Parry, William Edward - Der Vatersinn Gottes - Zweites Kapitel.

Parry, William Edward - Der Vatersinn Gottes - Zweites Kapitel.

Wir, die wir nicht sehen auf das Sichtbare, sondern auf das Unsichtbare, denn was sichtbar ist, das ist zeitlich, was aber unsichtbar ist, das ist ewig.
2 Kor. IV. 18.

Wer obige Wahrheiten in ihrer ganzen Fülle, nicht bloß als ein totes Stück des Glaubensbekenntnisses in den Kopf, sondern als einen wirksameren Grundsatz des Handelns lebendig ins Herz aufgenommen hat, dem muss bald klar werden, wie für ein vernünftiges und verantwortliches Wesen die eigentliche Lebensaufgabe in der Erziehung für die Ewigkeit besteht. Diese Anschauung gibt uns auch den einzig vernünftigen und befriedigenden Leitfaden zu den Führungen Gottes über Seine Menschen an die Hand. Diese Führungen beziehen sich hauptsächlich, wenn nicht ausschließlich, auf ein zukünftiges und weil endloses auch unendlich wichtigeres Dasein. Sie überschauen die engen Schranken der Zeit, und schreiten über die zusammengepressten Grenzen des Raumes hinüber in das Reich der Unendlichkeit, wo Zeit und Raum ihre Stätte nicht mehr finden. Nicht die eintägige Spanne des menschlichen Daseins in einer sterbenden Welt ist ihr vornehmstes Ziel, sondern die uns gezählten Jahrtausende einer endlosen Ewigkeit.

Die Ewigkeit! - wie schnell ausgesprochen! wie selten redlich ins Auge gefasst! wie unmöglich zu ermessen! wie mangelhaft und matt deren Schilderung, wenn auch mit höchster Anstrengung der feurigsten Einbildungskraft versucht! Und doch ist es für sie, dass wir hienieden erzogen werden. Wir befinden uns in diesem Leben einer Art von Vormundschaft (in einer Schule) für ein zukünftiges Dasein, mit welchem verglichen auch das längste Leben kaum ein Augenblick und die teuersten Gegenstände, an die ja oft unser Herz sich hängt, leichter als der an einer Waagschale klebende Staub erschient. Dies ist nun zwar eine Wahrheit, die Wenige, ja vielleicht Keiner mit nackten Worten leugnen wird. Denn, wenn irgend ein Sinn in der Sprache der Bibel, irgend eine Wahrheit in ihren Aussprüchen liegt, so würde ein solches Verneinen zugleich die handgreiflichste Tollheit und den krassesten Unglauben verraten. Allein, verleugnen wir sie nicht in jeder Stunde des Tags wiederholt durch die Tat? Bezweifeln wir sie nicht tatsächlich, oder vergessen wenigstens derselben unaufhörlich, also dass wir unsern Unglauben an deren praktische Wichtigkeit dadurch nur zu sehr verraten? Doch während wir täglich dieser Wahrheit vergessen, als glaubten wir wirklich nicht an dieselbe, während wir unsere gespannteste Aufmerksamkeit und unsere besten Kräfte ununterbrochen demjenigen weihen, was „zeitlich ist,“ und der Ewigkeit den Zutritt zu unsern Gedanken nur ungerne und als einem unwillkommenen Eindringling etwa in einem leeren Augenblick, an irgend einem bestimmten Tag, oder zu einer gewissen Stunde förmlichen Gottesdienstes gestatten, - wie steht hingegen diese Sache bei Demjenigen, Der da „sieht vorhin, ehe denn es geschieht“1), und vor dessen umfassenden Blick „tausend Jahre sind wie ein Tag?“2) Mögen wir auch Tag um Tag, und Jahr um Jahr mit der entschiedensten Hartnäckigkeit, den elendesten Kleinigkeiten dieser Erde eine ungebührliche Wichtigkeit beilegen, indem wir sie durch das täuschende Vergrößerungsglas des Vorurteils und der Leidenschaft betrachten - vor Gott kann eine solche Missschätzung nimmer Statt finden. Jedes Ereignis und jeder Umstand besitzt vor Seinen Augen genau seinen inwohnenden Grad von Wichtigkeit. Nichts ist vor Ihm in eine trügerische Gestalt verdreht, nichts mit geborgten Farben geschminkt. Der lockere Schleier irdischer Gegenstände, der unsere Wahrnehmung ewiger Wirklichkeiten zu verdunkeln vermag, kann Seinem allsehenden Auge auch nicht einen einzigen Strahl der Wahrheit entziehen. Vor dem untrüglichen Blick des göttlichen Wesens behauptet die Ewigkeit immer den obersten Platz, und stets nimmt sie den Vordergrund des gewaltigen Gemäldes ein, auf welchem die Schicksale unseres gefallenen Geschlechtes stehen.

Die Gegenwart an die Zukunft zu geben und nachhaltigen Ergebnissen eine höhere Wichtigkeit beizulegen als den flüchtigen Gestaltungen und Vorkommenheiten des vergänglichen Augenblickes ist übrigens ein Grundsatz, der nicht ausschließlich an das Walten der Gottheit geknüpft ist. Jeder weise Vater, indem er sein Kind zu einem nützlichen Mitglied der Gesellschaft wie zu dessen eigenem künftigen Lebensglück zu erziehen hofft, erkennt denselben nicht nur in der Theorie als den einzig richtigen an, sondern er huldigt ihm auch wirklich bis auf einen gewissen Grad mit der Tat. Oder sucht ein solcher Vater nicht beständig sein Auge fest auf die Zukunft gerichtet zu halten, und achtet die Kleinigkeiten des Augenblickes als verhältnismäßig gering, es sei denn dass sie auf das spätere Wohl seines Kindes einen Einfluss auszuüben scheinen? Muss er nicht häufig - und oft mit schmerzlicher Aufopferung seines eigenen Gefühls - sich den augenblicklichen Genuss versagen seinem Liebling eine Freude zu bereiten, weil die gegebene Erlaubnis, oder der ungebrochene Wille, oder endlich die unbestrafte böse Absicht leicht dem zukünftigen Charakter des Kindes seines Herzens eine gefährliche Richtung geben, und also seine höchsten irdischen Interessen bedrohen könnte?

Ihr, die ihr christliche Eltern seid, sagt es uns selbst, ob die moralische Erziehung eurer Kinder nicht einen beständigen Kampf zwischen dem natürlichen Hang zur Nachgiebigkeit auf der einen, und den strengen Weisungen der Pflicht auf der andern Seite mit sich bringe; zwischen demjenigen, was vielleicht ihnen und euch selbst für den Augenblick angenehm ist, und dem was ihr doch im Grunde eures Herzens als geeigneter zur Beförderung des dauerhaften Glücks eurer Lieblinge zu erkennen gezwungen seid? Geht ein solcher Kampf nicht täglich, ja fast stündlich in eurem Inneren vor? Und wenn ihr neben dem Bett eurer schlummernden Kleinen niederkniet, und heißes Flehen für sie zum Thron der Gnaden emporsteigt, ist wohl da eine Bitte herzlicher, eine aufrichtiger als diejenige um höhere Weisheit und höhere Kraft als eure eigene, befähigt zu werden einfältig für sie tun zu können, was ihnen gut ist, welches auch immer die Opfer sein möchten, die es euch oder sie gegenwärtig kosten sollte?

Wohlan denn, christliche Eltern, so oft dieses der Fall ist, so oft ihr irgend einen gegenwärtigen Trieb um eines zukünftigen, vielleicht noch sehr entfernten, gehofften Ergebnisses willen entschlossen bekämpft, oder auch nur fühlt, dass ihr ihn bekämpfen solltet; so oft eure weisere Einsicht oder eure sittlichen Grundsätze einen wenn schon noch so geringen Sieg über euren natürlichen Hang zur Nachgiebigkeit davon trägt, so bleibt alsdann nicht bei eurem eigenen Verfahren stehen, sondern macht die Anwendung desselben auf euch selbst als Kinder Gottes. Bedenkt, dass euer Vater im Himmel euch ununterbrochen also führt, wie ihr selbst wünscht eure geliebten Kinder auf dieser Erde führen zu können. Ist es zu viel gefordert, Gott ohne Einrede nach einem Grundsatz über euch walten zu lassen, den ihr selbst als gerecht und weise anerkennt, und nach welchem ihr deshalb selbst zu handeln eifrig begehrt? Ihr wagt es nicht auszusprechen, ja ihr bebt vor dem bloßen Gedanken zurück, Gott liebe euch mit einer weniger innigen, weniger feurigen, kurz, mit einer weniger väterlichen Liebe als diejenige ist, welche euer Herz gegen die Kinder erfüllt, womit Seine Huld euch beschenkt. Und indem ihr es fühlt, wie eure eigene Liebe gegen sie im besten Fall doch nur unvollkommen in ihrer Natur, veränderlich in ihrem Grad, unbeständig in ihrer Tätigkeit, ja im Allgemeinen, nur allzu oft parteiisch, und trotz ihrer großen Zärtlichkeit doch nimmer frei ist, von einem gewissen Hauch der Selbstsucht und der Leidenschaftlichkeit werdet ihr nicht gern das Bekenntnis ablegen und ernstlich streben demselben gemäß zu handeln, dass keine solche Unvollkommenheit, Unlauterkeit oder Unbeständigkeit sich der Liebe Desjenigen beimischen kann, Dessen ewige Eigenschaften Alle die höchste Vollkommenheit selbst sind?

Es wäre demnach zur Bildung unserer Ansicht über Gottes Führungen des Menschen, und ganz besonders zu unserer Aussöhnung mit denjenigen, die für den Augenblick schwer auf uns lasten, von großer Wichtigkeit, dass wir vor Allem aus mit heißem Gebet und heiliger Forschung dahin strebten, einen doch einigermaßen klaren und deutlich bestimmten Begriff über die vollkommene Natur von Gottes Vaterliebe zu gewinnen; und uns dann zunächst von ihrer ununterbrochen tätigen Äußerung zu überzeugen. Könnte unser Glaube nur diese zwei Wahrheiten so erfassen, dass er sie eben so vollständig praktisch übte als unser Verstand sie in der Theorie annimmt, so verstummte mit einem Mal jede Klage bei Widerwärtigkeiten; und alle Ungeduld unter den Leiden dieser Zeit würde weichen, wie die Nebel vor der Morgensonne3). Zu Ende ginge jene dumpfe Annahme unvermeidlicher Schickungen, jenes bloße missmutige „sich Bücken“ unter irgend eine bittere Notwendigkeit, das stets noch einen allzu großen Anteil an unserm ernstlichsten Ringen nach Ergebung behauptet. Wir würden uns sogar nicht mehr damit begnügen zu sagen: „Es ist der Herr; Er tue was Ihm wohlgefällt.“ Denn wo der Glaube sein volles Amt und seinen rechtmäßigen Einfluss auf uns ausüben könnte, würde Alles was Ihm wohlgefällt, auch uns vollkommen und unbestritten wohlgefällig sein. Uns genügte auch nicht länger das allgemeine, der Zunge so geläufige und vielleicht oft aufrichtig gemeinte, aber leider nur allzu selten der Tiefe des Herzens entströmende Zugeständnis, dass Er, „der aller Welt Richter ist“4) auch recht richten muss. Wir würden vielmehr diese Wahrheit treulich auf unseren eigenen, besonderen Fall anwenden und jedes Leiden als eine wohlberechnete Schickung des zärtlichsten und allweisen Vaters im Himmel annehmen. Und so erklänge aus dem Innersten unserer Seele das kindliche Wort: „Herr, ich weiß, dass Deine Gerichte recht sind, und hast mich treulich gedemütigt“5).

1)
Jes. 46,10
2)
2. Pet. 3,8
3)
Oder murrt der verständige Landmann im Sommer über die brennende Hitze der Sonne, die sein Feld fruchtbar vergoldet?
Anmerkung der Übersetzer
4)
1. Mos. 18,25
5)
Ps. 119,75
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