im Meer, da es am tiefsten ist!

Wer will nach alledem bestreiten, daß es noch heidnische Familien gibt mitten in der Christenheit? Hier konnte man wirklich sagen: "Wo keine Bibel ist im Haus, da sieht`s gar öd` und traurig aus!" Doch war eine da, sie stund in der Ecke hinter dem Tisch. Aber wie wurde sie bebraucht! Eines Sonntags, als Resli nach Hause kam, saß einer der Brüder hinter dem Tisch und hatte sie offen vor sich liegen. Jetzt kommt`s gut, dachte Resli, und die Erinnerung an seinen verstorbenen Pflegevater, der immer einige Stunden des Sonntags hinter der Bibel zugebracht, erwachte in ihm. Aber er hatte sich zu früh gefreut. Wie er näher zusieht, bemerkt er, daß der vermeintliche Bibelleser nicht die Wahrheit, sondern die Wanzen in der Bibel sucht. Mit der einen Hand wendete er die Blätter um, in der andern hatte er einen Stift, zog diesen am innern Ende jedes Blattes durch und machte auf diese Weise Jagd auf die genannten Haustiere, von deren Anwesenheit im Hause Resli auch zu erzählen wusste. Es war den Tierlein wirklich nicht zu verargen, daß sie im Kampf ums Dasein in die Bibel krochen, dort hatte sie wenigstens Jahre lang niemand gestört.

Kapitel 5

Resli geht auf die Wanderschaft

Sechs Jahre hielt Resli bei den beiden Junggesellen im Reckholderberge aus. Da schlug unerwartet die Stunde der Befreiung für ihn. Es war im Juni 1828, drei Tage vor der Verdinggemeinde, der Resli alle Jahre, wie jedes andere Pflegkind vorgestellt werden mußte. Wie war ihm allemal so schwer und bang auf diesen Tag! Denn dies ist der Tag, wo der Pflegevater sein Kostkind vor der Armenbehörde verklagen darf, dieses aber muß dastehen wie ein Schaf, das vor seinem Scherer verstummt. Natürlich benutzen nicht alle Pflegeeltern diese Gelegenheit, den Kropf zu leeren über so ein armes Pflegekind; aber gerade die, welche ihre Pflegekinder am schlechtesten behandelt haben, klagen da am meisten über sie. Da konnte der arme Knabe an diesem Tage hören, was für ein fauler Hund er sei, und doch hatte er sich das Jahr hindurch oft genug über seine Kräfte angestrengt. Man denke nur, daß der schlechtgenährte Knabe alles Wasser, das in diesem Hause gebraucht wurde, den Hügel hinauf schleppen mußte, auf dem das Haus stand, nämlich Morgens und Abends sechs bis sieben Melchtern37 voll in den Stall und dann noch, was für die Küche nötig war. Aber natürlich, wie schlecht er genährt wurde, davon verlautete vor der Gemeinde nichts. Im Gegenteil, der Meister konnte nicht genug sagen, was der Bub für ein "Freßhung" sei. Resli hatte alles gegessen, wenn er schon Hunger gelitten hatte wie eine Kirchenmaus, und alles zerrissen, wenn er schon halb nackt hatte laufen müssen. Daß Resli zweimal halb erfroren am Straßenbord aus dem Schnee aufgelesen worden war, das wusste man zwar im Reckholderberge wohl, aber niemand hätte sich dafür hergegeben, so was der Behörde anzuzeigen und für Resli die Kastanien aus dem Feuer zu holen, wobei man sich in der Regel doch nur die Finger verbrennt.

Doch der Krug geht so lange zum Brunnen, bis er bricht. Drei Tage vor der besagten Gemeinde, die Resli so sehr fürchtete, sollte er eine Arbeit tun, die über seine Kräfte ging. Der Meister befahl ihm einen Wagen den Berg hinaufzuziehen. Nun scheute Resli zwar vor keiner Arbeit je zurück, sie mochte noch so anstrengend sein. Aber hier befand er sich nun einmal wohl oder übel an der Grenze seiner Kraft. Der Wagen wollte eben nicht vom Fleck. Anstatt selber anzugreifen, gibt ihm der Meister eine Ohrfeige, zerrt ihn an den Haaren herum und brüllt ihn an: "Du fauler Schlingel, mach, daß du zum Teufel kommst!"

Resli ließ sich das nicht zweimal sagen, nur daß er nicht zum Teufel, sondern stracks zum Gemeindepräsidenten lief. Diesem erzählte er, was vorgefallen war, und bat ihn um Geld für ein Paar Schuhe; er wollte fort in einen andern Platz. Der machte aber ein bedenkliches Gesicht. "Du hast uns schon so viel gekostet, sieben Jahre lang hat nun die Gemeinde das Kostgeld für dich bezahlt, jetzt sollte sie dir auch noch Schuhe kaufen? Geh` zu deinen Meistersleuten, die sollen dir für Schuhe sorgen, sie haben ja den Lohn dafür."

Mit diesem Bescheid wurde der arme Knabe, hungrig und barfuß wie er war, wieder auf die Straße geschickt. Dort saß er lange hinter einer Hecke und machte seinem schweren Herzen in einem Tränenstrome Luft. Was sollte er nun tun? Zu seinen groben Meistersleuten wollte er nicht mehr zurück und von der Gemeinde hatte er keine Hilfe zu erwarten. In seiner Verlegenheit kam ihm die Mutter in den Sinn. Ihr hatte er seine traurige Lage bisher noch nie mitgeteilt. Der verständige Knabe dachte, sie habe selbst genug zu tragen, sie war ihm zu lieb, als daß er ihr auch noch das Herz mit Klagen hätte beschweren wollen. Jetzt aber war er entschlossen, auf die Wanderschaft zu gehen und sich irgendwo als Knechtlein zu verdingen; da mußte er doch die Mutter vorher noch einmal sehen, um Abschied zu nehmen von ihr.

Es dunkelte schon, als Resli sich dem stiefväterlichen Hause näherte. Die Sonne war hinter dem zackigen Felsengebirge verschwunden, das vom Reckholderberge aus gesehen den Horizont im Westen wie ein hoher Wall abschließt. Aus der Ferne schlug Glockenschall an sein Ohr. Im Tal läutete man den Sonntag ein, der kühle Abendwind trug den süßen Klang über die Berge weg. Resli blieb von Zeit zu Zeit stehen, je näher er dem Hause kam. Lauschte er dem Glockenklang oder was hielt seine Schritte zurück? Ach, der Gedanke an den Stiefvater machte ihm so bang. Der jagt dich am Ende vom Hause fort, wenn du so verhudelt daher kommst wie ein Bettelbub, so seufzte er. Doch die Liebe zur Mutter überwand endlich die Furcht vor dem Stiefvater, und als es ganz vernachtet hatte, schlich sich Resli zum Haus hinzu und schaute verstohlen durchs Fenster hinein. Drinnen saß die Mutter mit den Kindern um den Tisch herum; sie nahmen eben das Nachtessen ein. Den gefürchteten Stiefvater aber konnte Resli nicht entdecken, so genau er auch die Tischgesellschaft musterte. Das gab ihm Mut einzutreten und wirklich erfuhr er zu seiner Beruhigung von der Mutter, daß ihr Mann heute Abend nicht heimkommen werde, da er mit dem Gusti38 z`Berg gegangen sei. Dem unkundigen Leser müssen wir nämlich hier erklären, daß gerade so wie ein Vater sein Mädchen oder seinen Knaben in die Pension verbringt, so (nicht zusammengezählt) auch der Bauer seine junge "Ware" den Sommer über einem Küher39 mit auf die Berge gibt, damit sie dort lerne, wie eine angehende Kuh sich aufführen soll. Ja, wir müssen sogar gestehen, daß der Bauer oft sorgfältiger ist in der Wahl des Erziehers, dem er sein Gusti anvertraut, als es manche Eltern sind, die ihre Kinder aufs Geratewohl ins Welschland40 schicken. Resli`s Stiefvater begleitete sein Gusti auf den Berg, um selbst zu sehen in was für Hände es komme, aber wenn ihm jemand zugemutet hätte, er solle seinen Buben begleiten, um zu sehen, ob er auch zu einem rechten Meister komme, potz tausend, der hätte einem gesagt, ob er einen Tag versäumen wolle für ein so unnützes Geläuf!

Resli war also gerade recht gekommen, er konnte sein Kacheli Kaffee mit der Mutter und den Geschwistern trinken, ohne daß er den Stiefvater mußte brummen hören, er müsse den jetzt auch noch füttern. Als die Kinder zu Bette gegangen waren, setzte sich die Mutter neben ihren Resli hin, um zu erfahren, was ihn herbringe. Er wollte zuerst nicht recht mit der Sprache heraus, aber die Mutterliebe öffnete ihm den Mund. Der Knabe erzählte unter Schluchzen seine Erlebnisse, und die Mutter plärete auch. Als endlich das Herz geleert war, tat die Mutter Resli`s Bündeli auf und musterte die wenigen Habseligkeiten, die er mitgebracht. Zwei Paar Hosen, zwei Hemden, eine Zwilchkutte41, eine weiße und eine schwarze Kappe, das war alles, was Resli besaß, und das alles in einem himmelschreienden Zustand, daß die Mutter darob in hellen Zorn geriet. "Morgen gehe ich zum Präsidenten", sagte sie, "und werfe ihm die Hudeln an den Kopf!" - "O Mutter, sei ruhig", bat Resli, "du wirst sehen, er hilft doch nichts. Morgen gehe ich den Berg hinunter, ich will sehen, ob es nicht irgendwo einen bessern Platz für mich gibt. Der Gemeinde falle ich nicht länger zur Last, es ist besser, man sorgt selbst für sich."

"Aber du bist ja noch nicht admittiert42, und einen Knecht, den man in die Unterweisung schicken muß, stellt niemand an."

"Laß mich nur machen, liebe Mutter," sagte Resli, "ich habe arbeiten gelernt; die Zeit, die ich mit der Unterweisung versäume, bringe ich den Leuten durch verdoppelten Fleiß wieder ein, und wenn ich einmal verdienen kann, so sollst du auch etwas haben von meinem Lohn; ich sehe, daß du es brauchen kannst."

Es läutete eben das erste Zeichen, als Resli am andern Morgen, vom Segen und den Tränen seiner Mutter begleitet, dem schmucken Dorf zuschritt, in dem der Reckholderberg damals noch kirchgenössig war. Die Kirche hatte eine der denkbar günstigsten Lagen im Land. Zwei Täler reichten sich vor ihrer Tür die Hand; drei Berge schauen wohlgefällig auf sie herab. Und diese Berge und Täler sind mit einer Herde übersäet, der allsonntäglich die grüne Weide und die frischen Wasserbäche des Wortes Gottes willkommene Nahrung sind. Der gute Hirte hat denn auch dafür gesorgt, daß von Alters her in dieser Kirche Hirten nach seinem Herzen mit der Pflege seiner Schafe betraut worden sind. Wo aber gute Weide zu finden ist, da fehlt es auch an Schafen nicht, da kommt es nicht vor, daß aus einer Gemeinde von 3000 Seelen nur der Sigrist43 und eine Hand voll Frauen und Kinder in der Kirche zu finden sind. Nein, in eine solche Kirche oder Kapelle laufen die Leute halbe und ganze und zwei Stunden weit. So war es denn auch mit der Kirche zu Griesbach der Fall, wie wir das Dorf nennen wollen, auf welches Resli an jenem Sonntagmorgen zugeschritten kam. Unterwegs begegnete ihm da und dort ein Häuflein derer, die zum Hause Gottes wallten, und als er dem Dorfe näher kam, konnte er sehen, wie sie gleich Bächlein von dem Tal und den Bergen herab der Kirche zuströmten.

Wir müssen es zu seiner Schande sagen, daß Resli, der nun vierzehnjährige Knabe, noch nie in der Kirche gewesen war. Doch, das war ja nicht seine Schuld; man hatte ihn eben nie geschickt und am Sonntag Morgen hatte er in der Regel alle Hände voll zu tun. Jetzt aber war er zum erstenmal in seinem Leben frei, und da machte er es denn nicht, wie so viele junge Leute tun, die sobald sie sich einmal frei fühlen, dem Hause Gottes den Rücken kehren mit einem Gefühl der Erleichterung, wie es etwa ein Sträfling empfinden mag, der dem Zuchthaus glücklich entkommen ist. Nein, Resli sah die Kirchenmauern nicht für Kerkermauern an; das herrliche Geläute schien ihm vielmehr gerade zu passen zu seinem jugendlichen Freiheitsgefühl und weckte zarte Saiten in seiner Brust. Er lief unwillkürlich den Predigtleuten nach, deren Sonntagsstaat freilich gehörig abstach von seinem zerlumpten Kleid. Resli fühlte wohl, er passe nicht unter sie. Dennoch zog es ihn zum Gotteshaus, er kam hinein, er wusste selbst nicht wie und setzte sich hinter die offene Tür auf die Treppe, die zur Empore führt. Viele seiner Altersgenossen gingen an ihm vorbei, die Treppe hinauf; ihr verächtlicher Blick, den sie auf ihn, den vermeintlichen Bettelbuben warfen, entging ihm nicht; aber als endlich durch die wohlgefüllte Kirche die Orgel brauste, vergaß er sein Leid, und der schöne Gesang: "Sollt ich meinem Gott nicht singen, Sollt ich ihm nicht fröhlich sein, Denn ich seh` in allen Dingen, Wie so gut Er`s mit mir mein`" erheiterte sein Gemüt.

Von der Predigt verstand Resli nichts. Sie wird gut gewesen sein, aber vielleicht nur zu gut für seine Fassungskraft. Ob der Fehler hier am Prediger oder am Zuhörer lag, ist schwer zu sagen, aber es ist sehr wahrscheinlich, daß wenn der Pfarrer an jenem Morgen seine Predigt nach Resli`s Verständnis eingerichtet hätte, so wären nicht alle Zuhörer mit ihm zufrieden gewesen. Die Gebildeten hätten gesagt, er sei zu trivial, er brauche ja Vergleiche und erzähle Anekdoten in seiner Predigt, die man an jeder Straßenecke hören könne, und die ehrbaren Leute hätten gefunden, er werde zu persönlich, er rede ja gerade so von den Betrügern, Fluchern und Ehebrechern, als meine er sie damit, überhaupt, hätten sie gesagt, soll ein Pfarrer so anstößige Ausdrücke nicht auf die Kanzel bringen. Auch könnten die Leute ja meinen, ihr Pfarrer sei früher selbst nur ein Mann aus dem gewöhnlichen Volke gewesen, wenn er die Sprache des Volkes auf der Kanzel braucht. Ein Melker meinte einmal nach einer Predigt, die er um der darin enthaltenen Gleichnisse willen gut verstanden hatte, der Prediger müsse früher allweg ein Bauernknecht gewesen sein, daß er das alles so gut wisse. Man denke sich, welche Beleidigung das wäre für einen Mann, der seine regelrechten Studien gemacht hat, wenn man aus seiner Predigt so etwas schließen sollte! Nein, das darf nicht sein, der Prediger muß zur Rettung der pastoralen Würde eine gebildete Kanzelsprache gebrauchen, wenn auch ein ungebildeter Mensch wie Resli darüber verloren geht!

Resli nahm es freilich dem Pfarrer nicht übel, daß seine Predigt ihm über den Kopf hinweggegangen war; denn er beschloß, in Zukunft jeden Sonntag in den Gottesdienst zu gehen, wenn ihm nur der liebe Gott dazu verhelfe, daß er einen Meister finde, der es ihm erlaube. Einen so guten Eindruck hatte der erste Kirchenbesuch auf den Knaben gemacht. Es ist eben nicht bei allen Leuten das, was sie hören oder verstehen, was sie zum Gotteshause zieht, sondern ein geheimnisvolles Etwas macht ihnen diese Stätte lieb, daß sie mit David sagen möchten: "Eins bitte ich vom Herrn, das hätte ich gern, daß ich bleiben möchte im Hause des Herrn mein Leben lang, zu schauen die schönen Gottesdienste des Herrn und seinen Tempel zu besuchen." Und wir glauben, daß dieses geheimnisvolle Etwas nichts anderes als das Gefühl der Gegenwart Gottes ist, das sie an diesem Orte überkömmt. Wie der Erzvater Jakob am ersten Tage seiner Wanderschaft, so verließ auch Resli diese erste Station seiner Reise mit dem Gefühl: "Wie heilig ist diese Stätte, hier ist nichts anderes denn Gottes Haus, hier ist die Pforte des Himmels!" Ja, wie der Vorhof des Himmels erschien dem armen Knaben das liebliche Gotteshaus, wo er nach sechsjährigem Aufenthalt im Heidentum wieder das erste Gebet vernahm. Die Orgel tönte in seinen Ohren wie eine Engelsstimme aus einer unsichtbaren Welt, und als die Gemeinde zum Schluß noch den letzten Vers des Liedes sang:

"Weil denn weder Ziel noch Ende
Sich in Gottes Liebe find`t,
So erheb ich meine Hände
Zu dir, Vater, als dein Kind:
Bitte, wollst mir Gnade geben,
Dich aus aller meiner Macht
Zu umfangen Tag und Nacht
Hier in meinem ganzen Leben,
Bis ich dich nach dieser Zeit
Lob` und lieb` in Ewigkeit" -

- da rollten zwei große Tränen über Resli`s gebräunte Wangen herab, so daß der Sigrist, der neben ihm an der Kirchtüre stand, ihn verwundert ansah und dachte, das hätte er doch nicht geglaubt, daß ein verhudelter Bettelbub einer solchen Rührung fähig sei. Er ahnte eben nicht, daß zwischen einer hartgesottenen Küsterseele und einem armen Hudel unter Umständen ein ebenso großer Unterschied wie zwischen dem Pharisäer und dem Zöllner ist.

Kapitel 6

In die Hölle und wieder heraus

Süßlingen ist das erste Dorf, durch welches die Straße von Griesbach nach der Bezirkshauptstadt führt. Dort lenkte Resli nach dem Gottesdienste seine Schritte hin, denn in diesem Dorf, so hatte ihm die Mutter gesagt, stand sein Bruder bei einem Bauern in Dienst. Resli hatte nämlich noch einen Bruder aus erster Ehe seiner Mutter, der aber schon seit der zweiten Verheiratung der Mutter in der Fremde war. Die Auffindung dieses Bruders bereitete dem Knaben allerdings einige Schwierigkeit. Denn als er beim ersten Hause des Dorfes anklopfte und auf die Frage, was er wolle, erklärte, er suche seinen Bruder Jakob, der bei einem Bauern Namens Christen im Dorfe sei, da gab man ihm zur Antwort, in einem so großen Dorfe gebe es gar viele Knechte, die Jakob hießen und ein "Christen" wohne vollends fast in jedem Haus. "Weißt du nicht, wie man ihm sonst noch sagt?" fragte der alte Mann, der ihm Bescheid gab. Resli antwortete, er glaube, Hube-Christen habe die Mutter gesagt. "Aha", sagte der Alte, "d`Hube, das ist der Berg, den du da drüben siehst, dort in den Häusern, die am Abhang stehen, wird es sein."

Und richtig war es so. Es ging nicht lange, so hatte Resli Hube-Christes Haus gefunden: Der Bruder Jakob stand am Brunnen vor dem Hause und wusch sich das Gesicht. Er pflegte nämlich am Sonntag vor dem Mittagessen seine Toilette zu machen, damit er nach eingenommenem Mittagsmahl zu einem Kehr44 mit seinen Kameraden reisig45 sei. An gewöhnlichen Sonntagen fing bei ihm der Feiertag erst am Nachmittage an, die Feier bestand darin, daß er mit andern jungen Burschen auf einen Spielplatz, ins Wirtshaus oder zum Tanze ging. Die Predigt besuchte er nur, wenn`s "heilig" war, und das war es eben heute nicht; darum wusch er sein Gesicht erst jetzt.

Als Resli sich ihm als sein jüngster Bruder zu erkennen gab, war Jakob nicht gerade so gerührt wie einst Joseph, als er nach langer Trennung seinen Bruder Benjamin wiedersah. Er weinte nicht, er fiel ihm auch nicht um den Hals, sondern blieb ungefähr ebenso kalt wie der Lumpen, mit dem er sich wusch. Ohne sich in seinem Sonntagsgeschäft stören zu lassen, zog er den Kamm aus der Tasche und strich sich das Haar zurecht, wobei ihm der Brunnentrog, aus dem er sich soeben gewaschen hatte, nun als Spiegel diente. Nachdem er mit diesem ersten Teil seiner Toilette fertig geworden war, durfte Resli mit ihm ins Gaden46 hinaufgehen. Während der Bruder sich dort vollends in seinen Sonntagsstaat steckte, faßte Resli sich ein Herz und trug ihm sein Anliegen vor. Er möchte gerne einen Platz suchen hier herum, ob er ihm dazu nicht wolle behilflich sein.

"Ich will mit dem Meister reden," sagte Jakob, "vielleicht behält er dich, bis der Heuet47 und die Ernte vorüber ist, aber ob er dich auch über den Winter behalten wird, das bezweifle ich."

Der Meister war nicht abgeneigt, über die arbeitsreiche Zeit einen solchen Buben im Hause zu haben, dem er keinen Lohn zu geben brauchte. Dagegen machte er ein bedenkliches Gesicht zu Resli`s Bitte, er möchte ihn doch behalten bis zur Konfirmation, und sagte mit ernster Miene, es sei nicht der Brauch, daß man solche ohne Kostgeld habe, die noch in die Unterweisung müßten.

Resli ging aber tüchtig an die Arbeit; des harten Joches nicht ungewohnt, unterzog er sich willig allen Aufgaben, die Meister, Knecht und Magd ihm stellten. So erwarb er sich des Meisters Zufriedenheit, und als der Herbst kam, konnte er ohne Bangen dem Winter entgegensehen, denn er hatte sich in der Haushaltung unentbehrlich gemacht.

Als der Winterkurs begann, meldete sich Resli für die Unterweisung an. Diese durfte er regelmäßig besuchen, hie und da fiel sogar noch ein halber Tag für die Schule ab. Allein der Knabe war doch so sehr von der häuslichen Arbeit in Anspruch genommen, daß seine Gedanken nur mit Mühe sich in geistliche Dinge schicken wollten. Er fand sich für alles Göttliche leer, ja wie tot. Hie und da beweinte er diesen seinen Zustand, und schämte sich, wenn er in der Unterweisung dem Pfarrer die Antwort schuldig blieb, aber da er zu Hause so gar keine geistige Anregung fand - eine Mutter, die sich seiner in dieser Hinsicht angenommen hätte, fehlte nämlich in dem Haus, da der Meister unverheiratet war - , so gab es keine nachhaltige Besserung. Im Gegenteil, sein Bruder führte ihn, je älter er ward, noch desto tiefer hinab, so auch die Magd; Tanz, Wirtshaus, Kiltgang48 waren ihr Element, diesen drei Götzen opferte der Bruder seinen ganzen Verdienst, dem armen Resli hat er während der ganzen Zeit ihres Zusammenlebens nie einen Kreuzer für ein Stück Kleidung geschenkt.

So ging es fort bis zum zweiten Winter, den Resli dort verlebte. Da machte er kurz vor Weihnachten den Knoden49 aus, indem er sich den rechten Fuß übertrat. Die Sache wurde als unbedeutend angesehen, doch, da Resli über heftige Schmerzen klagte und nicht mehr gehen konnte, trug man ihn in seine Schlafkammer und brachte ihm ein wenig Branntwein, um Aufschläge damit zu machen. Es war ein kalter, strenger Winter, die Wände in Resli`s Kammer sahen wie verzuckert aus. Der Fuß, der nicht eingerichtet und warm genug gehalten war, fing an zu schwellen, es kam der Brand dazu und die Schmerzen erreichten einen solchen Grad, daß der Knabe den Verstand verlor.

In diesem fieberhaften Zustand kam es ihm vor, als würden ihm die Hände über dem Kopf zusammengebunden, und er an Ketten über dem höllischen Feuer aufgehängt. Da standen teuflische Gestalten und begrinsten ihn mit gräßlichem Blick. Zuerst ließen sie ihm die Füße abbrennen, dann den Leib; das Feuer ergriff die Arme und endlich auch den Kopf. Diese schreckliche Prozedur wiederholte sich immer wieder, und dem armen Knaben war`s, als sei dieser Ort der Qual für immer sein Bestimmungsort. Er kam sich vor wie der reiche Mann im Evangelium; obschon im Delirium, konnte er sich genau an diese Geschichte erinnern, die er auswendig gelernt, und sah deren einzelne Züge deutlich und klar an sich verwirklicht. Hier war kein Erbarmen; die Gestalten, die er sah, hatten ihre Augen auf ihn geheftet, ein schreckliches Entsetzen erfaßte den armen Knaben, er wollte fliehen, wenn sie sich ihm näherten, und konnte nicht.

Während dieser Schreckensnacht befand sich Resli ganz allein. Der Bruder, der sonst die Schlafkammer mit ihm teilte, war zu Besuch gegangen. Gegen Morgen machte die Fieberhitze des hilflosen Kranken einem kalten Schauder Platz, und unter Zähneklappern dachte Resli an die Schrecken der Nacht zurück. Endlich kam der Meister und brachte ihm das Frühstück. Der Knabe aber konnte nur einen Schluck Kaffee zu sich nehmen, dann sank er wieder in eine Ohnmacht zurück, aus der ihn erst am späten Vormittag ein Ruf erweckte.

"Der Doktor geht durch die Straße," rief in der Küche drunten die Magd.

"So ruf` ihn zueche50, meinetwegen!" antwortete der Meister aus dem Futtertenn.

Ohne dieses glückliche Ereignis, daß der Doktor gerade zufällig durch die Straße ging, hätte Resli noch lange rebeln51 können, es wäre niemandem in den Sinn gekommen, für ihn zum Arzt zu gehen, oder gar diesen rufen zu lassen; war doch Griesbach, wo er wohnte, eine ganze Viertelstunde von Süßlingen entfernt; man hätte dem Doktor ja den Gang extra vergüten müssen! Das konnte man doch nicht tun für einen Buben, der gar kein Kostgeld bezahlte, für eine Kuh hätte man`s schon getan.

Der Doktor kam ins Zimmer. Als er den Fuß sah, ward er aufgeregt. "Das ist eine schöne Geschichte", sagte er, "Ihr hättet mich gleich nach der Tat sollen rufen lassen, so könnte der Bub jetzt schon wieder laufen; jetzt weiß man nicht, was daraus werden kann!"

Unter heftigen Schmerzen, bei denen Resli laut aufschrie, wurde ihm nun endlich der Fuß wieder zurecht gemacht. Der freundliche alte Mann streichelte ihm die Stirn und sprach ihm Mut zu, ehe er weiter ging. Seinen freundlichen Blick hat ihm Resli nie vergessen, der tat ihm noch wohler, als die Salbe, die er nachher noch von ihm erhielt.

Auch der Pfarrer besuchte sein Unterweisungskind einmal. Er brachte aber keinen Balsam mit wie der Arzt, sondern das Gesetz. "Siehst Du," sagte er zu Resli, "Gott läßt das Böse nicht ungestraft." Einen solchen Gott kannte Resli schon von seiner Mutter her. Oft wenn er im Wetter oder im Unglück redete, hatte sie ihre Kinder auf den gerechten Richter aufmerksam gemacht. So sah Resli denn auch nun seine Krankheit als eine gerechte Strafe Gottes an, und der Gedanke an den Zorn Gottes vermehrte seine Höllenangst. Wir glauben nun nicht, daß er sich dabei in einem Irrtum befand, auch tadeln wir den Pfarrer nicht, der ihn in seiner Ansicht bestärkte, denn man soll den Kranken kein Lügenpflaster streichen; allein in der Gemütsverfassung, in der sich der arme Knabe nun einmal befand, hätte er doch noch etwas anderes als nur den Hinweis auf Gottes Strafgerechtigkeit bedurft. In seiner Höllenangst sehnte er sich nach Versöhnung mit Gott, nach Vergebung seiner Sünden und wusste doch nicht, wo sie zu finden sei. Er kannte Gottes Zorn, aber er kannte Gottes Liebe nicht. Er wusste nicht, daß Gott in Christo die Welt mit sich selber versöhnt hat, und der Pfarrer vergaß, wie es scheint, als ein Botschafter an Christi Statt ihm zuzurufen: "Lasset euch versöhnen mit Gott!"

Resli`s Schmerzen nahmen allmählich ab, die Brandwunden von jener Nacht aber schmerzten in seinem Gewissen fort. Wohl hatte ihm die Magd oft gesagt, für alle die Vergehungen und Sünden bis zur Admission52 seien die Eltern und Taufpaten verantwortlich; aber diese kommode Küchen-Theologie erwies sich als unwirksam für ein zerschlagenes Herz. "Was mich reut und schmerzt, das ist mein und sonst niemandes", so dachte der kluge Knabe ganz richtig, und seine innere Unruhe stieg darob immer mehr. In der Hoffnung, Trost zu finden, ließ er sich vom Schulmeister eine Kinderbibel erbitten, da er selbst keine besaß. Mit wahrem Heißhunger las er sie durch, von der Schöpfungsgeschichte bis zu Ende, und fing dann wieder vorne an. Die Geschichte Josephs sprach ihn unter allen am meisten an. Er mußte unwillkürlich das Schicksal dieses Jünglings mit dem seinigen vergleichen. Josephs tiefe Erniedrigung und seine nachmalige Erhöhung erweckten in dem Knaben das Verlangen, ein anderer Mensch zu werden, und die Hoffnung besserer Tage, die er aus dieser Geschichte schöpfte, erheiterte sein Gemüt.

Eines Morgens hörte er durch die dünne Wand seiner Kammer, daß in der Küche die Magd zum Meister sagte: "Wenn du Gesponnenes haben willst, so mußt du eine Spinnerin anstellen. Der Bub hilft mir ja nichts mehr, und wer weiß, ob er nicht ein Krüppel bleibt."

"Ja, ja", sagte der Meister, "die Haushaltung wird immer größer, ich will Anstalt treffen, ihn in seine Heimatgemeinde zu verbringen."

Diesem Gespräch hatte Resli mit verhaltenem Atem zugehorcht. Er klopfte an der Wand, der Meister kam herauf. Der Knabe bat ihn unter Schluchzen, er möchte ihn doch um Gottes willen behalten und ihn nicht wieder auf die Gemeinde bringen. "Und was das Spinnen anbetrifft", sagte er, "so braucht Ihr dafür niemand anzustellen, ich habe es auch gelernt."

"Du Dummkopf," sagte der Meister, "du kannst ja den rechten Fuß nicht brauchen."

"So probier ich`s mit dem linken, macht mir nur ein Rad zurecht."

Dies wurde eiligst getan. Der Knabe raffte alle seine Kräfte zusammen und kroch auf Händen und Füßen in die Stube hinunter. Da hat sich das Wort an ihm erfüllt: So ein Glied leidet, so leiden alle Glieder mit. Jetzt erst fühlte er, wie sehr ihn die Krankheit geschwächt. Doch er nahm sich zusammen, verbiß den Schmerz, setzte sich auf den Stuhl, tat den kranken Fuß in das Radgestell neben die Drehscheibe hin und trieb mit dem linken das Rad. Und siehe da, der Herr half ihm, es ging alles gut, und seine Arbeit fiel zur Zufriedenheit aus.

Jetzt waren also Resli`s Hände und Augen auf die Kunkel53 gerichtet vom frühen Morgen bis in die späte Nacht hinein. Das war aber eine Aufgabe für einen wilden, flüchtigen Buben, wie er einer war, anderthalb Monate lang an den Stuhl gebunden zu sein. Doch der Herr schenkte ihm ein Auge, das nicht nur in die Kunkel hineinschaute, sondern auch in das Herz. Sein ganzes Leben zog an ihm vorüber, während er den endlosen Faden drehte. Er sah, wie er der Mutter einmal einen Batzen gestohlen hatte und wie er, zur Rede gestellt, es leugnete; wie er ein andermal Früchte von den Bäumen des Nachbars riß und noch dazu die Bäume verderbte. Dazu kamen ihm die Flüche in den Sinn, die er in früheren Jahren gelernt, daß er mit dem Propheten Jesaja hätte ausrufen mögen: "Wehe mir, ich vergehe, denn ich bin unreiner Lippen!" Ja, es wachten ihm hundert und tausend Sachen auf, die ihm Not und Kummer bereiteten. Da flossen viele Tränen der Reue, daß Resli froh war, den Kopf hinter der Kunkel zu verbergen, damit es niemand sehe. Die Schuld war unaussprechlich groß und reute ihn von Herzen. Bürge und Mittler kannte er keinen, hatte nichts, gar nichts, womit er hätte bezahlen können. Die Hölle stand ihm offen; dort war er gewesen, dorthin wollte er nicht; das gab schwere Stunden.

Aber eine väterliche Hand waltete über dem Knaben, nur erkannte er sie noch nicht. Wie nach einem langen, kalten Winter die hellen, warmen Tage den Frühling ankünden, so sandte der liebe Gott Hoffnungsstrahlen in Resli`s Dunkelheit. Es war in den letzten Tagen des Januar, als ein fremder Mann ins Zimmer trat. Er sah den jugendlichen Spinner und dessen blasse, eingefallene Wangen mit großen Augen an. Auf die Frage, was dem Knaben fehle, erzählte ihm der Meister von Resli`s Mißgeschick und fügte zuletzt noch hinzu, er glaube nicht, daß der Knabe je wieder ohne Kücken gehen könne. Resli traten bei diesen trostlosen Worten die hellen Tränen in die Augen. Der Mann aber trat näher zu ihm, klopfte ihm auf die Achsel und sagte mit freundlicher Miene: "Weine nicht, sei gutes Mutes! Die Sonne kommt immer mehr, die Tage werden wärmer; wenn dein Fuß einmal vom Sonnenschein recht durchwärmt ist, kannst du wieder laufen."

Dieses freundliche Wort tat dem armen Kranken unendlich wohl und heiterte ihn auf. Doch mußte er noch zwei Wochen warten, bis es sich zu erfüllen begann. Aber siehe da, Mitte Februar taute es auf, schöne heitere Tage stellten sich ein, die Sonne schien warm durch die Fenster; nicht nur der schlafende und empfindungslose Fuß, sondern der ganze Mensch wurde durch und durch erwärmt, und bald konnte Resli die ersten Schritte machen, wenn es auch anfangs sehr mühsam von statten ging.

Sein erster Ausgang war nach Griesbach ins Pfarrhaus. Aber wie wirst du deine Sachen vorbringen und mit dem Pfarrer sprechen, und was wird er sagen zu deinem Begehren? Diese Gedanken beschäftigten ihn unterwegs. Er wünschte nämlich auf Ostern konfirmiert zu werden und mußte nun fürchten, weil er krankheitshalber die Unterweisung so lange versäumt, werde er um ein Jahr zurückgestellt. Diese Aussicht machte ihm großen Kummer, denn wenn er jetzt nicht konfirmiert wurde, so sah er sich seinem Elend noch länger preisgegeben; andernfalls aber hätte er nun, da sein Bruder zu Weihnachten das Haus verlassen hatte, dessen Stelle als Knecht einnehmen können, wenn es, wie er zuversichtlich hoffte, mit dem Fuß immer besser ging.

Beim Pfarrhaus angekommen, klopfte Resli mit Zittern an; sein Herz klopfte auch. Der Pfarrer trat unter die Tür, grüßte freundlich und drückte seine Verwunderung über Resli`s Kommen aus. "Ich hätte nicht geglaubt", sagte er, "daß du so bald wieder laufen könntest." - "Es ist lange genug gegangen;" antwortete Resli, "und ich bin so lange nicht mehr in die Unterweisung gekommen, daß ich fürchte, Ihr erlaubet mir auf Ostern nicht."

"Du hast freilich eine große Lücke im Unterricht", bemerkte der Pfarrer, "aber jetzt kommen wir in die Passion, das ist die Hauptsache. Komm fleißig und paß gut auf, will sehen wie es geht."

Fröhlich ging Resli mit diesem Bescheid dem Schulhaus zu, wo gerade die Unterweisungsstunde begann, der Pfarrer hinter ihm her.

"Passion", wiederholte der Knabe vor sich hin, "was ist Passion?" Doch als der Pfarrer den Unterricht begann, machte er die Einleitung in die Leidensgeschichte. Jetzt wusste Resli, was es war, aber nicht nur das, er war auch Aug` und Ohr` dafür. Von diesem Tage an besuchte er mit Verlangen und hungerndem Herzen den Unterricht und konnte es allemal kaum erwarten, bis die Stunde wieder kam. Es sollte sich nämlich etwas lösen, was er wusste, aber nicht verstand. Resli war im Lesen der Kinderbibel während seiner Krankheit bis zu der Geschichte Jesu in Gethsemane und auf Golgatha gekommen. Diese Geschichte wusste er auswendig, denn er hatte sie wohl zwanzigmal gelesen, aber wie jetzt, las er sie vordem nie. Ein Liebeszug durchzog sein Herz und zog ihn hin zu Dem, der in Gethsemane auf den Knieen lag, das Angesicht mit blutigem Schweiß bedeckt. Und wie er sah, daß Jesus auf Golgatha sein Haupt zum Sterben neigte, so tat Resli wie ein Kind und gab Ihm dafür heiße Tränen, denn sein Alles drehte sich um diesen Mann. Der Unterricht von Gethsemane bis Golgatha wurde so erteilt, daß Resli den Sohn Gottes deutlich als den Erlöser und Heiland der Welt erkannte; daß Jesus aber für einen Solchen gekommen sei, wie er einer war, das glaubte er noch nicht. Seine Person, zumal in der Kleidertracht, wie er sie trug, kam ihm gar zu verächtlich vor, und dazu schleppte er sich mit einem Bündlein, das immer schwerer wurde. Aber doch lernte Resli dem treuen Vater im Himmel dafür danken, daß Er ihm seinen Fuß zerschlagen hatte, denn so konnte er auf dem Heimweg aus der Unterweisungsstunde mit seinen Kameraden nicht Schritt halten und blieb dabei vor ihren Possen54 verschont, konnte unterwegs ungestört über das Gehörte nachdenken und an seinem Bündlein zopfen55, das immer größer und schwerer wurde. Er mengte seinen Unterricht darein, so gut er`s verstand, aber etwas fehlte ihm immer noch.

Es kam der letzte Unterweisungstag, der alte Pfarrer war diesmal ernster als je. Er redete seine Schüler an: "Kinder, ich habe euch vorgelegt Segen und Fluch, Leben und Tod; ihr könnet euch wählen, was ihr wollt. Ich stehe mit euch am Scheideweg; der breite und der schmale Weg liegen vor euch, ihr kennt sie beide, ihr wißt wo sie hinführen. Kinder, so wie wir jetzt da vor Gottes Angesicht stehen, werden wir einst vor Gottes Richterstuhl erscheinen müssen; wenn eines von euch verloren geht, so bin ich rein von euer aller Blut."

Er tat wie Pilatus, nahm Wasser und wusch seine Hände in Unschuld vor ihnen allen. Auf Resli machte das einen großen Eindruck. "Ach, wenn ich doch so fromm und heilig wäre wie der Pfarrer," dachte er; "aber ich bin ein gar zu großer Sünder, wer weiß, ob ich zum ewigen Leben erwählet bin?"

Der Palmsonntag kam. Die Eltern gingen mit den Kindern zur Kirche, Resli hinkte seine Straße allein, niemand begleitete ihn. Dennoch war er fröhlich, trug er doch einmal ein sauberes Kleid, das ihm der Meister hatte machen lassen zur Belohnung für seinen bald zweijährigen Dienst. Der Knabe pflasterte seinen Weg zur Kirche mit guten Vorsätzen und dachte, was nun wohl aus ihm werden sollte.

Vor dem Pfarrhaus sammelten sich die Konfirmanden und warteten auf den Pfarrer. Als die Stunde gekommen war, erschien der ehrwürdige Geistliche mit ernstem Blick. Die große Schar der Unterweisungskinder, welche die ausgedehnte Gemeinde zu der feierlichen Handlung entsendet hatte, bewegte sich hinter ihrem Hirten her unter dem Geläute aller Glocken in das Gotteshaus. Die Kirche war zum Erdrücken voll.

Der feierliche Moment erregte in Resli`s Herzen eine unaussprechliche Bangigkeit. Was war es, das ihm so bange machte? An die Prüfung dachte er nicht, die machte ihm nicht angst; was er zu antworten hatte, das wusste er auswendig. Aber ein Lebensabschnitt lag hinter ihm, von dem er mit dem Erzvater Jakob hätte sagen können: "Wenig und böse ist die Zeit meiner Pilgrimschaft!" Doch ein anderes Gefühl drängte sich ihm auf; er konnte es nicht besser ausdrücken als in den Worten Davids: "Herr, gedenke nicht der Sünden meiner Jugend und meiner Übertretungen!" Vor ihm waren alle guten Vorsätze zusammengebrochen, die er soeben noch gemacht hatte, er kam sich vor wie Israel, als es am Jordan stand.

Der Augenblick kam, wo der Pfarrer Resli`s Namen rief: "Was ist das für einer?" lispelten einige Stimmen auf der Empore. Dort saßen nämlich vorzugsweise die Leute, die eine Konfirmation ungefähr mit derselben Neugierde betrachten wie eine Theatervorstellung. Oder sie benützen diesen Anlaß gar zu einer Musterung. Nach der Konfirmation beginnt nämlich die Rekrutenaushebung, zwar noch nicht für das Militär, dafür sind Neukonfirmierte noch zu jung; dagegen für den Tanzboden sind sie bald alt genug, und nicht selten sehen sich junge Leute schon während der heiligen Handlung nach passenden Partien um.

"Der wird am nächsten Tanzsonntag noch keine großen Sprünge machen", murmelte einer der jungen Burschen zwischen den Zähnen; "er geht ja lahm".

Resli trat vor, kniete vor dem Pfarrer nieder; dieser legte seine Hand auf des Knaben Haupt und sprach:

"Sprich: Freudig will ich meinem Herrn von heute an zu Ehren leben und allem Bösen standhaft wehren! Er verspricht dir, Er wolle dir geben, das wahre, ewige und höchste Gut, wenn du ihm folgest mit Treu und Mut. Wirke Speise, die nicht vergänglich ist, sondern die da bleibet in das ewige Leben."

"Ja", dachte Resli, "das will ich gerne tun; aber wie soll ich`s anfangen?"

Als alle eingesegnet waren, knieten die 63 Konfirmanden um den Altar, das war das erstemal in Resli`s Leben, daß er auf den Knien im Gebete vor Gott lag. Das kniende Beten machte einen gewaltigen Eindruck auf ihn. Er wollte der Bedeutung der Handlung nachkommen, Gott im Geiste und in der Wahrheit anbeten, heucheln wollte er nicht.

Der Pfarrer und die Gemeinde beteten für die Konfirmanden. Auch für Resli stieg aus der Mitte der Versammlung ein inbrünstiges Gebet zu Gott empor. Hinten in der Kirche saß nämlich seine Schwester, die einst zugleich mit ihm verdingt worden war und sich jetzt im benachbarten Kolbiwyl bei christlichen Leuten im Dienste befand. Sie war vier Jahre älter als Resli, hatte ihren Heiland kennen gelernt und saß heute mit einer Freundin hinten in der Kirche. Diese zwei beteten für Resli`s Bekehrung und rangen mit dem Herrn um seine Seele, daß sie Ihm zu seinem Lohn nicht fehle. Davon wusste der Knabe freilich nichts, er hat es erst lange nachher erfahren, aber die Erhörung dieser Gebete erfuhr er noch am selben Tage.

Das ging so. Nach landesüblicher Sitte begaben die Eltern mit den neukonfirmierten Kindern sich von der Kirche weg ins Wirtshaus, vermutlich um diesen gleich praktisch zu zeigen, daß sie nun nicht nur die Erlaubnis zum Tische des Herrn, sondern auch zum Wirtstisch erhalten haben. Sie schienen zu ihren Kindern sagen zu wollen, was diese allerdings nur zu leicht sich selbst schon sagten: "Der Pfarrer hat euch erlaubt, nun ist euch alles erlaubt". Oder wie jener Vater, der nach der Konfirmation zu seinem Sohne sagte: "Nun bist du ein Mann!" und ihm mit diesen Worten eine Tabakspfeife in die Tasche steckte.

Resli hoffte, es werde ihm auch jemand ein Glas Wein bezahlen, aber er sah sich vergeblich nach einer mitleidigen Seele um. Er ging am "Löwen" vorbei und am "Bären". Beide machten zwar ein recht einladendes Gesicht. Der Löwe sperrte seinen Rachen auf, als sollte männiglich hineinspazieren, und der Bär wollte ebenfalls alle in seine Arme schließen. Aber Resli wusste wohl, daß das freundliche Gesicht des Löwen- und des Bärenwirtes weniger den Leuten, als ihren Batzen galt, und solche fanden sich nicht in seinem Besitz. Was blieb ihm also schließlich übrig, als wiederum allein seine Straße zu ziehen, wie er gekommen war?

Wir können aber nicht von ihm schreiben, was Lukas in der Apostelgeschichte von dem Kämmerer aus Mohrenland, daß er seine Straße fröhlich zog. Nein, als er das Dorf hinter sich hatte, machte er seinem gepreßten Herzen in einem Tränenstrome Luft. Er setzte sich unter einen Baum und schlug sein Gesangbuch auf, in der Hoffnung, darin Trost zu finden. Da fielen seine Augen auf das Lied: "O Mensch, beweine deine Sünd, die dich zu einem Höllenkind gemacht schon hier auf Erden!"

"Ja, ja", sagte Resli zu sich selbst, "ein Höllenkind, das bin ich." Er stand auf und ging heim auf sein Zimmer. Ihm war so elend zu Mute, wie noch nie. "So mag ich nicht mehr leben," seufzte er und warf sich schluchzend auf sein Lager.

Da mit einem Mal fing es an, Licht zu werden in seinem Herzen. Ihm war es, als trete der Heiland zu ihm hin, und rufe ihm zu: "Kommet her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid, ich will euch erquicken!" Dieses Wort ging wie ein heiliger Schauder durch sein zerschlagenes Gebein. "Aber darf ein Solcher auch kommen, wie ich einer bin?" fragte er. "Wer da will, der komme und nehme das Wasser des Lebens umsonst!" hieß es wiederum. Resli warf sich auf seine Kniee nieder und fragte mit vor Freude zitterndem Herzen: "Bist Du der Heiland in Gethsemane und auf Golgatha auch mein Heiland?" Wie von vieler Munde begleitet ertönte auf diese Frage in seinem Herzen ein beseligendes Ja. Es ward ihm zu Mute, wie Petrus, als er ausrief: "Herr, gehe von mir hinaus, denn ich bin ein sündiger Mensch!" Aber der Herr ging nicht von ihm hinaus, sondern handelte so mit ihm, wie Resli seine damalige Erfahrung hernachmals in die Worte des Dichters zusammengefaßt hat:

Ich fiel zu Seinen Füßen, Bekannte meine Schuld,
Er sah die Tränen fließen Und schenkt` mir Seine Huld.
Sein großes Liebserbarmen Wandt Er mir freundlich zu.
Ich fand in Seinen Armen Des Himmels sel`ge Ruh!

War nun Resli zu bedauern, daß an jenem Nachmittage niemand ihn zu einem Glase Wein einlud? Wäre wohl im Wirtshaus die Einladung des Herrn auch an sein Ohr gedrungen, die er hier in der stillen Kammer vernahm? Nein, und er wäre auch nicht aus der Hölle herausgekommen, in die er hineingeraten war, denn aller Wein der Löwen- und Bärenwirte der ganzen Welt vermag der Hölle Glut nicht auszulöschen, wenn sie in einem Herzen brennt. Aber Jesu Liebe und Sein vergossenes Blut heilte an jenem Nachmittage in der stillen Kammer die Brandwunden, die seit jener Schreckensnacht in Resli`s Gewissen geeitert hatten, und der Herr, der ihn in die Hölle geführt, führte ihn wieder heraus.

Kapitel 7

Am Maimärit56 auf dem Tanzboden

Als Resli durch Gottes Gnade aus seinem Sündenschlaf erwachte, wurde in ihm zugleich eine Sehnsucht nach der Gemeinschaft mit Kindern Gottes und nach der Erbauung aus Gottes Wort geweckt. Dies war ein Beweis, daß sein Glaubensleben aus Gott geboren war; denn ein Wiedergeborener ist begierig nach der lautern Milch des Wortes Gottes wie ein neugeborenes Kind nach der Muttermilch, und wer von Gott geboren ist, der hat Gottes Kinder lieb. Nur schade, daß dieses Dürsten Resli`s so wenig Befriedigung fand. Hube Christen und seine Magd waren nicht besonders geistlich gesinnt. Von Hausgottesdienst war natürlich keine Rede. Ein kleiner Knabe, der im Hause verkostgeldet war, leierte bei den Mahlzeiten die üblichen Tischgebete her. Diese Gebetlein schlossen zwar regelmäßig mit der Bitte an den himmlischen Vater: "Er wolle uns speisen mit seinem kräftigen Wort, daß wir satt werden hier und dort"; aber trotz dieses Gebetes ließ man die Bibel ruhig stehen hinter dem Tisch; das alte ehrwürdige Buch mit seinen Holzdeckeln kam Resli vor wie die Bundeslade unter den Philistern. Meister und Magd gingen zwar am Sonntag fleißig in die Kirche, um bei dieser Gelegenheit im Dorf für die Woche Einkäufe zu machen; die Magd vergaß eher das Gesangbuch als das Salzsäcklein, denn die Salzbütte57 stand beim Krämer nächst der Kirche, Salzholen und z`Predigtgehen ging also in einem zu. Resli mußte unterdessen für das Vieh das Gras ins Futtertenn machen, so daß er sehr selten zur Predigt kam, er besuchte dafür noch aus alter Anhänglichkeit alle 14 Tage die Kinderlehre, war aber gewöhnlich so müde und matt von der vielen Arbeit, daß ihm die Augen zufielen, ehe er nur recht abgesessen war.

Seit der Konfirmation war er nämlich nun zum Knecht avanciert, der Meister hatte ihn um eine Bern-Krone per Monat gedungen, was 25 Batzen machte. Um diesen Lohn arbeitete Resli von Morgens früh bis Abends spät, das Bauernwesen war groß, die Arbeit schwer, der junge Knecht war oft so müde, daß er Abends mit geschlossenen Augen seine Kleider auszog und sich am Morgen noch ganz schlaftrunken wieder ankleiden mußte, denn von Ausschlafen konnte da keine Rede sein. Er hatte aber trotzdem Mut und Freudigkeit zur Arbeit, er wollte zeigen, daß ein Christ etwas leisten könne, arbeitete nicht um des Lohnes willen, noch um den Menschen zu gefallen, sondern dem Herrn und suchte zu tun, was vor Ihm gefällig war. Doch stund er in diesem Bestreben recht vereinsamt da. Christliche Jünglingsvereine gab es damals in der Gegend nicht; wohl war im Nachbardorf ein Haus, wo sich von Zeit zu Zeit etliche ältere Leute versammelten, aber man sagte viel unlautere Sachen über sie, mit wie viel Recht, konnte Resli nicht untersuchen, aber was er hörte, nahm ihm die Lust, nähere Bekanntschaft mit ihnen zu suchen. Weil er denn niemand kannte, dem er seinen Herzenszustand hätte offenbaren dürfen, so zog er sich zurück, was ihm zwar von Seite der Dorfjugend Spott- und Schimpfnamen zuzog, ihn jedoch wenig störte. Seine Sonntagnachmittage brachte er mit Lesen zu. Die Geschichten der Kinderbibel waren ihm immer wieder neu, am liebsten verweilte er immer noch bei der Leidensgeschichte und aus Gellert`s Liedern schöpfte er Rat und Trost. Auch die große Bibel nahm er hie und da hinter dem Tisch hervor, allein er kam sich beim Lesen darin vor wie der Kämmerer aus Mohrenland, nur mit dem Unterschied, daß zu ihm kein Philippus trat, der ihm das Gelesene erklärte. Er hätte nun freilich dafür zum Pfarrer gehen können, eine gewisse Anhänglichkeit an ihn war ihm auch von der Unterweisung her geblieben, aber er fürchtete, es könnte ihm gehen wie jener Frau vom Reckholderberg, die vor kurzem in ihrer Seelennot ins Pfarrhaus heruntergekommen war, um Trost zu finden. Dieser hatte der Pfarrer geantwortet, als sie ihm ihr Anliegen vortrug, und von ihren Anfechtungen erzählte: "Du gehörst nicht hierher, du gehörst ins Irrenhaus!"

Am ersten Mittwoch im Mai war im benachbarten Städtchen regelmäßig ein großer Markt. An solchen Tagen geben die Meistersleute ihren Dienstboten frei. Auch Resli erhielt die Erlaubnis zu einem Besuch in der Stadt. Er hatte sich längst auf den Maimärit gefreut. Wußte er doch, daß an diesem Tage die Kurzenwyler auf den Markt zu kommen pflegten, und unter diesen, so hoffte er zuversichtlich, werde auch seine liebe Mutter sein. Seitdem er bei dem jetzigen Meister war, hatte er sie nicht mehr gesehen. Wie viel hatte er ihr zu erzählen und wie mußte sie sich freuen, zu vernehmen, daß er nun aus einem verschupften58 Güterbub ein anständiger Bauernknecht geworden sei mit 6 Kühen, 2 Gusti, einem Kalb und sogar noch einem Pferd unter seinem Regiment! Aber noch mehr trieb es ihn zur Mutter, weil er hoffte, ihr einmal das Herz ausschütten zu können; denn wie manches war ihm seit seiner Erweckung aufgewacht, was er gerne jemand bekannt hätte, aber er wusste nicht wem.

Die Märkte sind für das Landvolk ein beliebtes Rendezvous. Hier trifft man einander ganz ungsinnet59 und gleichsam zufällig an, und doch steckt dahinter gewöhnlich eine stillschweigende Übereinkunft. Man geht auf den Markt, scheinbar aus einem ganz gleichgültigen Grund, etwa um zu erfahren, was die Schweine gelten, in Wahrheit aber um jemand zu treffen, den man sonst nicht ohne Aufsehen zu erregen hätte sprechen können. Die Leute haben darum jeder sein bestimmtes Absteigequartier, wo, wer sie finden will, weiß, daß er sie treffen kann. Auch Resli`s Mutter hatte ihr Stelldichein; wenn sie zu Markte ging, kehrte sie regelmäßig im Kaffeestübli unter dem alten Schwibbogen60 ein, denn sie sagte, der Kaffee tue ihr besser als der Wein.

Mit dem Gedanken an die Mutter im Herzen drängte sich Resli durch das Marktgewühl. Das bewußte Kaffeestübli lag am andern Ende der Stadt. Zuerst kam man auf den Viehmarkt. Er war gut befahren an diesem Tag. So viel Kühe hatte Resli noch nie bei einander gesehen; die stattlichen Reihen, in denen sie zu beiden Seiten der Straße aufgestellt waren, machten einen großartigen Eindruck auf den jungen Bauernknecht. Unwillkürlich fing er an zu überschlagen, was wohl dieses oder jenes Prachtstück gelten möchte. Die Händler waren heute besonders gut gelaunt, denn es war große Nachfrage nach guten Milchkühen und der Preis infolge dessen ziemlich hoch. Der milde Frühling versprach einen reichlichen Heuvorrat, und die Käse hatten heraufgemacht61, deshalb wünschte jeder Bauer so viel Vieh wie möglich in seinem Stalle zu haben. Auch Resli hätte gerne Eine mehr heimgeführt, ungeachtet der vermehrten Mühe, die ihm das gebracht hätte, denn ein Knecht kömmt sich um so wichtiger vor, je größer die Zahl seiner Pflegebefohlenen ist. Warum sollte er auch nicht? Ein Pfarrer gilt ja auch um so mehr, je größer seine Herde ist, und ein Lehrer ist stolz auf eine große Kinderschar. Bauernknecht, Lehrer und Pfarrer sind aber alle aus dem gleichen Stoff gemacht und haben alle von ihrem Stammvater den Wunsch, etwas zu sein, geerbt. Dazu kommt, daß ein richtiger Melker sich eine Ehre daraus macht, womöglich am meisten Milch in die Käserei zu liefern, Grund genug, daß in mancher Haushaltung Hausfrau und Melker mit einander auf Kriegsfuß leben, weil letzterer nicht genug Milch in die Küche liefern will. Es soll auch schon vorgekommen sein, daß ein ehrgeiziger Melker seine Milch mit Wasser vervielfältigt hat, um in der Käserei der erste zu sein.

Durch eine Seitengasse gelangte Resli vom Viehmarkt auf den Rathausplatz. Hier stand Bude an Bude gedrängt. Zwischendurch wanden sich die Marktbesucher, oder umlagerten die Stände wie ein Bienenschwarm das Bienenhaus. Resli mußte Achtung geben zu seinen Augen, nicht nur, weil es hier so viel zu sehen gab, sondern auch weil die Mannen die Gewohnheit hatten, mit dem Stecken unter dem Arme dazustehen und die Buden zu betrachten. "Oho", sagte einer, als Resli sich beinahe ein Auge ausgestochen hätte an der Spitze seines Steckens, den er hinten hinausstreckte, "ich habe keine Augen am Rücken, du mußt halt ein andermal besser Achtung geben." Resli war ganz erstaunt über den Reichtum an Sachen, den so ein Markt in seinem Schoße birgt. Zu Hause hatte doch der Krämer wahrlich auch aller Gattung feil, allein hier sah Resli von der Sorte ganze Buden voll. Da hing ein Stand voller Kappen, sie hätten für die Mannschaft von ganz Süßlingen hingereicht, dort war ein ganzer Berg von Schuhen auf einem Tisch aufgehäuft, kurz für alles, was man nur wünschen konnte, war hier gesorgt. Resli hätte auch eine Kappe und ein Paar Schuhe brauchen können, aber dazu langten die zehn Batzen nicht, die ihm der Meister als Anzahlung an den versprochenen Lohn mitgegeben hatte. Zudem hatte er mit dem Geld etwas anderes im Sinn. Er wollte die Mutter nicht sehen, ohne ihr etwas zu kramen; ein halbes Pfund Kaffee und ein viertel Pfund Zucker war aber nicht zu viel, und mit dem, was das kostete, ging seine Barschaft beinahe auf, es blieb gerade noch so viel übrig, daß er im Kaffeestübli etwas genießen konnte.

Nachdem er seine wenigen Einkäufe gemacht, schritt Resli dem Kaffeestübli zu, es war um 11 Uhr, wo sich der Appetit regt; ihn dünkte, er möge etwas, und wie es scheint, die Mutter auch, denn als er eintrat, saß sie schon dort. "Bist du`s?" sagte die Mutter zu ihrem Buben, als sie ihn auf sich zukommen sah. "Eh wie lange habe ich dich nicht mehr gesehen und nichts mehr von dir gehört. Du wirst auf Ostern admittiert62 worden sein und hast jetzt einen guten Platz, daß du schon vermagst z`Märit zu gehen?" "Selb nit, Mutter", sagte Resli, "es mag sich noch nicht vertragen mit meinem Lohn, daß ich der Lustbarkeit nachfahren würde; aber der Meister hat mir den Tag frei gegeben, und da habe ich gedacht, ich wolle in die Stadt gehen, ich treffe vielleicht Bekannte an." "Du wirst etwas nötig haben, daß du gekommen bist?" fragte die Mutter. "Aparti nit" 63, sagte Resli, "aber ich hätte da einen Kram für Euch, und dann," fügte er zögernd hinzu, indem ihm zwei Tränen die Augen feuchteten, "hätte ich schon lange gerne wieder einmal mit Euch b`richtet, denn ich habe niemand, dem ich das Herz leeren kann." - "Wirst zu klagen haben über deinen Meister," meinte die Mutter, der das Herz von dem Kram und den Tränen ihres Sohnes schon weiter ward, "er wird ein wüster sein?" - "Ich wüßte nicht, was ich über den zu klagen hätte, arbeiten muß man überall, und er hat mich ja auch um der Gottswillen aufgenommen, als ich noch ein Knabe war, und hat mich während meiner langen Krankheit nicht fortgeschickt. Nein, ich habe nicht Ursach, andern etwas nachzutragen, ich trage an meiner Last schwer genug." Die Mutter sah ihren Resli bei diesen Worten mit großen Augen an. "Du wirst öppe64 nit ..." sagte sie. "Ja Mutter", antwortete Resli und zwei schwere Tränen rollten über seine Wangen in die Kaffeetasse hinunter, "ich bin ein großer Sünder, glaubt mir`s nur." Die Mutter sah noch erschrockener aus. "Um Gotteswillen, Resli", rief sie aus, "du wirst doch nicht sturm65 geworden sein, oder hast du denn etwas Böses gemacht?" "Ach Mutter", sagte Resli, "ein Verbrechen habe ich zwar keins begangen, aber trotzdem machen mir meine vielen Sünden, die ich von Jugend auf getan, oftmals schwer. Wohl glaube ich, daß der Heiland auch für mich gestorben ist und mir alles vergibt, aber es ist mir in letzter Zeit so vieles aufgewacht, daß ich nicht anders kann, als Euch bekennen, was ich für ein großer Sünder bin." Bei diesen Worten brach er in helle Tränen aus. "Du mußt`s nicht so schwer nehmen," sagte die Mutter, "alle Menschen sind Sünder, tu` wie die andern, hüte dich vor groben und schweren Sünden; daneben mach` dich lustig, so lang du jung bist."

Resli war betrübt, daß er bei der Mutter nicht mehr Verständnis für seinen Herzenszustand fand. Unter diesen Umständen hielt er es für besser, das Weitere für sich zu behalten und nahm daher bald mit schwerem Herzen Abschied von ihr. Er machte sich aus dem Marktgewühl der Stadt, um wieder nach Hause in seine stille Kammer zurückzukehren und seinem gepreßten Herzen Luft zu machen in Gottes schöner Natur. Es war ein prächtiger Maientag. Die Erde war mit frischem Grün bedeckt, die Bäume prangten in ihrem Blütenschmuck, und über den Bergen lag wie ein Schleier vom feinsten Stoff jener wunderbare blaue Duft, wie ihn nur die Maiensonne unter einem wolkenlosen Himmel hervorzaubern kann. Auf dem hohen Felsengrat dort drüben glänzte noch der Frühlingsschnee und nahm sich auf dem Haupt der bräutlich geschmückten Erde aus wie ein Myrtenkranz. Der herrliche Anblick goß wonnesame Empfindungen in Resli`s Brust; er fühlte sich hingezogen zu Dem, der die Erde mit einem so schönen Gewand bekleidet hat. Die Herrlichkeiten des Marktes erschienen ihm dagegen wie der Straßenkot, über den er schritt.

Doch es gibt kein Paradies auf Erden, in welches keine Schlange kommt, und so blieb denn auch Resli`s stille Wonne nicht lange ungestört. Kaum hatte er die Türme der Stadt im Rücken, so holten ihn ein paar junge Burschen ein, die ihn wieder auf den Markt zurückführen wollten. Resli schlug ihre Einladung rundwegs ab, was ihm aber nicht viel nützte, denn nun kamen sie mit ihm. Bald war ein Wirtshaus erreicht, wo Tanzmusik erschallte. "Da kehren wir ein", sagten die jungen Burschen, "da geht es lustig zu, und du, Resli, kommst mit!" Resli weigerte sich; tanzen könne er nicht und trinken möge er nicht, er habe seine Sache schon gehabt und wolle jetzt lieber heimgehen. Da hieß es: "Heute ist Wochentag und Markt, du wirst doch nicht meinen, daß das Tanzen an einem solchen Tag Sünde sei? Komm du nur mit, es ist noch früh, oder willst du ein Sonderling sein?" "Einmal ist keinmal", dachte Resli, "und du willst doch einmal sehen, wie es auf dem Tanzboden zugeht." Was ihm den Schritt über die Schwelle des Wirtshauses besonders erleichterte, war die Musik, die da drinnen ertönte; alle Musik hatte einen eigentümlichen Reiz für ihn.

Die Tanzgesellschaft war nicht so groß, wie man nach dem Lärm hätte schließen können. Resli wurde aufgefordert mitzumachen, er willigte ein, aber zum Vollbringen kam es nicht; er blieb festgewurzelt stehen, wo er stund. Eine unsichtbare Hand hielt ihn zurück. Zugleich lagerte sich tiefe Finsternis über sein Gemüt, ein unheimliches Gefühl kam über ihn; es sei ihm unwohl, sagte er und verließ den Saal. Er hoffte nun den Heimweg allein machen zu können, aber es ging nicht lange, so hatten ihn die Kameraden wieder eingeholt. Resli merkte aus ihren Gesprächen wohl, worauf es abgesehen sei, nämlich, ihn auf die schlüpfrigen Wege zu führen, die sie bereits betreten hatten, denn sie sprachen ziemlich unverhohlen von ihren Plänen für die kommende Nacht. In Resli`s Herzen entspann sich ein schwerer Kampf; das Fleisch stritt wider den Geist und der Geist wider das Fleisch. Es kam ein Augenblick, wo er sich entscheiden mußte; ein Fußweg führte ihn stracks der Heimat zu, ein anderer Weg an den Ort, den sich die Kiltbuben66 zu ihren Werken der Finsternis und des Fleisches ausersehen hatten. Einer der Burschen riß ihm den Hut vom Kopf und sagte lachend: "Komm, lauf ihm nach, wenn du ihn haben willst!" Resli mußte unwillkürlich an Joseph denken, der, um seine Keuschheit zu retten, das Kleid fahren ließ. "Wie sollte ich ein solch` großes Übel tun und wider Gott sündigen?" hieß es in seiner Brust und damit schlug er den Fußweg ein und langte unbehelligt ohne Hut zu Hause an, wo schon alles im Schlummer lag. In seiner Kammer war es finster, in seinem Herzen auch, Feuerzeug hatte er keins, beten wollte er und konnte nicht. Es kam ihm vor, als ob das Gnadenlicht durch die Versuchung ausgeblasen sei. Er legte sich nieder, in der Hoffnung, der Schlaf scheuche die unangenehmen Eindrücke des Tages weg. Aber wie er sich auch drehte und wälzte, kein Schlaf wollte in seine Augen kommen, nein, es war ihm, als ob die Schlafkammer in einen Tanzsaal verwandelt würde. Es fing an zu geigen in seinen Ohren und geigte mit einer Beharrlichkeit, und wie auch Resli die Ohren mit dem Bettuch verstopfte, es geigte immer zu und immer zu, und die Füße der Tänzer schlugen den Takt dazu auf dem Boden und tanzten und tanzten und tanzten, und wenn ein Walzer fertig war, fing ohne Pause ein anderer an. Es schlug elf, es schlug zwölf, zwei und drei, und Resli`s Ohren waren noch immer voller Geigen und Tänze und seine Augen voller Schlaf, und der Schlaf floh doch von ihm.

In dieser Nacht bekam Resli Geigens genug und hat seiner Lebtag keinen Tanzboden mehr betreten, wohl aber, wenn er irgendwo von ferne Tanzmusik hörte, einen weiten Umweg gemacht, denn es ekelte ihm darob wie vor einer Speise, an der man sich einmal überessen hat.

Kapitel 8

Ein Dieb

Das nächste Ereignis nach dem Maimärit war, daß Resli`s Meister seine Magd heiratete. Die Trauung vollzog sich zwar in aller Stille, aber lange konnte es nicht verborgen bleiben, daß Hube Christen unter die Haube gekommen war. Agur zählt in den Sprüchen Salomo`s unter den drei Dingen, die ein Land beunruhigen, und den vieren, welche es nicht ertragen kann, eine Magd auf, die zur Gebieterin wird. Und Hube Christens Land hätte wirklich um ein paar Jucharten67 größer sein müssen, wenn es alle die Ansprüche hätte ertragen wollen, mit denen seine Magd allmälig hervortrat, nachdem sie zur Frau geworden war. Zuerst ging es an eine bessere Ausstattung ihrer eigenen Person. Kleider machen Leute, und eine Bäuerin darf selbstverständlich nicht daherkommen wie ein Bettelweib. Silberne Göllerketten68 mußten also notwendig die stählernen ersetzen, ein schwarzseidener Kittel mit blauseidener Schürze und Jacke wurde angeschafft, und auf dem Hut ein Garten angelegt, der in den üppigsten Farben prangte. Als die Frau fertig ausgestattet war, ging es an das Pferd. Die zottigen Haare wurden ihm von den Beinen weggeschnitten, daß es einem Herrengaule ähnlicher sah, und der Sattler mußte acht Tage auf die Stör69 kommen, um ein neues Geschirr anzufertigen. Die Welt sollte natürlich Gelegenheit haben, die neue Bäuerin zu bewundern in ihrem Sonntagsstaat, und weil doch die nächste Nachbarschaft wenig Interesse zeigte an der ungewohnten Pracht, was selbstverständlich pure Mißgunst war, so mußte man an den Sonntagen entferntere Bekannte aufsuchen. Solche Reisen konnte man nicht zu Fuß unternehmen, Bäbi wollte fahren und Christen mußte anspannen, ob er gern wollte oder nicht. Solche Spazierfahrten kosten aber Geld, besonders wenn man, wie es bei dem Ehepaar der Fall war, unterwegs ein paar Mal einkehren muß. Zudem fing Bäbi bald nach seiner Verheiratung zu doktern70 an, und zwar nicht etwa in der Nähe, wo man es billiger hätte machen können, sondern sie mußte zu einem b`sunderbar71 Geschickten, der nur alle Markttage in der Stadt zu treffen war. Dorthin war es aber weit und paßte doch auch nicht gut zum Doktern, daß die Patientin zu Fuß gehen sollte, es wurde also wieder angespannt, und zu dem Geld für den Doktorzeug kam auch noch der versäumte Tag.

Natürlich wurde das mit der Zeit Hube Christen doch zu bunt. Er hatte gerechnet, wenn er die Magd heirate, so erspare er sich in Zukunft den Mägdelohn, nun ging aber mit dem Doktern allein viel mehr drauf, als er sonst der Magd hätte geben müssen. Bäbi merkte, daß das Geld nach und nach Christen weniger gern aus den Fingern ging, sie sann daher auf Mittel, wie sie sich andere Einnahmsquellen verschaffen könnte.

Eines Tages wurde Resli von seinem Meister hinausgeschickt, um die Zäune zu flicken. Es war ein trüber, regnerischer Tag im Spätsommer, wo man andere Arbeit nicht wohl machen kann. Als er eben mit dem Einrammen neuer Pfähle beschäftigt war, kam der Meister zu ihm und frug mit geheimnisvoller Miene, ob er wisse, daß ein Dieb im Hause gewesen sei.

"Ein Dieb?" fragte Resli verwundert, "nein, davon habe ich nichts gewußt. Was ist euch denn gestohlen worden?"

"Meiner Frau ist Geld aus der Tasche fortgekommen und schon lange hat sie keine Eier mehr in den Nestern gefunden," sagte der Meister in vorwurfsvollem Ton.

Es sei ihm leid, sagte Resli, aber er habe nichts Verdächtiges bemerkt.

"Schrei nicht zu laut," antwortete der Meister aufbrausend, "wir haben den Verdacht auf dich!" Und ohne Resli Zeit zu lassen zur Entschuldigung, befahl er ihm in strengem Ton: "Geh heim, nimm den Karren und mach Gras ins Tenn!"

Resli ging ohne ein Wort der Erwiderung; aber in seinem Innern kochte es, und er fühlte, wie ihm das Blut zum Kopfe stieg. Noch nie hatte er erfahren, wie in diesem Augenblick, daß zwei Menschen aus ihm geworden seien. Der Eine sagte: "Das leidest du nicht, so lässest du dir deine Ehre nicht schmälern!" Dieser Mensch - der Leser errät, welcher von beiden es war - bäumte sich hoch auf ob der erlittenen Beschuldigung, und wurde so stark, daß Resli das Gras wie im Nu auf dem Karren hatte. An etwas kühlt der Mensch bekanntlich immer seinen Zorn, und es ist gut, wenn der Gegenstand, an dem er seine Täube72 ausläßt, nicht immer Nerven hat, sonst ginge es manchmal schlimm genug. Der Karren ächzte zwar auch, und die Sense rauschte gewaltig durch das grüne Gras, aber wie die Halme sich vor ihm niederlegten, so legte sich allmälig auch Resli`s Zorn, und als der Meister mit dem Pferde kam, um den Karren nach Hause zu ziehen, da ließ sich in Resli`s Herzen, während er hinter dem Karren her trottete, eine sanfte Stimme vernehmen, die sprach zu ihm: "Ziehe den alten Menschen mit seinen Werken aus und ziehe den neuen Menschen an, der da erneuert wird zu der Erkenntnis nach dem Ebenbild des, der ihn erschaffen hat." Diese Stimme erinnerte ihn daran, wie unähnlich er mit seinem Herzen noch dem sanftmütigen und von Herzen demütigen Heiland sei, der nicht wieder schalt, da er gescholten ward, und der so viele ungerechte Beschuldigungen ohne Widerspruch erlitt.

Als sie mit dem Gras im Tenn waren, sagte Resli ganz ruhig aber bestimmt zum Meister: "Christen, das ist die letzte Arbeit, die ich hier verrichte; ich gehe fort, so ist es nicht gemeint, daß ihr einen Dieb im Hause behalten müßt. Komm, sei so gut und sieh´ nach, was ich fortnehme."

Die Beiden mußten bei der Frau in der Küche vorbei, um in Resli`s Kammer hineinzugehen. "Er will fort", sagte der Meister zu ihr, "sag´ jetzt vor seinen Ohren, wie viel Geld dir aus dem Sack genommen worden ist."

"Ein halber Batzen", antwortete sie.

"Das ist zwar nicht viel", sagte Resli zu ihr, "aber ich schäme mich vor deinem Mann, daß du mir so etwas zur Last legst. So nahe bin ich dir nie gekommen, daß ich dir Geld aus der Tasche hätte nehmen können. Zwei Jahre habe ich nun bei euch wie ein Knecht gearbeitet. Ich kam als ein armer Knabe zu euch. Im gleichen Kleide mußte ich arbeiten, in die Schule und Unterweisung und sogar am Sonntag in die Kinderlehre gehen, im Winter habt ihr mir drei Tage in der Woche für Schule und Unterweisung freigegeben, die andern Tage mußte ich arbeiten, im Sommer aber war gar keine Zeit für den Schulbesuch. Den ersten Sommer, den ich hier zubrachte, lief ich mit nackten Füßen herum, denn ich hatte keine Schuhe mitgebracht und ihr gabet mir auch keine. Im Spätjahr schicktet ihr mich oft um 4 und 5 Uhr Morgens hinaus aufs Feld, um Mist zu zetteln73 oder andere Arbeit zu verrichten, wenn der Boden weiß war vom Reif, da bin ich oft fast zu Tod gefroren. Da fand ich eines Tages auf der obern Laube in der Ecke unter den alten Schuhen ein Paar verschimmelte Holzböden, die nahm ich und trug sie, wenn ich zur Schule ging. Ich fragte nicht, ob ich sie nehmen dürfe; nun mag es sein, daß ihr daher den Verdacht auf mich geworfen habt, ich sei ein Schelm. Oder habe ich euch sonst etwas veruntreut während der Zeit, die ich bei euch bin?"

"Nicht, daß ich wüßte", sagte Christen, "ich bin ja immer wohl mit dir zufrieden gewesen."

"Nun denn", fuhr Resli fort, "ich habe die Schul- und Konfirmandenzeit hinter mir, und das habe ich meinem lieben Vater im Himmel nicht versprochen, meine jungen Jahre mit Stehlen zuzubringen."

"Wenn du jetzt fortgehst," kifelte74 Bäbi zwischenhinein, "so geben wir dir nichts, wir sind dir nichts schuldig."

"Nichts schuldig?" wiederholte Resli und machte ihr ein Paar Augen, als ob er sie durchbohren wollte, "ihr habt mir für den Monat eine Bernkrone versprochen, jetzt sind es fünf Monate, seitdem ihr mich als Knecht gedungen habt, das macht fünf Bernkronen."

"Wir haben dir ja die Nachtmahlkleider geben müssen zur Konfirmation," brummte der Meister.

"Nun," sagte Resli, "wenn ich in den zwei Jahren, die ich ohne Lohn bei euch gearbeitet habe, das nicht verdiente, dann behaltet ihr euer Geld. Du hältst ja", sagte er zur Frau gewandt, "auf deinen gestohlenen Halbbatzen mehr als auf einen treuen Knecht."

Mit diesen Worten ging Resli ins Gaden hinauf, packte seine wenigen Habseligkeiten zusammen und verließ das Haus. Er war entschlossen, Süßlingen zu verlassen, das ihm in mancher Beziehung ein Herblingen geworden war, obschon er da auch wie nie zuvor die Süßigkeit der Gnade Gottes geschmeckt. Augenblicklich aber war sein Herz so sehr von dem bittern Geschmack der menschlichen Bosheit erfüllt, daß er darob die Güte Gottes beinahe vergaß.

Er wollte aber doch das Dorf nicht verlassen, wie einer der gestohlen hat, sondern klopfte an der Tür des Nachbarhauses an, um gehörig Abschied zu nehmen, denn mit den Nachbarsleuten stand er immer auf gutem Fuß.

"Was kommt dich an?" fragte die Bäuerin verwundert, als Resli mit seinem Bündel in die Küche trat, "du gehst doch nicht etwa fort?"

"Doch", sagte Resli, "ich will nicht warten, bis mich der Landjäger75 holt."

"Bist nicht gescheit," sagte lachend die Frau, daß es ihr den Speck schüttelte, "was hast du denn gemacht? Ich glaube", setzte sie leiser werdend hinzu, "es gibt noch andere Leute in der Nachbarschaft, die er eher nähme als dich."

"Nein, nein", sagte Resli, immer noch etwas aufgeregt, "Bäbi behauptet, es sei ihr ein halber Batzen gestohlen worden und in den Nestern finde es schon längst keine Eier mehr und da kann niemand anders dahinter stecken als ich."

"So", sagte die Bäuerin, "woher nimmt sie denn die Eier, die sie alle paar Tage der Gremplerin76 verkauft? Freilich," setzte sie hinzu, "davon merkt das Mannesvolk nichts, denn die Gremplerin weiß schon, wann sie kommen muß, damit Christen von dem Handel nichts sieht, der hinter seinem Rücken getrieben wird. Und glaube mir nur, Resli, da drüben wird nicht nur ein halber Batzen vermißt, Christen weiß läng Stück nicht, wo sein Geld hinkommt, und Bäbi wirft dann, wenn es zur Rede gestellt wird, den Verdacht auf dich."

"Nun", sagte Resli, "ich bin froh, daß ich drus und dänne77 bin, und was ich wollte fragen: Darf ich meine Sachen hier lassen, bis ich weiß, wo der liebe Gott mir in Zukunft den Tisch decken will?"

"Ja gerne", sagte die Bäuerin, "und du kannst auch gerade hier bleiben, wir haben dir Arbeit genug."

"Nein", sagte Resli fest und bestimmt, "das geht nicht. Ihr seid Nachbarsleute, ich gehe von hier fort, ich will nicht, daß ihr meinetwegen hinter einander kommt."

Damit verließ Resli das Dorf, nicht ohne eine Träne zu unterdrücken beim Gedanken an alles, was er hier erlebt, seitdem er vor dritthalb Jahren heimatlos und verlassen seinen Wanderstab hier abgesetzt. Und nun befand er sich ja wiederum in ähnlicher Lage, wusste nicht, wo er seine Schritte hinlenken sollte und wo ihm für den Abend ein Obdach bereitet war.

Mit diesen Gedanken beschäftigt, stand er draußen auf der Landstraße an dem Zaun. "Da, lieber Vater", sagte er und richtete seine Augen zum dichtverschleierten Himmel empor, "da stehe ich unter Deinem großen Dach, Du wirst für ein anderes wohl sorgen."

Erleichtert durch dieses Gebet, bog Resli rechts um die Hecke und wanderte wohlgemut dem nächsten Dorfe zu. Im Westen brach die untergehende Sonne aus den Regenwolken hervor und vergoldete mit ihrem Glanz das graue Kleid, das über die Felswände herunterwallte. Dem Wanderer wurde es wohl und leicht zu Mut. Daß nach dem Regen Sonnenschein folgt, schien ihm wie die Verheißung einer besseren Zukunft zu sein, und als er auf der Anhöhe, über die der Weg führte, noch zum letzten mal Hube Christen`s Haus erblickte, wollte ihn kein Heimweh ergreifen, wohl aber hieß es in seinem Herzen: "Ich will lieber der Tür hüten in meines Gottes Haus, als lange wohnen in der Gottlosen Hütten! Ja, auch Du, lieber Heiland, hast einmal gesagt: Die Füchse haben Gruben und die Vögel unter dem Himmel haben Nester; aber des Menschen Sohn hat nicht, da er sein Haupt hinlege; so freut es mich denn, dir ein wenig ähnlich geworden zu sein!"

Damit schritt Resli die Anhöhe hinunter, Kolbiwyl zu, das vor ihm lag. Er dachte das Dorf zu passieren, denn sein Sinn stand nach der Mutter hin, und bis dort hatte er noch einen dreistündigen Weg.

Die Straße führte an dem Hause vorbei, wo Resli`s Schwester im Dienste war. Die Frau stand am Brunnen und fragte ihn: "Wohin willst du noch so spät?" Er sei heute fremd geworden, sagte Resli, und wolle heim, vielleicht zeige sich dort ein Platz für ihn.

"Du kommst ja wie gewünscht," sagte die Bäuerin; "schon lange hätten wir gerne so jemand gehabt; wart, ich will meinen Mann rufen". ... "Uli, wo bist?" rief sie in den Stall hinein. "Komm, Vrenis Bruder ist da, er sucht einen Platz!"

Uli hatte schon hie und da durch Vreni von Resli gehört, wie er so ein arbeitsamer und anschicklicher78 Bursche sei, er stand daher etwas rascher, als er es sonst getan haben würde, vom Melchstuhl79 auf und schlarpete80 in den Hof hinaus auf den Jungen zu.

"Kannst du das Vieh und den Stall besorgen?" fragte er.

"Ja, seit der Bruder fort ist, habe ich das bei Hube Christen ganz allein gemacht."

"Nun, dann kannst hier bleiben, ich gebe dir neun Kronen von heute an bis Neujahr."

Resli machte ein Gesicht wie ein Maikäfer im Buchenlaub. "Nun", dachte er, "da verlier ich nichts, das ist so viel, als ich am andern Platz vom April bis Neujahr hätte bekommen sollen; und hier bekomm ich`s doch, dort aber hätte ich das Nachsehen gehabt."

"Seid Ihr einig?" fragte die Frau, als sie wieder mit dem Wasserkessel aus der Küche kam, wo sie sich zu schaffen gemacht, während Uli mit Resli sprach.

"Ja", sagte der Meister, "er bleibt da."

"So hätte ich dir noch etwas zu sagen," wendete sich die Bäuerin an den jungen Knecht: "Ich will dich Nachts zu Hause wissen wie Tags, und daß du am Sonntag ins Wirtshaus läufst, dulde ich auch nicht; es gibt eine böse Gewohnheit draus, die oft der Weg zur Hölle wird."

"So kann man die jungen Leute nicht binden," brummte der Mann, "du meinst, du wollest alles nach deinem kuriosen Kopf haben."

Damit lief er davon. Resli aber blieb stehen und drückte der Frau die Hand. Hatte ihm schon bei den 9 Bernkronen das Herz gepocht, so griff ihn jetzt vollends die Freude über das, was die Frau soeben gesagt hatte, dergestalt an, daß er kein Wort hervorbringen konnte. Also, der liebe Gott hatte es wirklich endlich so gefügt, daß er in ein Haus gekommen war, wo christliche Zucht und Ordnung herrschte! Die Bäuerin spürte es ihm am Händedruck an, wie dankbar er ihr sei für ihr mannhaftes Wort, und Resli merkte es am Händedruck, wie froh sie sei über einen solchen Knecht, der mit ihr in der Verleugnung des ungöttlichen Wesens und der weltlichen Lüste einig gehe und züchtig, gerecht und gottselig zu leben begehre in dieser Welt.

Kapitel 9

Wie ein junger Knecht Neujahr gefeiert hat

Als Resli zum erstenmal im Hause seines neuen Meisters erwachte, befand er sich in einem reinlichen Zimmer und dankte Gott für das gute Bett, wie er noch keines gehabt. Das Haus erschien ihm als ein Muster von Ordnung und Reinlichkeit. Als er die Milch in die Küche brachte, musterte die Frau das Gefäß mit scharfem Blick. "Sieh´ Uli", sagte sie zu ihrem Mann, "so will ich die Milch haben, sauber und nicht mit Dünger gemischt."

Resli hat sich das ein- für allemal gemerkt und kehrte nicht nur als ein neuer Besen gut. Es war ihm nämlich darum zu tun, daß er bleiben könne an diesem Ort. Er dachte, der Vogel hat sein Haus gefunden und die Schwalbe ihr Nest, und erwartete, hier ein ruhiges und ungestörtes Leben führen zu können. Der Meister war auch wirklich freundlich gegen ihn und behandelte ihn fast wie einen Sohn, was um so mehr zu bedeuten hatte, als das Ehepaar ohne Kinder war.

Doch blieb des Meisters Freundlichkeit für den jungen Menschen nicht ohne Gefahr. Resli lernte bald verstehen, warum die Frau keinen Wirtshausläufer zum Knecht haben wollte; sie hatte an ihrem Manne genug. Er war ein Kind der Welt und liebte die Gesellschaft beim Wein. Da suchte er nun auch seinen jungen Knecht hinzulocken, es wurden diesem wiederholt Netze gelegt, denen er nur mit genauer Not entging. Resli war aber nicht einer von denen, die nicht Nein sagen können, wenn ihnen jemand eins zahlen will. Der Gläser Geklirr brachte ihn nicht um den Verstand. In aller Ehrerbietung, aber fest pflegte er auf des Meisters Lockungen zu antworten: "Aber hör´, du gehst Sonntags schon am Morgen fort und oft kommst du erst Montags wieder heim; wo würde das hinführen, wenn auch ich mit dir ginge? Es ist besser, ich bleibe daheim und sehe zur Sache."

"Gelt", pflegte dann Uli etwas zu sticheln, "du hockst lieber beim Weibervolk hinterm Betbuch, als beim Mannenvolk hinterm Glas?"

Am heftigsten trat die Versuchung an Resli heran, als er am Neujahrstag zum erstenmal in seinem Leben so viel Geld zusammen erhielt, nämlich seinen ganzen Lohn für vier Monate und dazu noch ein funkelnagelneues Silberstück als Trinkgeld. "So jetzt", sagte der Meister, als er ihm alles blank in die Hände gezählt hatte, "das ist dein, und heute Nachmittag kommst du mit mir nach Griesbach ins Wirtshaus, da wollen wir zusammen Neujahren bei einer Flasche vom Besseren; ich halte dich kostenfrei."

Resli antwortete nichts, aber die Frau sah ihm an, wie er in Verlegenheit geriet, und hielt es für ihre Pflicht, ihm daraus zu helfen. "Resli", sagte sie in ernstem Ton, "du wirst daran denken, was du mir versprochen hast. Du gehst nicht, ich habe dich irgendwohin zu schicken." Dabei blickte sie ihrem Manne scharf ins Gesicht. Er brummte etwas in den Bart und machte sich davon.

Als er seiner Wege gegangen war, gab die Bäuerin Resli einen gefüllten Korb, mit sauberem Linnen zugedeckt. "Dort hinten", sagte sie, "im Schächli81 ist eine arme alte Frau, sie kommt mir heute gar nicht aus dem Sinn, sie leidet allweg Mangel. Geh´, bring ihr das; gelt du zürnst mir nicht?" Damit goß sie Wein in ein Glas und reichte es dem jungen Knecht mit den Worten Salomo`s: "Es ist besser in das Klaghaus gehen, denn in das Trinkhaus."

Resli dankte ihr, daß sie ihm aus der Verlegenheit geholfen, ging mit seinem Korb zum Dorf hinaus und hatte bald das zerfallene Häuschen erreicht, das ganz vereinsamt im Walde stund. Er stellte seinen Korb neben die Tür und klopfte an.

"Mähähähähä, Mähähähähä", war die Antwort, die er erhielt; dann blieb alles wieder still.

Resli dachte, das alte Eisi werde keine guten Ohren mehr haben, und öffnete selbst die Tür. Dort lag sie, die alte Greisin mit weißem Haar, auf ihrem armseligen Bett. Die Ziege, die ihm vorhin geantwortet, war am Bettstollen angebunden. Resli wusste nicht, sollte er das arme Tier mehr bedauern oder die arme Frau. Zwar lag das Futter für die Ziege unter dem Bett, aber diese hatte sich in ihren Hälsig82 verwickelt und konnte es nicht mehr erlangen und das Wasser hatte sie auf den Stubenboden ausgeleert. Sie schien daher sehr erfreut zu sein, daß jemand kam, der sie aus dieser verzweifelten Lage zu erlösen verstand, denn sie schrie in einemfort: "Mähähähähä, Mähähähähä!" Resli verstand die Sprache der Geißen so gut wie Berndeutsch und hatte auch ein Herz für das Vieh. Er merkte, daß das arme Tier durstig sei, und holte daher zuerst Wasser für das hilflose Geschöpf. Dann erst leerte er seinen Korb - was freilich die gwundrige83 Geiß auch interessiert - und gab der Frau, was er für sie mitgebracht. Diese mußte offenbar nicht sehr krank sein, denn sie aß und trank mit einem Appetit, daß Reli`s Korb bald leicht zu werden begann. In der Tat, der Hunger schien ihr einziges Leiden zu sein, und um diesen weniger zu empfinden, hatte sie sich ins Bett gelegt. Es ging denn auch nicht lange, so kehrten ihre Lebensgeister zurück, und nachdem sie das erste Glas Wein getrunken hatte, ward das Band ihrer Zunge gelöst und sie fing mit der alten Leuten eigenen Gesprächigkeit an, ihre Wohltäter zu rühmen.

"Stockmädi ist doch ein gäbiges84", hob sie an - so hieß nämlich im Volksmunde Resli`s Meistersfrau -, "daß es einem armen alten Weib, wie mir, etwas zum guten Jahre schickt. Und daß du mir das gebracht hast, Resli, das ist brav von dir, unter Hunderten hätte das nicht ein junger Mensch von deinem Alter getan, die laufen sonst am Neujahrstag lieber den jungen Meitscheni85 nach als den alten Frauen. Der liebe Gott möge dich dafür segnen, daß du nichts desto minder Freude am heutigen Tage hast."

"Seid Ihr denn ganz allein mit Eurer Geiß?" fragte Resli, tief bewegt von der Verlassenheit der armen Frau.

"Nein", sagte sie, "sonst ist noch ein Großsohn bei mir, aber seit drei Tagen ist er fort und nicht wieder gekommen; er wird das gute Jahr zusammenbetteln, und weiß Gott, ob er nicht alles vertrinkt, was er von guten Leuten bekommt, denn er ist ein Hudel, wie sein Vater einer gewesen ist, der mit seiner Liederlichkeit meiner Tochter das Herz gebrochen hat."

Dabei brach die Alte in Tränen aus und auch Resli wischte sich die Augen ab, denn er wusste nur zu gut, was das für ein Elend mit sich bringt, wenn der Saufteufel in einer Familie sein Zerstörungswerk treibt.

"Liebe alte Mutter", sagte er mit herzlichem Erbarmen, "das ist freilich schwer für Euch, daß dieser Kummer Euch am Herzen nagt, aber Ihr wisset ja auch, daß des Menschen Sohn gekommen ist, zu suchen und selig zu machen, was verloren ist. Erst vor acht Tagen ist uns wieder die große Freude verkündigt worden, die allem Volk widerfahren soll, weil der Heiland geboren ist, dessen Name Jesus heißt und der sein Volk von ihren Sünden selig machen will. Da dürft Ihr also glauben, daß es auch für Euren Großsohn noch eine Rettung gibt."

Da Resli aus den Äußerungen der Alten merkte, daß sie den Weg des Friedens noch nicht kenne, spürte er einen innern Drang, mit ihr über ihr eigenes Seelenheil zu reden. "Aber", dachte er, "du bist zu ungelehrt dazu, und die Alten sollen die Jungen lehren und nicht umgekehrt." Allein er konnte das enge Stübchen nicht verlassen, ohne der armen Seele, deren ihn jammerte, klar bezeugt zu haben, wie laut Gottes heiligem Wort und seiner eigenen Erfahrung Vergebung der Sünden, ewiges Leben und Seligkeit im Namen Jesu zu finden sei.

Nachdem er so seinen menschlichen und seinen göttlichen Auftrag ausgerichtet, war es hohe Zeit zur Heimkehr. Ihm kam vor, als er den einsamen Waldweg hinunterlief, er sei doch heute gewiß der glücklichste Mensch. Der Heiland war ihm so nahe, daß ihn dünkte, er könnte ihn in seine Arme schließen, wie einst der alte Simeon. Sein Herz war voll Lob und Dank darüber, daß ein sündiger Mensch solcher Gemeinschaft mit dem Herrn gewürdigt sei.

"Nicht wahr, Resli", sagte die Meistersfrau, als er eintrat, "du fühlst dich jetzt wohler, als wenn du aus dem Wirtshaus kämest?"

"Ich komme aus dem Wirtshaus," entgegnete Resli lachend, "es ist mir voll eingeschenkt worden - Gutes und Barmherzigkeit!"

Als die Hausarbeit fertig war, setzte sich die Frau mit ihren beiden Dienstboten an den Tisch. Resli erzählte von der armen Frau mit ihrer Ziege, in welch´ dürftigem Zustand er sie angetroffen habe und setzte hinzu: "Ohne Euere Hilfe, die Ihr sandtet, würde die Arme mit samt der Geiß elendiglich Hungers gestorben sein."

"Ahnte ich`s doch," sagte die Meistersfrau, "daß hier einer dringenden Not abzuhelfen sei. Ich habe mich noch nie geirrt, wenn ich innerlich dazu aufgefordert worden bin, eine Not zu lindern. Einen besonders merkwürdigen Fall will ich euch heute Abend erzählen:

Es war im Hungerjahr 1817, daß ich eines Abends des Gedankens an die vielen Hungernden gar nicht los werden konnte. Ehe ich zur Ruhe ging, befahl ich dieselben noch besonders dringend dem himmlischen Vater an. Dann schlief ich ein, erwachte aber bald wieder und zwar mit dem Gedanken an eine arme Witwe, die mir mit ihrem Trüpplein Kinder gar nicht mehr aus dem Sinne kam. Mit dem festen Vorsatz, diese arme Frau am folgenden Morgen ungesäumt aufzusuchen, schlief ich wieder ein. Doch es ging nicht lange, so erwachte ich zum zweitenmal, und nun trat die Mahnung an jene arme Witwe so dringend vor meine Seele, daß ich endlich aufstund, mich ankleidete, Brot, Milch, Kaffee, Butter und Speck in einen Korb verpackte und in dunkler Nacht zu der Hütte jener armen Frau hinging. Alles war dort mäuschenstill; ich wollte mir schon Vorwürfe machen über meine allzugroße Gewissenhaftigkeit, da hieß es in mir: "Wer die Hand an den Pflug legt und siehet zurück, der ist nicht geschickt zum Reiche Gottes!" Da ergriff ich das Fensterchen neben der Tür, schob es zurück, legte alles auf den Tisch hinein und kehrte nach Hause zurück. Tags darauf kam die betreffende Frau und erzählte mir unter Tränen, wie es ihr gegangen sei. Sie habe gestern den ganzen Tag den Kindern nichts zu essen gehabt. Am Abend, als sie die armen Würmlein zur Ruhe legen wollte, fingen sie alle an zu weinen: "O Mutter, Mutter", riefen sie, "sollen wir hungrig zu Bett?" "Ja", hätte sie ihnen gesagt, "ihr schlaft bald ein, dann fühlt ihr den Hunger nicht mehr. Ich habe heute dem lieben Gott unsere Not geklagt, aber er hat mich nicht erhört; rufet ihr zu Ihm, vielleicht erhört Er euch." Da schrie eins ums andere: "O Gott, wir sind hungrig!" bis sie einschliefen. Dann legte ich mich zur Ruhe. Am Morgen, als ich erwachte, o Wunder, sieh´ da war auf dem Tisch Brot, Kaffee, Milch, Butter und Speck. O wie saßen die Kinder so fröhlich um den Tisch herum; sie glaubten fest, Gott habe das vom Himmel geschickt." - "Das hat Er auch", sagte ich zu ihr, "wenn er schon jemand dazu gebraucht hat, es euch zu bringen. Du wirst dich wohl schämen mit deinem ungläubigen Gebet, kannst von deinen Kindern lernen, wie du beten und an die Erhörung glauben sollst."

Als die Frau mit dieser Erzählung fertig war, mußten Resli und Vreni noch ein Lied anstimmen. Dann nahm sie die Bibel, las ein Kapitel und ein Gebet vor, das für den Neujahrstag bestimmt war. Als sie in dem Gebetsbuch zu einer Stelle kam, wo es hieß, der Hausvater sollte für und mit seiner Familie Priesteramts pflegen, da stockte ihre Stimme und Tränen benetzten das Buch. Die beiden Geschwister aber stimmten in ihre Seufzer und Tränen ein und brachten ihre Bitten für den Hausvater, der noch am Wirtstische saß, vor Gottes Gnadenthron.

Kapitel 10

Ein überwundenes Vorurteil

Bald nach Neujahr erhielt die Meistersfrau eine Einladung, an einer religiösen Versammlung teilzunehmen. Dieselbe war angesagt auf den dritten Sonntag im Januar bei Jakob Freudiger im Bächi am See. Da die Frau nicht selber gehen konnte, so sagte sie am Samstag Abend zu ihren beiden Dienstboten, Resli und Vreni, wenn sie gehen wollten, so gebe sie ihnen Freiheit dazu. Die beiden Geschwister nahmen das Anerbieten mit Freuden an, aber in der darauffolgenden Nacht hatte Resli einen schweren Kampf durchzumachen. Zum erstenmal in seinem Leben sollte er einer solchen Versammlung beiwohnen, die man gemeinhin mit dem Ehrentitel "Stündeli" belegte. Damals beteiligten sich an solchen Versammlungen nur alte Männer und Weiber, die nicht mehr viel zu verlieren hatten, und nun sollte er, der hoffnungsvolle Jüngling, ein "Stündeler" werden? Das war ja unerhört! Und doch war es nicht die Furcht vor dieser Schmach, was Resli in der Nacht vom Samstag auf den Sonntag nicht schlafen ließ; im Gegenteil, um Christi willen hätte er gerne Schmach getragen, denn der Heiland war ihm lieb. Aber was ihm Kummer machte, das waren die nachteiligen Gerüchte, die man über derartige Zusammenkünfte in Umlauf setzte. Wenn er daran dachte, was bei solchen Gelegenheiten der landläufigen Ansicht nach unter dem Deckmantel der Frömmigkeit für schlechte Sachen sollten getrieben werden, überlief es den jungen Menschen heiß und kalt; "nein", sagte er zu sich selbst, "da gehst du nicht hin!" - "Aber", hieß es dann wieder, "die Meistersfrau geht doch auch zu diesen Versammlungen und ist sie nicht eine brave, christliche, ehrwürdige, in jeder Beziehung musterhafte Frau?" Dann aber erinnerte sich Resli wieder, wie der Pfarrer in der Unterweisung so eindringlich vor den Sekten gewarnt, und wie er bei der Konfirmation versprochen habe, der Kirche treu zu sein. "Aber", sagte er sich, "das kann ja keine Sekte sein, wo die Frau hingeht; denn obschon sie hie und da eine Versammlung besucht, geht sie doch fleißig zur Kirche, und wer geht überhaupt mehr zur Predigt als die, die man Stündeler nennt? Und am Ende gilt doch hier auch des Apostels Mahnung: Prüfet alles und das Gute behaltet! Darum," sagte Resli zu sich selbst, "gehst du morgen einmal hin und überzeugst dich selbst davon, was in diesen Versammlungen getrieben wird."

Dieser vernünftige Entschluß wiegte Resli bald in einen süßen Schlaf, und am andern Morgen um zehn Uhr befand er sich mit seiner Schwester schon auf dem Weg nach dem zwei Stunden entfernten Versammlungsplatz. Die Versammlungen pflegten nach Mittag zu beginnen, denn sie dauerten etwas lang, und die Leute, die zum Teil einen weiten Heimweg hatten, wollten vor Nacht wieder zu Hause sein. Vreni war nicht wie Resli zum erstenmal auf diesem Weg. Sie hatte schon manche Versammlung besucht und konnte daher ihren Bruder instruieren, wie er sich zu benehmen habe an einem solchen Ort. Einem Menschen, der nicht viel unter die Leute kommt, verursacht es ja bekanntlich nicht geringen Kummer, wenn er plötzlich in einen Raum hineintreten soll, wo Vieler Augen auf ihn gerichtet sind. Wie leicht kann man da, ohne es zu wollen, gegen den Brauch verstoßen, und um ja nichts Dummes zu machen, setzen sich Neulinge in der Regel zu hinterst hin. Darum fand es Vreni für nötig, Resli zum Voraus zu sagen, hinten zum Ofen grad neben die Tür dürfe er sich aber nicht hinsetzen, "sondern", schärfte sie ihm ein, "die Mannen hocken um den Tisch herum, vorn beim Fenster, die Frauen bleiben hinten in der Stube, darum setzest du dich, wenn du hereinkommst, gleich zum Tisch."

Bei dieser Auseinandersetzung schwand in Resli`s Herzen ein großes Stück von dem Verdacht, den er bisher gegen derartige Versammlungen gehabt. "Dann ist es also nicht wahr," sagte er erleichtert zu Vreni, "daß Mannen- und Weibervolk in der Versammlung durcheinander sitzt?"

"Nein", sagte Vreni entrüstet, "solches wird den Leuten mit Unrecht nachgeredet; ja, wenn das wahr wäre, so würden die Versammlungen größer sein, als sie sind."

Resli hätte gerne noch manches gewußt, aber die Schwester war von wenig Worten, sie schritt nachdenklich dahin. Sie war eine gar fromme Person, aber vielleicht fehlte es ihr ein wenig an kindlichem Sinn und fröhlichem Christentum. Wenn Resli unterwegs seine Freude ausdrückte an der schönen Winterlandschaft, die vor ihnen lag, und sich ergötzte an dem Sonnenglanz, der das weiße Kleid der Erde mit viel Tausend Diamanten übersäte, so konnte sie ihm etwa antworten: "Ein Christ freut sich nicht an diesen irdischen Dingen, sondern nur an Gottes Wort."

Resli dachte bei dieser seltsamen Antwort im Augenblick nicht daran, daß ja gerade die Bibel selbst voll ist von den herrlichsten Schilderungen der Schöpferwerke Gottes in der Natur, im Gegenteil, es kam ihm vor, er sei doch noch sehr weit hinter seiner Schwester zurück, so geistlich gesinnt wie sie, sei er noch lange nicht.

Doch als die Stadt durchschritten war, an deren südlichem Ende der schöne See sich auszudehnen beginnt, da wachte sogar Vreni aus seinen tiefen Betrachtungen auf und stieg aus dem Himmel seiner warmen Gefühle auf die winterliche Erde herab.

"Hier müssen wir bald bei Jakob`s Haus ankommen", sagte sie, "es liegt Mädi`s Beschreibung nach nur eine Viertelstunde außerhalb der Stadt, nahe beim See. Nimm dich zusammen, Resli, daß du in andächtiger Stimmung erscheinst."

Diese Ermahnung war ziemlich überflüssig, denn des Jünglings Herz hatte schon auf dem ganzen Weg vor freudigem Bangen geklopft; die Erwartung, daß er Leute antreffen sollte, mit denen er sich im Herrn freuen könne, stimmte ihn von vorneherein feierlich und dankbar gegen Gott. Und das ist ja eben das Gute an dem echten Christentum, daß, wer darin lebt, nicht nötig hat, auf künstliche Weise eine andächtige Stimmung in sich hervorzurufen, wenn bei einer feierlichen Gelegenheit eine solche erfordert wird.

"Wo wollen die jungen Leute hin", fragte plötzlich eine freundliche Stimme, als die beiden Geschwister von einer höhern Stelle der Straße aus die am Ufer zerstreuten Häuser musterten und werweißeten86, welches wohl dasjenige von Jakob Freudiger sei. Sie wandten sich um zu sehen, nach der Stimme, die mit ihnen redete, und siehe, da stand ein freundliches altes Weiblein hinter ihnen, an dem sie vorhin in ihrem Eifer vorbeigeschnurrt waren.

"Könnt Ihr uns sagen, wo das Bächi ist?" fragte Resli.

"Meinst du das Haus, wo Jakob Freudiger wohnt? Was wollt ihr dort?" forschte neugierig die freundliche Alte, und ein geheimnisvolles Lächeln spielte um ihren Mund.

"Unsere Meistersfrau hat uns gesagt, dort finde heute Nachmittag eine Versammlung statt und hat uns hinzugehen erlaubt."

"Wer ist euere Meistersfrau?" fragte die Alte.

"Magdalena Hanni, geborene Sahli heißt sie, man sagt ihr aber nur Stockmädi, denn ihrem Vater hat der Stock87 in Kolbiwyl gehört."

"O, die kenne ich!" platzte das Weiblein freudig heraus. "Stock-Sami", ihr Vater, war ein Freund von Bächi-Jakob und hat euere Meistersfrau schon als junge Tochter oft mit in die Versammlung gebracht. Glückliche Kinder, daß euch Gott eine solche Mutter geschenkt, und noch glücklicher, daß euch der Herr schon in der Jugend auf Seine Wege gerufen hat und ihr in Seine Nachfolge getreten seid."

Die gute Alte ermahnte die beiden Geschwister zum Ausharren im Glauben an den gekreuzigten Heiland und sprach mit Freudentränen in den Augen von den Vorrechten, die ein Kind Gottes hat. Triumphirend führte sie ihre jungen Freunde in das Haus am Bächi, als hätte sie eine Perle gefunden von unschätzbarem Wert. An der Liebe, mit welcher ihnen diese unbekannte alte Frau begegnete, erfuhr Resli zum erstenmal in seinem Leben so recht, was die Gemeinschaft der Kinder Gottes sei.

Als sie in die Stube traten, war hier noch niemand anwesend als ein alter Mann von nahezu 80 Jahren; er saß hinter dem Tisch und hatte ein Buch vor sich. Eingedenk der erhaltenen Instruktion ging Resli auf ihn zu und reichte ihm die Hand. Der alte Mann erwiderte den Gruß mit herzlichem Willkomm und wies dem neuen Ankömmling seinen Platz an auf der Fensterbank an dem bewussten Ort hinter dem Tisch. Die Leute, welche die Versammlung ausmachen sollten, kamen allmälig herbei, d.h. es erschienen zu den Vorhandenen noch drei Männer und drei Frauen.

Unterdessen hatte Resli Zeit, sich den alten Mann anzusehen, der hinter dem Buche saß. Ob dies wohl Jakob Freudiger war? Er mußte es wohl sein, denn das alte Mütterlein hatte beim Eintreten "Grüß di, Jakob!" gesagt. Und zudem sah man dem Alten ja an, daß er ein "freudiger Jakob" sei. Bekanntlich werden auf dem Land die Namen umgestellt, so daß aus einem "Jakob Freudiger" ein "Freudiger Jakob" wird. Im vorliegenden Fall gab die Umstellung einen trefflichen Sinn und charakterisirte den Mann, der den Namen trug. Davon legten seine Gesichtszüge Zeugnis ab, und was der Grund der Freude sei, die sich in Jakob`s Namen und Angesicht aussprach, sollte Resli gleich erfahren.

Nachdem es auf der großen Wanduhr Eins geschlagen hatte, nahm der Alte ein kleines, schmales, aber dickes Büchlein zur Hand, schlug darin ein Lied auf und las mit freudiger Inbrunst vor:

Lamm Gottes, hier bei Deinem Pfahl
Find ich was Großes anzuschauen;
Es sind die tiefen Nägelmal,
Der kranken Schafe süße Auen.
Die Größe der Liebe hat dich so verwundt,
Nun heilest Du Sünder und machst sie gesund!

Er las das ganze Lied mit seinen 13 Strophen vor, dann fing eine der Frauen an zu singen, und die übrigen fielen auch ein, als sie merkten, nach welcher Weise es gehe. Resli bekam auch eins der langgestreckten Büchlein in die Hand, doch sie waren ohne Noten, so war er genötigt, der Spur nach zu singen. Die Melodie hatte einen ziemlich eintönigen Klang, aber es lag viel Gefühl darin und die Triller88, mit denen regelmäßig jedes Verslein endigte, mischten sogar etwas Fröhlichkeit in den sonst fast wehmutsvollen Ton. Die Musik stimmte eben unwillkürlich mit dem Inhalt des Liedes überein, welches das tiefste Sündengefühl atmete, aber auch zugleich die volle Gewißheit der Versöhnung in des Lammes Blut. "Besprenge mein verdorben Herz mit deinem teuren Gottesblute", hieß es da, oder wiederum:

"Ich senke mich in Deinen Tod
Für Adams Fall und meine Sünden,
Darin sich alle meine Not
Nun enden muß und ganz verschwinden.
Mein Leben, mein Alles, was ich nun verspür,
Ist Friede, Gerechtigkeit, Freude in dir."

Resli wurde es bei diesem Gesang zu Mute, als stehe er mit den Seligen vor Gottes Thron, wo sie singen: "Würdig ist das Lamm, das uns Gott erkauft hat mit seinem Blut!" Er wollte doch wissen, was das für ein Büchlein sei, das so tröstliche Lieder enthalte. Verstohlen schlug er das Titelblatt auf und las: "Die Cöthnischen Lieder zum Lobe des dreieinigen Gottes und zu gewünschter reicher Erbauung vieler Menschen." Dieses Büchlein wurde in den Versammlungen der sogenannten Heimbergbrüder gebraucht, zu denen auch Jakob Freudiger gehörte, und es findet sich noch heute bei den Nachkommen dieser edlen Bruderschaft hoch oben im Adelboden und im Saanenland.

Zu Resli`s Verwunderung lag keine Bibel auf dem Tisch, sondern, nachdem man gesungen und gebetet hatte, legte der alte Mann seinem Vortrag das gesungene Lied zu Grunde. Sein Mund und Herz floß über von der Liebe Gottes, die sich in seinem Sohne geoffenbart hat für uns Sünder. Hier konnte nun Resli deutlich merken, was Freudiger Jakob`s Freudenquelle war, nämlich Christi vergossenes Blut. Der junge Zuhörer wurde von dieser Freude wunderbar erfaßt. Ihm ward zu Mute wie dem Apostel Paulus bei seiner Verzückung; er wusste fast nicht, ob er noch im Leibe oder schon außer dem Leibe sei. Es war das erstemal, daß er einen gemeinen Mann in elber89 Kutte solche Worte sprechen hörte.

Als der greise Redner geendigt hatte, forderte er noch die anwesenden Brüder zu einem Worte der Ermahnung auf. Es trat eine kleine Pause ein, während welcher Hans den Christen, und Christen den Hans ansah; jeder von Beiden wollte der Bescheidenere sein, und damit sagte keiner nichts, bis Jakob seine Bitte noch einmal wiederholte. Da räusperte sich Hans, hob an und sprach: "Liebe Geschwister, ich bin es zwar nicht würdig, den Mund aufzutun unter euch, da ich nur ein armer Sünder bin, aber ich sehe da zwei junge Leute unter uns und da kann ich nicht anders, als ihnen zurufen: O folget dem Lamme Gottes nach, das für euch erwürget worden ist! Weihet Ihm euere jungen Jahre, so werdet ihr im Alter nicht trauern müssen über verlorene Zeit. Denket nicht, wir alten Leute haben es leichter, dem Herrn zu dienen als ihr. O nein, jetzt ist die angenehme Zeit, jetzt ist der Tag des Heils für euch. So wenig man den Samen jetzt aufs Land aussäet, wo es mit Schnee bedeckt ist, so wenig sollte man die Gnade Gottes erst dann ins Herz aufnehmen wollen, wenn die Jahre des Kummers und der Sorgen ihren Schnee abgelagert haben auf das Haupt!"

An diese herzliche Ermahnung aus dem Munde von Bruder Hans schloß Christen noch einen guten Rat. "Es dünkt mich", sagte er, "wir haben nun genug gehört. So wollen wir denn nun das Säckli gut verbinden, damit wir unterwegs nichts verlieren von dem, was uns heute geschenkt worden ist." Damit stand er auf und sprach ein herzliches Gebet, das er mit dem Verslein schloß:

"Herr, sag zu Allem Amen!
Verkläre deinen Namen In einer jeden Seel´;
Verschließe uns aufs Beste
In deiner Wundenveste90, Gekreuzigter Immanuel!"

Nach einem Schlußgesang trennte man sich, und die beiden Geschwister zogen ihre Straße fröhlich. Zu Hause angelangt, setzten sie sich mit der Meistersfrau zum Tisch und mußten erzählen, was sie heute gesehen und gehört. Resli nannte das ein Wiederkauen, und er hat diese wichtige Tätigkeit noch viele Wochen lang geübt, bis das gehörte Wort ihm ganz in Fleisch und Blut übergegangen ist. Von dem Tage an war nicht nur aller Argwohn gegen die Versammlungen aus seinem Herzen weggewischt, sondern in jenen schönen Stunden hatte sich ein unaustilgbares Verlangen nach der Gemeinschaft der Gläubigen in seinem Herzen festgesetzt.

Kapitel 11

Wie ein Meister zum Bauen und ein Knecht zu seiner Erbauung kommt

Es war in der Zeit, wo man den Emmentalerkäse auch im Aaretal zu fabrizieren begann, daß eines Samstags Uli früher als gewöhnlich vom Markt nach Hause kam und mit Mädi, seiner Frau, eine geheimnisvolle Unterredung im Hinterstübli pflog. Das Ende vom Liede war, daß die Stockbäuerin aus der betreffenden Großratssitzung mit verweinten Augen in die Küche trat und Vreni, ihrem vertrauten Küchenrat eröffnete, "er" habe das Heimet verkauft.

"Um Gottes willen", sagte die Magd und schüttete vor Schreck den Kaffee neben den Krug, da sie gerade am Anrichten war, "Ihr werdet doch nicht am Vergeltstagen91 sein?"

"Das nicht", antwortete Mädi, "aber das Reichwerden steckt ihm im Kopf. Die Käse gelten jetzt so viel wie noch nie; da will er ein größeres Heimet kaufen, auf dem er ein halbes Dutzend mehr Kühe halten kann, das, meint er, gebe Geld ins Haus wie dürre Äpfelschnitz."

"Und Arbeit, daß man nicht mehr zu sich selber kommt", ergänzte Vreni, "aber daran sinnet eben das Mannenvolk nicht." Sprach`s und ging mit dem Milchhafen in den Stall hinaus, wo Resli am Melken war.

Stumm reichte sie dem Bruder das Gefäß. Er füllte es vorsichtig, aber nicht wie sonst bis an den Rand, sondern exakt bis zu dem schwarzen Dupfen in der Glasur, der die Grenze bezeichnete für die landesübliche Maß.

"Warum fängst du mit der Milch zu geizen an, es geht doch keine gust92?" fragte Vreni in einem nicht gerade liebenswürdigen Ton.

"Der Meister hat befohlen, es müsse mehr Milch in die Käserei und weniger in die Küche, das Weibervolk könne einmal weniger Kaffee machen im Tag, es sei an dreimal immer noch genug."

"So", sagte Vreni und machte ein Gesicht wie sieben Tage Regenwetter, "geht das Rackern jetzt schon an, wie wird`s erst werden, wenn ihr sechs Kühe mehr im Stalle habt und alles in die Käserei wandern soll? Da kann man dann Käsmilch trinken wie die Säu, oder Schnaps kaufen von dem Geld, das er an der Milch erspart. Ja, ja, es heißt nicht umsonst in der Schrift", fuhr Vreni, einmal in Redefluss gekommen, in seinem Kyb93 weiter fort, "daß die da reich werden wollen, die fallen in Versuchung und Stricke und viele schädliche und verderbliche Lüste, welche versenken die Menschen in Verderben und Verdammnis."

"Vreni", sagte Resli, "das steht freilich in der Schrift, aber dort heißt es auch, die Knechte sollen den leiblichen Herren ohne Widerbellen gehorsam sein, und am Ende hat der Meister gar nicht so unrecht, wenn er ein paar Kühe mehr halten will, denn gerade dann hat der Streit ein Ende und es gibt für die Käserei und für die Küche Milch genug."

"Aha", sagte die Schwester, noch ärgerlicher darüber, daß Resli die Neuigkeit schon wusste, die sie ihm mitzuteilen gekommen war, "da sieht man, daß das eine abgekartete Sache zwischen dir und Uli ist, aber uns hat man nicht gefragt. Du hast es also gewußt, daß er verkaufen will und hast mir nichts gesagt? Wart nur, ich sag´ dir auch nichts mehr!"

Mit dem Kauf wurde aber trotz Vreni`s Kyb doch Ernst gemacht; denn schon am andern Tag begaben sich die Meistersleute auf den Weg, um das neue Heimet in Augenschein zu nehmen, auf welches Uli`s Sinn gerichtet war. Für ihn war ausschlaggebend, daß das Gut um eine tolle Anzahl Jucharten größer als das alte, alles Land zusammenhängend und nichts streitbar zu werchen war. Mädi aber meinte, das Beste sei, es liege nicht weit von der alten Heimat ab, nur eine Viertelstunde drüben über dem Bergli, das zwei Dörfer von einander trennt; das Bergli aber ist nicht viel größer, als das neue Schulhaus, das jetzt im Dorfe steht.

Der Kauf geschah im Herbst, Nutzen und Schaden ging mit dem 1. März des künftigen Jahres an. Auf diesen Termin wurde also der Umzug festgesetzt. Darauf grauste es der Meistersfrau und der Magd den ganzen Winter lang. Das will nämlich etwas heißen, wenn ein Bauernhaus gezügelt94 werden soll, wo sich von Vater und Großvater, von Großmutter und Urgroßmutter her hundertjähriger Gerümpel angesammelt hat. Und nicht nur Gerümpel, als alte Bohnenstecken, Pflüge, Bschüttikästen95 und gespaltenes Kachelgeschirr, zum Heften aufbewahrt, sondern ganze Kästen voll schweres Leinenzeug, selbstgesponnene Ware von den Händen einer Generation, die selber längst unter dem Leichentuche liegt, geräucherte Hammen96, die vor hohem Alter grau geworden sind, 25jährige Käse, Säckli voll dürre Bohnen und Tröge voll Schnitz aus Jahren, wo es mehr Obst an den Bäumen gab, als Steine auf dem Feld.

Kein Wunder, daß am Tage, als die Züglete97 begann, alle Leiterwagen des Dorfes vor der Haustüre standen, oder vielmehr die ganze Dorfgasse entlang. Mädi sagte beim Aufladen einmal übers andere, es wisse zwar wohl, man habe nie so viel als wenn man zügeln wolle, aber daß so viel Sachen in ihrem Hause seien, hätte es doch nie gedacht. Als endlich alles aufgeladen war, stellte sich der Zug in Reih und Glied. Voran Resli, der Melker, mit seinen Pflegebefohlenen, dem Stolz jedes echten Bauernhauses. Er hatte seine Kühe prächtig herausgeputzt für diesen Ehrentag. Die größte trug seinen Melkstuhl auf dem Haupt, der aussah, wie ein drittes Horn, daran hing ein Maien98 von Immergrün und Schneeglöcklein.

Den Kühen folgte ein großer Leiterwagen mit dem besseren Hausrat darauf, zwei weitere mit dem älteren Mobiliar, wieder auf zweien befand sich das Küchen- und Milchgeschirr, die Mundvorräte hatten kaum auf einem Wagen Platz, dann kam der Vorrat an gespaltenem Holz, sechs Bäume Laden99 und endlich hintendrein kollerte das schwere Geschütz rumpelnd die holprige Dorfgasse hinab, nämlich die Bschüttikästen und das gesamte Feldgerät. Dies tönte dumpf wie die große Trommel zu dem klingenden Spiel, mit welchem die gehörnte Avantgarde aus dem Dorfe zog. Unter den Türen standen die Weiber und wischten sich die verpläreten Augen mit der Schürze ab. Mädi, die verständige und allezeit hilfsbereite Nachbarin zu verlieren, mühete sie hart, weder, sagten sie sich zum Trotz, der Zug gehe doch nicht dem Kirchhof zu, und wer über das Deppligenbergli hinüber ziehe, sei am Ende nicht aus der Welt.

Resli schien auch so zu denken, denn als er mit dem Vortrab auf der Höhe des Hügels angekommen war, von dem aus man beide Dörfer, die alte und die neue Welt überblickt, da stieß er einen hellen Jauchzer aus und schoß sein Lederkäppi hoch in die Luft. Er blickte zurück auf den langen Zug, der ihm folgte und dessen Nachhut, die Bschüttikästen, das Ende des Dorfes noch nicht erreicht hatte, während er bereits die ersten Häuser der neuen Heimat vor sich sah, und meinte, der Zug, den Noah einst in die Arche führte, könne nicht viel länger gewesen sein.

Nur schade, daß das neue Haus, in welches sie einzogen, nicht so geräumig wie Noah`s Arche war. Mädi kam in große Verlegenheit, es wusste gar nicht, wo mit allen seinen Sachen hin; und Uli überzeugte sich jetzt, da das Haus leer stand, daß dasselbe in einem ziemlich baufälligen Zustand sei. Was blieb anders übrig, als mit einem Zimmermann zu reden, der seinerseits erklärte, das Gebäude bedürfe einer gründlichen Reparatur.

So war denn vorderhand dafür gesorgt, daß es mit dem Reichwerden nicht auf der Schnellpost ging und die Taler nicht graueten100 im Trog wie die dürren Äpfelschnitze. Denn aus der gewöhnlichen Reparatur ward ein Bau, der beinahe so viel kostete, wie ein neues Haus; den ganzen Sommer über waren Maurer und Zimmerleute auf der Stör, täglich wenigstens 15 Mann, so daß der Meister wusste, warum er, als das Haus fertig war, an die Giebelwand schreiben ließ:

Behüt uns Gott vor teurer Zeit,
Vor Maurer und vor Zimmerleut,
Auch laß uns werden nie ein Braten
Für Rechtsagent und Advokaten.

Auch Resli hatte diesen Spruch beten gelernt, denn für ihn brachte die Anwesenheit des Arbeitervolkes viele Versuchungen mit sich, die fremden Arbeiter gingen nämlich nur an den Samstagabenden über den Sonntag heim und brachten darum ihre Feierabende in der Nähe des Hauses mit Spielen zu, wobei es gewöhnlich um einige Flaschen ging. Ließ sich nun Resli auch nicht mit ins Wirtshaus ziehen, wozu der Meister, der selbstverständlich immer dabei war, es an wiederholten Versuchen nicht fehlen ließ, so sah er sich doch in der stillen Betrachtung des Wortes Gottes, der er sonst seine freien Abende gewidmet hatte, meistens gestört. Für das innere Leben war daher dieser unruhige Sommer eine trockene und dürre Zeit, und es kostete große Wachsamkeit, damit nicht über der Erbauung des Hauses die Erbauung des Herzens vernachlässigt ward.

Resli war aber nicht einer von denen, die sich das Baumaterial so leicht stehlen lassen. Fand er am Abend keinen ruhigen Augenblick, so stand er dafür am Morgen um so früher auf. Sein Gebetskämmerlein war dann der Stall. Er hatte sich zu jener Zeit gerade vorgenommen, die Bibel von Anfang bis zu Ende durchzulesen. Da fand er denn beim Durchgehen der Bücher Moses viel köstlichen Balsam für die Wunden, welche ihm die groben Späße der Zimmerleute schlugen, und schöpfte aus Noahs, Abrahams, Jakobs, Josephs und Moses Beispiel manchen weisen Rat, wie die Versuchung zu überwinden sei.

Resli sah sich eine Zeit lang für seine Erbauung fast ausschließlich auf sein eigenes Bibellesen beschränkt. Das Familienleben war im neuen Haus nicht mehr das gleiche, wie es im alten gewesen war. Das gemeinsame Lesen an den Abenden hatte aufgehört und wurde auch nach beendigter Bauerei nicht mehr eingeführt, und der Gesang war über dem Geräusch des Hammers und der Säge verstummt. Mädi und Vreni waren zwar keineswegs vom Glauben abgefallen, aber jedes ging seiner Privaterbauung nach, und die gemeinsame Andacht wurde versäumt, wie dies merkwürdigerweise unter den gläubigen Gliedern ein und derselben Familie nicht selten der Fall sein soll, so daß man fast glauben könnte, sie hätten sich auf das bekannte sozialistische Programm verpflichtet, welches will, daß "Religion Privatsache" sei.

Item101, gab es zu Resli`s Zeiten auch noch keine sozialistische Partei, so hatte sich doch in der Gegend eine mystische Gesellschaft gebildet, und dieser trat seine Schwester bei; sie zog sich nach und nach ganz in ihr tiefes Denken zurück, worin sie ihr ganzes Christentum zu verschließen schien, wie eine Schnecke in ihr Haus, so daß für die Außenwelt nur noch die rauhe, harte Schale übrig blieb. Auch die Frau ging ihre eigenen Wege; mehr, als sie dies früher gewohnt war, verließ sie an den Sonntagnachmittagen das Haus; ob sie die Längizyti102 nach der alten Heimat dazu veranlaßt hat, wir wissen es nicht, nur daß sie gewöhnlich über das Bergli ging.

Resli verbrachte aber die Sonntagnachmittage allein mit seiner Bibel ganz seelenvergnügt. Da fehlte es ihm ja an segensreichem Umgang nicht. Moses und Elias traten zu ihm, wie einst zu Jesu, als er auch allein war und betete, wie Resli jetzt. Johannes kam zu ihm und sagte ihm wieder, was er einst an Jesu Brust gehört, und Paulus verkündete ihm das Evangelium, ja, er fühlte wohl, daß der Heiland auch jetzt noch sich dem nahen kann, der sich allein, wie Maria, zu Seinen Füßen setzt und Seiner Rede lauscht. Nur hätte er manchmal gerne einen Philippus gehabt, der ihm ausgelegt hätte, was er nicht verstand. Doch hat er auch erfahren dürfen, daß der Geist Gottes selbst der beste Ausleger ist, und eine Schrift ward ihm durch die andere erklärt. Das Alte Testament gab ihm den Schlüssel zum Neuen und aus dem Neuen empfing er über das Alte Licht. Nach und nach ward es ihm klar, daß die heilige Schrift ein zusammenhängendes Ganzes sei, und wenn der junge Forscher auch noch manches Blatt überlegen mußte, ohne daß sich das Dunkel lichtete, das für ihn noch über einzelnen Stellen lag, so ward ihm doch Gottes Wort zur Leuchte auf seinem Lebensweg und erwies sich an ihm als eine Gotteskraft.

Dies verspürte Resli einmal besonders deutlich bei folgender Gelegenheit. Er hatte seinem älteren Bruder Geld entlehnt, für ihn eine bedeutende Summe, die er sich von seinem sauer verdienten Lohn erspart und gerade im Begriffe war, in die Kasse zu tun. Als die Zeit kam, wo Resli sein Geld nach dem Versprechen des Bruders wieder zurückerhalten sollte, wurde ihm die Zahlung so: "Ich gebe nichts zurück," sagte der Bruder, "ich habe eine Familie und du bist ledig, du kannst anderes verdienen."

Eine solche unbrüderliche Antwort hatte Resli nicht erwartet. Der Ärger packte ihn und das Blut stieg ihm warm zum Kopf. Aber er ging auf sein Zimmer, nahm seinen Tröster, das Neue Testament, aus der Kiste und schlug voll Unmuts dasselbe auf, in der Erwartung, der Herr werde ihm ein Trostwort schenken zur Beruhigung. Und richtig, die erste Stelle, auf die sein feuchtes Auge fiel, war Matthäus 5,42: "Gib dem, der dich bittet, und wende dich nicht von dem, der dir abborgen will!"

Dieser seltsame Trost wirkte so kräftig, daß Resli im ersten Augenblick das Blatt am liebsten herausgerissen hätte aus dem Neuen Testament. "Ja", sagte ihm eine Stimme, "das kannst du tun, dennoch vergehen meine Worte nicht."

Er tat das Buch in die Kiste und setzte sich darauf; aber das Wort des Herrn leuchtete hindurch, und zwei Mächtige kamen in einen heißen Kampf, bis der Stärkere den Starken überwunden hat, und Resli in Scham und Reue zu des Heilands Füßen sank. Da ist das Geld ins Wasser gefallen, die Wellen haben es zugedeckt; dort ist es auch geblieben. Und der Herr stand über den Wellen und sprach: "Ist nicht mein Wort wie ein Feuer und wie ein Hammer, der Felsen zerschmeißt?"

Kapitel 12

Ein mißlungener Angriff

Eines Abends schickte die Müllerin unten im Dorf, um einzuladen zu einem Abendsitz. Die Meistersfrau, Resli und seine Schwester, die schon ungefähr wußten, was für Abendsitze man in der Mühle hielt, gingen miteinander hin. Vier Männer aus dem Oberland waren gekommen, ein kleiner Kreis von meist älteren Leutlein sammelte sich um sie. Mit einem Liede wurde der Anfang gemacht, dann teilten die Männer, ein paar Veteranen der Heimbergbruderschaft, etwas von ihren Erlebnissen mit. Der Inhalt ihrer Gespräche war der Sündenfall und die Erlösung durch Christum. Darüber wurde lebhaft gesprochen, auch der alte Dorfschulmeister beteiligte sich an der Diskussion. Zum Schluß sang man wieder ein Lied.

Auf dem Heimweg richtete es der Schulmeister so ein, daß er ein Stück weit mit Resli zusammenging. "Es freut mich", sagte er, "daß du auch in die Versammlung gekommen bist; aber hast du auch die Kosten überschlagen?"

"Wie meinst du das, Schulmeister," fragte Resli erstaunt?

"Ja", sagte der Alte, "es kostet viel, ein Christ zu sein, und nicht nur viel, sondern alles, wenn man dem Heilande nachfolgen will."

Resli dachte unwillkürlich an sein Geld, das er dem Bruder geliehen und das er um Christi willen für verloren gab.

"Ich meine es so," fuhr der Schulmeister fort, "daß es dir an Verachtung, Schmach und Spott nicht fehlen wird, wenn du die Versammlung besuchst; du bist der einzige junge Mensch im Dorf, der es tut, da kommst du nicht ungeschoren durch."

"Was du befürchtest," antwortete Resli lachend, "davon ist mir schon ein gutes Teil zugemessen, und ein Quentlein mehr ist mehr als eine Königskrone wert. Der Heiland hat ja alles getan, was zu meiner Seligkeit nötig ist, und es ist eine unverdiente Gnade, wenn ich Ihm das Kreuz nachzutragen gewürdigt werden soll."

"Nun", sagte der Schulmeister, sichtlich erfreut über des Jünglings mannhaftes Wort, "so kommst du also noch mehr zu uns? Jeden Sonntag Nachmittag findet eine kleine Versammlung statt, abwechslungsweise in der Mühle und bei mir, nächsten Sonntag ist es in meinem Hause, ich erwarte dich."

"Mit Freuden", sagte Resli, "nehme ich euere Einladung an, nur eines sagt mir noch, Schulmeister, warum nämlich in euern Versammlungen nur geredet und gesungen und nicht auch Gottes Wort gelesen wird?"

"Weißt du nicht," sagte der Schulmeister, "daß dies von der Regierung streng verboten ist? Alles Lehren und Predigen außerhalb der Kirche ist untersagt, und Predigen heißt ja eben, wenn man einen Bibeltext zu Grunde legt. Hast du nicht gehört, wie es dem Johannes Liechti ergangen ist, als er vor etlichen Jahren bei einer Versammlung im Hohlenhaus mit dem Testament in der Hand auftrat? Er mußte auf dem Amtssitz erscheinen und wurde mit einer bedeutenden Geldsumme gebüßt, weil er in ein fremdes Amt eingegriffen habe."

Resli fehlte von da an keine Versammlung mehr, der alte Schulmeister ward sein Freund, vor dem er eine hohe Achtung gewann; er lernte ihn kennen als einen Mann, in dessen Herzen die Liebe Gottes ausgegossen war. Solche Schullehrer hatte der Herr damals in der Umgebung mehrere erweckt, die als Lichter leuchteten in die Nacht hinein, obgleich die neuere, aufgeklärte Generation auf sie als auf Dunkelmänner zurückzusehen pflegt. An den Sonntagen ging man stundenweit zu ihnen in die Kinderlehre, die Schulhäuser füllten sich mit Jung und Alt. Das Wort Gottes war eben teuer im Land, manche der berufenen Hirten schliefen, und man hörte hie und da Stimmen, um eine Predigt zu studieren, wollten sie sich den Kopf nicht zerbrechen, für 6 Kreuzer könnten sie eine kaufen. Ob dies wahr war oder nicht, tatsächlich war es eine geistesarme Zeit, und das vorhandene Geistesleben entzog sich möglichst der Beobachtung.

Die Weissagung des Schulmeisters ließ nicht lange auf ihre Erfüllung warten. An einem Sonntag Nachmittag, als Resli auf die Mühle ging, sah er schon von weitem, daß etwas Verdächtiges im Anzug sei. Er verdoppelte seine Schritte, aber als er zur Mühle kam und die Treppe hinauf wollte, stand ein Trupp Jünglinge vor der Tür. Ihr Rädelsführer, ein Mahlknecht, trat ihm in den Weg und nahm das Wort:

"Heute lassen wir dich nicht hinein! Es ist eine Schande für einen jungen Menschen wie du bist, zu solchen Leuten zu gehen, von denen man nicht weiß, was sie machen; du bist der Einzige von allen jungen Burschen, der an solche Zusammenkünfte geht. Wir müssen uns schämen, daß du ein solcher Kopfhänger geworden bist; höre auf und komm mit uns, hie und da ins Wirtshaus zu gehen und zu tanzen ist doch nicht Sünde, wir wollen einst auch selig werden, wenn wir schon nicht ins Stündeli gehen."

Resli hörte dieser wohleinstudierten und mit vielem Nachdruck, ja mit einem gewissen Mitleid vorgetragenen Rede geduldig zu. Dann tat er seinem Mund auf und erwiderte:

"Daß ihr euch schämen müßt, wie ihr sagt, daß ich der Einzige bin, der an solchen Zusammenkünften Anteil nimmt, wo geistliche Lieder gesungen werden und über göttliche Sachen geredet wird, diese Schande fühle ich tief genug. Ja, eine Schande ist es für die ganze Christenheit, daß ich der Einzige bin, wie ihr sagt. Bevor ihr aber ein Urteil fället, kommt doch mit mir hinauf und sehet selber, was getrieben wird. Daß ich ein Kopfhänger geworden bin, ist eine Unwahrheit; dazu habe ich keine Ursache. Mein Vater sitzt auf einem Königsthron und Sein Erstgeborener ist mein Bruder, der mich liebt. Auf euere Einladung, meinen Weg zu verlassen und den eurigen zu betreten, sage ich entschieden: Nein! Ihr sagt, ihr wollet einst auch selig werden; damit bekennet ihr also, daß ihr es nicht seid, und das ist auch kein Wunder; denn auf dem Weg, darauf ihr gehet, findet ihr die Seligkeit nicht. Ich will es euch aus eigener Erfahrung bezeugen. Ich ließ mich einmal in eine Tanzgesellschaft verleiten, da wollte ich mitmachen, aber ich konnte nicht; denn ich sah meines Vaters Angesicht wie Feuer, und die Stahlen brannten bis in das Innerste meines Herzens hinein, und wäre mein erstgeborener Bruder nicht ins Mittel getreten, sie hätte mich in die Hölle hinein gebrannt. Den Weg, den ich eingeschlagen, vertausche ich um keinen Preis; ich bin schon jetzt selig, denn ich habe die Seligkeit gefunden in dem Verdienst Jesu Christi, der für uns gestorben und auferstanden ist und der nun zur Rechten des Vaters im Himmel sitzt. Und wißt ihr, was man da oben an den Sonntagnachmittagen macht? Dort wird von den alten Leutlein das Lösegeld gezählt, das der Heiland für uns hingegeben hat. Und jetzt laßt mich hinein, wer mitkommen will, der ist herzlich eingeladen."

So ward Resli Mund und Weisheit gegeben, im rechten Augenblick. Sprachlos traten die jungen Leute zur Seite und ließen ihn, ohne ihm auch nur einen Spottnamen zu geben, unbehelligt die Treppe hinauf. Von dem Tage an aber hat keiner mehr ein Wort gesagt.

Kapitel 13

Eine Maifahrt

Resli wurde eines Tages mit einem Auftrag nach Griesbach ins Wirtshaus geschickt. Der Löwenwirt war seines Meisters guter Freund; er wusste warum. Resli hatte sich nun freilich nicht in gleicher Weise um die Freundschaft der Wirtsleute hochverdient gemacht, denn er ließ in der Regel, wenn er ins Dorf kam, was fast jeden Sonntag geschah, den "Löwen" links am Wege liegen und pilgerte einem andern Hause zu, nicht weit davon, dessen Turm aber höher hinauf wies als das Wirtsschild, das über der breiten Straße hing. Um so mehr wunderte es ihn, daß die Wirtstochter ihm freundlich ein Glas anbot und, da gerade niemand in der Gaststube war, mit ihm ein Gespräch anzuknüpfen begann.

"Du gehst viel zur Predigt", sagte sie, kennst du etwa auch den Pfarrer zu Schloßberg, zwei Stunden von hier?"

"Nein", sagte Resli, "der ist mir nicht bekannt; ich war noch nie in jenem Ort."

"Nun", sagte die Tochter ganz begeistert, "den solltest du einmal hören. Ich war unlängst zu Gevatter103 dort, die Predigt machte einen tiefen Eindruck auf mich, so was hab´ ich hier noch nie gehört; seitdem ich dort gewesen bin, kommen mir meine Sünden wie Zentnersteine vor."

Resli war ob diesem Bekenntnis, das er von einer Wirtstochter zuallerletzt erwartet hätte, ganz verdutzt, besonders als er bemerkte, wie dem Mädchen bei den Worten eine Träne ins Auge trat. Er hatte zuerst geglaubt, als sie vom Predigtgehen und Pfarrern sprach, sie rede eben nach Art der schlauen Wirtsleute mit ihm von dem, wovon sie wisse, daß es ihm anständig sei. Allein er merkte gleich, er habe es hier nicht mit einer bloßen Drehorgel zu tun, die je nach Wunsch einen Tanz oder einen Choral spielen kann, sondern mit einer Seele, die unter einer schweren Bürde liege. Was solche Leute nötig haben, war ihm aus eigener Erfahrung bekannt; er sagte darum zu ihr: "Du mußt dir den Spruch Pauli zu Nutzen machen, der von Christo sagt: Er ist um unserer Missetat willen dahin gegeben, und faß es recht auf," setzte er hinzu, "für deine Missetat."

"Ja, aber Er wird doch auch unser Richter sein," antwortete die Tochter, "und ich habe gelesen, daß Er als solcher bald wiederkommen wird."

"Wo hast du das gelesen?" fragte Resli. Die Tochter holte ein Buch aus der hintern Stube hervor. "Da", sagte sie, "dieses Buch hat mir ein frommer Mann verkauft, der vor einiger Zeit hier übernachtete, ich habe es gelesen und es hat mir großen Schrecken eingeflößt."

"Was hat dich denn erschreckt in dem Buch?" fragte Resli, der sich den Titel ansah und es gleich erkannte als eine Schrift, die gegenwärtig stark im Umlauf war und viel Aufsehen erregte. Er hatte es selbst auch gelesen; es hieß der "Warnelaut" und handelte von der baldigen Wiederkunft Christi; dieselbe war darin auf das Jahr 1836 festgesetzt. Freilich war zu aller Fürsorge die Möglichkeit offen gelassen, daß sich das Ereignis auch bis zum Jahre 1866 verzögern könnte; eine Hintertüre ist ja immer kommod.

"Das Buch kenne ich", sagte Resli ruhig, "es hat viele aus ihrem Schlaf aufgeweckt, daß sie fragen, was das werden soll. Aber ein Fehler ist doch darin; der Verfasser setzt sich über das klare Wort des Herrn hinweg, der in Betreff seiner Wiederkunft erklärt: "Euch gebühret es nicht zu wissen Zeit oder Stunde, welche der Vater Seiner Macht vorbehalten hat, und den Tag oder die Stunde weiß niemand, auch die Engel im Himmel und auch der Sohn nicht, sondern allein der Vater." Meinst du nun, daß ein Bücherschreiber im 19.Jahrhundert mehr wissen kann, als Jesus selbst wusste, da Er auf Erden war?"

"Glaubst du also nicht, daß Christus wiederkommen wird?" fragte die Tochter und atmete leichter auf.

"Von ganzem Herzen glaube ich das," antwortete Resli, "und zwar weil der Herr selbst seinen Jüngern deutlich verheißen hat: "Ich will wiederkommen und euch zu mir nehmen, auf daß ihr seid, wo ich bin." Aber fürchten kann ich mich nicht davor, warum sollte ich mich auch vor der Wiederkunft dessen fürchten, den meine Seele liebt? Mein Heiland wird mein Richter sein; ich glaube nicht, daß Er, der meine Sünden getragen hat, mich verdammen kann."

"Du bist ein glücklicher Mensch", sagte die Wirtstochter und wischte sich eine Träne ab; "ich wollte, ich wäre auch so, aber ich bin ein sündiges Menschenkind."

"Dann bist du grad was ich!" sagte Resli. "Aber darum eben mußt du Vergebung deiner Sünden suchen, und die findest du nicht, wenn du auf den zukünftigen Richter blickst, sondern wenn du auf den gekreuzigten Heiland schaust."

Ein Gast trat ein und Resli verabschiedete sich.

Zu Hause waren die Schneider auf der Stör. Es war Mai. Ein prächtiger Abend, wie ihn nur der Wonnemonat bringen kann, dämmerte über das Land. Resli ging nach dem Nachtessen mit dem Schneidergesellen dem Saume des Wäldchens entlang, das den Hügel krönt, von welchem aus man das Tal überschaut. Die silberne Mondessichel neigte sich den westlichen Bergen zu. Die Bäume standen im herrlichsten Blütenschmuck, und ein milder Wind führte den balsamischen Duft von tausend Blumen, die der Lenz hervorgezaubert hatte, den beiden Wanderern zu.

"Es wäre doch schön, jetzt eine Reise zu machen", meinte der Schneidergesell.

"Am Sonntag wollen wir eine machen", sagte Resli, "ich habe schon einen Reiseplan ausgeheckt."

"Ja, wohin willst du denn?"

"Nach Schloßberg; ich habe gehört, daß dort ein guter Pfarrer sei. Wir machen uns früh auf den Weg, dann sind wir bis 9 Uhr lange dort."

"Ich komme mit", sagte der Schneidergesell, "wenn du mir ein Glas Wein bezahlst."

"Das sollst du haben", sagte Resli, "aber ich hoffe, daß du noch mehr von der Reise profitiren wirst."

Resli machte den Meister mit seinem Reiseplan vertraut; der gab ihm den Sonntag gerne frei. Die Beiden luden noch andere junge Leute ein, und so machten sich am Sonntag früh ihrer Sechse auf den Weg.

Ihr Weg führte sie durch ein liebliches Tal, dessen feierliche Stille auch heute noch keine Dampfpfeife stört, um so schöner pfeifen und zwitschern die Vögel dort. Mit fröhlichem Gesang verfolgten auch unsere Wanderer den Pfad, der sich auf dem sanft ansteigenden Talgrund durch frisch bebaute Wiesen schlängelte. O wie üppig stand das Gras! Wie wohltuend für das Auge nahmen sich die gelben Blumen auf dem grünen Rasenteppich aus! Resli konnte nicht müde werden, sich daran zu ergötzen, wie weislich Gott die Farben geordnet hat in der Natur und wie väterlich Er für jedes Geschöpf im Besondern gesorgt. Er lässet Gras wachsen für das Vieh und Saat zu Nutz den Menschen, und für die Bienlein hat er die Blumenkelche mit Süßigkeit gefüllt und noch dazu diese Honigfässer mit allen möglichen Farben bunt bemalt, damit das scharfe Auge der Biene schon von weitem die Speisekammer entdecken kann.

Auch Resli und seinen Begleitern winkte schon von weitem das Kirchlein entgegen, nach dem sie ausgeflogen waren, um wie Bienen Honig zu saugen aus Gottes Wort. Ein alter grauer Turm schaute von dem bewaldeten Hügel herab, der sich vor ihnen am Horizont erhob. Als sie dem Hügel näher kamen, verschwand der Turm. Aber den Weg konnten sie doch nicht verfehlen, denn die einsame Straße belebte sich immer mehr mit Leuten, die, ein Buch in der Hand, ohne Zweifel demselben Ziele zusteuerten. Sogar ein zweispänniger Herrschaftswagen fuhr an ihnen vorbei, vor dessen Insassen, einem Herrn, einer älteren Dame und zwei jungen Töchtern die Landleute sich ehrfurchtsvoll verbeugten, und Resli erfuhr auf Befragen, dies sei der Schloßherr vom benachbarten Hüningen, er fahre jeden Sonntag im Sommer mit seiner Familie nach Schloßberg in die Predigt, den Winter verbringen die Herrschaften in der Stadt.

Es fing eben an zusammenzuläuten, als die jugendlichen Wallfahrer das Kirchlein erreichten neben dem alten Schloß, das den Hügel krönt und von Alters her ein Amtssitz ist. "Nun", sagten sie, "sind wir doch noch früh genug"; aber als sie eintraten, fanden sie zu ihrer Verwunderung den Raum schon angefüllt. Sie hatten Mühe einen Platz zu finden, nur ganz vorn sahen sie noch eine leere Bank, und so sehr dies ihnen zuwider war, mußten sie sich doch dorthin setzen, denn die Kirchen füllen sich eben auch, wie die Heuschober von hinten nach vorn, und die Letzten müssen deshalb gar oft, ob sie wollen oder nicht, die Ersten sein.

Bis es verläutet hatte und der Gottesdienst begann, war es ihnen recht unangenehm, an einem solchen Platz zu sitzen, wo man von Jedermann beaugapfelt werden kann, sie wagten kaum aufzusehen und einen verstohlenen Blick zu werfen in das Chor104, wo der Herr Landvogt saß und der Schloßherr, der vorhin an ihnen vorbeigefahren war. Soviel sahen sie aber doch, daß hier die Herren Chorrichter105 nicht durch ihre Abwesenheit glänzten, denn ihre Stühle waren bis auf den letzten besetzt.

Die Glocken verstummten, der Schulmeister intonierte das Vorspiel, der Pfarrer trat auf die Kanzel und damit war die Verlegenheit unserer jungen Freunde vorbei, denn nun richteten sich aller Augen auf den Mann, der mit lauter, vernehmlicher Stimme die beiden Verse vorlas, die gesungen werden sollten. Die Salbung, mit der dieser Prediger auftrat, erklärte schon hinlänglich den großen Zulauf, den er hatte, und dazu kam, daß er aus lebendiger Erfahrung zeugte, nach dem Wort: "Ich glaube, darum rede ich." Sein Text stand heute im Ev. Johannis, Kapitel 10, daselbst im 13. Vers, wo Jesus spricht: "Ich und der Vater sind Eins!" Die Gemeinschaft mit Gott, das war der Inhalt seiner Predigt. Dem Pfarrer war es mit dem Glauben an den Sohn Gottes ernst, den er predigte. Denn als nach einer Reihe von Jahren die Regierung einen Professor der Theologie nach Bern berief, der die Gottessohnschaft Christi leugnete, da hielt der Pfarrer von Schloßberg es für seine Gewissenspflicht mit noch einigen andern gegen dieses Ärgernis zu protestieren, und weil er nicht nachgeben wollte, so büßte er darüber seine Stelle ein, lieber als seinen Glauben zu verleugnen.

Daß der Brotkorb nicht sein Maulkorb war, merkte man ihm schon damals an, als Resli seine Predigt zum erstenmal besuchte, denn er predigte nicht nach dem Ansehen der Person, sondern wandte die Wahrheit unerschrocken auf Hoch und Niedrig an.

Die Predigt erweckte darum auch ein solches Zutrauen in Resli und seinen Begleitern, daß sie nach Beendigung des Gottesdienstes beschlossen, noch ins Pfarrhaus zu gehen zu einer persönlichen Unterredung mit dem Mann, dessen Wort ihnen so wohl getan. Leider hieß es aber, der Herr Pfarrer müsse gleich nach der Predigt fort, er habe noch einen Gottesdienst in einem entfernteren Schulhaus der Gemeinde abzuhalten, und so traten denn die jungen Leute ihren Heimweg wieder an.

Am Rande des Schlossbergwaldes setzten sie sich nieder und verzehrten ihren Mundvorrat, den sie in den Rocktaschen mitgebracht. Das Brot war ihnen allerdings mittlerweile schon etwas trocken geworden, und der Wurst, die sie dazu aßen, fehlte es nicht am Salz; doch um dem Durste abzuhelfen, hat der liebe Gott das schöne Bernerland mit guten Quellen versorgt. In diesem Lande triefen zwar die Hügel nicht von süßem Wein, wie man es vom gelobten Lande liest und in Mostindien sieht, aber so viele Rebstecken andere Gaue106 unseres lieben Schweizerlandes aufzuweisen haben, so viel immergrüne Tannenbäume ragen im Bernerland zum blauen Himmel empor, und ihrem kühlenden Schatten ist es nicht am wenigsten zu danken, daß das Land von so herrlichen Quellen bewässert wird.

In Ermangelung eines geistigen Getränkes sangen aber unsere Wanderer zudem noch ein geistliches Lied und jeder sprach sich offen und frei über die gehörte Predigt aus. Dann setzten sie ihre Reise fort.

Nun freilich mußte Resli auch an die Erfüllung seines Versprechens denken, laut welchem er dem Schneidergesellen für die Begleitung ein Glas Wein schuldig war. "Hört", sagte er darum zu seinen Reisegefährten, als sie das Tal wieder hinunterschritten, dort wo man den Kirchturm von Grießbach von weitem sieht, "wenn wir ins Dorf kommen, so zahle ich eine Maß Zwölfbergischen, aber unter der Bedingung, daß wir alle miteinander das Wirtshaus wieder verlassen, wie wir es betreten haben."

Alle erklärten sich mit dieser Bedingung einverstanden. Als sie ins Dorf kamen, stand der Löwenwirt unter der Tür. "Heute kommen wir auch zu euch," sagte Resli, "wir haben einen weiten Weg gemacht und sind durstig geworden."

"So, das ist recht," sagte der Wirt, "aber die Gaststube ist voll, ich will euch in ein besonderes Zimmer führen lassen."

"Lisi", rief er seiner Tochter, "komm, führe diese jungen Leute hinauf."

Lisi erfüllte diesen Auftrag gern, denn ihr war es unter der lärmenden Gesellschaft in der Gaststube nicht besonders wohl. Resli sah es als eine Vorsehung Gottes an, daß sie es so gut getroffen hatten; denn nun bekam doch Lisi auch noch etwas von der Predigt zu hören, und sie waren nicht in Gefahr, den Segen wieder zu verlieren, den sie am Morgen empfangen hatten.

Die jungen Leute trugen von ihrer Maifahrt wirklich einen reichen Gewinn davon. Der Pfarrer hatte ihnen nicht nur ins Ohr, sondern der heilige Geist hatte ihnen ins Herz gepredigt. Die bleibende, sichtbare Frucht jener Predigt war, daß sie noch am Abend desselben Sonntags sich zu einem Gebetsbunde vereinigten, der von da an jeden Samstag Abend nicht nur zusammen kommen sollte, sondern wirklich zusammen kam. Die Teilnehmer waren bei der Gründung des Vereins alle ledigen Standes. Sie gelobten sich gegenseitig vor dem Herrn, Ihm anzuhangen und mit Seiner Hilfe Ihm treu zu sein, allen weltlichen Vergnügungen abzusagen und in einem gottseligen Wandel Ihm nachzufolgen.

Dieser Verein ist für Resli, den ehemaligen heimatlosen Güterbuben, seine geistliche Familie geworden, darin er das Wort verstehen lernte: "So seid ihr nun nicht mehr Gäste und Fremdlinge, sondern Bürger mit den Heiligen und Gottes Hausgenossen." Es gibt Leute, denen an der christlichen Gemeinschaft nicht viel liegt. Sie werden aber doch den Wert derselben nicht leugnen können, wenn sie sehen, wie ein von Jugend auf verschupftes107 Waisenkind darin seine Heimat finden kann.

Kapitel 14

Wie ein junger Bauernknecht zum erstenmal nach Bern kommt und ein alter Schulmeister zum letztenmal

Ein altes Mütterchen, eine Jugendfreundin von Resli`s Meistersfrau, kehrte von Zeit zu Zeit im Hause ein. Sie wohnte in Bern, besuchte aber öfters ihre verheiratete Tochter auf der Schwarzenegg, und da sie den weiten Weg nicht in einem Tag zurücklegen mochte, blieb sie gewöhnlich bei Resli`s Meistersleuten übernacht. Wenn sie kam, gab es jedesmal einen interessanten Abendsitz, denn die Frau hatte ein gutes Gedächtnis und wusste viel von Bern zu erzählen.

Es war anfangs der dreißiger Jahre. Viel Neues trug sich damals zu in der alten Zähringerstadt108. Eine liberale Regierung hatte das alte Patrizierregiment109 abgelöst, und die beginnende Befreiung der Geister von althergebrachten Formen brachte manche neue Schöpfung auf politischem und religiösem Gebiet. In den christlichen Kreisen der Stadt regte sich`s. Die Frau erzählte, wie der vor Jahresfrist von der alten Regierung verbannte Herr Carl von Rodt zurückgekehrt sei und nunmehr unter dem Schutze der neuen Regierung sein früher hartverfolgtes Werk fortsetze, eine freie Gemeinde zu sammeln. Am meisten aber wusste sie von den Zusammenkünften zu berichten, die seit einiger Zeit draußen im Sulgenbach bei der alten Ochsenscheuer in der engen Wohnung des "blinden Eisi" abgehalten wurden. Das Eisi sei eine alte Emmentaler Jungfrau, die frühzeitig das Augenlicht verloren habe, der aber umsomehr das himmlische Licht aufgegangen sei. Sie könne gar schön auf der Zither spielen und singe solche Lieder dazu, daß einem das Augenwasser komme, wenn man sie höre. Viele Leute, Reiche und Arme aus der Stadt und vom Land, suchten sie in ihrem heimseligen Stübchen auf, um bei ihr Trost und Erbauung zu empfangen, und an Sonntagen finde eine wahre Wallfahrt zu blinden Eisi`s Wohnung statt. Sogar vornehme Herren und Frauen schämten sich nicht, bei der alten blinden Magd einzukehren, und seit einiger Zeit veranstalte ein Herr Stettler aus der Stadt dort am Sonntag Nachmittag regelmäßig eine Besprechung über einen Bibelabschnitt.

Diese und ähnliche Mitteilungen erregten in Resli`s Herzen den Wunsch, er möchte das blinde Eisi doch auch einmal sehen und einer solchen Zusammenkunft beiwohnen in der Stadt. Er fragte das alte Mütterchen, ob er wohl kommen dürfte. Er sei noch nie in Bern gewesen, z`Märit gehe der Meister selbst und nur zur Kurzweil oder um die Bären und den Zeitglocken zu sehen, würde er keinen Sonntag dranwenden; die Gemeinschaft der Gläubigen sei ihm aber wohl einen vierstündigen Marsch wert. Die Frau lud ihn freundlich ein, bei ihr einzukehren, wenn er komme, und sie legte beim Meister Fürsprache ein für Resli, daß er ihn einmal nach Bern gehen lasse.

Damals wurde zu den Bernfahrten noch fleißig die Wasserstraße benützt und auch Resli fand Gelegenheit, auf einem Weidling110 die Aare hinunter nach Bern zu fahren. Man stieg im Aarziele aus, dort wo die Stadt sich zum Aarenufer hinunterneigt und der Fluß ihrer Ausdehnung ein natürliches Ziel gesetzt. Hoch ragten die stolzen Gebäude der Stadt über die steile Halde empor, die zum tiefen Rinnsal hinunterfällt, und spiegelten sich im Fluß. Beim Anblick der hohen Plattform, auf der das Münster sich zu schwindelnder Höhe erhebt, entschlüpfte Resli beinahe der Ruf: "Welche Steine und welch´ ein Bau ist das!"

Er wurde jedoch von seiner alten Freundin, die ihn bei der Ankunft des Schiffes in Empfang nahm, nicht in die stolze Kathedrale, sondern zu der Ochsenscheuer im Sulgenbach in das freundliche Stübchen der blinden Eisi geführt. Das Zimmer war schon von einer kleinen Versammlung angefüllt. Ein lebhafter junger Mann führte das Wort. Man sang zuerst ein Lied, zu welchem das blinde Eisi die Zither schlug. Dann forderte der junge Mann einen Herrn von Goumoëns zum Gebete auf. Resli geriet in seiner Halblein-Kutte beinahe in Verlegenheit, als er merkte, daß er unter Herrenleute geraten sei. Doch das herzliche Gebet des jungen Herrn erinnerte ihn gleich daran, daß zwischen Bauernknechten und Patriziern vor dem Throne Gottes kein Unterschied sei.

Und wie heimelig wurde es ihm, als nun der Leiter der Versammlung die biblische Besprechung zu eröffnen begann. "Wir wollen heute miteinander reden über das elfte Gebot; könnt ihr mir sagen, wo dasselbe geschrieben steht?" fragte er und sah sich in dem Kreise um.

Die Leute machten ein verdutztes Gesicht. Einige schlugen ihre Bibel im 2.Buch Mose, Kapitel 20 auf; dort steht ja, wie sie wußten, das Gesetz.

"Die Lutheraner", so ließ sich einer der Anwesenden vernehmen, "zerlegen das zehnte Gebot in zwei. Dafür lassen sie aber das zweite Gebot ausfallen oder verbinden es mit dem ersten. So bekommen sie aber doch nur zehn Gebote und nicht elf, wie du, Bruder Stettler, sagst. Nun behalten wir Reformierten aber das zweite Gebot bei, das den Bilderdienst verbietet, und wenn wir dazu das zehnte Gebot in zwei zerlegen, dann gibt es allerdings elf."

"So meine ich es aber nicht," antwortete Herr Stettler lächelnd. "Das zehnte Gebot kann man nicht zertrennen, ohne dem Worte Gottes Gewalt anzutun; es ist Ein Gebot und verbietet die böse Lust jeglicher Art. Aber denkt doch ein wenig darüber nach, ob es nicht außer den zehn Geboten noch ein weiteres gibt."

Die Leute blätterten hin und her im Gesetz, aber sie fanden nichts.

"Ihr macht einen Fehler", nahm Herr Stettler das Wort, "daß ihr bei Mose stehen bleibt und meint, Gebote gebe es nur im Gesetz und nicht auch im Evangelium. Macht nun einmal den Weg vom Sinai nach Jerusalem, geht von Mose zu Christo über und schlaget auf das Evangelium Johannis, Kapitel 13, und leset da den 34. Vers."

"Ein neu Gebot gebe ich Euch, daß ihr einander liebet, gleichwie ich euch geliebet habe", tönte es aus einer Ecke des Zimmers hervor.

"O", riefen alle Anwesenden aus; "daran haben wir nicht gedacht."

"Ja", sagte Herr Stettler, "ein neu Gebot; denn die Liebe hat der Sohn Gottes in die Welt gebracht; vor Seinem Erscheinen war die Welt liebeleer. Ein neu Gebot und doch alt, denn wer liebt, erfüllt das ganze Gesetz. Ein neu Gebot aber heißt es, weil es ein neues Herz erfordert; wer so lieben will, wie Jesus es meint, muß von Neuem geboren sein."

Der Redner zeigte, wie diese Liebe die Grundlage der Gemeinschaft der Kinder Gottes und also auch der in blinden Eisis Stübchen kürzlich neugegründeten Evangelischen Gesellschaft sei. Er wünsche von Herzen, daß diese Liebe immer größere Kreise ergreifen und noch alle Gläubigen vereinigen möge, damit so auch der folgende Vers des Textes verwirklicht werde: "Dabei wird Jedermann erkennen, daß ihr meine Jünger seid, so ihr Liebe untereinander habt."

Herr Stettler trug das elfte Gebot nicht auf steinernen Tafeln, sondern es leuchtete aus seinem ganzen Wesen hervor. Resli schien es, der Mann möchte den ganzen Kanton Bern unter Gottes Gnadenflügel bringen. Er fühlte hier keine Engherzigkeit, wie er sie anderwärts schon öfters bemerkt hatte, sondern diese Versammlung, so eng das Stübchen war, in dem sie tagte, warf ihre Seile weit hinaus und steckte ihre Nägel fest. Die kleine Versammlung kam ihm vor, wie ein Senfkorn, aus dem ein großer Baum zu werden versprach.

Als die Bibelstunde beendigt war, wurde Resli den Leuten vorgestellt. Herr Stettler bezeigte große Freude, daß auch einmal ein junger Bruder vom Lande gekommen sei, und erkundigte sich mit großem Interesse nach den Versammlungen in der obern Gegend. Er notierte sich die Versammlungsplätze und die Namen der leitenden Brüder, die Resli ihm angeben mußte, und versprach einen baldigen Besuch.

Die Freunde wollten den jungen Bruder nötigen, noch ein wenig in Bern zu bleiben, allein er verwilligte111 nicht. Er sei ein Knecht und habe als solcher seine Pflichten zu erfüllen. Da sein Meister sonst kein Freund der Versammlung sei, müsse er es schon als eine große Gunst ansehen, daß er Erlaubnis erhalten habe zu diesem Besuch in Bern, und wenn er rechtzeitig wieder nach Hause komme, so sei es gut für ein andermal.

"Du hast recht," sagte das blinde Eisi. "Ein Knecht soll nicht fromm sein auf Kosten seiner Meistersleute; er soll nicht seinem leiblichen Herrn die Zeit abstehlen, unter dem Vorwand, dem Herrn damit zu dienen, sondern daran denken, daß er auch mit treuer Pflichterfüllung dem Herrn dient. Der Herr begleite dich, lieber Bruder, und segne das Haus deines Meisters um deinetwillen, wie Potiphars Haus um Josephs willen gesegnet ward. Vielleicht bringst du dann deinen Meister auch noch einmal mit."

Als er nach Hause kam, fand Resli alles in bester Laune und Zufriedenheit. Was er in Bern gehört und gesehen, bewegte ihn die ganze Woche hindurch. Die Freunde hatten ihm gesagt, er solle sein Säcklein gut verbinden, damit er nichts verliere von dem, was er in Bern empfangen. Er merkte sich das. Aber als er am Samstag Abend in den Gebetsverein kam, da tat er sein Säcklein auf und erzählte den Geschwistern von dem, was er in blinden Eisis Stübli gesehen und gehört. Er meinte, auch sie sollten eine Evangelische Gesellschaft bilden, wie die Brüder in Bern es dort vor Kurzem getan.

"Eine Evangelische Gesellschaft?" fragte ein Bruder, "was ist denn das?"

"Die Evangelische Gesellschaft strebt die Vereinigung der Gläubigen innerhalb der Evangelischen Landeskirche an," antwortete Resli schlagfertig, der sich bereits genauer über die Sache unterrichtet hatte aus einer Schrift, die Herr Stettler ihm beim Weggehen in die Hand gedrückt.

"Innerhalb der Landeskirche?" sagte ein anwesender Sattler von Griesbach und machte dazu ein griesgrämiges Gesicht; "die Landeskirche ist ein Totengeripp!"

"Hör Hans", meinte eine der anwesenden Schwestern, "bei solchen Lebenszeichen, wie wir sie kürzlich in der Kirche zu Schloßberg gefunden, wird der Tod noch nicht so gefährlich sein."

"Nein", sagte Resli, "Herr Stettler hat auch betont, unsere Aufgabe sei es nicht, der Kirche den Todesstoß zu versetzen, sondern dafür zu sorgen, daß ein heiliger Same in ihr erhalten bleibe."

"Wir werden ja sehen," sagte der Sattler, "ob das möglich ist. Ihr könnt den Leuten lange sagen, daß ihr im Schoße der Landeskirche bleiben wollt. Sie werden euch gleichwohl als Sektierer verschreien, wenn ihr eine Versammlung außer der Kirche besucht."

"Der Sattler hat Recht," sagte ein junger Bauernsohn, Namens Fritz, der mit betrübtem Gesicht der Unterhaltung zuhörte, "ich habe das erst heute Abend erfahren. Als ich von Hause fort wollte in den Gebetsverein, da fielen meine Leute über mich her und sagten: "Gehst schon wieder in die Stund, du übertriebener Mensch?" Seitdem du zu diesen Betbrüdern und Betschwestern läufst, können wir uns gar nicht mehr auf dich verstehen!" Und daß sie so böse sind auf mich, das kommt nur daher, daß ich eines Morgens den Vater fragte, ob ich nach dem Morgenessen etliche Verse aus dem Worte Gottes vorlesen dürfte. Ihr hättet hören sollen, wie der mich angefahren hat. "Bist du verrückt", sagte er, "haben dir die Stündeler den Kopf verdreht? Wir gehen am Sonntag in die Predigt, ist das nicht genug? Wenn wir dir nicht fromm genug sind, so mach, daß du aus dem Hause kommst!"

"Da seht ihr," sagte der Sattler, "wie die toten Kirchenleute sind; sie stoßen die Kinder Gottes aus, und da ist es doch gewiß besser, man geht gleich selbst von ihnen aus und sondert sich ab...."

"Bruder", fiel ihm hier ein anwesendes Fräulein ins Wort, eine Glarnerin112, die im benachbarten Schlosse als Haushälterin lebte und hie und da den Gebetsverein besuchte, "du hast etwas vergessen. Es gibt noch einen andern Ausweg als die Absonderung, nämlich daß man mit solchen verblendeten Leuten Geduld hat und für sie betet: Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun!"

"Ja", sagte Resli, "laßt uns beten für Fritzens Vater und Geschwister und vergesset auch meinen Meister nicht."

Die jungen Leute knieten nieder und eins nach dem andern schüttete sein Herz vor Gott aus. Getröstet und neu gestärkt kehrten sie in ihre Häuser zurück.

Das war der Gebetsverein, der in einem Hause zu Kolbiwyl abgehalten ward bei zwei älteren Leutlein, deren Pflegetochter auch ein Mitglied war. Es ging dabei ungleich lebhafter zu als in der Versammlung auf der Mühle am Sonntag Nachmittag, wo Resli immer noch der einzige junge Mensch unter der Hand voll alter Leute war. Doch auch hier sollte es lebhafter werden, und das kam so:

Nicht lange nach Resli`s Besuch in Bern tauchten da und dort Männer aus der Stadt in den Versammlungen der Heimbergbrüder auf. Sie griffen belebend ein in die oft etwas schläfrige Diskussion und gründeten ihre Ansprachen auf Gottes Wort. Das erregte Aufsehen in diesen Kreisen. Ihre Ansichten erschienen manchen neu, wenigstens drückten sie sich nicht immer in der gewohnten Sprache der guten alten Brüder aus. Diese schüttelten den Kopf: "Das sind Neulinge", sagten sie; "und wer hat sie denn eigentlich zu uns geschickt?"

Eines Tages kam Bericht von der Mühle, daß ein Herr aus Bern mit dem Pfarrer von Schloßberg dort eingetroffen sei; die beiden wünschten eine Versammlung zu halten und der Herr von Bern erkundigte sich angelegentlich nach dem Balli-Res.

"Das wird Herr Stettler sein", rief Resli mit leuchtenden Augen aus und lief mit Erlaubnis des Meisters nach der Mühle hin. Und richtig, so war es. Herr Stettler begrüßte ihn freundlich und bat ihn, die Versammlungsleute auf den Abend zusammenzuberufen.

Die Leute kamen gerne. Der gute Ruf des Schlossbergpfarrers, von dem man schon viel gehört, machte sie neugierig. Dieser sprach zuerst und zwar über die Rechtfertigung des Sünders durch den Glauben allein. Die Zuhörer folgten ihm mit gespannter Aufmerksamkeit, weil das ihr Lieblingsthema war. Als aber nach ihm Herr Stettler die Bibel aufschlug und las: "Jaget nach der Heiligung, ohne welche Niemand den Herrn sehen wird!" und erklärte, Gott mache den Sünder gerecht, nicht daß er wieder sündige, sondern nach der Heiligung trachte, da malte sich Enttäuschung auf den Angesichtern, und beim Auseinandergehen raunte der Schulmeister dem Mühlen-Sami ins Ohr: "Das ist eine Lehre, wo man durch das Gesetz selig werden will."

Am andern Tag machte Herr Stettler verschiedene Besuche, um die Brüder für das Werk der Evangelischen Gesellschaft zu interessieren. Allein er fand wenig Verständnis dafür. Die Einen entgegneten ihm, sie wollten selig werden ohne des Gesetzes Werke, allein durch den Glauben, und die andern erklärten, man müsse sich des eigenen Wirkens entschlagen und die Angelegenheit des Reiches Gottes dem Herrn anbefehlen; Er werde es schon machen, ohne uns arme, schwache und sündige Menschen zu bedürfen.

In den auf dieses Ereignis folgenden Wochen, das die Ruhe der "Stillen im Lande" so merklich gestört hatte, wurde in den Versammlungen auffallend viel der Spruch repetiert: "Sehet euch vor vor den falschen Propheten und sehet zu, daß euch nicht Jemand verführe!"

Eines Tages kam der alte Schulmeister zu Resli, für den er ordentlich bekümmert war, und bat ihn unter Tränen: "Laß dich doch um Gottes willen von der neuen Lehre nicht verführen!"

"Hör du, lieber Bruder", beruhigte ihn dieser, "du bist älter und erfahrener als ich; aber des Apostels Ermahnung: Prüfet alles und das Gute behaltet, gilt doch auch dir. Nun ist der nächste Dienstag der erste im Monat, da kommen sie in Bern zusammen; dort bei dem alten Schellenhaus, linker Seite, eine Treppe hoch. Dort geh´ hin und sprich den Brüdern gegenüber offen deine Bedenken aus. Sie sind keine Päpste und nehmen gerne an, was du ihnen auf Grund des Wortes Gottes widerlegst."

"Ja, laufen mag ich nicht mehr bis nach Bern und zum Fahren habe ich kein Geld."

"Das macht nichts aus," sagte Resli, "wir wollen der Sache einmal auf den Grund kommen. Ich rede mit Bieris auf der Schniggenen113, die alle Dienstage an deinem Hause vorbei auf den Markt nach Bern fahren; da kannst du aufsitzen, sei unbesorgt, ich zahle für alles."

Jugendlicher Eifer siegte über altväterliche Bedenklichkeit, und am nächsten Dienstagmorgen fuhr unser alter Schulmeister im Morgengrauen nach der Stadt.

Resli mochte den Abend kaum erwarten, wo das Fuhrwerk den alten Mann, wie er zuversichtlich hoffte, mit neuen Augen zurückbringen sollte. Er ging zum Schulhaus, um ihn dort in Empfang zu nehmen. Wahrlich, seine Hoffnung hatte ihn nicht getäuscht! Als der Wagen stille hielt und der Jüngling dem ehrwürdigen Alten heraushalf, kam ihm dieser vor wie Simeon, da er begeistert ausrief: "Herr, nun lässest du deinen Diener in Frieden fahren!"

"Heute bin ich dem Tüfel drüber i cho114, was er im Sinne hatte", sagte er zu seinem jungen Freund; "das ist die rechte Lehre, die sie in der Evangelischen Gesellschaft haben, wir wollen uns anschließen und helfen, was wir können!"

Und er hat sein Wort gehalten, er hat noch getan, was er konnte, der gute Alte. Als bald darauf die Müllerin starb, ward dort die Tür für die Versammlung zugetan. Da verwendete sich der Schulmeister um Überlassung des Schulhauses für diesen Zweck, und es wurde erlaubt. Die Verpflanzung in ein geräumiges, öffentliches Lokal trug zum Wachstum der Versammlung bei. Wenn dann die Brüder von Bern kamen, saß der alte Schulmeister jedesmal vorn beim Pult und legte ein Zeugnis ab, welches seine Übereinstimmung mit der vorgetragenen Lehre bewies. Von falschen Propheten hörte man von der Zeit an nichts mehr, wohl aber sagte der Schulmeister oft, das sei der schönste Tag in seinem Leben gewesen, den er in Bern zugebracht.

Doch es währte nicht mehr lange, so rief ihn der Herr zur obern Gemeinde ab. In seinem 80. Jahre rührte ihn der Schlag. Als Resli ihn mit dem Gebetsverein zum letztenmal besuchte, war er seiner Sprache beraubt. Sie sangen das Lied: "Seh`n wir uns wohl einmal wieder Dort im hellen, ew`gen Licht?" Und die Antwort kräftig: "Ja gewiß, wir sehen uns wieder In dem Land der Herrlichkeit!"

Bei diesen Worten reichte der Sterbende einem jeden der Anwesenden die Hand und deutete mit der andern nach oben, als wollte er sagen, dort hoffe er sie wiederzusehen, wo er nun hingehen dürfe.

Kapitel 15

Was die Liebe vermag

Mit dem Tode des alten Schulmeisters wurden die ältern Versammlungen zu Grabe getragen. Eine neue Zeit des geistlichen Lebens und Wirkens erblühte. Ein Frühlingshauch wehte über das Land. Die Brüder von Bern machten fleißig Besuche und teilten Traktate aus; das waren die ersten Missionsboten in der Gegend. Bis dahin hatte man wenig von Mission gewußt. Nur das Monatsschriftli von Basel fand sich da und dort in einem Haus. Einmal im Jahr ging ein frommer, alter Mann von einer der angesehenen Familien des Dorfes mit einem Brief aus Basel von Haus zu Haus und sammelte Steuern für die Mission. Die Leute gaben ihm aus persönlichem Respekt, aber sie wußten eigentlich nicht für was. Sie hörten zwar, das Geld sei für die armen Heiden bestimmt; aber wo diese wohnten, ob "hinter Murten"115 oder in Amerika, das war ihnen eigentlich nicht recht klar, allweg, dachten sie, weit von hier, und etliche, die nicht sonderlich gerne gaben, munkelten, wo das Geld hinkomme, wisse man eigentlich nicht; auch wäre es gescheiter, man würde es den hiesigen Armen geben, man hätte deren genug; für die Religion sorge sonst der Staat.

Da brachten aber die Traktate allerlei Geschichten aus der Heidenwelt, woraus man erkannte, daß, wo die Leute einander noch auffräßen - und zwar nicht aus Liebe - , die Verkündigung der Friedensbotschaft allerdings bitter nötig sei. Auch besuchten hie und da etliche die Missionsfeste, mit denen man in Bern allmälig einen schüchternen Anfang machte, da sahen die Leute selbst Missionare, die bei den Heiden gewesen waren und erzählten, wie das Blut Jesu Christi schwarze Negerherzen weiß waschen kann. Das weckte Zutrauen zu dem Werk der Heidenmission, und die Gläubigen fingen an zu beten und zu sammeln dafür.

Doch kam mit dem Frühlingswind auch allerlei Wind der Lehre daher. In den Kreisen der Erweckten traten nicht selten Männer auf, welche Lust bezeigten, ganze Versammlungen ins Wasser zu führen und an der Aare Johannes den Täufer zu spielen. Andere hätten gar zu gerne, anstatt in der Aare, im Brunnentrog gefischt und die Zahl der 144.000 Versiegelten mit einer guten Partie wackerer Bernerbauern erfüllt. Wieder kamen andere, die wollten nicht nur alle Menschen, sondern sogar den Teufel selig machen und sagten, sie hätten Gesichte und Offenbarungen von der nächstbevorstehenden Aufrichtung des Reiches Christi gehabt. In Jerusalem finde in Kurzem die Wiederkunft Christi statt, wer dorthin auswandere, werde besonders bevorzugt bei der Besetzung der Ehrenstellen in dem künftigen Reich. Allerdings koste die Reise dorthin ziemlich Geld, aber daran fehle es ja den fleißigen Landleuten nicht, es liege mancher harte Thaler im Trögli oder im Strumpf, und nirgends sei das Geld besser angelegt, als für diesen Zweck. Für die Mission sollten sie nur gar nichts geben, aber soviel wie möglich für die Aufrichtung des Reiches Christi in Jerusalem; sei dieses nur erst einmal vorhanden, so mache sich die Bekehrung der Heiden ganz von selbst. Einer dieser Propheten machte sich auch an Resli`s Schwester und hinter die Meistersfrau. Erstere hatte ja immer besondere Neigung zu Träumen und Offenbarungen verspürt. Trotz Reslis Abmahnungen vertrauten sie ihm eine ziemliche Summe für den neu zu gründenden Tempel in Jerusalem an. Bald nach dem Empfang des Geldes reiste der Tempelritter nach "Zion" ab. Die beiden Frauen warteten aber vergeblich auf Briefe aus Jerusalem. Nach Jahren erfuhren sie, der Prophet sei zu den "Heiligen der letzten Tage" nach Utah ausgewandert. Dorthin paßte er. Seine beiden Gläubigen im Bernbiet116 verspürten aber keine Lust, ihm nachzufolgen. Ihr Eifer für "Zion" war auch ohne ein Bad im Salzsee mittlerweile gehörig abgekühlt.

Unter solchen Umständen war es gut, daß die Evangelische Gesellschaft treue und nüchterne Arbeiter bekam, welche die Versammlungen bedienten mit dem unverfälschten Gotteswort. Ein solcher wurde in der Person eines Jakob Baumberger von Bern ausgesandt. Der Mann hatte zwar keinen theologischen Bildungsgang durchgemacht, er war Abwart117 gewesen am Burgerspital118, hatte sich aber dort als ein christlicher Charakter bewährt und Erfahrungen gesammelt für sein nunmehriges Amt. Auch war er, was man mit Recht sagen kann, bibelfest. Dieser Mann erhielt seinen Wirkungskreis von Uebeschi bis Eggiwyl. Er hatte die Versammlungen in diesem ganzen Landstrich zu besuchen und so viel wie möglich auch die einzelnen Mitglieder derselben auf seinen Wanderungen. So kam er auch in Reslis Dorf und ward bekannt mit ihm. Dieser faßte ein großes Zutrauen zu dem Mann. Schon die äußere Erscheinung desselben machte einen ernsten Eindruck auf den Jüngling. Baumberger trat mit Festigkeit und Liebe auf und predigte das Wort Gottes mit Beweisung des Geistes und der Kraft. Das Schulhaus wurde gedrängt voll; man kam von allen Seiten, mehrere Stunden weit her, um ihn zu hören und sich mit ihm zu besprechen. Den Leuten ging das Herz auf, der Geringste fand Zutritt und Gehör bei ihm. Das war eine Wohltat für Viele, die von den mancherlei Fragen der Zeit bewegt waren, einen zuverlässigen Ratgeber zu finden, der sie auf Gottes Wort und das Kreuz Christi hinwies. Baumberger wurde in die Häuser eingeladen, da gab es Besprechungen über den Heilsweg. Mancher Irrtum wurde berichtigt, manche Last abgelegt.

Eines Abends wurde Resli nicht weit vom Hause auf der Straße von Baumberger eingeholt. Dieser kam von Eggiwyl, hatte den ganzen Tag über Besuche gemacht und suchte nun, da es schon ziemlich spät war, ein Nachtquartier.

"Kann ich bei Dir übernachten", fragte er.

"Ja, ich bin ein Untergebener", sagte Resli, "die Meistersfrau würde es gewiß gerne erlauben, aber der Meister ist solchen Leuten, wie Ihr seid, nicht Freund."

"Wenn ers erlaubt, kann ich bei Dir schlafen, damit es keine weiteren Umstände gibt."

"Mit Freuden, wenns Ihnen recht ist."

Die Beiden schritten mit einander dem Hause zu.

"Da bringe ich einen Gast", sagte Resli zur Meistersfrau. Sie hieß ihn willkommen. Baumberger fragte nach dem Hausvater.

"Er ist im Tenn", sagte die Frau.

Der ungebetene Gast ging mit der Reisetasche auf dem Rücken auf ihn zu und schüttelte ihm die Hand.

"Kommt in die Stube", sagte der Meister, "und stellet ab."

Die Beiden traten ins Haus und Resli fütterte das Vieh. Mittlerweile bereitete die Frau ein gutes Abendbrot und wollte es in der hintern Stube auftragen. Aber Baumberger protestierte lebhaft gegen diese Auszeichnung: "Nein, Mutterli", sagte er, "das ist für dich, das kannst Du essen, ich will mit Euch essen, wenn Ihrs erlaubt."

Der Meister lachte. "Wie Ihr wollt", sagte er, und Baumberger setzte sich neben ihn an den Familientisch.

Resli kam es vor, als sei der Meister ganz stolz auf den Mann. Offenbar hatte er ihm`s mit seinem aufrichtigen Wesen irgendwie angetan.

Es gab einen traulichen Abend. Die Nachbarsleute kamen herbei. Der Mann las einige Verse aus Gottes Wort und betete. Der Meister hörte aufmerksam zu. Diesmal machte er sich nicht wie sonst bei solchen Gelegenheiten aus dem Staub.

Als die Zeit zum Schlafengehen kam, wurde dem Gast ein Zimmer angewiesen. Aber er bat sich aus, bei Resli schlafen zu dürfen. Der Meister lachte wiederum, und die Frau versuchte nicht erst zu widersprechen, denn sie merkte wohl, daß dieses Mannes Bescheidenheit kein bloßes Komplimentieren119 sei.

"Nötigen trägt bei Euch doch nichts ab", sagte sie. "Gute Nacht!"

Als die Beiden auf Resli`s Zimmer angekommen waren, erzählte Baumberger seinem jungen Freund noch lange von seinem früheren Lebenslauf. O wie horchte Resli da. Er hatte immer geglaubt, er sei der Einzige, der so weit von Gott abgewichen sei; aber nun vernahm er aus des Mannes eigenem Munde, von dem er eine so hohe Meinung gehabt, daß auch dieser nichts als ein armer Sünder sei. Aber deshalb verlor er die Achtung nicht etwa vor ihm. Nein, er sah nun erst recht, was die Gnade Gottes aus Sündern machen kann.

Ehe sie zu Bette gingen, knieten sie noch miteinander nieder. Wie bekannte der Mann seine und seines Volkes Sünde und bat um Gnade und Erbarmen für sich selbst, für die Gesellschaft und die ihm anbefohlenen Seelen, denen er das Wort Gottes verkündigen sollte! Resli blickte in ein wahrhaft priesterliches Herz hinein! Da wurde sein Glaubensfünklein aufs neue wieder angefacht und er dachte, wie gut es doch sei, wenn Kinder Gottes im Glauben und in der Liebe Gemeinschaft miteinander haben. Er fühlte sich mächtig angetrieben, mit seinem Verein in der Gebetsgemeinschaft fortzufahren.

Am Morgen, als Baumberger Abschied nahm, wurde er freundlich eingeladen, in Zukunft so viel er wolle hier Nachtherberge zu nehmen. Und was mehr war, von jenem Tage an änderte der Meister sein Urteil über die Versammlungsleute, und wenn Baumberger kam, fehlte Uli im Schulhause nie. Es ging freilich noch lange, bis es bei ihm hieß: Das Alte ist vergangen, siehe es ist alles neu geworden; aber als später das Schulhaus für die Versammlungen verschlossen ward, da war es doch auch ein Zeichen der Umwandlung, welche die Liebe Christi bewirken kann, daß Resli`s Meister aus freien Stücken sein Haus zu den Zusammenkünften anerbot. O, wie wohl tat es Resli, als in spätern Jahren Meister und Knecht, die nun zusammen Einem Herrn dienten, miteinander auf die schönen evangelischen Bernfeste pilgerten. Wie segnete er das Andenken an jenen ersten Besuch Baumbergers in ihrem Haus und rief staunend aus:

"Was doch die Liebe vermag!"

Kapitel 16

Wie aus dem ehemaligen Güterbuben ein Gutsbesitzer wird

Es war an einem der lieblichsten Oktobertage des Jahres 1839, daß ein junges Paar von Kirchdorf herkommend um die Mittagszeit die Jabergbrücke überschritt. Die Beiden kamen offenbar eben von der Trauung her, denn sie gingen Arm in Arm, und die junge Frau schmiegte sich so nahe wie möglich an den Gatten an. Sie tat dies, weil sie gehört hatte, wenn am Hochzeitstage ein Zwischenraum gelassen werde zwischen dem Bräutigam und der Braut, so dränge sich der Teufel hinein. Nicht daß sie gerade abergläubisch war, aber den Teufel fürchtete sie, und das mit Recht, als den bösen Feind, der nichts so gerne wie Zwietrachtssamen in die Herzen junger Ehegatten streut.

Die Beiden hielten aber einander nicht nur aus Furcht vor dem Teufel, sondern aus Liebe fest. Denn als sie unter das schützende Dach der alten hölzernen Brücke kamen, das, wie sie zuversichtlich glaubten, sie vor unberufenen Blicken barg, blieb der junge Mann stehen, schaute seiner Begleiterin gar treuherzig in die freundlichen Augen und sprach mit inniger Bewegung:

"Nun hat es denn endlich sein können, liebes Bäbeli, daß Du mein geworden bist!"

"Gott sei Dank", sagte die junge Frau, "daß wir soweit sind! Du hast lange genug auf mich warten müssen, lieber Resli, aber Du weißt, es war ja nicht meine Schuld. Gelt, Du bist doch nicht höhn120 über mich?"

"Was denkst", sagte Resli lachend, und drückte einen Kuß auf Bäbeli`s Lippen, als wollte er ihr den Mund verschließen für jede weitere Entschuldigung; "im Warten wird ja die Liebe erprobt, und daß wir einander lieb haben, das fühle ich heute wie nie zuvor."

"So geht`s mir auch", sagte Bäbeli, "glücklicher als ich kann heute in der ganzen Welt niemand sein."

"Und doch", sagte Resli, "mußt Du`s gleich am Hochzeitstage merken, daß Du nur ein armes Knechtlein geheiratet hast; denn ich muß Dir jetzt bekennen, ich habe nicht einmal ein Hochzeitsessen bestellt."

"Wer wollte auch heute ans Essen denken", meinte Bäbeli, "ich habe jetzt Dich, das ist mir genug."

"Nun", sagte Resli lachend, "von der Liebe allein will ich Dich doch nicht leben lassen; ich denke, wir gehen nach Griesbach in den Löwen, dort haben sie schon etwas zu Mittag für uns."

"Wie Du willst", sagte Bäbeli .... "aber sieh´, wer kommt uns dort entgegen?"

Ein Herr und eine Frau, städtisch gekleidet, traten aus dem Schatten der Bäume hervor, welche jenseits der Brücke die Straße einzäunen, und lächelten dem jungen Ehepaar gar freundlich entgegen.

"So, da haben wir euch ja erwischt", sagte der Herr, als sie einander näher kamen; "unsere herzlichsten Segenswünsche zu eurem neugeschlossenen Bund! Möge der Sonnenschein göttlichen Wohlgefallens allezeit so freundlich über euch leuchten, wie es heute der Fall ist; ihr habt ja einen prächtigen Hochzeitstag!"

"Ja, Herr Pfarrer", sagte der junge Mann, "der liebe Gott meint es wirklich gut mit uns; die ganze Natur prangt im Hochzeitsschmuck; es ist nach innen und außen ein lieblicher Tag."

"Ihr kommt jetzt mit uns", sagte die Frau Pfarrer, "wir haben euch ein Mittagsmahl bereit, das trotz seiner Einfachheit als ein Hochzeitsmahl gelten mag. Fisch und Champagner haben wir freilich nicht, ihr seid aber auch ohne das zufrieden."

"Es ist unverschämt", antwortete Resli, "daß wir euch überlästig werden, Frau Pfarrer, und zuviel Ehre, die ihr uns antun wollt, aber wir nehmen jetzt eure Einladung als eine freundliche Fügung Gottes an, der uns ein fröhliches Hochzeitsfest bereiten will."

Die Pfarrersleute, die das junge Ehepaar so freundlich empfingen, wohnten in einem Dorf, in dem weder ein Pfarrhaus noch eine Kirche stand. Der Herr Pfarrer war gegenwärtig ohne kirchliches Amt. Die Regierung hatte ihn abgesetzt, weil er es gewagt hatte, einigen Betrunkenen das Abendmahl zu verweigern. Der also um seiner Treue willen Verstoßene wurde von der Evangelischen Gesellschaft angestellt, bis er später wieder ein Pfarramt erhielt. Wie er es verstand, auch außer dem Pfarramt Hirtenamt zu üben, das beweist seine Freundlichkeit gegen das junge Ehepaar, die für dieses außerordentlich wohltuend war.

Obgleich nämlich die beiden Neuvermählten einander innig liebten, war doch ihr ehelicher Himmel nicht unbewölkt. Resli war noch im Dienst und seine Frau bei ihren Pflegeeltern. Die waren aber so erzürnt über den jungen Mann, daß sie ihm das Haus verboten hatten. Und zwar aus keinem andern Grund, als weil sie es nicht leiden konnten, daß Bäbeli einen armen Mann heiraten wollte. Hatte das Mädchen doch von seinen frühe verstorbenen Eltern 400 Bernkronen geerbt, während sie von Resli wußten, daß er seinerzeit wie ein armer Bettelbub ins Dorf gekommen war. Und außerdem, wer sollte ihnen die Arbeit tun, wenn Bäbeli nicht mehr bei ihnen war? Eine Magd vermochten sie nicht zu halten und sie waren zu alt, um ihr Land allein zu werchen.

Bis sein Dienst mit dem alten Jahr abgelaufen war, wollte Resli sich noch gerne in das Unvermeidliche schicken, daß seine Frau bei den Pflegeeltern blieb, bei denen sie von Kindesbeinen an verkostgeldet war und denen sie nun seit ihrer Admission diente ohne Lohn. Resli war ja nicht einer von denen, welche den Dienst verlassen wollten, bevor er ausgelaufen war. Er gehörte nicht zu den halbbatzigen121 Knechtlein, welche um Weihnachten ins Jahr dingen, und wenn der Sommer mit der Arbeit kommt, eines schönen Morgens spurlos verschwunden sind. Kontraktbruch222 war damals noch nicht im Brauch und ein anderes Stricken als mit der Lismernadel123 im Bernerland noch unbekannt. Resli harrte also geduldig aus, bis der Sylvester kam, und Bäbeli auch; sie sahen einander nur Sonntags im Gottesdienst. Mittlerweile mietete der junge Ehemann eine Wohnung und richtete sie ein. Er kaufte ein Bett, ließ einen Kleiderschrank machen und einen Küchenschaft124, einen Tisch und sechs Stühle dazu. Das alles war er im Stande bar zu bezahlen von dem, was er sich als Knecht von seinem Lohn erspart, trotzdem ihn seine Hochzeit über 200 Franken gekostet hatte?

Wie so denn 200 Franken? Hatte ihm denn der Herr Pfarrer eine so große Rechnung für das Hochzeitsessen ohne Fisch und Champagner gemacht? O nein, das Essen kostete ihn nichts als einen herzlichen Dank und eine Züpfe125, die er hernach der Frau Pfarrer machen ließ. Aber um so teuerer ward zu jener Zeit von solchen Leuten, wie Resli einer war, die Erlaubnis zum Heiraten bezahlt. Er war ja ein Verkostgeldeter gewesen; die Heimatgemeinde hatte, wie wir uns erinnern, unendlich viel für ihn getan, und dem Gesetze gemäß stand ihr das Recht zu, die Verheiratung solcher Personen zu verbieten, die auf Gemeindekosten erzogen worden waren, bis dieselben den Ertrag ihrer "Auferziehung", wie man es nannte, der Gemeinde zurückerstattet hatten. Von diesem Recht machte auch Resli`s Heimatgemeinde Gebrauch und verlangte 60 Kronen von ihm, was in heutiger Währung 216 Franken macht. Er bezahlte ohne Widerrede, wusste er doch, wie viel er der Gemeinde verdankte, die ihn so gut versorgt hatte, daß er endlich davongelaufen war und eine Heimat gefunden hatte in dem Tal, das nun durch Gottes freundliche Fügung die Geburtsstätte eines neuen Lebens für ihn geworden war. Hatte er nicht hier den Frieden Gottes gefunden und konnte er nicht im Blick auf die im Herrn verbundenen Brüder und Schwestern sagen: "Ich wohne unter meinem Volk"? Ja, und auf diesem friedlichen Fleck der Erde erblühte ihm nun auch sein häusliches Glück. Der Herr hatte ihm eine Gattin nach seinem Herzen geschenkt, und wer eine Frau gefunden, der hat ein großes Gut gefunden und Gunst von dem Herrn erlangt. So dachte Resli und darum reuten ihn die 60 Kronen nicht.

Die Zeit kam, wo sein Dienst zu Ende ging und der junge Ehemann seine Frau heimzuführen entschlossen war. Am Sylvesterabend machte er sich auf den Weg, um den alten Leutlein gegenüber sein Recht geltend zu machen. Sie wußten, daß hier Trotzen nichts mehr nütze und öffneten ihm die Tür. Resli sah, wie sie in große Verlegenheit und Bekümmernis gerieten, als er freundlich, aber fest und bestimmt erklärte, am Montag hole er seine Frau in seine Wohnung ab.

Das alte Mutterli brach in Tränen aus und sagte: "Was sollen wir anfangen? Wir sind alt und niemand hat sich finden lassen, uns die Arbeit zu tun."

Die Traurigkeit der Alten erweichte Resli`s Herz, es war ihm selbst fast ums Weinen. "Nun", sagte er, "meine Frau kann bei Euch bleiben, bis Ihr Euch weiter versehen habt."

Jetzt stand aber Bäbeli auf, das bisher still geblieben war und sagte: "Das geht nicht so! Jetzt habe ich einen Mann, und da, wo er ist, will ich auch sein. Soll ich aber bei Euch bleiben, so müßt Ihr meinem Mann erlauben, daß er auch hier sein und frei aus- und eingehen kann, wo nicht, so gehe ich mit ihm!"

Bäbeli hatte recht, daß sie so sprach. Sie wusste wohl, daß die Vermögensverhältnisse der Leute die Anstellung eines Dienstboten nicht erlaubten und so hätte sie noch lange warten können. Ihr Vorschlag wurde denn auch angenommen, und der Sorgenstein fing an zu rollen von den Herzen der alten Leutlein, man sah es ihnen an. So finster sie vorher drein geblickt hatten, als Resli kam, so freundlich und zutraulich wurden sie jetzt; sie merkten, daß er ein weiches Herz habe, was doch am Ende noch mehr wert ist als ein harter Geldsack.

Resli befahl seiner Frau, sie solle einen guten Kaffee bereiten; ihn verlangte, mit den zukünftigen Hausgenossen ein Liebesmahl zu genießen. Als das heimelige Getränk dampfend auf dem Tisch stand, öffnete er seine Tasche, die er mitgebracht, legte eine prächtige Züpfe auf den Tisch und stellte daneben eine Flasche Wein.

"So Mutterli", sagte er, "das ist für Euch, wohl bekomms zum neuen Jahr!"

Dem Vater reichte er ein Päcklein Tabak vom bessern und ein neues Pfeifchen dazu.

"Du, Bäbeli, kommst am Samstag mit mir z`Märit, dort kaufe ich Dir dann etwas, Du kannst selber sagen, was."

Die beiden alten Leutlein wischten sich Tränen ab. Womit sie das verdient hätten, daß er so freundlich mit ihnen sei, fragten sie.

"Verdient", antwortete Resli, "haben wir alle mit einander nichts; aber Gott gab uns aus lauter Liebe seinen Sohn; ist es nicht billig, daß, wer an Ihn glaubt, auch seine Nächsten liebt? Wie froh bin ich, daß nun die Liebe über uns Meister geworden ist und der Feind hat abziehen müssen."

Das alte und das junge Ehepaar feierten zusammen ein fröhliches Neujahr. Die beiden Alten fühlten sich so glücklich wie in ihrem Leben noch nie.

Am folgenden Tag war großer Neujahrsmarkt in Thun. Die Pflegeeltern baten Resli, ihnen zwei junge Schweine zu kaufen. Am Abend brachte er sie ins Haus. Als er Abschied nahm, um für diesmal noch bei seinem alten Meister zu übernachten, stand das Mutterli unter der zweiteiligen Haustüre, mit den Armen auf deren unteren Teil gestützt. Ihr blasses Aussehen fiel ihm auf. Er faßte sie bei der Hand und fragte sie: "Hast Du den Frieden Gottes?"

"Ja", antwortete sie, "ich bin zufrieden mit dem lieben Gott und hoffe, er sei es auch mit mir."

"So will ich glauben, daß Du auch mit mir zufrieden bist; und wo ich Dich beleidigt habe, oder gegen Dich gefehlt, da vergib es mir", sagte Resli und schaute sie treuherzig an.

"Es ist alles gut", versicherte die Mutter und gab ihm die Hand.

"Ich dachte, ich müsse das noch mit Dir reden", sagte er, "man weiß nicht, wann man einander zum letztenmal sieht; b`hüet di Gott!"

* * *

Am andern Morgen um 4 Uhr wurde Resli aus dem Schlaf geweckt. Bäbeli war da mit der Nachricht, daß die Mutter in der Nacht gestorben sei. Ein Schlagfluss126 hatte ihrem Leben ein rasches Ende gemacht.

Resli mußte Anstalten treffen zur Beerdigung und siedelte nach derselben mit seinem Trossel127 in das verwaiste Häuschen über zu seiner Frau. Welche Freude war es für die Beiden, endlich beieinander unter demselben Dache zu sein!

Auf den Wunsch des alten Pflegevaters, der auch anfing zu kränkeln, nahmen sie das Gütli in Pacht. Resli kaufte ihm zwei Kühe, vier Schafe und zwei Schweine ab. Da rückte Bäbeli mit seinen 400 Bernkronen heraus. "Du hast schon viele Auslagen gehabt", sagte sie, "ich will Dir eine Anweisung geben auf mein Geld, damit Du die Schulden bezahlen kannst."

"Meine Schulden bezahlen? Meine liebe Frau, die sind bezahlt! Ich fange mit dem Meinen an, mit dem Deinen, wenn wir einmal Land kaufen."

Als zwei Jahre darauf der Pflegevater starb, ward das Gütchen feil. Die Leutlein hatten einen letzten Willen hinterlassen, darin war ihrer Pflegetochter ein Schatzungsrecht vorbehalten. Sie machte dasselbe geltend, da sie mit Zähigkeit an ihrer Heimat hing. Die 10 Jucharten Ackerland und Wald mitsamt dem Häuschen wurden ihr um 8000 Pfund (8500 Franken) durch zwei beeidigte Schätzer zuerkannt.

So waren Resli und Bäbeli Gutsbesitzer geworden, wenn auch in den bescheidensten Grenzen. Und wenn auch ihr irdisches Gut nie größer geworden ist, so besaßen sie doch das höchste Gut, den Frieden Gottes in Herz und Haus.

Der Vogel hatte ein Haus gefunden und die Schwalbe ihr Nest, und die Jungen blieben auch nicht aus, wie - der geneigte Leser sich denken kann.



Ende.

Nachtrag.

Nachdem die vorstehende Geschichte bereits gedruckt war, wurden dem Verfasser in einem Briefe noch folgende Anekdoten

Aus Resli`s späterem Leben

mitgeteilt, die er, um die Fortsetzung der Geschichte nicht ganz der Phantasie der Leser zu überlassen, diesen noch zum Besten geben will.

"Es sind jetzt mehr als 20 Jahre, daß Resli von Kolbiwyl weggegangen ist, aber er steht den Leuten noch in sehr guter Erinnerung. Mehrere Jahre war er Mitglied der Schulkommission und hatte als solches ein warmes Herz für die Schule. Ein altes Protokollbuch zeugt davon, wie fleißig er die Schulangelegenheiten beraten half.

Seine Gattin hat er in der Pflege der Kinder treulich unterstützt. Lag die Mutter im Wochenbett, so bedurfte es keiner fremden Hand, um die Kinder zu waschen; das besorgte der Vater selbst.

An den sorgfältig erzogenen Kindern durfte er später Freude erleben, besonders an seinem Hansli, der als entschieden gläubiger Lehrer in H. wirkte, aber als eine frühreife Garbe in die ewigen Scheunen gesammelt ward. Am Begräbnistag sagte der Vater: "Heute feiert unser Hansli Hochzeit."

Gebetserhörungen hat Resli an sich und seiner Familie viele erlebt. Einmal, als die Kartoffeln aufgebraucht waren, stand am Morgen ein Korb voll vor der Kellertür, und doch wusste der Überbringer nicht, daß keine mehr im Keller waren.

Als ein andermal ein schweres Gewitter über die Gemeinde zog und auch Resli`s Äckerli arg beschädigte, meinte er: "Wenn in diesem Jahre nicht viele Gotteskinder an meinem Tische essen, so haben wir sicher nicht Brot genug."

Resli wohnte einst einem Missionsfest bei, da wurde ihm besonders warm um`s Herz und es war ihm, er sollte auch noch mehr als bisher für die armen Heiden tun. Nun besaß er aber damals nur noch 15 Batzen und die waren für eine neue Weste bestimmt, denn die alte war sehr schadhaft geworden. Was machen? Er sagte seinem Gott: "Weil es so nötig ist, für die Mission zu geben, so gebe ich, was ich habe, und Du sorgst mir für eine neue Weste." Wie erstaunt war er, als am Morgen eine Frau kam mit einem Stück Halblein und sagte, sie habe gedacht, das gebe noch eine Weste für Balli-Res.

Sie hatten eine sehr gute Kuh, welche die Familie viele Jahre hindurch mit Milch versorgte. Da wurde von der guten Alten eine Junge nachgezogen, die nicht minder gut war, als ihre Mutter. Wie erschrak aber Resli, als er eines Morgens in den Stall kam und sah, daß die Kuh gestohlen war. Er machte sogleich Anzeige, aber nicht beim Regierungsstatthalter, sondern bei seinem wohlbekannten Gott. Und was geschah? In der dritten Nacht brachte der Dieb die Kuh wieder und noch einen neuen Zaum dazu. Wer der Dieb war, konnte Resli nie erfahren, sonst hätte er ihm noch die neue Halfter zurückgebracht."





Fußnoten

  • 1 Das "Verdingen" war eine Sitte im vergangenen Jahrhundert, bei der Kinder, die nicht von der Familie verhalten werden konnten, gegen ein Kostgeld an eine andere Familie weggegeben wurden und dort arbeiten mußten. Die Verdinggemeinde war eine Versammlung, in der die Kinder "versteigert" wurden.
  • 2ohne Aufsehen
  • 3 Trinkgefäß, kleiner Umtrunk
  • 4 Heimat, Bauernhof
  • 5 eine juristische Einrichtung, bei der jemand das Nutzungsrecht an einem Stück Land in
  • seiner Burgergemeinde hatte
  • 6 vernachlässigte
  • 7 Akte, Aktenbündel, Flurliste
  • 8 "Mach dir keine Sorgen, es geht ihnen nicht schlecht bei mir, meine Babette ist nicht die übelste Meisterfrau und wir haben schon zu essen für sie. Es ist nicht, daß wir sie wegen dem Kostgeld nehmen, wir haben viel Arbeit und Kinder zu hüten und könnten solche Mädchen für das brauchen."
  • 9 arbeiten, werken, schaffen
  • 10 Aufträge
  • 11 aufgepäppelt, herausgefüttert
  • 12 Hügel, kleiner Berg
  • 13 Februar
  • 14 flinker
  • 15 eine Münze (1/10 Franken)
  • 16 Vater
  • 17 Vorratskammer
  • 18 einstmals
  • 19 diesen Faden, d.h. diese gewaltige Wahrheit
  • 20 unvermittelt, ohne, daß man daran denkt
  • 21 Heimweh
  • 22 Flasche, Arznei
  • 23 Schachtel
  • 24 Kirschenblüte
  • 25 Leichenschmaus
  • 26 (gemeinsam) trinken
  • 27 bequem, behaglich
  • 28 Arbeiten, Werken, Schaffen
  • 29 wohl ein Knecht des Bauern/Taglöhner
  • 30 abfressen
  • 31 missmutigen, verärgerten
  • 32 sehr stolze Menschen
  • 33 weil
  • 34 vergangenen
  • 35 geben
  • 36 nächtlicher Besuch bei Mädchen
  • 37 hölzerne Milchschale
  • 38 noch unfruchtbares Vieh
  • 39 Almhirt
  • 40 Französische Schweiz um den Schweizer Jura und Neuchateler See usw.
  • 41 Zwilch = zweifädiges Gewebe
  • 42 konfirmiert, hier wohl im Sinne des schwäbischen"aus der Schule gekommen"/ zum Abendmahl zugelassen (siehe nach der Konfirmation: "Der Pfarrer hat euch erlaubt, nun ist euch alles erlaubt")
  • 43 Küster
  • 44 einer Runde
  • 45 gewappnet, bereit
  • 46 Haus, Kammer
  • 47 Heuernte
  • 48 nächtlicher Besuch bei Mädchen
  • 49Fussknöchel
  • 50 herbeirufen
  • 51 lärmen, zappeln
  • 52 Zulassung, hier wohl gebraucht wie das schwäbische "aus der Schule kommen"zum Abendmahl zugelassen (siehe nach der Konfirmation: "Der Pfarrer hat euch erlaubt, nun ist euch alles erlaubt")
  • 53 Spinnrocken
  • 54 Streiche
  • 55 einen Zopf machen; hier: vermutlich "knüpfen"/einen Zopf oder geflochtenen Strick machen, flechten
  • 56 Maifest, Maimarkt
  • 57 Salzfass
  • 58 verstoßenen
  • 59 unerwartet
  • 60 freischwebender Bogen zwischen zwei Mauern
  • 61 d.h. der Käsepreis war gestiegen
  • 62 konfirmiert
  • 63 Nichts Besonderes
  • 64 "du wirst doch nicht..."
  • 65 verworren, schwindlig
  • 66 d.h. unzüchtige junge Kerle
  • 67 ein Feldmaß
  • 68 Schmuckketten an einem breiten Schulterkragen für Frauen
  • 69 Handwerkerarbeit beim Kunden
  • 70 verschiedene Heilmittel versuchen
  • 71 sonderbar, besonders
  • 72 Bösesein
  • 73 mit Mistgabeln verteilen
  • 74 streiten; hier wohl "fauchen"
  • 75 Gendarm
  • 76 Trödlerin
  • 77 draußen und von dort weg
  • 78 geschickt
  • 79 Hocker zum Melken
  • 80 schlürfen
  • 81 kleines Tal
  • 82 Strick am Hals
  • 83 neugierig
  • 84 gutmütig
  • 85 Mädchen
  • 86 unschlüssig raten
  • 87 ein kleines Häuschen neben den Hauptgebäuden des Anwesens oder Hofes
  • 88 wiederholter schneller Wechsel eines Tons mit dem oberen Nebenton
  • 89 Stoffform
  • 90 Wundenfestung
  • 91 Konkurs; Abrechnung
  • 92 eine trächtige Kuh und somit eine milchlose Phase der Kuh bis zur nächsten Deckung
  • 93 in Rage sein
  • 94 umziehen, Wohnung wechseln
  • 95 Güllefässer
  • 96 Schenkel, Schinken
  • 97 Umzug
  • 98 Laubschmuck
  • 99 Bretter
  • 100 grau werden
  • 101 ebenso, ferner
  • 102 Heimweh
  • 103 Pate, hier wohl: Tauffest
  • 104 Altarraum; Orgelempore
  • 105 Wächter über Sittlichkeitsdelikte
  • 106 Landschaft(sbezirke)
  • 107 verstoßenes
  • 108 Die Zähringer waren ein deutsches Fürstengeschlecht
  • 109 Herrschaft des Bürgeradels/der vornehmen Bürger
  • 110 Dreibretterkahn
  • 111 erlauben
  • 112 d.h. wohl eine aus den Glarner Alpen stammende Frau
  • 113 ein Name
  • 114 "Heute bin ich dem Teufel auf die Schliche gekommen,..."
  • 115 ein Ort
  • 116 Berngebiet
  • 117 Hausmeister
  • 118 Armenspital in Bern
  • 119 schmeicheln
  • 120 wütend
  • 121 halbwertig, schlecht
  • 122 Vertragsbruch
  • 123 Stricknadel
  • 124 Küchenschrank
  • 125 Zopfgebäck
  • 126 Gehirnschlag
  • 127 Gepäck, Ballast

Quelle:
Resli der Güterbub
Geschichte eines Bernerjungen
Dessen eigene Mitteilungen nacherzählt
von
F. Schlachter
Biel
Verlag der "Brosamen"
Bern: Büreau der Evang. Gesellschaft.
Für Deutschland bei Joh. Schergens, Bonn
1891

Eigenverlag Freie Brüdergemeinde Albstadt
1. Neuauflage
(c) 2004 Karl-Hermann Kauffmann, Albstadt

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