Nitzsch, Karl Immanuel - Das Heilige der Selbsterhaltung

Nitzsch, Karl Immanuel - Das Heilige der Selbsterhaltung

Als „die Männer, die an allen Orten anbeten und heilige Hände aufheben sollen ohne Zorn und Zweifel“ haben wir uns Liebe Brüder einander begrüsset, als wir diesen gemeinsamen Lauf antraten. Auf diese Weise nur erst nahe am Schlüsse desselben wieder versammelt, fühlen wir uns heute unsern verschiedenen und unsern gleichen Bestimmungen, auch den letzten um ein beträchtliches näher gerückt, theils wieder mit einer Summe betrübender Erfahrungen des Kampfes gegen das Uebel belastet, mit einer Fülle von Verfehlungen und Verschuldungen beschwert, theils mit dem Gewinn göttlicher Gnade und Verschonungen bereichert, und mit schöneren, nähern Aussichten, zu volleren Ahnungen des Guten beseelt. Welche Lehre wollen wir nun vom reichen Fruchtbaume göttlicher Wahrheit brechen, und einer dem andern darreichen, daß sie an einem jeglichen ihre Kraft erweise? Soll es eine solche sein, die uns als oftmalige Flüchtlinge vor dem Heiligen und Guten in Strafe und Warnung nehme und uns durch Erkenntniß des Verderbens in Sünde von den Abgründen zurückrufe, an die wir unversehens gerathen sind, oder eine solche, die ermüdete Pilger erquicke und in das oft verzagte Gemüth redlicher Kämpfer und treuer Arbeiter Muth und Freude zurückbringe? Immer muß sie uns doch, zumal in jetziger Zeit des Jahres auf den hinweisen, der sein Leben gegeben hat zur Bezahlung für Viele, der ob er wohl hätte mögen Freude habe, das Kreuz erduldete und achtete der Schande nicht und ist gesessen zur Rechten auf dem Stuhl Gottes.

Von ihm gehet in vereinigter Kraft die Predigt wider die Lüste der Jugend und wider die Lüste aller Menschen, Wollust, Hader, Ehrgeiz, Hoffart, von ihm die Rechtfertigung des Lebens, der Trost des Sieges aus. Entweder an seinem Anblick sterben die Sünden, oder sie erholen sich auch an allen Erfahrungen des Todes und Lebens wieder; entweder an seiner Höhe ermannt sich der Glaube, oder wir sinken trotz aller Zurede in trostlosen Kummer dahin. Wir werden noch auf besondre Weise in diese ernste Richtung mit unsrer gemeinsamen Betrachtung gezogen. Früheres zu geschweigen, das wir haben bisher selbst reden lassen, liegen uns doch jetzige Fälle zu nahe, als daß wir sie nicht zur Sprache bringen müßten, - die auf einander folgenden Todesfälle dreier Jünglinge aus der Mitte unserer Berufs- und Glaubensgemeinschaft, einander ähnlich und doch auch so ungleich, alle aber in einer Art uns die Frage im Namen des erinnernden Gottes vorzuhalten geeignet: was gilt uns das Leben, was soll es uns gelten, wie soll, wie darf es verloren gehn und doch gewonnen sein? Der erste starb, ihn tödtete geschwinde Krankheit, und wir durften an seinem Grabe sagen, daß ihm vieles, alles fehlgeschlagen, nur das nicht, daß seine stille weltscheue Seele das Ewige geahnet und Gott geehrt. Der andre schied dahin, am Ende und Anfang ehrvollen Berufes vom langsamen Siechthum ergriffen und schönen Hoffnungen entrissen; wir mußten an seinem Sarge klagen, die Gerechten werden weggerafft vor dem Unglück und niemand nimmt es zu Herzen. Wenigstens Manche nahmen sowie dieses so andres nicht zu Herzen; denn den letzten haben die Folgen des jugendlichen Haders, des weltgesinnten Spiels mit dem Menschenleben, eines gegen göttliche und weltliche Gesetze gekämpften Streites getödtet. Und doch hat über seine Seele und sein besseres Sein noch sichtbarlich Gottes rettende Hand gewaltet. Veranlassung genug für uns A. uns aus dem Munde des Herrn und im Anschauen seines Kreuzes von allerlei Wahn und Irrthum befreien, über manche unerkannte Pflicht der Selbstverläugnung und Selbsterhaltung, über Werth und Unwerth des Lebens aufs Neue unterweisen zu lassen.

Joh. 12, 25. 26.

Ja wir hören es theure Brüder er spricht vom glücklichsten Verluste des Lebens, spricht von einem Hasse des Lebens in großen Stunden der beginnenden Verklärung seines Namens, nicht wie Weisheit von dieser Welt und Traurigkeit des Fleisches davon sprechen; so giebt er auch, nicht wie die Lust nicht wie die Sorge und Klugheit es thun, von einem Gewinne und Erhalten des Lebens Zeugniß. Und fassen wir dieses zusammen, so dürfen wir wohl, indem wir der Spur seiner Rede und seines Verhaltens treu bleiben, uns einander an das Heilige der Selbsterhaltung erinnern. Wir werden dieses Heilige der Selbsterhaltung in seinem ganzen Umfange erkennen, wenn uns klar wird:

  1. Daß Selbsterhaltung im vollkommnen Sinne nichts anders als die Rettung der Seele durch Glauben au Christum, Flucht vor der Sünde, Heiligung selbst sei;
  2. wie wenig die unheilige Selbstliebe irgend eine Pflicht der Selbsterhaltung unübertreten zu lassen wisse;
  3. aber, wie bei lebendigen Dienern des Herrn Selbsterhaltung und Selbstaufopferung im wahresten Einklange stehe.

Wir erwägen also:

I. Was Selbsterhaltung im höchsten Sinne sei, nämlich die Rettung der Seele durch den Glauben an Christum, die Heiligung selbst, die Flucht und Vorsicht vor der Sünde, die Zuflucht zu Gott.

In der Schule des Herrn werden wir ja allenthalben gewöhnt m. Br. die Worte, die die Güter des Menschen, die die Uebel, die ihm drohen, bezeichnen, in ihrer tiefen und vollen Bedeutung zu fassen. Da ist Leben der Dauer und Kraft nach mehr als Leben, da ist Tod mehr als Tod, Liebe und Haß, Gerechtigkeit und Sünde noch anders zu fassen als es die gewöhnliche Sprache mit sich bringt. Können wir den höhern Gedanken nicht sogleich nachkommen, hilft uns der Unterschied und Gegensatz. Die Schrift verneint uns das Gut in seiner niedern Bedeutung, um uns vor dem Uebel in höherer Bedeutung zu warnen. Sie legt uns das Uebel in einer geringen Art auf, um uns zur Erkenntniß des höchsten Guten zu reizen. So redet sie von lebendig todten Menschen, von sterbenden und die doch leben, von denen, die nichts haben und doch Alles haben. Und so ist es auch hier. Der Herr betheuert es: Wer sein Leben lieb hat, wird es verlieren, und wer sein Leben auf dieser Welt hasset, wird es erhalten zum ewigen Leben. Ist etwa nicht in beiden Sätzen dem Leben, dem Erhaltungstriebe Recht zugesprochen und Gültigkeit gegeben? In beiden. Aber der Trieb verirrt sich, verkehrt sich. Du suchst das bloß mittelbare, dienstbare, leibliche, eigene zeitliche Leben als ob es das unmittelbare das wahrhaftige wäre, und nun siehe zu, daß du nicht alles verlierst; denn das eine mußt du verlieren, das andre kannst du verlieren. So ist es auch gesagt, wenn ihr nach dem Fleische lebet, werdet ihr sterben müssen, oder der Tod ist der Sünden Sold; denn die Sünde, nachdem sie alle mögliche Dienste, Mühe und Erniedrigung ihrer Knechte mit Anweisungen auf Glück und Gewinn in diese Welt in Anspruch genommen, womit bezahlt sie am Ende diese Anweisungen? Mit dem Tode; gleich als ob man dafür gedient, gearbeitet hätte, und noch mehr, man kann nicht ihr zu Liebe gefrevelt und das Böse gedacht und gethan haben, ohne in demselben Verhältnisse Gott, ohne dem wahrhaftigen Leben abzusterben, ohne dieses noch andre Gesetze des Todes zu erfüllen. Da wir nun alle auf diese mehrfache Weise am Leben gefährdet sind, was muß Erhaltung des Lebens, was göttliche, was Selbsterhaltung sein? Der erhaltende Gott erweiset sich an dem was er geschaffen hat nicht so, daß er die Hülle seines Geschöpfes einige Zeit behütete und den Kern von vorn herein dem Wurme des Unglaubens weihete. Wir werden täglich aus Gefahren des Leibes und Lebens gerettet, der Hüter schlummert nicht, er hält den überall in seiner Möglichkeit aufstrebenden Tod lange darnieder, und doch läßt er da und dort den Pfeil des Jägers ein noch jugendliches Leben durchbohren, läßt Augen zum Sehen geschaffen erblinden, Sinne und Glieder erlahmen - ist er denn nun nicht mehr der erhaltende Gott? Ist nun der nicht mehr der Erhalter, der Gott, der oft erst dann andre Sinne recht aufschließt, wenn die niedern ersterben, der die Hülle bricht um den Geist frei zu machen, der mit dem Salze der Wahrheit in dem Feuer der Trübsal die Seelen von Tod und Fäulniß säubert, daß sie gewürzt werden zum Leben, der über Siech- und Todesbetten den Odem seines ewigen Lebens, die Wahrheit der zukünftigen Welt wehen und walten läßt, der mit Vergebung heilt, der dazu das edelste Waizenkorn in die Erde sinken, Jesum sterben ließ, daß er Früchte der Buße und Vergebung vielen Brüdern brächte. Der Erlöser der sündigen Menschen ist der erhaltende Gott. Das ist die göttliche Erhaltung, und wir könnten noch fragen, was Selbsterhaltung im vollen Sinne des Wortes sei? Darin bestehet sie nicht vollständig, des Leibes warten, mit erfinderischer Kunst die Dauer seines Dienstes verlängern, die Lage und Stelle, die wir inne haben sammt dem ersten besten Selbstgefühle, das sie uns gewährt, klüglich, vorsichtig, rechthabrisch, mißtrauisch behaupten, im Uebrigen halb bewußt halb unbewußt auf die unabänderliche Unsterblichkeit der Seele und auf das unumgängliche bessere Leben seine Rechnung stellen. Die sinnlichen Triebe der Kindheit wurden wach, und der Geist vermochte sie nicht zu beherrschen, sie wurden Lüste, die wider die Seele stritten; die Lust gebar die Sunde und die Sünde erzeugte mir wie vielfältigen Tod, wie weite Verbannung vom Angesichte Gottes, wie viele Zweifel am Wort der Wahrheit! Da holte die Liebe des Herrn mich wieder ein; ich lernte was Vergebung sei, was Kindesannahme bei Gott, ich schwur dem Herrn meine Gelübde zu bezahlen. Aber wo ist die vorige Liebe hingeschwunden? Wo sind die Werke des ersten Eifers? Die tödtliche Kälte dieser Welt ergreift mich wieder und wer weiß: - lebe ich dem Herrn und er in mir? Ja das m. Br. sind die Sorgen der Selbsterhaltung oder es giebt keine wahren und gültigen. Die Gemeinschaft des Vatergottes, des unentfliehbaren, des unverlierbaren in seinem Sohn ist das Leben, das feste Glaubensband mit Christus ist die Selbstheit, die Gabe des heiligen Geistes das Pfand des ewigen Lebens, der Friede Gottes, die Kraft der Liebe der Besitz des Zukünftigen. Das Alleinsein in Eigenheit des Willens, in Beschränkung des Wunsches auf diese dunkle Erde, in Verfolgung der selbstgeschaffenen Musterbilder und eiteln Ziele eines weltlichen Verstandes und einer fleischlichen Phantasie, das ist das Leben das wir hassen, das wir opfern, tödten sollen; so werden wir das Leben gewinnen. Als er zu den Menschen sprach, glaubet an das Evangelium, redete er zu ihrer Selbsterhaltung; wenn der Apostel die Christen ermuntert, schaffet eure Seligkeit mit Furcht und Zittern, wenn der Psalmist betet, erhalte mich bei dem Einen, daß ich deinen Namen fürchte, wenn Joseph ruft „wie sollte ich ein so großes Uebel thun“ rc. da gedenken sie Alle im rechten Sinne, wie Jeder sich selbst der Nächste sei. Dieser heiligen Selbstliebe sollen wir, wollen wir voll werden, und uns damit aus dem erfüllen, der wie auch die Jünger riethen, wie auch die Natur sich sträubte, dachte „soll ich den Kelch nicht trinken?“ der, wie auch die Richter drohten, sprach, du sagst es, ich bins. Werden wir dieser Selbstliebe voll, so ist nicht zu sorgen, daß wir der Nächsten- und Bruderliebe im Achten auf uns Selbst vergessen. Denkt man an sich, achtet man so auf sich selbst, so wird wahrlich niemand beraubt, keiner übervortheilt, mancher nachgezogen zu ergreifen die ewigen Güter, gesetzt auch, daß die Welt die uns selbstsüchtig macht oder schilt, gerade in diesem Sinne am wenigsten uns erlauben wollte, wir selbst zu sein.

Das Heilige der Selbsterhaltung läßt sich nun allerdings auch in Bezug auf die Pflicht der leiblichen Selbsterhaltung erkennen. Aber es gehört nothwendig zur Fortsetzung unsrer Betrachtung

2. wahrzunehmen, wie wenig die unheilige Selbstliebe, die Eigenliebe irgend eine höhere oder niedere Selbsterhaltungspflicht ungebrochen, unübertreten lasse.

Es ist kaum möglich an den Geheimnissen des Geistes, der Wiedergeburt aus dem Geist, des ewigen Lebens mit kindlichem Glauben hangen, und doch ohne Ehrfurcht vor den Geheimnissen des Leibes, vor den Thatsachen der Natur und der Schöpfung stehen. Schon an der Schwelle des Tempels der Wahrheit hören wir, Gott schuf den Menschen nach seinem Bilde. Mitten im neuen Bunde heißt es, wisset ihr nicht, daß eure Leiber Christi sind, daß ihr Gottes Tempel seid? Sind wir doch zu diesem Bunde der gegenseitigen persönlichen Erkenntniß, zu diesem Bewußtsein Gottes und seines Reiches, zu diesem Selbstbewußtsein nicht außer dem Leibe, in diesem Leibe, durch dieser Sinne Gebrauch und Belebung, und durch die Eindrücke gekommen, die das Sichtbare uns als das Mittel des Unsichtbaren gab. Diese erste Gabe, Leib und Leben, vor welcher, über welche hinaus wir noch nie die Gemeinschaft des Geistes übten, dieses Leben verachten, dieses Werkzeug des Geistes, heißt es nicht das Geschenk des Geistes selbst verachten, und den Gott, der allein Unsterblichkeit hat, verlästern, daß er uns durch solchen Vorhof zum Leben führen, in solcher zeitlichen Hütte aufhalten und vorbereiten will? Nun ist es freilich auch samt so vielen köstlichen Gaben in unsre verletzende oder bewahrende Hände gegeben. Und es könnte scheinen, es sei in diesen Händen desto sicherer, je mehr sie kraft des ersten, kraft des Erhaltungstriebes gehalten und bewegt werden. Keineswegs ist es so. Denn da diese Liebe zu leben in Allen, die nicht aus dem Geiste wiedergeboren sind, nur eine Sucht zu leben werden muß, ist sie eine eben so thörichte als treulose Hüterin der leiblichen Wohlfahrt. Der Mensch hat nicht Unrecht im Leben nach dem Leben, nach den rechten Ursachen und Zwecken, nach den vollen Freuden, nach dem rechten Kerne zu suchen: sobald er aber im genußreichen Vollbringen des eignen Willens, in der gedrängten Fülle angenehmer Eindrücke, lustiger Einwirkungen dieses alles sucht und findet, wird er zu lebenssüchtig, um nicht mehr und mehr das Leben zu verlieren, zu verschwenden, um nicht die leibliche Dauer und Kraft nutzlos zu verzehren und eilig. Wir fordern jedes Laster im Namen vernünftiger, natürlicher Lebensliebe vor Gericht. Es kann sich keines rechtfertigen, daß es sich nicht mörderisch versündigt habe am Menschen. Was sind die lebenssüchtigen Leidenschaften, was Wollust, Rausch, Hader, Ehrgeiz anders als ein geschwindes, ein Viel-Leben, als ein Leben, welches die Ergötzungen und Anstrengungen ganzer Jahre in kurze Stunden zusammendrängen will, als ein Leben, darin der Knabe dem Jüngling, der Jüngling dem Manne genießend und wirkend vorgreift, und jeder dem Greise; als ein Leben, das die Kraft des tödtlichen Götzen, dem Reize, täglich und stündlich opfert! Nun giebt es zwar auch einen sparsüchtigen, den Schatz der Gesundheit bewachenden Geiz. Nur daß er klüger oder glücklicher wäre als andrer Geiz bemerken wir nicht. Führt die glaubenlose Lebensbesorglichkeit nicht zu Thorheiten, die sich eilends bestrafen? Steht das Leben nicht in Gottes Hand? Wer mag ihm nur eine Elle zusetzen? Und wie viel helfen wohl Arzeneien, wo Leidenschaften der Lust und Unlust das Leben zernagen und aller Künste deiner Lebensverlängerung spotten?

Leider giebt es, m. Br., aus der Mitte der fleischlichen Lebenssucht einen traurigen Uebersprung in den Haß des Lebens. In so vielfacher Bedeutung ist es wahr, wer sein Leben liebt, wird es verlieren. Aber nicht in jedem Sinne ist es wahr, wer sein Leben hasset, wird es ins ewige erhalten. Manche, die das Leben suchten, haben es - und wie schrecklich häuften sich diese Beispiele! - haben es, als es entlaubt, ausgeleert, entartet nur desto schwerer auf ihnen zu lasten anfing, zu hassen angefangen, bis sie es über sich gewonnen, es dem Geber schnöde und undankbar hinzuwerfen. Und gesellte sich nun nur nicht zu dem argen Falle noch die ärgere Lüge: dieß sei auch eine Art der Selbsterhaltung, eine höhere, eine selbstverläugnungsvolle, eine erhabene Ausflucht der gereiften, starken Seelen aus dem Kerker dieses Lebens. O nein, so ist es nicht. Laßt uns klagen, laßt uns nicht richten, wenn Natur, wenn Wahn, wenn Unglück, wenn Unglaube die Seele so betäuben, verstricken, verfinstern, daß sie folgen will, ohne gerufen, sich losreißen, ohne gelöst zu sein. Zu klagen ist da noch immer Recht und Raum vorhanden. Nur nicht die Unwahrheit: der Glaube, der Geist in seiner Freiheit, die Liebe, die Hoffnung habe es gethan. Nur nicht die Lüge: es sei, wenn es vorsätzlich geschehn, kein Frevel geschehn, kein Bund gebrochen worden; es sei nicht böse Eigenmacht, nicht schwache Stärke, nicht Entweihung, nicht Abfall, so den Tempel abzubrechen, den Gott gebauet!

Müßten wir nur nicht noch die Lehren und Thaten eines Lebenshasses ans Licht ziehen, von dem der Herr auch nicht meint, daß er lebenerhaltend sei und der sich desto kühner selbst rechtfertigt, eine höhere Art der Selbsterhaltung zu sein, die Lehren und Thaten des gesetzwidrigen Zweikampfs. Christliche Männer, christliche Jünglinge schon kehren dem Gesetze, dem Staate, der Kirche, dem Hause, den flehenden Familien, dem Glauben, dem Gewissen, der Vernunft den Rücken, um der Ehre ein Opfer zu bringen. Sie suchen einen heimlichen Platz, den sie auf Gottes und seines Volkes Erde nicht finden sollte; dort laden sie sich, folgen einer dem andern an die Pforte,- der Ewigkeit, der Tod wird citirt, und nicht selten erscheint er; oder Blut und Wunde doch soll die Genugthuung der beleidigten Ehre leisten und die Versöhnung entzweiter Theile ermöglichen. Ja, es bleibe wahr, Ehre ist mehr als das Leben; es sei wahr, es giebt keine Würde, keine Tüchtigkeit für irgend einen edlen Beruf, wo nicht Muth von Gott erbeten und verliehen wird, dieses Leben an höhere Güter zu setzen. Aber wehe der Ehre, die von der Wahrheit, von der Gerechtigkeit, von der Ehre Gottes, vom Glauben, von der Liebe, von der Demuth, von der Ehre Christi stolz sich scheidend, ohne Wurzel im Gewissen, ohne Anfrage an den Himmel, ohne Anklang im Herzen der Gläubigen und Gerechten, das gottverliehene viel heiligere Geschenk des Lebens zum Opfer fordert! Wehe dem Menschen, der ehe sie zeitig sind, ehe der Herr sie fordert, diese Beweise des Willens und Muthes zu sterben, er selbst sündig und sterblich, dem Mitmenschen abfordert und unter den überwältigenden Drohungen der Meinung abzwingt! Unter den zahlreichen Ursachen, das Leben zu lassen, das Leben darzubieten, die vor dem Angesichte des Gekreuzigten hervortreten, giebt es keine einzige, die nur im Geringsten eine solche Drohung, eine solche Forderung, eine solche Folge berechtigte! Und daß jede Beleidigung mit Blut oder Tod oder Todesgefahr gesühnt werden müßte, behauptet doch niemand. Wie schwer muß sie denn, von welcher Art muß sie denn sein, wenn sie nicht mehr verziehen, nicht mehr anders vermittelt werden darf? Wie entscheidet dabei das Gewissen, nach welchen Regeln? Denn das zum mindesten wäre nöthig, nicht eher den Nächsten, nicht eher sich selbst an die Grenze des Todes und Lebens zu drängen, als wann kein Ausweg mehr übrig bliebe. Oder nicht anders, als mit Gott, mit Gebet, mit Vertrauen auf ihn - Aber wir reden ja von Christen und zu Christen. Diese kennen Gott anders. Sie dürfen vor ihm mit solchem Recht, mit solchem Ruf, solcher Bitte und Frage nicht erscheinen. Sie müssen über menschliches, ja über Göttliches ohne Gott verfüge. Elende Lage des Siegers wie des Besiegten! Sie gehen vielleicht mit gesundem Leibe, aber nicht mit unverwundetem Gewissen davon. Sie haben einen Beweis von Tapferkeit gegeben, den zu geben dem trotzigen, dem gleichgültigen, glaubenslosen Menschen noch leichter wird als dem wahrhaft edlen und treuen Manne. Sie wollten vielleicht vergeben und durften nicht, und sie, denen Christus erlaubt hatte siebenmal nicht, sondern siebzigmal siebenmal zu vergeben, durften das eine Mal - ohne, daß ein Gesetz Gottes oder der Menschen, ohne daß die wahrhaftige Ehre es verbot - durften einer Meinung wegen, ehe Arm, Schwerdt, Geschoß, Zufall gerichtet, nicht vergeben. O m. Br., wir wissen es, Ihr fühlet es alle, eine solche Lehre hat der himmlische Vater nicht gepflanzt; sie wird, sie muß aus dem Boden des christlichen gemeinsamen Lebens ausgerodet werden. Lasset auch uns die Hände des Zeugnisses und der rechten Ehrliebe dazu thun, daß es geschehe. Im Angesicht des sterbenden Erlösers lasset uns die Wahrheit erkennen, es ist Gnade Unrecht leiden, es ist Hoheit lieber es leiden als es thun, es ist hohes Recht die Schmach der Verachtung tragen, den Schein der Schwäche auf sich nehmen und doch Gott allein fürchten und die verirrten Brüder nicht fürchten, sie lieben und ihnen vergeben. Lasset uns Zeugniß geben, daß wir Gottes Ehre suchen, lasset uns zürnen, nicht mit Sünden sondern in Gerechtigkeit, lasset uns des Lebens mit solchem Ernste brauchen, daß man sehe, wir lieben es aus rechten Ursachen und sparen es zu heiligen Opfern auf, die Gott gefallen. Denn daß Heilige der Selbsterhaltung muß sich dadurch endlich

3. zu erkennen geben, daß sich bei den Dienern Christi die Selbsterhaltung und Selbstaufopferung in einem vollen Einklänge der Wahrheit und Pflichtliebe vorfindet.

Erkennen wir das Heilige an der Bestimmung zu leben nicht an, so ist es eben mit unsrer Liebe zum Leben, mit unsrem Hasse des Lebens ein gleich unheiliges und unseliges Wesen. Der Widerspruch läßt sich nicht lösen, der darin besteht, daß der Mensch, derselbige, der in voreiliger Lust und Leidenschaft den Genüssen dieser Welt nachjagt, der viele Male, wenn er gerufen wird von Pflicht und Ehre, sich mit Selbsterhaltung als dem ersten Gebote zu entschuldigen keine Scheu hat, der auch wirklich höheres als diese Welt und sein selbstisches Bewußtsein in sich faßt, weder kennt noch besitzt, daß derselbe Mensch weder von Anfang an die Grundlage seiner ganzen Glückseligkeit, das Leben und die Gesundheit unangegriffen und unversehrt lassen kann, noch sich am Ende scheuet eben dieses nur zu sehr geliebte Leben als das hassenswürdigste Uebel von sich zu werfen. Oder löset sich dieser Widerspruch von Liebe und Haß, so liegt die Lösung doch nur in den Strafgerichten Gottes, und in der unseligen und doch nothwendigen Verkettung der unreinen Liebe mit den Regungen des Hasses. Wie ganz anders löst sich der Unterschied der Selbsterhaltung und Selbstaufopferung in Eine Wahrheit und Liebe durch die Nachfolge Jesu auf! Der Haß des Lebens, den der Herr mit Verheißungen begleitet, nämlich die beständige Zurücksetzung des sinnlichen Eigenlebens gegen das herrliche Gemeinleben in Gott, hindert nicht, daß das natürliche, irdische, leibliche Leben als ein göttlich dargereichtes Mittel treulich und dankbar aus des Erhalters Händen täglich empfangen, gewissenhaft geschont und gepflegt werde, um zu seiner Zeit geopfert, hingegeben und durch Hingebung ins Ewige verschlungen zu werden. Erinnern wir uns, wie einig in dem großen Apostel Lebens- und Sterbenslust waren. Er rief: Christus ist mein Leben, Sterben ist mein Gewinn. Regte sich die ganze Sehnsucht auf, daheim zu sein bei dem Herrn, und schien ihm dieses das beßre, so erschien ihm doch alsbald das als noch viel besser, im Fleische zu bleiben, so lange der Herr es wollen und geben würde, im Fleische Frucht zu bringen. Wir hören die theure Verheißung: wo ich bin da soll mein Diener auch sein. Dieser Herr und seine Diener bleiben im Leben und Sterben, im Sterben und Leben ewig verbunden. Immer, immer wieder kommen die Diener bei dem Herrn an, Lohn und Ruhe, Auftrag und Weisung aus seinen Händen zu nehmen. Aber unmöglich ist, daß ein ihm treu verbundner Diener sein eigner Herr sein und als solcher das Leben frei behalten, das Leben frei verläugnen und verwerfen wollte. Wer mir dienen will, der folge mir nach, und wo ich bin, da soll mein Diener auch sein. Wenn wir nun das kränkliche, kummervolle Leben, in dem wir unsre Tage hinbringen müssen, auch um der Dienste willen, die es dem Herrn noch reichlich thun kann in Geduld und Treue, nicht mehr achten - oder nur noch so weit, als es einige armselige Ueberreste weltlicher Freude aufzuweisen hat; wenn wir gar um der Unmöglichkeit willen, es uns angenehm zu machen, nun auch keinen Beruf fühlen es dem Herrn zu Frucht und allem Gefallen zu führen; wenn wir es aus eigner Macht hassen, und die Lust uns anwandelt es zu vernichten, o wie ganz sind wir dann bei uns selber, wie gar nicht bei ihm, wie auf dem Wege zum Nichts, auf dem Wege des einsamsten unheimlichsten Strebens begriffen! Christliche Jünglinge, wir wissen nicht, wir können es ahnen, in welche Prüfungen und Drangsale der Herr noch die Seinigen in Kirche und Vaterland zu führen gedenkt; wie vieles und schweres wird davon noch in eure Tage fallen können. Der Herr wird auch dann vorangehen auf klar unterschiednen Wegen. Wer von euch wird auch dann bei ihm und bei seinem oft verkannten Namen, oft verlaßnen Worten sein? Möchtet Ihr alle eure Leibes- und Seelenkräfte zu theuer achten und zu köstlich, um sie dem ewig nutzlosen und undankbaren Dienste der Sünde und Eigenlust zum Opfer zu geben, möchtet ihr sie für die Ehre des Erlösers sparen. Und wenn es keinen andern heiligen Beweggrund gäbe, der euch abhalten müßte, mit Leben, Gesundheit, Kraft und Würde willkührlich oder leichtsinnig und vergeudend umzugehen, der einzige reicht vollkommen aus, Ihr sollet euch erhalten und bewahren an Leib und Seele, um, wo und wann es gilt, euch für den Herrn und eure Brüder aufopfern zu können, um mit Allem, was er euch gegeben, ihm zu dienen und sein zu warten. Wer mir dienen wird, spricht er, den wird mein Vater ehren. Dann, dann das Leben hassen, wird sein, es ins ewige Leben erhalten. Amen.

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