Nagel, Gustav Friedrich - Die Zerrissenheit des Gottesvolkes in der Gegenwart

Nagel, Gustav Friedrich - Die Zerrissenheit des Gottesvolkes in der Gegenwart

Vorwort

Als biblisch-theologische Arbeit eines wohlbekannten Verfassers bedarf dieses Buch wahrlich keiner Vorrede eines weniger bekannten. Es wird aber dieses Zeugnis bei vielen nicht nur freudigen Beifall finden, sondern bei anderen auch wohl Widerspruch. Darum soll es als Zeugnis zweier Zeugen hinausgehen. Der Verfasser wünschte es, und noch mehr war es dem Schreiber dieser Zeilen selbst ein Bedürfnis, an die Seite seines in 20 jähriger Geistes - und Arbeitsgemeinschaft mit ihm stehenden Bruders und Freundes zu treten. Die Erfahrung hat gelehrt, daß eine Äußerung zu dem vorliegenden Gegenstand dem, der sie wagt, manchen wehtuenden Vorwurf einzutragen pflegt. Da wollte ich nun gerne mein herzliches und dankbares Einverständnis mit dem Geist und Inhalt dieses Buches hier aussprechen. Und dann möchte auch ich es den Brüdern gegenüber, mit denen sich dieses Buch hauptsächlich beschäftigt, schon hier aussprechen: Wir haben unsere Brüder wenigstens so lieb und achten sie so hoch, daß wir bereit sind, etwas von ihnen und um ihretwillen zu tragen. Und wir können und wollen die Hoffnung noch nicht aufgeben, daß manche von ihnen es doch empfinden: Hier redet nicht das böse Gewissen und die Streitsucht, sondern die besorgte Liebe eines im Heiligen Geiste ruhigen Gewissens.

Oft haben der Verfasser und ich es in den letzten Jahren besprochen, wie zu unseren Brüdern einmal so geredet werden müsse, daß sowohl die Art als auch der Inhalt der Rede es unmöglich mache, dieselbe als aus einem hochmütigen, unbrüderlichen Geiste kommend, von vornherein zurückzuweisen. Es erscheint uns als eine geistliche und brüderliche Pflicht, unseren Brüdern dieses offene Wort zu sagen. Die Brüder haben uns und unsere Kreise wert genug geachtet, um in einer starken, immer noch anschwellenden Literatur und in zahllosen Einzelbemühungen mit ihren Forderungen und Begründungen an uns heranzutreten. So ziemt es sich, daß auch wir sie wert genug achten, ihnen einmal in ernster, freundlicher und möglichst gründlicher Darstellung zu antworten.

Es sollte ja eigentlich einer zu ihnen reden, der, wie Paulus in Bezug auf den Pharisäismus und Luther in Bezug auf den Katholizismus, einmal selbst auf dem Boden der „Versammlung“ als eifriger Anhänger gestanden hat, und der als ihr Glied im eigenen Leben in Bezug auf Lehre und Praxis ihren Irrtum und ihre Gefahren durchkostet hat, der mit brennender Liebe und sorgfältigster Anerkennung jeden Körnleins von Wahrheit, das sie besitzen, zu ihnen redete als einer, der im eigenen Leben das in sich überwunden hat, was man gemeinhin „Darbysmus“ nennt. Es hat ja einmal einer geschrieben, der verschiedene Stadien dieser Stellung durchlaufen hat, aber er schien manchen nicht genug Liebe zu besitzen und auch seinen früheren Standpunkt nicht überwunden zu haben.

Es hätte der Verfasser gerne noch die geschichtliche Entwicklung der „Versammlung“ besonders auf englischem Boden eingehender berücksichtigt. Dadurch wäre die Eigenart der „Versammlung“ in Erkenntnis und Praxis noch besser beleuchtet und verständlicher geworden. Aber es war im Rahmen einer kurzen Schrift, wie der gegenwärtigen, die Erfüllung dieses und noch anderer Wünsche nicht wohl möglich. Aber das, was am nötigsten und am dringendsten erwünscht war, das ist, dem Herrn sei Dank, im vorliegenden Buch in wohltuendster Weise geschehen: An der Grundlage der Position der „Versammlung“ und einigen besonders oft zur Diskussion kommenden Punkten ist gezeigt, warum wir und so viele Brüder anderer Kreise um des Herrn und der Schrift, um der Brüder und der Welt willen, um des Gewissens und der Wahrheit und der Liebe willen, den Brüdern in gewissen Punkten nicht zustimmen können. Es ist gezeigt und mit reichem und klaren Schriftbeweis begründet worden, warum wir der mit großer Entschiedenheit ausgesprochenen Forderung, in der „Versammlung“ „unseren Platz einzunehmen“, nicht folgen können.

Es ist dies in einer Weise gezeigt und dargelegt worden, die es, wie wir hoffen, die Brüder wird erkennen lassen, wie auch wir daran festhalten, daß sie als unsere Brüder doch zu uns gehören und wir zu ihnen. Sie sind unsere Brüder, mit demselben Blut erkauft und mit demselben Geist getauft, in ihrer Schwachheit von demselben Herrn getragen, wie wir in der unseren, in ihrer Treue von ihm gesegnet und unverdient von ihm besonders benützt, wenn es seiner souveränen Gnade gefällt, und darum sind sie uns lieb und teuer. O, daß es unseren Brüdern gefiele, auf das zu hören, was ihnen hier einer im Namen vieler sagt, und daß das Zeugnis dazu diente, uns alle der Wahrheit und damit Jesu und so auch einander näher zu bringen!

Und nun noch eins: Der Verfasser hat nicht beabsichtigt, nur an die Brüder der „Versammlung“ sein Wort zu richten. Wer sich selbst kennt und wer sich ins Licht der Schrift stellt, der wird innewerden: Das, was der Verfasser unter Anerkennung alles vorhandenen Guten im Schmerz der Liebe zunächst bei der „Versammlung“ maßvoll rügt, und was andere maßlos und verständnislos an der „Versammlung“ tadelten, das macht nicht an der Grenze der „Versammlung“ Halt. Uns allen liegt es nahe und uns allen wäre es nach unserer Natur bequem, wenn wir mit Formeln, Worten und Maßregeln das erreichen könnten, was in Wirklichkeit nur unter Darangabe des eigenen Lebens und in der Glut der Liebe Jesu erreicht werden kann. Wenn wir alle nicht acht haben auf uns selbst, werden wir das, was wir an der „Versammlung“ tadeln, in anderer Form bei uns selbst finden. Jedem, dem wir widersprechen, sind wir eine Beweisführung nicht nur in Worten schuldig, sondern in der Tat und in der Kraft. Wollen wir aber diesen Beweis erbringen, dann werden wir nicht hoch einherfahren, sondern demütig und klein und schwach in Christo, seine überschwengliche Kraft offenbaren. Denn Gott widerstehet den Hoffärtigen, aber den Demütigen gibt er Gnade.

Wenn aber Fernstehende diese Schrift lesen, so sei es ihnen nochmals ausdrücklich gesagt: Wir Brüder stehen uns einander nicht als Feinde gegenüber, auch wenn wir in brüderlichem Ernst unter uns erörtern, was unseres gemeinsamen himmlischen Vaters Wille und was unseres gemeinsamen Meisters Sinn sei. Das, worin Kinder Gottes noch je und dann verschiedener Meinung sind, hängt zum großen Teil damit zusammen, daß wir da und dort noch Unerkanntes oder Unüberwundenes aus der Welt an uns haben. Aber im Unterschied von der Welt, die das Ihre lieb hat, wissen wir uns mit unseren Brüdern, mit denen sich dieses Buch beschäftigt, darin eins, daß sie und wir begehren, alles, was wir noch von der Welt Art an uns haben, zu erkennen und auszuscheiden. Und sie, wie wir, bitten unsere Mitmenschen als Botschafter an Christi Statt: Lasset euch versöhnen mit Gott! Und gerade, weil sie wie wir Glieder eines Leibes sind, so suchen wir Glieder einander zu dienen und uns zu fördern, und darum ist selbst unser Austragen von Meinungsverschiedenheiten im Grunde nur ein Ringen nach Einigkeit, ja ein Zeugnis unserer manchmal noch verborgenen, aber dennoch vorhandenen, jetzt nach Darstellung strebenden und einst sicher vollkommen sich offenbarenden Einheit in Christo Jesu.

Hamm, Januar 1913

Otto Schopf

Freikirchliche Gruppen und die Einheit der Gemeinde

Es gehört die Lehre von der Einheit der gläubigen Gemeinde zu den Hauptlehren und -wahrheiten des Neuen Testaments. Das wird grundsätzlich bereitwillig zugestanden von allen, denen das Schriftwort alleinige Richtschnur für Glauben und Leben ist. Alle Bekenntnisschriften von der Augsburgischen Konfession bis zu denen der neueren und neuesten in- und ausländischen Denominationen sind sich darüber einig, daß die wahre Gemeinde eine auf den Opfertod Jesu gegründete, durch den Lebensgeist Jesu zusammengefügte, unauflösliche Einheit bildet. Unter der gläubigen Gemeinde im Schriftsinne verstehen wir die Gesamtheit aller Wiedergeborenen, die Gesamtheit derer, die, der Sünde Schuld und Macht entnommen, dem erhöhten Haupt der Gemeinde als Glieder wahrhaft eingefügt sind.

Nun sind es besonders die außerhalb der großen Landes- und Volkskirchen stehenden Gemeinschaftsgruppen, die mit der Verwirklichung des biblischen Gemeindegedankens Ernst machen wollen. Eben darum bilden sie ja von den namenschristlichen und ungläubigen Massen abgesonderte Gruppen. Sie halten sich auf Grund des Schriftzeugnisses überzeugt, daß nur wahrhaft Christusgläubige dem Verbande der gläubigen Gemeinde angehören sollen. Es berufen sich diese Kreise alle mit gleichem Nachdruck auf das Schriftzeugnis, das nicht nur für den einzelnen Christenmenschen, sondern auch für die Gestaltung des christlichen Gemeinschaftslebens allein volle Geltung habe. Und alle bekennen sich auch gleichermaßen zu der Schriftlehre von der Einheit der gläubigen Gemeinde.

Bei solchen Voraussetzungen ließe sich nun denken, daß man in diesen Kreisen sich gegenseitig im allgemeinen verstehen werde. Es ließe sich denken, daß in der Kraft und dem Geiste des Schriftworts, auf welches alle so nachdrücklich sich berufen, die Einheit der Gemeinde in harmonischer und fruchtbarer Weise in die Erscheinung treten werde. Der Tatbestand ist nun aber, wenn wir ihn ohne Schönfärberei ins Auge fassen, ein dieser Vermutung sehr entgegengesetzter. Unsere freikirchlichen Gemeinschaftsgruppen stehen, trotz ihres Bekenntnisses zur Einheit der Gemeinde, einander vielfach in scharfer Absonderung gegenüber. Es haben Meinungsverschiedenheiten zwischen einzelnen Gruppen eine Schärfe und Zuspitzung erfahren, daß diese Gruppen sich hinsichtlich ihres Gemeinschaftslebens gegenseitig völlig ausschließen. Ganze Gemeinschaften versagen einander um bestimmter Lehr- und Erkenntnisverschiedenheiten willen das Recht zur Teilnahme an den Segnungen des Gemeinschaftslebens. Und gerade da, wo wie nirgend sonst die Einheit der Glaubenden als der Glieder des einen Leibes in die Erscheinung treten soll - am Tische des Herrn - gerade da tritt die sektenhafte Zersplitterung gläubiger Kreise am augenfälligsten und schmerzlichsten hervor. Bedenklicher als vielleicht irgendwo sonst zeigt sich in unseren zur Sonderbündelei auf allen Gebieten neigenden deutschen Landen eine sektenhafte Gestaltung des christlichen Gemeinschaftslebens. Und es hat durchaus den Anschein, als ob diese Zerspaltung und Zersplitterung christlich-gläubiger Kreise sich noch weiter fortsetzen werde. Es zeigen sich deutlich Ansätze zu weiteren Neubildungen. Das Bild ist vielfach, namentlich im Westen unseres Vaterlandes, schon so verwirrt, daß oft nur schwer Orientierung möglich ist.

Dabei bekennt sich jede neue Gruppe mit feierlicher Entschiedenheit zur Einheit der Gemeinde. Die Literatur einzelner Gemeinschaftsgruppen ist gefüllt mit der Betonung einer idealisierten Einheit der gläubigen Gemeinde. Manche können sich nicht genug darin tun, zu betonen, daß die Einheit der Gemeinde nach der Schrift in Christo ja längst hergestellt sei, und daß zur Darstellung dieser Einheit nur eins notwendig sei: der Eintritt aller in die betreffende Gruppe. Inzwischen nimmt aber die Zerspaltung des christlichen Gemeinschaftslebens in allerlei Gruppen und Parteien immer mehr zu. Es ist daher jedem Einsichtigen klar, daß man demgegenüber mit der immer wiederholten Betonung und Behauptung der Einheit wirklich nicht weiter kommt. Es sind auch die schönsten Theorien schlechter Ersatz für offenbaren Mangel auf dem Boden der Praxis, und es wird auch die fortwährende Betonung der prinzipiellen Einheit der Gemeinde auf die Dauer wertlos, wenn der praktische Stand der Dinge in immer traurigeren Gegensatz zu dieser Wahrheit tritt.

Es muß der ernsthaft Erwägende den bestehenden Zuständen gegenüber sich vor sehr ernste Fragen gestellt sehen. Es muß ihm die Frage kommen, ob nicht doch die Behandlung der Lehre von der Einheit eine verfehlte ist, ob ihr nicht tatsächliche Irrtümer zugrunde liegen, wenn sie das Gegenteil von dem bewirkt, was sie bewirken soll. Es muß ihm die Frage kommen, ob nicht etwas bis in den Grund hinein Irriges und Unechtes in der Art der Betonung der Einheit sei, wenn das praktische Ergebnis einzunehmender Zersetzungsprozeß im Lager der Gläubigen ist. Niemals kann doch der Schriftstandpunkt an sich, niemals können Schriftwort und Schriftgeist solche Früchte zeitigen.

Es fällt dem Schreiber dieser Zeilen schwer, in dieser Sache das Wort zu ergreifen, sei es auch nur dies eine Mal. Bei der Art und dem Ton, in dem heutzutage vielfach christliche Preßfehden ausgefochten werden, ist es keine Freude, an der Erörterung von Meinungsverschiedenheiten sich öffentlich zu beteiligen. Zudem liegt für mich persönlich eine Schwierigkeit nicht vor, auch andersdenkende Brüder anzuerkennen und ihnen herzliches Vertrauen und aufrichtige Wertschätzung entgegenzubringen. Es ist mir eine wertvolle und beglückende Möglichkeit, jeden wahrhaft Erlösten in den wunderbaren Zusammenhängen anzusehen, in denen er steht mit dem verklärten Haupt im Himmel. Ich darf die Freude und den Segen genießen, der darin liegt, mit allen, die wahrhaft am Haupte hängen, vorbehaltlose Gemeinschaft haben zu dürfen, einerlei, welcher Gemeinschaftsgruppe sie angehören. So möchte ich viel lieber über das mit den Brüdern reden, was uns einigt. Das aber ist so groß, so reich und so köstlich, daß alles andere demgegenüber gering wird und jedenfalls seine trennende Bedeutung verliert.

Dennoch muß die Abneigung, auch Meinungsverschiedenheiten unter Brüdern zur Sprache zu bringen, ihre Grenzen haben, wenn der Liebe die Wahrheit nicht fehlen soll. Es darf kein Glied am Leibe Jesu sich der Mitverantwortlichkeit für Schäden und Störungen innerhalb des Leibes entziehen. Und wer von den großen Gesichtspunkten der Schrift und des Werkes Christi die immer sich mehrende Zerrissenheit unter Gläubigen beurteilt, der muß diese Zerrissenheit bis ins Herz hinein als ein Schmach empfinden. Er muß sie empfinden als eine Schmach, die ihn persönlich mitbetrifft, für die er persönlich mitverantwortlich ist. Und aus dem inneren Drang und Zwang der Liebe Christi muß er tun, was er tun kann, beten, wie er beten kann, sagen, was er auszusprechen hat, um an seinem Maß und in seinen Grenzen den zersetzenden Kräften innerhalb des Leibes Christi zu wehren, um mitzuwirken zur Gesamtauferbauung des Leibes Christi.

In dieser Hinsicht möchten die vorliegenden Blätter, wenn möglich, einen Dienst tun. Sie möchten, wenn sie freimütig Hindernisse zur Sprache bringen, die der Festhaltung der Einigkeit im Geist unter Kindern Gottes im Wege stehen, mithelfen, daß solche Hindernisse hinweggetan werden. Sie möchten mithelfen, daß die Einheit des durch Christi Wort und Blut und Geist geeinten Volkes fruchtbarer als bisher an den Tag trete, zum Heile der noch geistlich-toten Welt und zum Preise des verklärten Hauptes der Gemeinde im Himmel.

Die Lehre der "Versammlung"

Wenn wir die Literatur der verschiedenen gläubigen Gemeinschaften einer Durchsicht unterziehen, so zeigt sich, daß alle sich für ihr Bestehen und für ihre Grundsätze auf die Heilige Schrift berufen. Am nachdrücklichsten findet sie diese Berufung aber in der Literatur der sogenannten „Versammlung“. Nun nimmt auch die Lehre von der Einheit der Gläubigen in dieser Literatur sehr großen Raum ein. Sie wird hier vielleicht entschiedener betont, als irgendwo sonst. So wird denn eine Auseinandersetzung mit den Lehren der „Versammlung“ da zu einer unabweisbaren Notwendigkeit, wo man für diese große, herrliche Schriftwahrheit Liebe und Wertschätzung hat. Die Lehren und Grundsätze der „Versammlung“ sind in dieser Hinsicht so geartet, daß man praktisch die Schriftlehre von der Einheit der Gemeinde gar nicht erörtern kann, ohne den Grundsätzen der „Versammlung“ vorerst eingehendste Aufmerksamkeit zuzuwenden. Es wird heutzutage jeder, dem die Einigkeit unter den Gläubigen betendes und harrendes Anliegen ist, immer irgendwie zunächst auf die Grundsätze der „Versammlung“ stoßen. Es wird dies der Fall sein sowohl hinsichtlich der Lehre als auch der Praxis. Er wird sich genötigt sehen, diese Grundsätze im Lichte der Schrift sorgfältiger Prüfung zu unterziehen und zu ihnen Stellung zu nehmen.

Wenn wir nun in den folgenden Blättern in diese Prüfung eintreten, so soll dies nicht geschehen vom Standpunkt des Kritikers und Gegners aus. Sie soll vielmehr geschehen vom Standpunkt des Bruders aus, der mit seinen Brüdern nichts will als die Wahrheit und nichts als die Verherrlichung des verklärten Hauptes im Himmel. Es gehören die Glieder jenes Kreises, mit dem wir uns beschäftigen werden, soweit sie wahrhaft Glieder des Leibes Christi sind, unbedingt zu uns, und wir gehören zu ihnen. Diese Zusammengehörigkeit steht uns durchaus fest. Und das Bewußtsein von derselben soll uns leiten auch bei den gegenwärtigen Erörterungen. Es sind diese Zusammenhänge geschaffen durch Christi Blut und Geist, durch Christi Wort und Christi Liebe. Um der Heiligkeit dieser Mittel willen sollen uns diese Zusammenhänge immer heilig sein. Sie sollen uns heilig sein vermöge einer höheren Art von Blutverwandtschaft, als der fleischlich-irdischen, vermöge innerlicherer und geistlicherer Beziehungen, als sie sonst in der Welt möglich sind.

Wir sind auch überzeugt und erkennen es gern an, daß mannigfach auch in den Kreisen jener Brüder die Herrlichkeit des verklärten Christus sich geoffenbart hat, und daß solche Offenbarung fort und fort geschieht, wo man auch dort gläubig auf ihn blickt und seiner harrt. Wir glauben darum auch, daß jene Kreise anderen Teilen der Gemeinde etwas zu geben haben, und daß wir von ihnen etwas zu empfangen haben. Aber solches Geben und Empfangen ist nur möglich bei engster gegenseitiger Fühlungnahme; es ist nur möglich auf dem Wege offener, vertrauensvoller Gemeinschaft. Für solche Gemeinschaft fehlen aber wichtigste Voraussetzungen. Es bestehen scharfe, überall wahrnehmbare Schranken zwischen hüben und drüben. Wir können solche Schranken unter wahren Gotteskindern als berechtigt nicht anerkennen. Wir glauben, daß Menschen, die als wahrhaft wiedergeboren sich bekennen und bewähren, zu schrankenloser Geistesgemeinschaft zusammengehören. Wir werden den Anspruch auf solche Zusammengehörigkeit auch jenen Brüdern gegenüber niemals aufgeben.

Aus mancherlei Gründen sehen wir uns zu dieser Auseinandersetzung gedrängt. Aber - wie immer man unsere Darlegungen aufnehmen mag - wir sind im Bunde mit der Gnade in Christo entschlossen, uns nicht verstimmen zu lassen. Wir werden fortfahren, es zu betonen und zu bezeugen, daß Glieder am Leibe Jesu kein Recht haben, sich voneinander zu separieren. Wir werden das Unrecht solcher Separation mit all seinen schädigenden Folgen ins Licht zu stellen suchen. Es liegt uns daran, es unsere Brüder wissen zu lassen, daß wir die heiligen Anrechte, die wir in der Wahrheit und Liebe Christi an sie haben, niemals fahren lassen wollen. Es wird die Herrlichkeit des verklärten Christus einmal alle, die Brüder waren, zu ewiger Gemeinschaft vereinigen. Wir möchten, wenn dies geschieht, nicht gerne beschämt dastehen als solche, die diese Gemeinschaft in der Zeit verleugnet haben. Welchen Erfolg oder Nichterfolg unsere Darlegungen auch haben mögen - wir werden nicht aufhören, zu betonen, daß irgend eine Art von Separation unter Brüdern nicht gottgewollt und nicht geistgewollt ist. Und der Herr selbst helfe uns zum rechten betenden, handelnden Wirken, damit Schranken fallen, die nicht der Geist Gottes, sondern Menschengeist und Menschenhand errichtet haben. Er selbst schaffe und wirke wieder gebahnte Wege in den Herzen und Lagern des Gottesvolkes.

Mit solchen Bitten, in solcher Stimmung und Gesinnung möchten wir in diese Erörterungen eintreten. Es ist uns ein starkes Anliegen, unsere Erörterungen im Geist der Liebe und des Friedens zu führen. Wir möchten, daß dieser Geist auch da spürbar bleibe, wo wir entgegengesetzte Überzeugung nachdrücklich aussprechen müssen.

Wenden wir uns also der Lehre der „Versammlung“, soweit sie für unseren Zweck in Betracht kommt, in kurzem Überblick über dieselbe zu. Die „Versammlung“ lehrt, daß die Kirche der Anfangszeit eine heilige, allein von dem Heiligen Geist regierte Einheit bildete. „Die Menschen hatten es noch nicht unternommen, sich mit eigener Hand Kirchen einzurichten. Es gab nur eine Kirche, über deren Pforte die göttliche Inschrift der Einheit noch nicht verwischt war. Es war die aus den zerstreuten und in eins versammelten Kindern Gottes bestehende Versammlung, in welcher Gott wohnte, wirkte und regierte.“ Dann aber hat „der Mensch die Kirche auf Erden ihres himmlischen Charakters beraubt und das Band der Einheit und des Friedens zerrissen“. Es sind Parteien entstanden, von denen eine die andere bekämpft, während „jede behauptet, auf dem Rechtsboden göttlicher Anordnung zu stehen.“

Alle diese Parteikirchen, wie man alle außerhalb der „Versammlung“ stehenden Gemeinschaften nennt, bestehen nun im schärfsten Gegensatz zu dem Wort und Willen Gottes. Die Leitung des Heiligen Geistes ist in ihnen „nicht nur nicht anerkannt, sondern völlig unmöglich gemacht“. Mißtrauend der Kraft des Namens Jesu, haben Menschen armselige Ordnungen aufgerichtet. Sie haben „diesen herrlichen Namen ausgelöscht und den Namen eines Sterblichen an seine Stelle gesetzt.“ Nicht mehr im Namen Jesu versammeln sich diese verschiedenen Benennungen, sondern im Namen eines Menschen oder um irgend ein gemeinsames Bekenntnis, um ein System, eine gemeinsame Organisation. „Die Leitung und der Vorsitz des Heiligen Geistes ist dabei völlig vergessen. Ein Mensch nimmt seinen Platz ein.“ - „Gott wird nicht anerkannt in der Versammlung als Leiter derselben, sondern eine menschliche Ordnung, oder besser noch, jede Art menschlicher Unordnung steht an seinem Platze.“ Ob der Mensch, der an der Stelle des Heiligen Geistes steht, Papst oder Prediger heißt, ist ohne Belang. Ja auch diejenigen Gemeinschaften, die ausschließlich aus Kindern Gottes bestehen, die keinen Namen haben und keine Prediger anstellen, bilden dennoch „ein menschliches System wie alle anderen“, wenn sie nicht mit der nächstgelegenen Versammlung derer, die lediglich im Namen Jesu zusammenkommen, in die rechte Verbindung treten. Dieser letztere Satz ist ausdrücklich zu lesen in einer Schrift, die Grundsätze der „Versammlung“ vertritt.

Es ergibt sich als eine notwendige Folge solcher Anschauungen, daß durch diese gesamte Literatur die Forderung an alle Gläubige ergeht, sich von jedem wie immer gearteten Gemeinschaftsleben zu trennen und sich der „Versammlung“ anzuschließen. Die „Versammlung“ beschränkt sich bei weitem nicht darauf, zur Scheidung und Absonderung von der noch unerneuerten geistlich toten Welt aufzurufen; sie beschränkt sich nicht darauf, die Aufgabe der Gemeinschaft mit den religiösen Formen und Sitten der Staats- und Landeskirchen zu fordern - nein, sie fordert die Absonderung aller Gläubigen von allen dem Kreis der „Versammlung“ nicht angehörenden Gemeinschaften.

Es gibt, wie wir oben sagten, auch außerhalb der „Versammlung“ große und kleine Gemeinschaftsgruppen, die mit feierlichem Ernst erklären, daß auch sie den ganzen Willen Gottes tun und das ganze Wort Gottes auch für das Gemeinschaftsleben zur Geltung kommen lassen wollen. Die „Versammlung“ bestreitet aber allen außerhalb ihrer Grenzen Stehenden zu solchem Bekenntnis zum ganzen Wort durchaus das Recht. Sie bestreitet es dem Methodisten, dem Baptisten oder dem Glied irgend einer anderen Gemeinschaft, daß es den ganzen Willen Gottes tue und auf dem Boden der „ganzen Wahrheit“ stehe, solange es nicht seine Gemeinschaft verlassen hat, um sich der „Versammlung“ anzuschließen. Ja, man spricht jeder anderen Gemeinschaft, die nicht so geartet ist wie die eigene, den Charakter als Gemeinde oder Versammlung rund ab. „Mögen auch zehntausend wahre Christen sich vereinigen, so bilden sie dennoch nur dann die Versammlung Gottes, wenn sie allein im Namen Jesu zusammenkommen.“ Daß aber diese Art des Zusammenkommens allein auf dem Boden der sogen. Versammlung geschehe, das zieht sich als Behauptung durch die ganze Literatur derselben.

Es gibt Stellen genug in dieser Literatur, die es durchblicken lassen, daß es mit dem Artikel vor dem Wort „Versammlung“ ernst gemeint ist, daß manche Vertreter dieser Richtung sich lediglich als die Versammlung mit Ausschluß aller anderen bezeichnen. Zwar gesteht man zu, daß alle Gläubige zur Gemeinde Christi gehören, aber, sagt man, nicht alle stellen dieselbe dar. Da die Zersplitterung unter den Gläubigen nicht vom Herrn ist, so muß es notwendigerweise neben den Parteien noch einen Platz geben nach den Gedanken Gottes. Dieser Platz ist, behauptet man, die „Versammlung“. Nur sie läßt im Gegensatz zu allen anderen das ganze Wort Gottes gelten.

So treten denn die Vertreter der „Versammlung“ in nachdrücklich betriebener mündlicher und schriftlicher Agitation an alle Gläubigen mit der Aufforderung heran, aus ihren Kreisen und Gemeinschaften auszutreten und sich der „Versammlung“ anzuschließen. „Nur da, wo wir Christo in der Mitte der Seinigen nach jeder Richtung hin gehorchen können und wo dem Heiligen Geiste Raum gelassen wird, unumschränkt nach dem Worte Gottes zu wirken, ist die Versammlung Gottes.“ - Darum verlangt der Herr den Anschluß an diejenigen Christen, die „unter der Leitung des Heiligen Geistes, um den einen Herrn und den einen Tisch“ sich versammeln. - „Ein entgegengesetztes Verhalten ist nur ein Ungehorsam gegen das Wort Gottes und eine Verunehrung des Heiligen Geistes.“

Es wird den Herzen und Gewissen auf jede Weise eingeprägt, daß ihr Platz nach dem Willen Gottes in der „Versammlung“ sei. Diesem Willen Gottes muß sich jeder Gläubige, wenn er anders treu erfunden werden will, fügen. Er hat zu dem Zweck jede, wie immer geartete Gemeinschaft zu verlassen, um seinen Platz in der „Versammlung“ einzunehmen. Die Frage, in welchem Zustande geistlicher Lebendigkeit und Fruchtbarkeit sich eine Versammlung etwa befindet, bleibt für die Aufforderung zum Austritt ohne Belang. Es bleibt für diese Aufforderung völlig ohne Belang, wie etwa der Herr der Gemeinde selbst eine Versammlung durch reiche geistliche Segnungen ausgezeichnet hat, und wie sie dadurch dem einzelnen wertvoll geworden ist. Es hat nach jener Literatur jeder, der den ganzen Willen Gottes tun will, die Pflicht, seinen Kreis zu verlassen, um sich der „Versammlung“ anzuschließen.

Es ist nun bei solchen Auffassungen nur folgerichtig, daß die „Versammlung“ jede Art von korporativer Gemeinschaft mit anderen Gläubigen rundweg ablehnt. Ein Baptist z.B. stellt die Fragen an einen Anhänger der „Versammlung“: „Wie kommt es doch, daß du nicht einmal mit mir in meine Versammlung gehen willst, während ich doch nichts darin sehen würde, mich mit dir und allen denen zu versammeln, die nur im Namen Jesu zusammenkommen?“ Der Vertreter der „Versammlung“ antwortet: „Du kannst nach deinen Grundsätzen als Baptist mit gutem Gewissen dahin gehen, wo man sich nur nach dem Worte Gottes versammelt; mir hingegen ist es klar, daß es nicht schriftgemäß ist, den Boden des Wortes Gottes zu verlassen und den Standpunkt eines Baptisten etc. einzunehmen. Es ist daher nicht Mangel an Liebe, daß ich nicht mit dir gehe, sondern vielmehr Furcht vor der Sünde.“

Die Vertreter der „Versammlung“ fordern dazu auf, jedes Band, welches den Gläubigen nicht mit Christo verbindet, zu verleugnen und zu zerreißen. Praktisch bedeutet dies aber die Aufforderung zur Zerreißung auch der letzten Beziehungen, die den einzelnen Gläubigen mit dem Gemeinschaftsleben der anderen Gläubigen außerhalb der „Versammlung“ verbinden.

Da es so den Anhängern der „Versammlung“ zur Sünde gemacht wird, sich in irgend einer Weise an den Versammlungen anderer Gotteskinder zu beteiligen, so folgt daraus von selbst, daß man auch allen Einigungs- und Allianzbestrebungen bis in den Grund hinein abhold ist. - Es haben sich die Allianzbestrebungen der letzten Jahrzehnte zweifellos vielfach als Segensquellen erwiesen. Sie haben vielfach die Gegensätze gemildert und haben einigend gewirkt. Die „Versammlung“ findet, daß auch alle diese Bestrebungen im Widerspruch mit dem Worte Gottes stehen. Sie bedeuten ihr keinen Fortschritt, sondern „einen beklagenswerten Rückschritt. Sie sind eine Sache, die nichts weniger als ein Werk des Geistes Gottes ist, sondern vielmehr von dem Feinde der Seelen dazu benutzt wird, um viele geliebte Kinder Gottes in Selbsttäuschung und völliger Unkenntnis betreffs der Wahrheit zu erhalten.“ - „Sie sind eine Erfindung des Menschen - und manche erinnern in ihrem Fortschreiten doch an die unausrottbare Neigung der menschlichen Natur, sich einen Namen zu machen und sich selbst zu gefallen. Es ist, wenn auch auf anderem Boden und in anderem Sinne, das Bauen eines Turmes, dessen Spitze bis an den Himmel reiche.“

Es genügt nun dieser kurze Überblick über die Grundsätze und Lehren der „Versammlung“, um jedem Leser sofort den Eindruck zu vermitteln, daß diese Lehren von niemand mit Stillschweigen übergangen werden können, dem es mit dem Erkennen und Tun der biblischen Wahrheit ein Ernst ist. Die Forderungen und Anklagen dieser Literatur machen eingehendste Prüfung zu einer Notwendigkeit. Sie sind so ernsthafter und schwerwiegender Art, sie sind in ihren Formulierungen so scharf zugespitzt, daß keiner, der seinen Weg gehen möchte in Schriftlinien und in des großen Meisters Fußstapfen, sie umgehen kann. Es bleibt jenen Aufforderungen gegenüber nur übrig, entweder ihnen zu folgen und Mitglied bei den von der Lehre Darbys beeinflußten Kreisen zu werden, oder aber für seine abweichende Stellung feste und klare Begründung zu geben.

Es haben Brüder von Seiten der „Versammlung“ sich immer erneut darüber beklagt, daß man ihre Lehre und Stellung angreife. Aber möchten doch diese Brüder erwägen, daß es keinen einzigen Gläubigen außerhalb ihrer eigenen Kreise gibt, der nicht durch zahllose Äußerungen und Anklagen von ihrer Seite angegriffen ist, keinen einzigen, dem nicht ihrerseits für seine Stellung und Überzeugung jedes biblische und göttliche Recht rund abgesprochen ist. Es ist uns für unseren gegenwärtigen Zweck ein sehr dringendes Anliegen, daß herzliche und aufrichtige Liebe auch zu den Brüdern von der „Versammlung“ in diesen Blättern kräftig spürbar bleibe. Wir möchten, daß es nicht nur unsere Worte zum Ausdruck bringen, sondern daß es die Tat und das Verhalten beweise, daß „Liebe zu allen Heiligen“ bei uns zu finden ist. Wir möchten, daß es spürbar werde, daß auch bei der Erörterung von Meinungsverschiedenheiten Gründe und Rücksichten der Bruderliebe uns leiten. Und auch kritisch Gestimmten möchten wir es gerne eindrücklich machen, daß nicht Streitlust uns zu diesem Austausch drängt, sondern die zum Himmel schreiende Not und der Schmerz um die traurige Zerrissenheit im Lager der Gläubigen.

Eben weil wir Empfindungen der herzlichsten Wertschätzung hegen gegenüber den Brüdern des Kreises, von dem hier die Rede ist - eben darum sind uns unsere praktischen Beziehungen zueinander durchaus von Wert. Wir möchten Anteil haben an allem, was der Herr der Gemeinde auch jenen Brüdern geschenkt und in ihrer Mitte gewirkt hat. Nicht als Gegner stehen wir ihnen gegenüber, die ihr Recht starrsinnig durchsetzen wollen, sondern als solche, die mit ihnen Glieder eines Leibes sind (1. Kor. 12,12). Und als Glieder eines Leibes möchten wir einander Handreichung tun, und wir möchten Handreichung empfangen. Wir empfinden es als eine Schuld den Brüdern gegenüber, ihnen zu sagen, warum es uns eine Unmöglichkeit ist, eben um des Wortes und Willens Gottes willen ihren Forderungen zu entsprechen.

Es sind sehr wehetuende Worte, die ein Bruder niedergeschrieben hat, daß man die Lehren der „Versammlung“ deshalb angreife, „weil die Wahrheit die Angreifer in ihrem Gewissen überführt und ihnen keine Ruhe läßt“. Solange Brüder glauben, jede Kritik an ihrer eigenen Meinung als aus bösen, durch den bewußten Gegensatz zur Wahrheit gequälten Gewissen hervorkommend ansehen zu müssen, ist von einem gesegneten Erfolg auch friedlicher Auseinandersetzungen wenig zu hoffen. Wir möchten aber dennoch die Hoffnung noch nicht aufgeben, daß die Liebe noch Worte und Wege finde, um es den Brüdern glaubhaft zu machen, daß es auch außerhalb ihres Kreises wirklich noch Gläubige gibt, die bereit sind zu einer ganzen Nachfolge des Meisters, und die für ihr persönliches Leben wie für ihr Gemeinschaftsleben lediglich das Wort und den Geist und die Liebe des Meisters für bindend erachten.

Welch ein Erfolg läge schon darin, wenn man von Seiten der „Versammlung“ auch einmal glauben lernte an die Gewissenhaftigkeit und innere Aufrichtigkeit Andersstehender, wenn man sich nicht mehr für verpflichtet hielte, jede andersartige Meinungsäußerung als aus einem bösen Gewissen hervorkommend anzusehen! Es hat das gegenseitig Vertrauen unter Brüdern einen so hohen Wert, es ist so sehr die Voraussetzung aller wahren Gemeinschaft, daß zur Erreichung dieses Zieles kein Mittel unbenutzt bleiben sollte. Auch die gegenwärtigen Auseinandersetzungen sind ein Versuch, zu diesem Ziele hin, wenn möglich, heilsam und klärend zu wirken. Die Schriftlehre: Christus und sein Werk als Grundlage der Einheit

Versuchen wir also, über die eben dargelegten Forderungen und Behauptungen der „Versammlung“ an Hand der Heiligen Schrift ein klares Urteil zu gewinnen.

Nach den Lehren und Worten des Neuen Testaments hat die Einheit der gläubigen Gemeinde ihre Grundlagen in der Person und dem Werk Christi. Es sind, um die Einheit der Gemeinde herzustellen, die höchsten Mittel eingesetzt: Christus ist gestorben, damit er die zerstreuten Kinder Gottes in eins zusammenbrächte (Ev. Joh. 11,51). Es ist das Blut des ewigen Sohnes Gottes geflossen, um die Gemeinde für Gott zu erwerben (Apgesch. 20,28). Die Gemeinde ist die Ecclesia, die durch den göttlichen Heilsruf aus den Zusammenhängen mit Welt und Sünde Herausgerufene. Sie ist berufen „zur Gemeinschaft des Sohnes Gottes“ (1. Kor. 1,9). Die Gemeinde steht mit dem verklärten Christus, als ihrem Haupte, in einer tiefen, unauflöslichen Verbindung. Die Gemeinde wird genannt „der Leib Christi“ (1. Kor. 12,27). Es sind die Glieder dieses Leibes „Fleisch von seinem Fleisch und Bein von seinem Gebeine“ (Eph. 5,29 ff.). Aus der Geistes- und Lebensfülle des verklärten Hauptes empfängt jedes einzelne Glied des Leibes Nahrung und Pflege. Der gebrochene Leib des Erlösers ist den Erlösten „wahrhaftige Speise“, und sein vergossenes Blut ist ihnen „wahrhaftiger Trank“. Durch solch gemeinsames Essen und Trinken werden sie zu einem Leibe gestaltet (1. Kor. 10,16f.)

Es ist ein tiefer Geistes- und Lebens- und Wesenszusammenhang, der die Glieder mit dem Haupt verbindet. Dieser Zusammenhang mit ihrem Haupt erhält und verbürgt nun auch den Zusammenhang der Glieder untereinander (Eph. 4,16). Und es soll dieser tiefe, geistliche Zusammenhang in dem Gemeinschaftsleben der Erlösten immerfort praktisch und anschaulich sich darstellen.

Wie aber durch den gekreuzigten und erhöhten Christus die Einheit der Gemeinde zustande gebracht ist, so sind in ihm auch alle Kräfte und Mittel beschlossen, die dazu erforderlich sind, daß diese Einheit kraftvoll und harmonisch sich zeige, daß sie sich durchsetze allen Störungen und Hindernissen gegenüber. Es sind in dem Opfertode Jesu die zertrennenden und zerreißenden Mächte der Sünde und Selbstsucht überwunden und hinweggetan. Und in der Geistes- und Gnadenfülle der verklärten Christus sind für die Gemeinde alle Gnaden vorhanden, die sie braucht zur Verwirklichung und fruchtbaren Darstellung ihrer Einheit im Angesicht der sie umgebenden Welt. Auf Grund dieser reichen und herrlichen Möglichkeiten ergehen nun an alle Gläubigen Mahnungen und Aufforderungen. Sie werden ermahnt, gegenüber allen Störungen festzuhalten „die Einigkeit im Geist durch das Band des Friedens“ (Eph. 4,3). Sie werden aufgefordert, keinerlei Spaltungen in ihrer Mitte zu dulden, sondern fest zusammenzuhalten in einerlei Sinn und einerlei Meinung (1. Kor. 1,10).

Es sollen nach dem Mahnwort der Apostel die mancherlei Unterschiede in den Gemeinden nicht zu Gegensätzen führen. Es sollen die Starken im Glauben die Schwachen nicht abschütteln, sondern sie sollen sie tragen. Es soll auch bei Meinungsverschiedenheiten in Bezug auf das Halten von Tagen und das Essen von Speisen dem andern kein Gesetz und kein Joch auferlegt werden. Die Gewissen der Schwachen sollen nicht verwirrt werden. Jeder soll das, was er tut, dem Herrn tun. Keiner soll den anderen richten und verachten, da jeder seinem Herrn steht und fällt (Röm. 14,1 ff.). Alle sollen einander tragen und einander vergeben, wo einer Klage wider den anderen hat, und über alles sollen alle anziehen die Liebe, welche da ist das Band der Vollkommenheit (Kol. 3,13 f.). Es soll nach dem Willen des Geistes und der geisterfüllten apostolischen Lehrer kein Ding unter dem Himmel geben, was diejenigen trennt, die durch das höchste Mittel zu einer heiligen Einheit zusammengeschlossen sind.

Klare, für jeden geistlich Einsichtigen einleuchtende Schriftlinien sind es, die uns die Wahrheit von der Einheit der Gemeinde anschaulich machen. Klar wird uns einerseits die Heiligkeit und Herrlichkeit dieser Einheit gezeigt, und nachdrücklich wird uns andererseits die ganze Schwere unserer Verantwortlichkeit gezeigt, mit dem Heiligtum dieser Einheit heilig umzugehen.

Gestattet die Schrift die Trennung von Gläubigen?

Nun haben wir oben von Lehren und Grundsätzen gehört, die bewußt die Trennung von Gläubigen fordern, nicht etwa nur von Welt und Weltkirchentum, sondern auch von anerkannt gläubigen Gemeinschaften. Können diese Lehren im Lichte der gekennzeichneten Schriftlinien als schrift- und geistmäßig bestehen? Wir antworten schon jetzt mit einem Nein und abermals Nein! Wir möchten dieses „Nein“ schon jetzt aussprechen mit dem ganzen Schwergewicht, das ihm gebührt. Und mit all den reichen Mitteln, die uns das Schriftzeugnis dafür an die Hand gibt, werden wir zur Begründung und Vertretung dieses „Nein“ allezeit freudig bereit sein.

Die „Versammlung“ gibt für ihr Vorgehen Schriftgründe an. Aber es kann eine Schriftauslegung, die Trennungen innerhalb der gläubigen Gemeinde fordert, dem Sinn und Geist der Schrift nicht entsprechen. Die Wahrheit von der Einheit der Gemeinde zählt, wie wir sagten, zu den großen, grundlegenden Kernwahrheiten des neutestamentlichen Schriftzeugnisses. Eine Schriftauslegung, die sich mit dieser Grund- und Kernwahrheit in Widerspruch setzt, kann trotz des biblischen Scheins, den sie sich etwa gibt, nicht biblisch sein. Es kann eine Schriftauslegung, die grundsätzlich Absonderung von wahren Gläubigen betreibt und fordert, nicht mit dem Ganzen der Schriftlehre im Einklang stehen.

Wir möchten an diesem Punkte unsere Überzeugung völlig klar zum Ausdruck bringen. Wir haben die Lehre von der Einheit der Gläubigen eine neutestamentliche Grund- und Hauptwahrheit genannt. Eine Hauptlehre der Schrift ist nun z.B. auch die Lehre von der Rechtfertigung durch den Glauben. Nun wird in dieser Hinsicht jeder Leser sofort zustimmen, wenn wir erklären: Jede Auslegung von neutestamentlichen Schriftstellen, die mit dieser Kernlehre sich in Widerspruch setzt, muß unbedingt falsch sein. Man könnte den Jakobusbrief, wie es ja wirklich geschehen ist, so auslegen, daß dabei zu jener Lehre ein unausgleichbarer Gegensatz sich ergibt. Dennoch wird jeder geistlich und biblisch gesinnte Leser sofort erklären, daß jede Schriftauslegung, die die Lehre von der Rechtfertigung durch den Glauben antastet, falsch und daher unbedingt verwerflich ist. Ebenso steht es nun mit der Lehre von der Einheit der gläubigen Gemeinde. Wir müssen eine Schriftauslegung, die diese Lehre in ihrer praktischen Geltung antastet, als nicht stichhaltig von vornherein ablehnen.

Es gibt, wenn wir allen einschlägigen Schriftstellen genaue Beachtung schenken, nur einen Grund, der innerhalb der gläubigen Gemeinde eine Trennung von Gliedern notwendig macht. Nur dann, wenn Glieder in einem Zustand des offenbaren Abfalls vom Heil in Christo sich befinden, nur dann ist, eben im Interesse der Aufrechterhaltung der Einheit in der Gemeinde, die Scheidung von solchen Gliedern eine Notwendigkeit. Nur dann, wenn Glieder den Zusammenhang mit dem Haupte im Himmel eingebüßt haben, nur dann besteht für uns das Recht, ja die traurige und schmerzliche Pflicht, den Zusammenhang mit ihnen auch unsererseits zu lösen.

So soll nach dem Worte Jesu in Matth. 18, 17 derjenige als ein Heide und Zöllner geachtet werden, der wegen seiner offenbaren Versündigung keinerlei Ermahnung hat annehmen wollen. So fordert der Apostel in Verbindung mit einem schweren Sündenfall, der ohne Rüge von Seiten der Gemeinde geblieben war, die Korinther auf: „Tut von euch selbst hinaus, wer da böse ist“ (1. Kor. 5,13). Wen der Apostel unter solchen, die „böse“ sind, versteht, ergibt sich klar aus dem Zusammenhang. Es kann sich nur um solche handeln, die den Stand der Gnade verlassen und aufs neue in offenbare Sünden- und Fleischesknechtschaft hinabgesunken sind. Es ist in den bezeichneten Stellen von einem vollen Ausschluß Unbußfertiger aus dem Gemeinschaftsleben der Gläubigen die Rede.

Ferner ist noch in einer anderen Reihe von Schriftstellen von einer mehr positiven Absonderung von Gemeindegliedern die Rede, die noch nicht dem vollen Ausschluß aus der Gemeinde gleichkommt. So ermahnt der Apostel die Thessalonicher, unordentlich wandelnde Brüder zu „bezeichnen“ und keinen Umgang mit ihnen zu haben, damit sie beschämt werden (2. Thess. 3, 11-15). - Auch fordert das Schriftwort auf, ketzerische, sektiererische Menschen zu meiden, nachdem sie ein- und abermal ermahnet sind (Titus 3,10). Je mehr in den ersten Gemeinden neben dem hellen Licht der apostolische Lehre und des apostolischen Lebens auch starke Schatten von allerlei Irrströmungen sich zeigten, um so entschiedener wird die Aufforderung zur Absonderung von solchen Strömungen (Apgesch. 20,30; 1. Tim. 6,20; Phil. 3,2; 2. Joh. V. 10 u.a. St.).

Was aber haben wir nun unter Irrlehrern im Sinne des Schriftzeugnisses zu verstehen? Es wird auf diese Frage von Seiten der „Versammlung“ geantwortet, daß darunter nicht irgendwelche abweichende Meinungen über diesen oder jenen Punkt zu verstehen sind, nicht verschieden Auslegungen dieser oder jener Schriftstelle - sondern daß es sich hier lediglich um die Anerkennung der Grundwahrheiten des Christentums handeln kann. Solche Grundwahrheiten sind z.B. die Schriftlehre von der Gottheit Christi, von der sündentilgenden Macht seines Opfertodes, „von dem völligen Verderben des Menschen, von der ewigen Verdammnis“ und andere ähnliche Hauptwahrheiten des Schriftzeugnisses.

Es bleibe nun vorerst dahingestellt, was im Sinne der Heiligen Schrift als in den Bereich der Grundwahrheiten gehörend anzusehen ist. Aber wenn man die oben angeführten Lehrpunkte als solche auffaßt, dann ließe sich füglich erwarten, daß man solche Kreise, die an diesen Wahrheiten unerschütterlich festhalten, freudig und willig anerkennen werde. Doch das ist von Seiten der „Versammlung“ durchaus nicht der Fall. Man erkennt auch solche Gemeinschaften, deren Glieder mit freudiger und unnachgiebiger Entschlossenheit zu den bezeichneten Wahrheiten sich bekennen, als nicht zu Recht bestehend an. Man fordert im Gegenteil zum Austritt aus denselben auf. Dadurch leugnet die „Versammlung“ es aber praktisch, daß für sie die Zustimmung zu jenen grundlegenden Wahrheiten für die Anerkennung anderer Gemeinschaftskreise maßgebend ist. Die „Versammlung“ fordert in Lehre und Praxis die Trennung nicht nur von der Welt und dem Weltwesen, sondern auch von anerkannt gläubigen Kreisen. Es ist solches Vorgehen aber in keiner Hinsicht mit dem Schriftzeugnis in Einklang zu bringen.

Das "grosse Haus"

Die „Versammlung“ macht für ihr Vorgehen Schriftgründe geltend. Es ist selbstverständlich, daß eine Gemeinschaft, die überall die Geltung des Schriftstandpunktes so sehr betont, so weitgehende Forderungen nicht stellen wird, ohne dafür einen Schriftgrund namhaft zu machen. Und wenn es uns auch von vornherein feststehen muß, daß kein Schriftwort seinem rechten Verstand und Sinne nach Trennungen unter Gläubigen fordert, so ist es doch klar, daß die „Versammlung“ in einer so wichtigen Sache ein Schriftwort braucht, das anscheinend ihre Anschauungen deckt und begründet. Dieses Wort findet man in 2. Tim. 2,20-22: „In einem großen Hause aber sind nicht allein güldene und silberne Gefäße, sondern auch hölzerne und irdene, und etliche zu Ehren, etliche aber zu Unehren. So nun jemand sich reiniget von solchen Leuten, der wird ein geheiliget Gefäß sein zu Ehren, dem Hausherrn bräuchlich und zu allem guten Werk bereitet.“

Es nimmt diese Stelle in der gesamten Literatur der Brüder einen sehr großen Raum ein. Es bildet diese Schriftstelle recht eigentlich die Grundlage für die Auffassung und Stellungnahme jener Kreise in der uns hier beschäftigenden Frage. Das große Haus mit den verschiedenen Gefäßen ist nach Ansicht der Schriftsteller der „Versammlung“ die Kirche in ihrer Stellung auf der Erde. Nach der Auffassung der „Versammlung“ bleibt nämlich die Weltkirche „als die berufene Kirche dem Herrn verantwortlich“. - „Trotz ihrer Untreue, Zerrissenheit und Verweltlichung“ hat der Herr das „von seiner Hand geknüpfte Band mit ihr noch nicht gelöst“. Auch die Gläubigen dürfen sich daher nicht als getrennt von ihr betrachten. Sie sind durchaus Mitbewohner des „großen Hauses“. Es findet sich nirgendwo im Worte die Weisung, aus demselben auszugehen, sondern nur die ernste Ermahnung,, „sich von Gefäßen zur Unehre zu reinigen, d.h. keine Gemeinschaft mit ihnen zu haben, weder in ihrem ungöttlichen, weltlichen Treiben, noch in ihrem eigenmächtigen Handeln innerhalb der Kirche“. Diese Ermahnung wird nun eben so verstanden, daß die Aufforderung an alle Gläubigen ergeht, sich abzusondern, aus ihren Kreisen und Gemeinschaften auszutreten und mit der „Versammlung“ sich zu vereinigen. Schon Darby hat es klar ausgesprochen mit Beziehung auf die in Rede stehende Schriftstelle: „Das ist die Kirche in ihrem gegenwärtigen Zustande, sie ist ein großes Haus mit Gefäßen jeder Art; und nun ergeht die Aufforderung an den Treuen, sich von den Gefäßen zur Unehre zu reinigen.“ Als Gefäße der Unehre werden nach dieser Auffassung alle diejenigen angesehen, die nicht auf dem Boden und in den Formen der „Versammlung“ zusammenkommen.

Es kommen nun in diesen Worten Auffassungen vom Wesen der großen Staats- und Volkskirchen zum Ausdruck, denen wir uns entfernt nicht anschließen können. Wir müssen sie als durchaus irrig bezeichnen. Die „Versammlung“ schließt sich mit der gekennzeichneten Auslegung Auffassungen an, wie sie je und je bei Vertretern des offiziellen Kirchentums, einschließlich der Papstkirche, sich fanden. Diese haben das Gleichnis geradeso als Waffe für den Bestand ihrer Kirche benutzt, wie es die „Versammlung“ für ihren Bestand tut. Sie haben das Gleichnis als Beweis dafür benutzt, daß in der Kirche, als dem großen Hause, „so völlig Entgegengesetztes“ wie die verschiedenen Gefäße, „nach dem Willen Gottes beisammen wohnen“ solle, daß auch Gefäße der Unehre nach dem Willen Gottes der Kirche angehören sollen, und daß Gott nicht wolle, daß diese Gefäße ausgeschieden würden.

Es handelt sich hier um dieselbe mißbräuchliche Verwendung eines Schriftwortes wie bei dem Gleichnis vom Unkraut unter dem Weizen. Auch hinsichtlich dieses Gleichnisses sind seit Augustin Ausleger den Forderungen der Kirchenzucht mit dem Hinweis darauf begegnet, daß die Kirche der Acker sei, wo beides, Unkraut und Weizen, nach dem Willen Gottes zusammen wachsen solle bis zur Ernte. Es sollte die „Versammlung“ bedenklich machen, Auffassungen sich anzuschließen, deren Spitze mit aller Schärfe sich je und je gegen die auf dem wahren Schriftgrunde sich sammelnde gläubige Gemeinde gerichtet hat.

Aber die Berührungspunkte sind hier unverkennbar. Es bleibt auch der „Versammlung“ die Christenheit in ihrer Gesamtheit die berufene Kirche. „Die Gläubigen bilden zwar jener gegenüber die wahre Kirche“, aber „nichtsdestoweniger gehören sie bis zur Ankunft des Herrn zu der auf der Erde verantwortlichen, gefallenen Kirche“ als die Mitbewohner des „großen Hauses“.

Es würde den uns zu Gebote stehenden Raum weit überschreiten, wollten wir auf eine Gesamtdarlegung des Verhältnisses zwischen Kirchentum und Gemeinde hier eingehen. Es sei in dieser Hinsicht verwiesen auf eingehende Darlegungen in meiner Schrift: „Der große Kampf“, Ein Beitrag zur Beleuchtung der Frage: „Kirche oder Gemeinde der Gläubigen?“. Im übrigen sei hier zu den oben gekennzeichneten Auffassungen vom Standpunkt der Schriftlehre aus das Folgende gesagt:

Es ist eine völlig unhaltbare Annahme, daß das Wort Gottes den Begriff der Gemeinde, wenn diese in ihrer Verantwortlichkeit auf der Erde betrachtet werde, nicht nur auf alle wahren Gläubigen, sondern auf die ganze Christenheit ausdehne. Die Bezeichnung „Gemeinde“ für das neutestamentliche Gottesvolk kommt im Neuen Testament etwas hundertmal vor. In allen Stellen kommt das Wort vor zum Teil in Beziehung auf die Gesamtgemeinde derer, die an Christum gläubig geworden sind, um zum Teil auf die Gemeinde in lokaler Begrenzung. Nie und nirgends findet sich dieses Wort in einer Ausdehnung auf eine Namenschristenheit, nie und nirgends hat es eine Beziehung auf solche, die dem Geistesverbande des Leibes Christi nicht wirklich angehören.

Es werden für die Gemeinde Gottes andere bedeutsame Worte gebraucht, so z.B. Tempel, Leib, auch Haus. Aber alle diese Bezeichnungen zeigen mit völliger Klarheit die ausschließliche Beschränkung auf die wahrhaft Gläubigen. „Was für ein Teil hat der Gläubige mit dem Ungläubigen?“ (2. Kor. 6,15) „Was hat der Tempel Gottes für einen Zusammenhang mit dem Götzen?“ (V. 16) „Ihr seid Bürger mit den Heiligen und Gottes Hausgenossen“ (Eph. 2,21) „Ihr seid der Leib Christi“ (1. Kor. 12,27). Und gerade auch die Bezeichnung der Gemeinde als des Hauses Gottes zeigt deutlich die ausschließliche Anwendung derselben auf die Gemeinde. Sie zeigt deutlich, daß es sich hier lediglich um die wahre Behausung Gottes im Geist handelt,, die aus lebendigen Steinen besteht, nicht aber um eine Namenschristenheit oder um das Staats- und Volkskirchentum. (Hebr. 3,6; 1. Tim. 3,15; 1. Petr. 2,5; Hebr. 10,21). Das Volkskirchentum steht im Neuen Testament überall außerhalb des Gesichtskreises. Die neutestamentliche Schrift kennt das Wort Kirche nicht, und sie kennt nicht den Begriff eines ganze Völker und Staaten umspannenden Kirchentums.

Es ist eine durch gar nichts zu begründende Auffassung, wenn man, wie es auch in der Literatur der „Versammlung“ geschieht, als die in den edlen Ölbaum Israel eingepfropften Zweige die Völker- und Namenschristenheit versteht (Röm. 11, 17ff.). Niemals konnte von der Namenschristenheit als solcher gesagt werden, was der Apostel von der heidenchristlichen Gemeinde sagt: „Du aber stehest durch den Glauben“(V. 20).

Wo im Neuen Testament von der außer der Gemeinde liegenden Welt die Rede ist, da wird diese entweder in ihrem tiefen Gegensatz gegen das Reich Gottes und die Gemeinde gefaßt - „die ganze Welt liegt im Argen“ (1. Joh. 5,19); „Stellet euch nicht dieser Welt gleich“ (Röm. 12,2) - oder als die Gesamtheit der verlorenen Sünder, die ein Gegenstand der Liebe Gottes sind - „Also hat Gott die Welt geliebt“ (Ev. Joh. 3,16) - oder auch als Saat- und Ackerfeld für die Heils- und Reichsbotschaft. Ausdrücklich und unmißverständlich spricht es Jesus aus: „Der Acker ist die Welt,“ nicht etwa irgend eine Weltkirche.

So fehlt der gekennzeichneten Auslegung jenes Pauliwortes an Timotheus jede Bestätigung durch die übrige Schriftlehre. Im Gegenteil: die Richtigkeit der Auslegung wird durch den Gesamtgehalt des übrigen Schriftzeugnisses klar und bestimmt ausgeschlossen. Aber auch im Texte selbst findet diese Auslegung nicht die geringste Begründung. Der Apostel sagt schlechthin: „In einem großen Hause sind nicht allein güldene Gefäße etc.“ Wenn bei der Bezeichnung „Haus“ hier die Gemeinde Gottes in irgend einer Form ihrer Existenz und Entwicklung in dem Gesichtskreis des Apostels gestanden hätte, was hätte ihn hindern können, dies klar auszusprechen? Warum dann die unbestimmte Ausdrucksweise: „In einem großen Hause“? Warum dann nicht: „In dem Hause Gottes“? Wo der Apostel von der Gemeinde als von dem Hause Gottes redet, da tut er es mit unmißverständlicher Klarheit, so noch in dem ersten Brief an Timotheus: „Auf daß du wissest, wie du wandeln sollst in dem Hause Gottes, welches ist die Gemeinde des lebendigen Gottes, ein Pfeiler und Grundfeste der Wahrheit“ (1. Tim. 3,15). - Es handelt sich bei dem von dem Apostel hier gebrauchten Ausdruck von einem großen Hause offenbar um ein Bild, wie solche zahlreich in Pauli Briefen verwendet sind. Es handelt sich um ein Bild, das die Mahnung zur Absonderung von aller Ungerechtigkeit und Unreinheit besonders eindrücklich machen soll.

So ergibt sich denn bei nüchterner Prüfung mit aller Klarheit, daß jenes Wort als Grundlage für die Auffassung der „Versammlung“ nicht in Betracht kommen kann. Es ist eine volle Unmöglichkeit, das Wort in der Weise zu verwenden, wie es von Seiten der „Versammlung“ geschieht.

Nun beruft sich die „Versammlung“ zwar für ihre Anschauungen auch auf die Sendschreiben in der Offenbarung des Johannes. Sie behauptet, daß diese Sendschreiben „eine prophetische, fortlaufende Schilderung des Zustandes der Kirche während ihres Bestehens auf der Erde enthalten“. Es finden sich in der Literatur der „Versammlung“ Worte, die es in Frage zu stellen scheinen, ob die Sendschreiben sich überhaupt auf gegenwärtige historische Verhältnisse bezogen haben. So heißt es z.B. in Verbindung mit einer Erörterung des Sendschreibens an die Gemeinde zu Laodizäa: „Kann Christus solche Worte an seine Versammlung richten, welche in ihm die ganze Fülle Gottes besitzt, deren Licht und Leben er selbst ist, und die er bekleidet mit den Kleidern des Heils? Es liegt also klar am Tage, daß es sich hier und in den vorher angeführten Stellen nicht um die nur aus wahren Gläubigen bestehende Kirche, den Leib Christi handelt, sondern um die Kirche auf der Erde in ihrer Verantwortlichkeit.“

Setzt man sich aber mit solchen Worten nicht ganz offensichtlich über den klaren Wortlaut des Schriftzeugnisses hinweg? Eben das, was hier geleugnet wird, zeigt doch auf das klarste der Text (Offenb. Joh. 2,14-22). An den Engel einer wirklich vorhandenen gläubigen Gemeinde ist das Sendschreiben gerichtet. Der verklärte Christus hat zu dieser Gemeinde trotz ihres großen Mangels noch bestimmte Beziehungen (Kap. 1,13; 2,1; 3,19). Und neben den Drohungen enthält das Sendschreiben für Bußfertige reichste und herrlichste Verheißungen, Verheißungen, die durchaus auf der gleichen Linie stehen mit den Verheißungen, die anderen Gemeinden galten. Wir fragen also mit allem Ernst: Wo sind die hellen und klaren Schriftgründe, die solche Theorien rechtfertigen?

Es gibt für die Auffassung, daß in den Sendschreiben ein prophetisches Bild von dem fortschreitenden Verfall der Kirche gezeichnet sei, keinerlei klaren Schriftbeweis. Ohne Zweifel ist in den Sendschreiben für alle Zeiten der christlichen Geschichte Lehre und Mahnung, Drohung und Verheißung enthalten. Aber die Annahme, daß jedes einzelne Sendschreiben einen bestimmt umgrenzten Abschnitt zukünftiger Geschichte vorbilde, entbehrt jeder zuverlässigen Grundlage. Es kann diese Annahme weder aus dem Text gefolgert werden, noch auch ist der Beweis für ihre Richtigkeit aus dem tatsächlichen Geschichtsverlauf zu erbringen. Man muß schon zu großen Künsteleien seine Zuflucht nehmen, um dergleichen beweisen zu wollen. Es ist auch von anderer Seite gut darauf hingewiesen, wie wenig stichhaltig diese Theorien sind und wie wenig es durchführbar ist, aus dem vermeintlich prophetischen Charakter der Sendschreiben so weitgehende Folgerungen herzuleiten, als dies die „Versammlung“ tut. (Vergl. F. Kaiser: Ist die sogen. Versammlung in ihren Lehren und Einrichtungen biblisch?)

Es ist, bei Licht besehen, eine sehr schmale und unsichere Schriftgrundlage, auf die die „Versammlung“ ihre Stellungnahme und ihre Forderungen aufbaut. Es ist das schon mißlich., wenn es sich um praktisch so gewichtige Forderungen handelt. Am Ganzen der Schriftlehre gemessen, erweist sich diese Grundlage als durchaus unhaltbar. Sie erweist sich als scheinbiblisch. Sie stürzt zusammen, sobald sie in das helle Licht des neutestamentlichen Gesamtzeugnisses gerückt wird.

Die Praxis der Apostel und die Praxis der "Versammlung"

Wir haben bisher die Lehren der „Versammlung“ in das Licht des geschriebenen neutestamentlichen Gesamtzeugnisses gestellt, und es hat sich uns gezeigt, daß beide in scharfem und bestimmtem Gegensatz zueinander stehen. Hand in Hand mit der apostolischen Lehre geht nun aber die apostolische Praxis. Auch durch die Praxis der Apostel findet nun die Praxis der „Versammlung“ ihre Verurteilung. Wir greifen, um das darzutun, zu den nächstliegendsten und grellwirkendsten Beispiel. Es hatten sich in der korinthischen Gemeinde bestimmte Gruppen um bestimmte Führer gesammelt in scharfer Absonderung von anderen Gruppen. Die einen hatten den Paulus auf dem Schild erhoben und nannten sich nach ihm, die anderen den Apollos, die dritten den Kephas. - Wir bringen uns hierbei in Erinnerung, daß die „Versammlung“ allen einzelnen Gruppen und Denominationen der Jetztzeit eben dies zum Vorwurf macht, daß sie nach Art der korinthischen Parteien eine Partei bildeten.

Nun gab es aber in Korinth neben den drei genannten Parteien noch eine vierte, die jede Benennung nach einem menschlichen Parteihaupt ablehnte. Unter scharfer Absonderung von allen anderen Parteien berief sich diese allein auf Christum. Sie nannte sich allein nach ihm und sammelte sich allein um ihn. So weit auch die Auffassungen darüber auseinandergehen, welche Leute wir unter den „Christischen“ in Korinth zu verstehen haben, so herrscht doch Einstimmigkeit darüber, daß es eben Leute waren, welche sich in einer ganz besonderen, alle anderen überbietenden Weise allein auf Christum beriefen.

So verschiedenartig nun die heutigen Verhältnisse von denen in Korinth auch sein mögen, so ist doch eben dies unwidersprechlich klar, daß die „Versammlung“ im Prinzip den Weg dieser „Christischen“ geht. Sie lehnt gleich jenen jeden menschlichen Namen ab und beruft sich unter Absonderung von allen anderen Gruppen allein auf Christum. Sie tut prinzipiell durchaus dasselbe, was die Christuspartei in Korinth tat. - Wie verhält sich aber nun dem gegenüber der Apostel? Wenn er im Sinne der „Versammlung“ vorgegangen wäre, dann hätte er den Weg der Christuspartei grundsätzlich durchaus billigen müssen. Er hätte im Gegensatz zu dem fleischlichen Parteitreiben den neutralen Boden schaffen und vertreten müssen, wo man nicht nach einem Menschen sich nannte, sondern allein nach Christo, wo man nicht um ein menschliches Parteihaupt sich versammelte, sondern allein im Namen Jesu.

Dies hat nun aber der Apostel keineswegs getan. Er hat ganz im Gegenteil die Stellung und die Art der „Christischen“ geradeso bekämpft wie die der übrigen. Es ist dem Apostel nicht in den Sinn gekommen, die wahren Gläubigen, die bereit seien, dem ganzen Worte Gottes zu gehorchen, zur Absonderung aus den einzelnen Parteien aufzufordern. Er hat auch nicht im Gegensatz zu den bestehenden Gruppen ein korrekt biblisches Versammlungsschema aufgestellt, zu dessen Befolgung er dann alle aufgefordert hat. Er hat nicht neben den Parteien einen neuen Boden geschaffen, der die vereinigen könne, die „Christ sein wollen und nichts als Christ“, um dann auf diesem neuen Boden alle seine Brüder „zur Versammlung der Kinder Gottes einzuladen“.

Der Apostel hat ein völlig entgegengesetztes Verhalten an den Tag gelegt. Er ist in der Glut eines heiligen Eifers um die bedrohte Ehre des Herrn mitten unter die Parteien getreten: „Wie, ist Christus nun zertrennet? Ist denn Paulus für euch gekreuzigt?“ (1. Kor. 1,13). Und dann hat Paulus gleichermaßen allen Parteien erneut Christum verkündigt in freudigem, tiefgründigem, geistesmächtigen Zeugnis, wie es die besonderen Bedürfnisse und Gefahren notwendig machten. Es wurde dem Apostel die Berufung auf Christum nicht zu einem Anlaß, sich von den Brüdern zu trennen. Ganz umgekehrt blieb ihm vielmehr der gemeinsame Zusammenhang mit Christo der Beweggrund, um deswillen er die Gemeinschaft mit den Brüdern unbedingt festhielt. Es bleiben dem Apostel alle Gläubige in Korinth „Geheiligte in Christo Jesus, berufene Heilige mit allen denen, die anrufen den Namen unseres Herrn Jesu Christi an allen ihren und unseren Orten“ (1. Kor. 1,2). Obwohl er dem Parteitreiben auf das entschiedenste und wirksamste entgegentritt, so verwirft er doch nicht die, die Glieder der Parteien sind, und hebt nicht die Gemeinschaft mit ihnen auf. Ganz im Gegenteil sucht er erneut den Zusammenschluß mit ihnen. Er hebt zu dem Zweck das, was die Korinther mit ihm und was sie untereinander einigt, mit allem Nachdruck hervor: Sie sind alle Christi. Sie gehören alle dem einen nicht zu zertrennenden Christus an. Und in Christo ist ihnen alles geschenkt. Nicht nur Paulus oder Apollos und Kephas gehören ihnen, sondern die ganze Welt, das Leben oder der Tod, das Gegenwärtige und das Zukünftige; alles zählt zu ihrem Besitz; alles aber wird ihnen vermittelt durch Christum, dem sie angehören und an den sie gebunden sind, wie Christus Gottes ist und vom Vater abhängt. So ist es denn aus mit allem Ruhm von Menschennamen. Alles, was die Korinther geworden sind, verdanken sie dem Herrn allein. Darum bleibt auch ihm allein der Ruhm (1. Kor. 1,31; 3,23).

Klar und vorbildlich für alle Zeiten ist hier Pauli Verhalten. Klar und vorbildlich ist in den ersten Kapiteln des Paulibriefes an die Korinther der Weg und die Methode gezeigt, wie man das christliche Parteiwesen bekämpft. Deutlich und kräftig bezeugt sich Pauli Verhalten an unseren Herzen und Gewissen als dem Geist und der Gesinnung Jesu gemäß. Wie scharf steht es aber im Gegensatz zu manchen Absonderungsbestrebungen der Jetztzeit! Wenn Paulus nach dem Muster mancher christlichen Kreise von heute gehandelt hätte, so hätte er nicht viel anderes zu tun gehabt, als überall zur Absonderung aufzurufen und neue Gruppen zu bilden. Er hätte den Gefahren und Irrlehren gegenüber, die hier und da die gläubigen Kreise bis in den Grund hinein erschütterten, überall den neutralen Boden schaffen müssen zur Sammlung für diejenigen, die, wie der Ausdruck heute lautet, „den Herrn anrufen aus reinem Herzen!“

Es waren Irrtümer, Häresien, die wirklich zum Teil die geistlichen Grundlagen der Gemeinden erschütterten, um deren Bekämpfung es sich in den apostolischen Briefen handelt. Bei den Galatern war es zu einer wirklichen Abwendung gekommen von dem Evangelium Gottes, das sie in die Gnade Christi berufen hatte. (Gal. 1,6). In Korinth gab es Zweifler an der Auferstehung der Toten - „Es sagen etliche unter euch, die Auferstehung der Toten sei nichts“ (1. Kor. 15,12). Hier waren wirklich Grundwahrheiten in ihrer Geltung angegriffen worden. Auch im Kolosserbrief und im Hebräerbrief handelt es sich um die Bekämpfung von Gefahren, die die Grundlage des Heilsstandes und des Heilsbesitzes bedrohten. Wo ist aber allen diesen Gefahren gegenüber das Schema zu finden, das das Bestreben mancher Kreise rechtfertigt, wo man die Treuen und Bewährten aus der Gemeinschaft der vermeintlich oder wirklich Gefährdeten herausruft zur Bildung neuer Gemeinschaften? Wo findet der Weg, der uns von Darby her immer wieder als der biblische und gottgewollte bezeichnet wird, in der Geschichte und Literatur der apostolischen Zeit irgendwelche Bestätigung?

Oder will man etwa behaupten, daß die Bemühungen, Irrtümern und Schäden entgegenzutreten, zwar in den ersten Christengemeinden Erfolg hätten haben können, daß aber solche Hoffnung hinsichtlich der gläubigen Kreise der Jetztzeit nicht gehegt werden könne? In der Tat haben wir es aussprechen hören, daß eine Heilung der Schäden innerhalb der gläubigen Gemeinschaften der Jetztzeit nicht zu hoffen ist und daher nur Trennung von ihnen übrig bleibe.

Vermag man aber für solche Auffassungen eine göttliche und biblische Begründung zu geben? Sind wir wirklich alle Leute, denen nicht mehr geholfen werden kann? Bleibt nach dem Willen Gottes und den Rechten seines Heiligtums nur übrig, daß man jede Form des Gemeinschaftslebens mit uns unbedingt abbreche? - Wir dürfen mit großer, demütiger und freudiger Gewißheit sagen, daß der Herr der Gemeinde, das verklärte Haupt im Himmel, an dem wir hängen, und dessen reicher Gnade wir vertrauen, die Sache nicht so ansieht. Wir dürfen sagen, daß er bis heute noch nicht gelassen hat das Werk seiner Hände in uns und an uns. Er hat durch seine Gnade uns hineingeführt in eine Gemeinschaft mit sich selber und allen Gliedern seines Leibes, die tief und unzerreißbar ist. Wir glauben auch, daß er durch seine Macht und Gnade uns in dieser Gemeinschaft bis zur äußersten Vollendung ihrer Ziele bewahren kann und bewahren wird.

Wir sehen und erkennen auch wohl, daß des großen Meisters großer Apostel uns nicht als hoffnungslos ansehen würde. Es ist uns vielmehr gewiß, daß er mit seinem liebeglühenden Herzen, mit seiner inbrünstigen Fürbitte auf unsere Seite treten und uns dienen und helfen würde, wie er den Gefährdetsten und Schwächsten seiner Zeit gedient und geholfen hat.

Der Apostel Paulus ist aber, wie wir wissen, der Apostel der Nationen (Eph. 3,8). Er selbst hat die Gemeinden dazu ermahnt und aufgerufen, seinem Vorbild und Wandel zu folgen: „Wir haben uns selbst euch zum Vorbild gegeben, uns nachzuahmen.“ (2. Thess. 3,9). „Seid meine Nachfolger, wie ich Christi.“ (1. Kor. 11,1). - So ist denn auch in der uns hier beschäftigenden Hinsicht das Verhalten Pauli durchaus vorbildlich. Niemals können darum solche sich auf den Apostel Paulus berufen, die unter irgendwelchen Umständen die Trennung unter Brüdern fordern. Es ist in dem kampferfüllten, an herben und schmerzlichen Enttäuschungen auch von Seiten der Brüder reichen Leben Pauli der Tag nicht gekommen, der ihn aus der Mitte der Brüder gerissen hätte. Es haben keine betrübenden Erfahrungen und keinerlei Lieblosigkeiten und Kränkungen den Apostel zu einem Pessimisten und Separatisten machen können. Nichts hat ihn jemals den gläubigen Kreisen entfremden können.

Wie ist aber der Blick auf das klare und gesegnete Vorbild des Apostels heutzutage gar vielen verdunkelt! Wie haben sich viele an die sektenhafte Gestaltung des christlichen Lebens so gewöhnt, daß sie das Vorbildliche und Normgebende in dem Wort und der Praxis gar nicht mehr erkennen! Hat doch ein den Grundsätzen der „Versammlung“ huldigender Bruder es offen ausgesprochen, daß der Apostel nicht überall in den Gemeinden auch am Tische des Herrn mit den Gläubigen Gemeinschaft gehabt habe, sondern daß er wohl einen besonderen Kreis von Auserwählten gehabt habe, mit denen er hier und da das Brot gebrochen habe. Man muß doch weit von dem Geist und Sinn des großen Apostels entfernt sein, wenn man mit solchen Ausflüchten eine unbiblische Absonderung zu rechtfertigen sucht.

Keine Verschiebung der Grundlagen

Wenn wir von hier aus den Gang unserer Besprechung überblicken, so hat sich uns gezeigt, daß Lehre und Praxis der „Versammlung“ sich mit dem Wort und der Praxis der Schrift nicht deckt. Die Grundlagen, die die Einheit der Gemeinde tragen, liegen, wie wir sagten, lediglich im Wort und Werk und Geist Jesu Christi. Das Einigende ist nicht ein bestimmtes Lehr- oder Bekenntnisschema, nicht eine bestimmte einheitliche Form des Kultus. Es beruht auf einer Verschiebung der biblischen Grundlagen, wenn man die Betätigung der Einheit unter Wiedergeborenen vor irgend einem anderen Ding abhängig macht als allein von dem tatsächlichen Besitz des neuen geistlichen Lebens. Gewiß drängen die Kräfte des Geistes und der Gnade auf Einheit und Einigkeit der Gläubigen in jeder Hinsicht. Es wirken diese Kräfte darauf hin, daß die Gläubigen möchten fest zusammengefügt werden in einerlei Sinn und einerlei Meinung. Auch die verschiedenen Gaben und Dienste sind der Gemeinde gegeben, damit wir „alle hingelangen zu einerlei Glauben und Erkenntnis des Sohnes Gottes und ein vollkommener Mann werden“ (Eph. 4,13)

Aber eben dieses Apostelwort bezeichnet klar die Glaubens- und Erkenntniseinheit als das Ziel des Wachstums - „bis wir alle hinankommen“ - nicht aber als die Grundlage. Es zieht sich durch die Literatur der „Versammlung“ die Behauptung, daß die Einheit der Gemeinde nur auf dem von ihr betretenen Boden verwirklicht werden könne. Es liegt hierin aber eine Verschiebung der biblischen Grundlagen, die die Einheit der Gemeinde tragen. Es liegt darin eine praktische Leugnung der Wahrheit, daß allein die neue Geburt alle Rechte für alle Segnungen vermittelt, die Gott für seine Kinder bereit hat im Himmel und auf Erden. Gott selbst stellt für unsere Aufnahme in sein Reich keine andere Bedingung als die Annahme der unaussprechlichen Gabe, die er uns in seinem Sohn bietet. Kein Christenmensch hat ein Recht, für die Aufnahme und Anerkennung seiner Brüder andere Bedingungen aufzustellen als solche, die Gott aufgestellt hat. Tut er es doch, so befördert er nicht die Einheit unter den Kindern Gottes, sondern er stört und hemmt sie; dafür ist die „Versammlung“ mit der noch nicht abgeschlossenen Geschichte ihrer Spaltungen der nächstliegendste und deutlichste Beweis.

In der Tat werden überall da, wo die Zustimmung zu einem bestimmten Lehr- und Versammlungstypus zur Bedingung für die praktische Gemeinschaft gemacht werden, Keime der Zersetzung in das Gemeinschaftsleben der Gläubigen hineingetragen. Es kann diese Tatsache durch eine schier erdrückende Fülle von Beweismaterial jeder Art erhärtet werden.

Gott selbst erkennt diejenigen als seine Kinder an, die in der Gemeinschaft seines Sohnes stehen. Wen aber Gott als sein Kind anerkennt, den haben Wiedergeborene als ihren Bruder anzuerkennen; und zwar dies nicht nur etwa für den Privatverkehr, sondern mit all den Anrechten und Zusagen, die Gott seinen Kindern gegeben hat auf dem Boden des Gemeinschaftslebens. Der Apostel weist uns für die Aufnahme auch der Schwachen unter den Geisteskindern den allerhöchsten Maßstab an: „Gleichwie Christus euch aufgenommen hat zur Ehre Gottes, so nehmet euch untereinander auf.“ (Röm. 15,7)

Gott macht nicht von dem Vorhandensein oder Nichtvorhandensein einer bestimmten Benennung oder eines Bekenntnisses die Darreichung geistlich-himmlischen Segensgutes abhängig, sondern allein davon, ob jemand im Namen Jesu bittet und empfängt. Und durch Wort und Geist prägt er es auch uns ein, bei der Beurteilung des anderen lediglich danach zu fragen, ob und wie er zu Christo in Beziehung steht, ob und wie sein Leben Züge des Christusbildes trägt. Und in der Schule der Gnade lernt es der willige Schüler als eine der wichtigsten und seligsten Lektionen, freudig und rückhaltlos mit allen Gemeinschaft zu haben, die den Herrn Jesum Christum lieb haben.

Wie sehr stark tritt eben dies in der apostolischen Literatur hervor, daß der praktische Zusammenhang mit Christo den Aposteln unter allen Umständen das Entscheidende blieb. Wie war ihnen jeder Schade und jeder Mangel unter den Gläubigen ein Beweis für mangelnde Christuserkenntnis! Wie war ihnen das Heilmittel nicht die Aufstellung eines korrekten Versammlungsschemas, sondern vertiefte und vermehrte Christusverkündigung! Und niemals hat sich den Aposteln gegenüber allen Schäden, die es unter den Gläubigen zu bekämpfen galt, der klare Blick getrübt für das, was trotz jener Schäden Christi Geist und Gnade doch noch unter ihnen zu wirken vermochten. Darauf haben sie zuerst den Blick gerichtet; dafür haben sie Gott gedankt, ehe sie tadelten und mahnten. Niemals haben die Apostel in einem so einseitigen, negativen, absprechenden Ton von den Schäden und Nöten in den Gemeinden geschrieben, wie dies heutige Schreiber vielfach tun; niemals so - wir können diese Bewertung hier nicht unterdrücken - wie dies auch manche Schreiber der „Versammlung“ tun.

Die „Versammlung“ redet viel von den eigenen Vorzügen und den Mängeln anderer. E fällt ihr die korrekte Übereinstimmung mit ihre Art und Auffassung so stark ins Gewicht, daß sie, wo diese fehlt, auch für große geistliche Vorzüge anderer kaum noch einen rechten Blick hat. Diesen Eindruck gewinnt man deutlich aus zahlreichen Stellen ihrer Literatur. Wer aber im biblischen und apostolischen Sinn an Gemeinschaften von Gläubigen öffentlich Kritik üben will, der muß nicht nur diese oder jene Schriftworte dem Buchstaben nach für sich haben, sondern er muß stehen in der Atmosphäre des Geistes und der Art der apostolischen Vorbilder. Es genügt nicht, daß eine solche Kritik die Mängel der anderen im Bewußtsein der eigenen Vorzüge korrekt ausweisen kann. Der Geist Jesu Christi zeigt uns nicht in erster Linie den Mangel bei anderen, damit wir im Lichte dieses Mangels unsere eigenen Vorzüge entdecken, sondern er zeigt uns umgekehrt in erster Linie die Vorzüge bei anderen, damit wir im Licht dieser Vorzüge unseren eigenen Mangel entdecken. „Ich erwähne allezeit deiner in meinen Gebeten,“ schreit Paulus bedeutsam dem Philemon (V. 4ff), „daß die Gemeinschaft deines Glauben wirksam werde in der Anerkennung alles Guten, welches in uns ist gegen Christum Jesum“ (Elberfelder Text). So lehrt der Heilige Geist erkennen und wertschätzen die Früchte der Christusgnade in dem anderen, und erst in ihrem Lichte kann der noch vorhandene Schade recht erkannt und behandelt werden.

Wir unsererseits möchten uns für unsere gegenwärtige Aufgabe an diese wichtigen Lektionen nachdrücklich erinnern. Eben weil uns wertvoll und teuer ist, was der Herr je und je in den Kreisen der Brüder gewirkt hat, eben darum ist uns die fehlende Gemeinschaft mit ihnen ein Verlust; und in Schwachheit möchten wir das Unserige tun, um die tief bedauerlichen Ursachen der vorhandenen Störungen zu kennzeichnen, damit sie, wenn möglich, hinweggetan werden.

Es wird in der Literatur der „Versammlung“ sehr nachdrücklich der Grundsatz aufgestellt: Christus allein, der gestorben und auferstandene Christus und nichts als er soll gelten in dem Gemeinschaftsleben der Gläubigen. An sich stimmen wir diesem Grundsatz freudig und völlig zu. Aber wenn man dann unter Berufung auf diesen Grundsatz anderen Gläubigen die Gemeinschaft versagt, wenn man von ihnen sich absperrt, weil unter ihnen Christus vermeintlich oder wirklich weniger gegenwärtig ist, so glauben wir nicht, daß das eine geistliche und klare Durchführung jenes Grundsatzes ist. Bei klarer Durchführung jener Berufung auf Christum ist eben die Frage lediglich die: Wohnt Christus in dem anderen? Von der Antwort auf diese Frage wird seine Anerkennung allein abhängig gemacht. Die „Versammlung“ fragt nun aber in erster Linie: Gehört er irgend einer Benennung an? Stimmt er einem Bekenntnis zu? Sie macht von der Antwort auf diese Fragen ihre Stellung abhängig und verneint das Eingehen eines Gemeinschaftsverhältnisses, je nachdem diese Fragen beantwortet werden. So wird aber die Berufung auf Christum praktisch zu einer Parteisache. Indem man zwar gegen Parteien protestiert, macht man den Namen Christi selber wieder zu einem Parteiprogramm, genau so, wie es die „Christischen“ in Korinth taten. Wo wirklich der ganze Christus zur Geltung kommt, da wird die Berufung auf ihn nicht zu einer Parteisache. Es werden da den vorhandenen Störungen der Einheit nicht neue hinzugefügt, sondern es werden alle Kräfte gesammelt, um vorhandene Störungen zu überwinden. Es wird, wo der Geist Christi herrscht, mit allen geistlichen Mitteln dahin gewirkt, die Einheit der Glieder Christi in Lehre und Leben machtvoll in die Erscheinung treten zu lassen.

Die besonderen Gründe der "Versammlung": Der Protest gegen den Namen

Es galten unsere bisherigen Ausführungen dem Zweck, die Lehre und Art der „Versammlung“ im allgemeinen in das Licht des Schriftzeugnisses zu stellen. Wir haben aber nun noch im einzelnen nach den Gründen zu fragen, die die „Versammlung“ für ihre scharfe Trennung von anderen Kreisen namhaft macht. Wer etwa vermuten würde, daß es sich bei so scharfer Trennung von anderen Kreisen eben um tiefgehende Differenzen handeln werde, der würde sich in solcher Vermutung durchaus irren. Es sind keineswegs Verschiedenheiten, die sich auf die oben genannten Grundwahrheiten des Evangeliums beziehen, die die Kreise der Gläubigen in getrennte Lager spalten; im Gegenteil herrscht, wie oben schon angedeutet, über die Hauptwahrheiten der Schrift unter den verschiedenen Benennungen mit den Kreisen der „Versammlung“ volle Einhelligkeit.

Der erste Grund, den die „Versammlung“ für ihre Trennung von anderen Kreisen namhaft macht, besteht darin, daß diese Kreise sich mit irgend einem Namen nennen und irgend einem schriftlich niedergelegten Bekenntnis zustimmen. Die „Versammlung“ macht den Gemeinschaftskreisen den Vorwurf, daß darin ein Abfall liege von dem Namen Jesu und von der Leitung des Heiligen Geistes. Sie erblickt in diesen Dingen „das religiöse Böse“, das, „verhängnisvoller als das moralische Böse“ die unbedingte Trennung von diesen Kreisen zur Notwendigkeit macht.

Wir fragen nun demgegenüber vorerst: Sind diese schweren Vorwürfe in der Allgemeinheit, wie sie erhoben werden, wirklich zutreffend? Steht die Sache, geschichtlich betrachtet, wirklich so, daß all die verschiedenen Benennungen von ihrer Entstehung her den Gegensatz zum Jesusnamen in sich tragen? Waren sie wirklich von vornherein darauf angelegt, zertrennend unter den Gläubigen zu wirken? Und hatten und haben sie in ihrer seitherigen Entwicklung wirklich diese Tendenz? Es genügt ein Blick in die geschichtliche Entstehung der verschiedenen Denominationen, um sich davon zu überzeugen, daß durchaus das Gegenteil der Fall ist.

Der Methodismus z.B. stellt doch in der großen und reichen Epoche seiner Anfangszeit nicht einen Gegensatz dar zum Namen Jesu. Der Methodismus hat vielmehr diesen Namen gegenüber einer toten Kirchlichkeit mit aller Macht wieder zur Geltung gebracht. Die Quellen der methodistischen Bewegung liegen durchaus in der Kraft und Fülle des Namens Jesu. Der Methodismus, ursprünglich ein Spottname de Feinde, wurde von der Bewegung als Ehrenname beibehalten. „Methodismus,“ sagt Wesley, „ist Christentum im Ernst.“

Wie hat ferner in dem Werk des Grafen Zinzendorf und der Begründung der Brüdergemeine der Glanz und die Fülle des Namens Jesu mit Macht sich bezeugt; wie war das Aufleuchten dieses Namens auch in dieser Bewegung das eigentlich Entscheidende und Grundlegende! Es tritt besonders in den Anfängen dieser Bewegung das Einigende sehr klar hervor. „Dazu hat,“ sagte Zinzendorf, „de Sohn Gottes sein Blut ausgeschüttet, daß die zerstreuten Kinder Gottes dadurch wie ein Lauffeuer allenthalben erreicht und zusammengebracht werden können!“

Es ließe sich nun das von den genannten Gruppen Gesagte nachweisen in Bezug auf zahlreiche andere Strömungen, die unter bestimmten Bezeichnungen bis auf den heutigen Tag fortbestehen. Nicht irgend einem Gegensatz zum Namen Jesu und zu seinem Geist verdanken tiefgreifende geistliche Bewegungen ihre Entstehung, sondern sie sind umgekehrt durchaus geboren aus der Geistes- und Lebensfülle des Jesusnamens. Das ist der historische Tatbestand, der von niemand geleugnet werden kann.

Manche dieser Bewegungen haben in einem größeren Maß und Umfang, als es der „Versammlung“ oder anderen bestehenden Kreisen je beschieden war, dazu beigetragen, dem Jesusnamen in den Herzen von Tausenden die ihm gebührende Autorität zu sichern. Es sind diese Bewegungen von Männern begründet worden, die nichts suchten als einzig die Ehre des Herrn und nichts als das Heil der Seelen Sie haben unter Einsetzung von Blut und Leben gegenüber todbringenden Irrtümern die Wahrheit der Schrift nach bestem Wissen und Erkennen zur Geltung gebracht.

Wir bedauern es mit der „Versammlung“, daß manche jener Bewegungen eine gewisse Ausschließlichkeit angenommen haben, die die Gemeinschaft mit anderen Teilen des Volkes Gottes erschwert. Es ist wahr, daß leider sich die Verschiedenheiten vielfach zu Gegensätzen zugespitzt haben, die trennend und scheidend wirken innerhalb der gläubige Gemeinde. Und auch wir haben den Eindruck, daß aus den innersten Tiefen des gläubigen Gemeindelebens noch mächtige Gegenwirkungen entstehen sollten gegen den Sektengeist. Gewiß sollte es noch zu solchen Gegenwirkungen kommen, die in des Heiligen Geistes Kraft Fesseln des Sektengeistes sprengen und dem vollen Zusammenschluß der Gläubigen die Bahn frei machen. Dennoch können wir den Schlußfolgerungen und Anklagen, die von Seiten der „Versammlung“ erhoben werden, entfernt nicht folgen. Wir würden fürchten, gegen die geschichtliche Wahrheit zu verstoßen, wenn wir da zustimmen wollten. Wir würden fürchten, uns zu versündigen an dem Herrn und an den Brüdern, wenn wir diesen den Vorwurf machen wollten, daß sie sich nicht im Namen Jesu, sondern im Namen von Menschen oder auf dem Boden eines Parteibekenntnisses versammeln.

Wir glauben nicht, daß mit solchen der Wahrheit und Gerechtigkeit nicht entsprechenden Behauptungen die Einheit der Gläubigen gefördert werden kann. Es müssen erfolgreiche Gegenwirkungen gegen den Sektengeist aus durchaus biblischen und geistlichen Quellen geboren sein. Nur dann können sie zur Heilung des vorhandenen Schadens wirklich beitragen. Es müssen solche Gegenwirkungen getragen sein von einem überlegenen Maß von Geistes- und Lebenskräften, wenn in ihnen Sieg und Hilfe liegen soll gegenüber dem Fleischeswerk von Spaltungen innerhalb der Gemeinde.

Mit welchen Mitteln setzt nun aber die „Versammlung“ gegenüber dem Parteiwesen ein? Sie behauptet, daß alle diejenigen, die nach irgend einem Namen sich nennen, damit den Namen Jesu für ihr Gemeinschaftsleben außer Geltung gesetzt haben. Darum fordert sie nun alle Gläubige zur rücksichtslosen Trennung von allen Benennungen auf, damit man unter Ablehnung jedes Namens auf einem neuen, parteilosen Boden zusammenkomme, wo nur der Name Jesu gelten soll.

Wir haben oben den Nachweis geführt, daß eine Trennung von Gläubigen aus dem hier angeführten Grunde biblisch nicht gerechtfertigt ist. Es gibt, wie wir ausführten, nur einen einzigen Grund, der die Trennung von Gläubigen notwendig macht, nämlich der tatsächliche Abfall vom Heil in Christo in Lehre oder Leben. Aber auch abgesehen hiervon können wir uns dem Vorgehen der „Versammlung“ aus biblischen und geistlichen Gründen nicht anschließen. Einig sind wir in der Klage und dem Schmerz über die vorhandenen Spaltungen unter den Gläubigen. Aber der Grund für diese Spaltungen liegt doch nicht lediglich in den verschiedenen Namen, wie man nachdem Vorgehen der „Versammlung“ annehmen könnte. Die erste und tiefste Ursache für den Mangel an Einheit liegt vielmehr beschlossen in einem Mangel an Geist und Leben, an Liebe und Gesinnung Jesu Christi. Gewiß kommt ja dieser Mangel auch in dem vielerlei der Namen zum Ausdruck. Aber es ist doch nicht gegen die Namen in erster Linie der Kampf zu führen, sondern gegen eine Gesinnungsweise, die unberechtigt Meinungs- und Erkenntnisverschiedenheiten zum Anlaß der Trennung unter Gläubigen macht. Gegen den Sektengeist gilt es mit geistlichen Waffen den Kampf aufzunehmen, der unberechtigt die Absonderung unter Gläubigen und die Neubildung separierter Gemeinschaften befördert. Es ist eine biblisch nicht zu rechtfertigende Art, die verkehrten Früchte und Symptome eines geistlichen Schadens zu bekämpfen, um diesen selbst sich aber weniger zu kümmern. So haben es die Apostel nicht gemacht. So hat es der Apostel Paulus den Korinthern gegenüber nicht gemacht.

Die Apostel haben die vorhandenen Schäden nicht dadurch zu bekämpfen gesucht, daß sie zur Separation aufriefen, zur Absonderung der Starken von den Schwachen, der Gesunden von den Kranken. Sie haben nicht nur dieses oder jenes Symptom des Irrtums bekämpft, sie sind vielmehr mit ihren Heilversuchen dem Übel an die tiefste und geheimste Wurzel gedrungen. Sie sahen die Ursache der Schäden in einer verkehrten Gesinnung und Herzensrichtung und waren bemüht, zur Heilung von Schäden eine Heilung der Herzen zu bewirken. Sie haben die Gnade und Wahrheit in Christo so verkündigt, daß die Herzen wieder in das rechte Verhältnis zum Herrn und dadurch auch in das rechte Verhältnis untereinander kamen.

Es ist durchaus eine Veräußerlichung des ganzen Problems, wenn man, lediglich den Namen ablehnend, mit einem biblischen Namen einen neuen Boden betritt. Mit dieser Art des Protestes ist noch niemand geheilt, und es ist damit noch niemandem geholfen. Es liegt der parteilichen Gestaltung des christlichen Lebens ein tiefer geistlicher Schaden zugrunde. Dieser Schaden kann nicht durch äußerliche, gewaltsame, biblisch nicht begründete Separation behoben werden. Es wäre auch mit dem bloßen Wegfall der Namen der Schaden keineswegs behoben. Es würden an die Stelle der alten Namen bald neue treten, wenn der Schaden nicht von innen heraus geheilt, wenn der Sektengeist nicht durch den Heiligen Geist überwunden wäre.

Es hat die „Versammlung“ auf einen einheitlichen Namen allen Wert gelegt. Hat aber dieser einheitliche Name auch die Einheit unter denen, die ihn führten, wirklich gewährleistet? Die Geschichte des sogenannten Darbysmus mit seinen immer erneuten Spaltungen gibt darauf gar bedeutsame und gar vielsagende Antwort.

Es ist in der Literatur der „Versammlung“ sehr viel vom Heiligen Geist die Rede, und es wird die Berufung auf seine Leitung in der „Versammlung“ häufiger und kräftiger ausgesprochen als vielleicht irgendwo sonst. Um so auffallender wirkt es dann, daß dieselbe Gemeinschaft, die wie keine andere die Abhängigkeit vom Geist zum Ausdruck bringt, dann doch wieder auf mehr äußerliche Fragen, auf Benennungen und kultische Fragen ein so entscheidendes Gewicht legt, daß sie davon die Gemeinschaft mit anderen Gläubigen geradezu abhängig macht. Wer von der Schriftlektüre zur Lektüre der von Darby beeinflußten Literatur kommt, dem muß auch bei wohlwollendster Beurteilung der Unterschied sehr stark auffallen. Dort ein geistesmächtiges Betonen des Wesentlichen, Inneren, des Geist- und Lebensmäßigen, ein Ringen und Kämpfen um tiefste, heiligende Christuserkenntnis; hier dagegen ein sehr starkes Hervortreten von mehr der Äußerlichkeit des Gemeinschaftslebens angehörenden Fragen, ein Ringen und Kämpfen um Namen, die Versammlungsform, den Kultus etc.

Wir haben kein Interesse daran, irgend etwas zu verteidigen, was des biblischen Grundes für seine Existenz ermangelt, aber das eine möchten wir doch mit aller Bestimmtheit aussprechen: Nicht diese oder jene Versammlungsform ist innerhalb des reiches Gottes das Entscheidende, sondern der Glaube, der durch die Liebe wirkt, und der sittlich geistliche Ernst, mit dem erlöste Menschen mit Sünde und Selbstleben brechen und einzudringen suchen in den Überschwang der Erkenntnis Jesu Christi. Nicht damit ist schon der Irrtum überwunden, daß man neben Versammlungen mit unbiblischen Namen und Formen oder einer vermeintlich biblischen Formlosigkeit stellt.

Auch die entschiedenste Berufung auf den Namen Jesu bewirkt an sich noch nicht die Offenbarung seiner Gegenwart, und nicht die kategorischste Erklärung: „Hier wirkt und leitet der Heilige Geist!“ bewirkt tatsächlich Geistesfülle in den Versammlungen. Und es sind die schriftgemäßesten Einrichtungen wertlos, und es sind auch Worte in Engelszungen ein Nichts, wenn der Geist und die Liebe fehlen.

Es kann der Sauerteig des Pharisäertums sich auch solcher Gemeinschaften bemächtigen, die bis auf die feinsten Linien auf den Schriftbuchstaben zugeschnitten sind, und es kann die vor der so genannten Versammlung geforderte Systemlosigkeit zu einem starren System sich verhärten, zu einem System, das mit der Schärfe des tötenden Buchstabens alles ausscheidet, was sich ihm nicht willig und widerspruchslos einfügt.

Die „Versammlung“ fordert den Anschluß aller Gläubigen an ihre eigene Bewegung mit der Begründung, daß man dort allein sich versammle im Namen Jesu. „Wer sich weigert, sich ihr anzuschließen, der ist dem Worte Gottes nicht gehorsam.“ Es ist ein rechtes Grund- und Losungswort der „Versammlung“, daß alle Gläubigen sich allein in dem Namen Jesu versammeln sollen. Es kommt nun dieses in der Literatur der „Versammlung“ schier ungezählte Male verwendete Wort im Neuen Testament einmal vor, und zwar in Mat. 18,20. Es redet dort Jesus selbst von dem Versammeltsein in seinem Namen in Bezug auf das Gebet. In sehr zahlreichen Stellen des NT ist zwar nicht die Rede von dem Sichversammeln im Namen Jesu, wohl aber sind die mannigfachen und reichen Beziehungen aufgewiesen, in denen die Erlösten zu dem Namen Jesu überhaupt stehen. Sie sollen sich nicht nur im Namen Jesu versammeln, sondern alles und jedes, was sie tun, sollen sie im Namen Jesu tun (Kol. 3,17). Sie sind getauft in den Namen Jesu (Apg. 2,38; 19,5). Sie sollen und dürfen im Namen Jesu bitten (Joh. 14,13; 16,23.24), und allezeit sollen sie in dem Namen Christi Gott und dem Vater danksagen (Eph. 5,20).

Daß das Gemeinschaftsleben derer, die mit dem Blut Jesu besprengt, mit dem Geiste Jesu getauft, mit dem Fleisch und Blut Christi genährt sind, unter der Macht des Jesusnamens steht, ist für jeden wahren Erlösten eine selbstverständliche Sache. Es ist dies für ihn eine Sache, die ebenso groß und köstlich als einfach und selbstverständlich ist. Es ist uns noch keine Versammlung von wahren Gläubigen bekannt geworden, die hierin eine Ausnahme gemacht hätte. Es wird die Behauptung aufgestellt, daß alle diejenigen, die irgendeiner nach einem bestimmten Namen sich nennenden Religionsgemeinschaft angehören, nicht im Namen Jesu, sondern im Namen eines Menschen zusammenkämen. Es wird behauptet, daß sie zusammenkämen nicht unter der Leitung des Heiligen Geistes, sondern lediglich auf Grund eines gemeinsamen Bekenntnisses oder eines Systems. Diese Behauptung mag für Menschen zutreffen, die eben nichts haben als ihr totes religiöses Bekenntnis, für Menschen, die bei aller äußerlichen Scheinfrömmigkeit doch ohne wahre Beziehung zu Gott in Christo sind. Aber nie haben wir es erlebt, und kein Beispiel aus der Geschichte hat es uns gekündet, daß wahre Glieder am Leibe Jesu in einem anderen Namen als in dem ihres verklärten Hauptes zusammenzukommen wünschen.

Es harrt an diesem Punkt noch eine Frage der Besprechung, die in diesem Zusammenhang ihre besondere Bedeutung hat, nämlich die Frage nach dem Wesen und der Bedeutung des Namens nach der Schrift. Der Name im Sinne der Heiligen Schrift ist nicht ein bloß äußerlich der Person angehängter Titel, sondern der Name ist das Wahrzeichen oder der Inbegriff des inneren Wesens. Der Name Jesu Christi bezeichnet die Person des Sohnes Gottes nach der ganzen Heils- und Machtfülle, die in ihm zugunsten der Menschheit wohnt. Der Name des Heilandes kennzeichnet ihn, wie er sich bezeugt und offenbart mit seiner göttlichen Wesensfülle in der Mitte der Seinen. Es ergibt sich also schon aus der Bedeutung des Namens nach der Schrift, daß nicht die bloß formale Berufung auf den Namen Jesu schon genügt, damit man im Namen Jesu zusammenkomme.

Der unausforschliche Reichtum des Jesusnamens wird geoffenbart durch den Heiligen Geist. Von ihm hat Jesus gesagt: „Er wird mich verherrlichen.“ So ist eine innere Beziehung zu dem Geiste Jesu Christi notwendig; es ist persönlichste, innerste Unterwerfung unter seine Leitung notwendig, wenn Jesus im Kreise der Seinen seine Herrlichkeit offenbaren soll.

Nicht deshalb schon besteht eine Versammlung im Namen Jesu, weil man zu einer bestimmten Zeit, an bestimmtem Ort auf diesen Mann beruft. Eine Versammlung steht im Zeichen der Herrlichkeit und Macht des Jesusnamens genau in dem Maße, als dieser Name Macht hat über die Herzen, genau in dem Maße, als die Glaubensaugen der einzelnen auf ihn gerichtet sind, als die Ohren seine Stimme hören und Knie sich beugen vor der Majestät des unsichtbaren und doch gegenwärtigen Sohnes Gottes. „Wo zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen (eigentlich: auf meinen Namen hin), da bin ich mitten unter ihnen.“ (Mat. 18,20)

Hat nun aber wirklich die Macht und Herrlichkeit des Jesusnamens sich nur geoffenbart unter den von Darby ausgehenden und beeinflußten Versammlungen? Die Antwort auf diese Frage gibt die Geschichte der gläubigen Gemeinde aller Zeiten und aller Orte und aller Benennungen. Welche überwältigenden Kundgebungen der Macht des Namens Jesu geschahen in Versammlungen der verschiedensten Benennungen in der vor- und nachreformatorischen Zeit! Welche Zeichen und Wunder sind geschehen in der Kraft Christi und seines Geistes, besonders auch in denjenigen christlichen Bewegungen, die durch eine langandauernde Leidens- und Bluttaufe hindurchgeführt wurden! Wie haben Puritaner, Quäker und Independenten in England, die Covenanter in Schottland mit ihren von heiliger Begeisterung durchglühten Versammlungen - wie haben die böhmischen Brüder, die blutig verfolgten Waldenser und Albigenser des Mittelalters und die Hugenotten in Frankreich, wie haben auch Pietisten, Herrnhuter, Baptisten und Methodisten in deutschen Landen die Gegenwart des sieggekränzten Königs in der Mitte der Seinen erleben dürfen! Wie sind aller Herzen brennend geworden in der Gegenwart des Meisters, wie haben Ströme heiliger Freude alle durchflutet, wie hat der Ton freudigen Lobpreises die Versammlungen beherrscht! Und fort und fort erfahren es alle, die der Durst nach der Erkenntnis Jesu Christi zusammen bringt, die zusammenkommen, um Jesum zu sehen, daß der unsichtbare Meister und Herr ihnen fühlbar nahe ist.

Die Literaten der „Versammlung“ scheinen all die großen und herrlichen Wirkungen des Jesusnamens in der Geschichte nicht mehr recht zu sehen und scheinen sich darüber nicht mehr recht freuen zu können. Es spricht sich in jener Literatur ein sehr starkes Bewußtsein aus von dem ausschließlichen Recht der eigenen Stellung; aber sie verrät wenig freudigen Blick und Wertschätzung für das, was je und je Christi Geist und Gnade in Einzelpersönlichkeiten und in der ganzen Gemeinde getan hat. Dabei beruft sich diese Literatur sehr stark auf den Heiligen Geist doch einen Blick und ein Empfinden verleihe für alles wahrhaft Geistliche, daß er anleite und erziehe zu freudigster und innigster Beteiligung an allem, was wahrhaft aus dem Geist geboren ist. Wie steht es aber mit solcher Anteilnahme und Gemeinschaft in den Kreisen der „Versammlung“? Vielsagend und mit dem Ausdruck des Erstaunens haben wir es manchmal nach gesegneten Versammlungen, die ihrem Charakter nach der ganzen gläubigen Gemeinde galten, sagen hören: Es waren sogar auch einige Brüder von der „Versammlung“ da.

Und doch möchten wir glauben, daß es auch im Rahmen der „Versammlung“ Brüder gibt, die es wohl erkennen, daß das korrekte biblische Schema noch nicht genügt, damit man die Gegenwart des verklärten Königs in der Mitte der Seinen erfahre. Und man kann von einsichtigen Brüdern Klagen über Geist- und Kraftlosigkeit hören auch in Versammlungen, die mit großem Nachdruck betonen, daß sie nur im Namen Jesu zusammenkommen. Die wahre Grundlage für das Zusammenkommen der Gläubigen kann eben nicht in einem äußerlichen Programm bestehen, und sei dieses Programm an sich noch so schriftgemäß. Das rechte Zusammenkommen der Gläubigen ist nicht eine Sache der äußeren kultischen Form oder der Formlosigkeit, sondern es ist eine Sache des Glaubens, es ist eine ganz und gar persönliche, ganz und gar innerliche, ganz und gar geistliche Sache. Wenn es so nicht behandelt wird, o besteht die Gefahr, daß auch das Heilige zu einem Mittel des Selbstbetrugs wird. Es besteht die Gefahr, daß auch die Berufung auf den allerhöchsten und herrlichsten Namen zu einem äußerlichen formalen Ding, zu einem bloßen Schema herabgewürdigt wird, das nicht mehr inneres Leben weckt, sondern geistlichen Hochmut züchtet. Es können die heiligsten Dinge vom fleischlichen Sinn mißbraucht werden, und es können auch biblische und geistliche Namen, wenn sie zur bloßen Form herabsinken, Bahnbrecher des geistlichen Todes werden.

Und noch ein anderer Umstand sei bei diesem Anlaß zur Sprache gebracht. Wir sind mit der Betonung der Einheit der gläubigen Gemeinde, wie sie in der Literatur der „Versammlung“ immer wiederholt wird, an sich völlig und freudig einverstanden. Wir sind einverstanden mit jedem Einspruch gegen jedes sektiererisches Moment, gegen alle Sonderbündelei und Einspännerei innerhalb der gläubigen Gemeinde. Aber wir müssen in der heiligen Sache der Einheit der Gemeinde vor allem nach den Früchten und praktischen Ergebnissen fragen. Was kommt praktisch bei der scharfen Scheidung heraus, mit der sich die „Versammlung“ von allen Gläubigen trennt? Sie trennt sich von allen, die mit irgend einem Namen sich nennen lassen. Es liegt der Trennung der Protest gegen den Namen der anderen zugrunde.

Nun aber zeigt jeder Blick in irgend ein Nachschlagewerk, daß eben diese Gläubigen unter dem Namen „Darbysten“ verzeichnet werden, was mit dem Sprachgebrauch im Volksmund übereinstimmt. Die Brüder der „Versammlung“ protestieren lebhaft gegen die ihnen beigelegte Bezeichnung, aber tatsächlich wird ihre Geschichte unter diesem Namen gebucht werden. Und es wird praktisch diejenige Gemeinschaft, die wie keine andere den Namen eines Menschen ablehnt, wie keine andere nach dem Namen eines Menschen genannt werden.

Es ist in der Geschichte der „Versammlung“ zu sehr zahlreichen Spaltungen gekommen, ganz im Gegensatz zu der Behauptung, daß nur auf dem Boden der „Versammlung“ die wahre Einheit darstellbar sei. Aber diese einzelnen Gruppen werden nach bestimmen Namen genannt, nach dem Namen derjenigen Persönlichkeiten, die bei diesen Spaltungen hervorragend beteiligt waren. So finden sich in den Lexika die Namen der Kellyten, Cleffiten, Darbyten, Mülleriten etc. etc.. In keiner anderen Gemeinschaft findet sich ein solches Vielerlei von Gruppen und Namen als hier, wo man doch vorgibt, allein die wahre biblische Einheit zu repräsentieren.

Was nun die nach Darby genannte Gemeinschaft betrifft, so ist es eine Tatsache, daß keine andere Gemeinschaft in ihrer Entwicklung und Eigenart so von der Persönlichkeit des Führers bestimmt gewesen ist wie diese. Keiner anderen Gemeinschaft ist so bis in Einzelheiten hinein das Gepräge des Führers aufgedrückt worden wie eben dieser; keine andere verrät so wie diese bis in ihre Literatur und Ausdrucksweise hinein den Einfluß einer überragenden Persönlichkeit mit hohen Geistesgaben und einer großen natürlichen Energie des Willens. Es ist dies eine zwar eigenartige, aber feststehende und nicht wegzuleugnende Tatsache.

Es haben ja auch die Christen der Anfangszeit ihren Namen sich nicht selbst beigelegt. Die heidnischen Antiochener waren es, die, wie der Bericht in der Apostelgeschichte sagt (11,6), ihnen den Namen „Christen“, „Christianer“ beilegten. Ohne Protest von irgend einer Seite konnte dieser Name bis auf den heutigen Tag beibehalten werden. Wie kam es aber, daß jene Heiden mit der Benennung der Gläubigen als Christen das Richtige trafen? Es ist doch wohl zutreffend, wenn man allgemein annimmt, daß dieser Name Zeugnis ablege von den besonderen Eindrücken, die das christliche Gemeindeleben auf die Beobachter gemacht habe. Man hat dort wohl etwas davon empfunden, daß hier wirklich nicht „der Mensch“ leite und wirke, sondern daß Christus im Mittelpunkt des Glaubens, Liebens und Hoffens stehe.

Die „Versammlung“ lehnt es energisch ab, nach dem Namen ihres Führers genannt zu werden. Sie protestiert wie keine andere Gemeinschaft gegen das Überwiegen von menschlichen Namen und Einflüssen. Und doch ist eben diese Gemeinschaft wie keine andere von der Art und den Eigenschaften eines Menschen beeinflußt. Mannigfach und auf die durchgreifendste Weise tritt dieser Einfluß hervor.

Es ist für den, der den Schriftsteller Darby kennt, eine ganz auffallende Erscheinung, wie diese Art in der deutschen Literatur dieser Kreise bis auf die Herübernahme sonst unter uns ganz ungebräuchlicher Worte und Bezeichnungen sich wiederfindet. Selbst die Art, wie Darbys Polemik zugeschnitten war auf den Gegensatz gegen das englische Hochkirchentum, findet sich in der deutschen Literatur wieder. Es werden dabei ganz nach Darbys Art und Ton alle gläubigen Benennungen mit römischen und protestantischen Staatskirchen in eine Linie gestellt, und genau mit denselben Waffen und Worten, mit denen Darby das englische Hochkirchentum bekämpfte, werden deutsche Gemeinschaften von wahren Kindern Gottes bekämpft, uns es wird zur Scheidung von allen unterschiedslos aufgefordert.

Ein Appell an die Bruderliebe

Es drängt uns, wieder und wieder zu betonen, daß wir nicht hetzen und anklagen wollen, wenn wir diesen Dingen hier Ausdruck geben. Wir möchten das starke und freudige Bewußtsein der unbedingten Zusammengehörigkeit mit allen anderen Christusgläubigen nirgendwo verleugnen. Wir sagen die Wahrheit in Christo und lügen nicht, wenn wir den Empfindungen ungefärbter Bruderliebe auch zu den Brüdern der „Versammlung“ entschiedenen Ausdruck geben. Wir hängen mit ihnen als Glieder am Leibe Jesu zusammen. Wir sind nicht gewillt, diesen Zusammenhang um irgendwelcher Meinungsverschiedenheiten willen zu verleugnen. Wir werden diese wunderbaren, in dem Blut und Geist des Erlösers geheiligten Zusammenhänge stets anerkennen. Wir werden sie anerkennen mit all den Segnungen, die sie zu vermitteln bestimmt sind, mit all der Verantwortlichkeit, die sie der Bruderliebe auferlegen. Wir werden mit Gottes gnädiger Hilfe es nie zugeben, daß Spaltungen und Absonderungen innerhalb des Leibes zu Recht bestehen (1. Kor. 12,25). Wir werden nie zu irgend einem Gliede, das nicht gerade an unserem Platz steht und nicht gerade an der uns anvertrauten Aufgabe mitwirkt, sagen: „Ich bedarf deiner nicht!“ Und umgekehrt haben wir das Empfinden, daß auch unsere andersstehenden Brüder unserer bedürfen und daß der Herr ihrer und unserer bedarf, damit unser einheitliches Zusammenwirken gereiche zur Selbstauferbauung des Leibes Christi in Liebe (Eph. 4,16).

Wir sind bereit, alles das zu lernen, was die „Versammlung“ uns zu lehren hat, und zu nehmen, was sie durch ihren Dienst uns zu geben hat. Wir wollen lernen von ihrer Betonung der alleinigen Autorität des Herrn Jesu Christi, des erhöhten Herrn der Herrlichkeit in der Gemeinde der Erlösten; wir wollen es uns sagen und eindrücklich machen lassen, daß wir seine Gegenwart brauchen bis zu einem solchen Maß, daß alles tote Formenwesen auch innerhalb der Gemeinde überwunden werde. Wir wollen uns aufwecken lassen für die Erkenntnis, daß auch alle auf den bloßen Schriftbuchstaben sich gründende, mit heiligen Namen und biblischem Gewande sich deckende Form überwunden werden muß durch die Geistes- und Lebensmacht des gegenwärtigen Christus, damit Gott nach seinem Willen ein Volk habe, das ihn anbete im Geist und in der Wahrheit.

Wir wollen es uns sagen lassen, daß der lebendige Christus in der Macht seines Geistes und seines Wortes so in den Mittelpunkt gehört, daß der überragende, fleischlich geartete Einfluß von Menschen dadurch gebrochen wird. Ob solcher Einfluß ausgeht von Ältesten oder Vorstehern, die ausdrücklich berufen sind, oder von solchen, die auch ohne besondere Berufung diesen Dienst tun, muß dabei freilich ohne Belang sein.

So wollen wir uns nicht absperren gegen Anregungen und Einflüsse heilsamer Art, aus welchen Teilen des Gottesvolkes sie auch kommen mögen. Eben weil wir an der Zusammengehörigkeit der Glieder am Leibe Jesu ohne alle Grenzen und Schranken glauben, eben darum wehren wir uns mit allen Mitteln gegen den Aufruf der korporativen Scheidung von Gliedern Christi. Wir glauben an diese Zusammengehörigkeit der Glieder Christi in jedem Sinn und in jeder Tiefe Es ist uns eine heilige Sache um diese Zusammengehörigkeit. Sie ist uns das Heiligste und Unverletzlichste auf Erden, das eine wahre Heiligtum aus lebendigen Steinen erbaut, die wahre Behausung Gottes im Geiste (Eph. 2,21). Eben darum wehren wir uns dagegen, daß man den Aufruf der Scheidung von wahren Gotteskindern als biblisch begründet, als geist- und gottgewollt hinstellt.

Es hat diese Aufforderung tief bedauerliche Gegensätze heraufbeschworen; es sind schwere Wolken und Neben heraufgezogen, die die freundlichen und herzlichen Beziehungen von Gläubigenkreisen zueinander trüben und verdunkeln. Die „Versammlung“ glaubt, durch die Ablehnung aller Namen und Bekenntnisse die Ursachen der Zertrennung hinweggetan zu haben. Sie glaubt, daß die Einheit der Gläubigen nur auf dem von ihr betretenen Boden verwirklicht werden könne. Die Voraussetzung für diesen Glauben ist nun freilich die völlige unfehlbare Gleichstellung ihrer Auffassung mit dem Schriftzeugnis. Es ist wirklich der Geist einer an Rom erinnernden Unfehlbarkeit und Unbelehrbarkeit, der uns mannigfach in Schrift und Wort der Brüder begegnet. „Es müßte doch die Bibel nicht stimmen, wenn unsere Überzeugung und Stellung nicht richtig sein sollte!“ antwortete naiv ein lieber Bruder dem Schreiber auf seine Frage, wie er denn gewisse Grundsätze der „Versammlung“ biblisch begründen wolle.

Es wird nun freilich solche hochgespannte Gleichwertung der eigenen Anschauung mit dem Schriftganzen immer auf Widerspruch stoßen; sie wird, wo sie mit der Forderung auf Anerkennung auftritt, nicht einigend, sondern zertrennend wirken. Es ist eben nicht so, daß der Herr der Gemeinde einen einzelnen Menschen oder einer Gemeinschaft von Menschen den Alleinbesitz der ganzen Wahrheit übertragen hätte. Keiner von uns ist so Herr und Besitzer der Wahrheit, daß er nicht des Dienstes und der Ergänzung der anderen Glieder am Leibe Christi noch bedürfe. Kein Mensch und keine Gemeinschaft von Menschen hat das Recht, im Namen des ganzen Schriftgehorsams von anderen kritiklos Unterwerfung zu fordern und sich von ihnen loszusagen, wenn dieser Forderung nicht alsbald entsprochen wird.

Die „Versammlung“ glaubt, auf ihrem Boden das Schema gefunden zu haben, auf dem die Einheit der Gläubigen sich verwirklichen läßt. Bedingung für diese Darstellung de Einheit ist ihr aber die unbedingte Zustimmung aller zu ihrer Lehre und Schriftauffassung. Bedingung ist der Austritt aller Gläubigen aus den Kreisen derer, denen sie bis dahin angehörten, und der Anschluß an den eigenen Kreis. Es ist so diese Praxis eine solche der bewußten oder beabsichtigten Zertrennungen unter Gläubigen, zugunsten der eigenen Art und Richtung. Es ist durch diese Praxis dem unheilvollen Prinzip der Sektiererei gefährlichster Vorschub geleistet. Es ist unter dem Einfluß der „Versammlung“ im christlichen Gemeinschaftsleben bis zu einem weitgehenden Maße eine Neigung zu immer neuen Sonderbildungen entstanden. Man hat eine Art von Gewissenserziehung und -bearbeitung eingeführt und befördert, die mehr mit den Mitteln des Buchstabens arbeitet als mit denen des Geistes, mehr mit denen des Gesetzes als des Evangeliums.

Bei einer solchen Bearbeitung der Gewissen wird dann auf einen äußerlichen, formalen Schriftgehorsam aller Wert gelegt, während in demselben Maße, wie die äußerliche Korrektheit, die formgemäße Beachtung des Schemas im Wert steigt, das Wesentliche, das innere Gebundensein an den Herrn, das Leben und Handeln im Glauben und in der Liebe an Bedeutung zurücktritt. Es werden bei solcher mehr pharisäischen als christlichen Gesinnung kleinste Verstöße gegen das bevorzugte Schema zu einem Anlaß der Separation. Für die großen einigenden Gesichtspunkte des Werkes Christi, für die maßgebenden Worte und Wahrheiten des Neuen Testaments geht aber der Blick mehr und mehr verloren.

Es sind oft geringfügige Meinungsverschiedenheiten, die Anlässe zu tiefgreifenden Konflikten geben. Es wird der Irrtum auf eine Weise bekämpft, die nicht geistlich, sondern gesetzlich, mechanisch und gewaltsam ist. Man amputiert einfach vermeintlich oder wirklich kranke Glieder, ohne auch nur den Versuch ihrer Heilung gemacht zu haben. Statt zu erkennen, daß gegenüber den Irrenden und Fehlenden vor allem die Liebe in ihre königlichen Rechte einzutreten hat, damit sie durch ihre wunderbaren Kuren und Mittel, durch ihr Glauben, Tragen und Hoffen von innen heraus Schäden heile - statt dessen bricht man die Beziehungen zu en Schwachen und Gefährdeten rasch ab. Dabei schieb man die Schuld an dem Bruch immer nur dem anderen zu. Weit entfernt, zu erkennen, daß es in erster Linie der eigene rechthaberische, zügellose Geist ist, der die Einheit stört, beschuldigt man die anderen, daß lediglich der Ungehorsam auf ihrer Seite die Einheit zerreiße. Sobald man von diesem Ungehorsam lasse, versichert man sie, sei die Einheit wieder hergestellt.

Man fährt fort, für die Einheit zu eifern, während man einen Weg geht, der von einer Trennung zur anderen führt. Geringfügige Verschiedenheiten in Auffassung und Art führen zu immer neuen Gruppenbildungen. Jede neue Gruppe versammelt sich lediglich auf dem Boden des einen Leibes„, wie der Ausdruck lautet (übrigens ein dem Schriftwort völlig fremder Ausdruck). Jede neue Gruppe fordert alle anderen auf, ihre Untreuen und ihren Ungehorsam aufzugeben und diesen Boden zu betreten, damit die Einheit der Gemeinde Gottes verwirklicht werde. Es haben sich Zustände herausgebildet, die, wenn sie fortdauern, die Sache der gläubigen, auf die Schrift sich gründenden Gemeinde noch zum Gespött ihrer Feinde machen werden.

Es sind diese Zustände ein laut redender Beweis dafür, daß man für eine biblische Wahrheit sich mit großem Nachdruck einsetzen kann, während man doch mit dem innersten Lebens- und Wesensgeheimnis der Wahrheit in traurigstem Gegensacht sich befindet. Man versündigt sich an Grundwahrheiten der Schrift, man verletzt ihren innersten Nerv, man beschneidet und hemmt ihre geheimste Lebenskraft, während man allen Eifer für ihre Geltung einsetzt. Man beruft sich lauf und eifrig auf die Einheit des Leibes Christi, und man macht im Namen der Einheit die Gemeinschaft mit seinen Brüdern zu einer Unmöglichkeit. Man behandelt diese für das Gemeinschaftsleben der Kinder Gottes köstlichste und reichste Wahrheit so, daß genau das Gegenteil von dem dabei herauskommt, was diese Wahrheit wirken und schaffen will. Wenn man es auf die praktische Zerreißung und Vernichtung der heiligsten Bande der Kinder Gottes offen abgesehen hätte, könnten manche Leute nicht anders vorgehen, als sie es tun, während sie doch in feierlichster Weise auf die Wahrheit von der Einheit der Gläubigen sich berufen.

Soll und muß das alles so weitergehen? Ist nicht mehr Geist und Liebe und echter, unverfälschter, biblischer Wahrheitssinn genug in unseren Herzen und in unserer Mitte, daß es zu gesunden Gegenwirkungen gegen den Sektengeist im scheinbiblischen Gewande kommen könnte? Ist es uns nicht mehr möglich, unseren Brüdern die Unhaltbarkeit und Unverantwortlichkeit ihres Tuns vor Augen zu stellen? Gibt es kein Mittel und keinen Weg mehr, um es ihnen zu zeigen, daß sie sich bei ihrer Berufung auf die Schrift bei guter Meinung doch in einem sehr schweren Irrtum befinden? Ist niemand da, in dessen Herzen die Flamme der Christusliebe so brennt, daß es ihn nicht mehr ruhen läßt, bis er sich aufmacht, um es seinen Brüdern in Liebe und in der Kraft des Heiligen Geiste zu sagen, daß sie schwer irren in der Behandlung der köstlichsten Schriftwahrheit von der Einheit der gläubigen Gemeinde?

Gibt es nicht Worte, gibt es nicht Wege und Mittel der Liebe, um den Brüdern Wahrheit in der Liebe so zu sagen, daß es ihnen zu einer inneren Unmöglichkeit wird, es zu überhören und zu übersehen, daß es noch mehr zu einer Unmöglichkeit wird, solche Bitten und Wohnungen mit dem Vorwurf der Anmaßung, des Hochmuts und der Parteisucht, wie es leider geschehen ist, zu beantworten und in den Wind zu schlagen?

Seit Jahren hat, der dies schreibt, so gefragt und so geharrt, und er muß sich nun in großer Schwachheit selber daran machen, um in Bemühungen und Darlegungen, deren Ungenüge und Schwachheit er tief empfindet, sich eine Last vom Herzen herunterzuschreiben. Und er bittet seine Brüder herzlich und dringend, seine Worte und Bemühungen um ihrer Schwachheit willen nicht zu verachten, sondern die trauernde und suchende Liebe, die trotz der Schwachheit doch da ist, und die Wahrheit, die trotz des Mangels doch wirkt, freundlich und willig aufzunehmen.

Es muß ja doch bei allen, die wahrhaft den Geist Jesu Christi haben, der Ort im Herzen noch gefunden werden können, wo der Hauch der Liebe gespürt wird. Mit dieser Empfänglichkeit für Wirkungen, die durch das erhöhte Haupt vermittelt sind bei allen Gliedern, darf ich für die Aufnahme meiner schwachen Bemühungen doch rechnen. Und vor allem dürfen wir alle gemeinsam damit rechnen, daß Jesus ist der Retter seines Leibes. Und weil er es ist, darum dürfen wir auch das Vertrauen und die Hoffnung nicht wegwerfen. Wir dürfen im Blick auf ihn glauben und hoffen, daß doch noch Zeiten gnädiger Heimsuchung kommen werden über das Volk des Herrn, Zeiten, wo jene schweren Nebel und Wolken, die sich gelagert haben zwischen ganzen Teilen der gläubigen Gemeinde, dem Sonnenlicht der Wahrheit und Liebe in Christo einmal weichen müssen. Wir dürfe in Glaubensblick auf das erhöhte Haupt der Gemeinde erwarten, daß noch Tage kommen werden, wo das aus Gott geborene Volk sich ermannt, um von lästigen Alpdrückendes Sektengeistes sich zu befreien und an gemeinsame Aufgaben mit vereinter Kraft heranzutreten.

Aus dem freien Walten und Wirken des Geistes der Freiheit ist das Volk Gottes geboren. Dem freien Walten und Herrschen des Geistes allein ist es unterworfen. Wo aber der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit (2. Kor. 3,17). Der Geist des Herrn führt nicht zur Einheit, indem er Anerkennung für ein einheitliches Lehr- und Versammlungsschema fordert, sondern er erzieht zur Einheit, indem er die Liebe Gottes in die Herzen ausgießt. Durch die in der Liebe sich vollziehende Herrschaft des Geistes allein werden getötet die Geschäfte des Fleisches, aus denen alles Parteigezänk und alle Zwietracht kommen. Und aller kleinliche Parteihader, alles pharisäische Zerren und Zanken um Dinge der Form und der Äußerlichkeit, müssen ersticken und ersterben in der Glut und Kraft des Christusgeistes, wo er nur immer sich der Herzen bemächtigen kann.

Die im Heiligen Geist bestehende Freiheit ist kein Freibrief für Willkür. Niemals befördert wahre geistliche Freiheit Unordnungen und Zügellosigkeiten, weder in der Lehre noch im Leben. Im Gegenteil bedeutet diese Freiheit, da wo sie ihr wahres Geheimnis offenbaren kann, den Sieg über alles willkürlich eifernde, unordentliche Wesen. Es hat diese Freiheit ihre Grundlagen in der Erlösung von dem zerreißenden und zertrennenden Mächten der Sünde und der Selbstsucht. Sie ist das stärkste Gegengift gegen den Sektengeist mit seinen traurigen, zerrüttenden Wirkungen. Eben darum kann nur in der Luft der geistlichen Freiheit die Einheit der gläubigen Gemeinde recht erblühen. Nur auf dem Boden und in der Atmosphäre der Freiheit kann diese Einheit ihre segensreiche, hundertfältige Frucht bringen.

Um irgendwelchen Fragen über die persönliche Stellung des Verfassers zu begegnen, sei hier offen gesagt, daß er Glied einer Gemeinde ist, die den Namen „Freie evangelische Gemeinde“ führt. Solange es große Volks- und Staatskirchen gibt, und solange innerhalb der gläubigen Gemeinde verschiedene Richtungen bestehen, die sich voneinander unterscheiden, solange werden bestimmte Unterscheidungsmerkmale praktisch nicht entbehrlich sein. Der Verfasser sieht nicht den mindesten Anlaß, um des bezeichnenden Namens willen sein Verhältnis zu der betreffenden Gemeinde zu lösen. Der biblische Name für die örtliche Versammlung der Gläubigen wie für die Gesamtgemeinde ist „Gemeinde“. Da sich aber auch die Massengemeinden der Staatskirchen Gemeinden nennen, so ist eben eine Unterscheidung gegenüber diesen Gemeinden notwendig, die in dem Beiwort „Freie“ Gemeinde gefunden worden ist. Da es aber auch katholische und freireligiöse Gemeinden gibt, so erklärt das Beiwort „evangelische“ Gemeinde klar das Wesen dieser Gemeinde im Unterschied von den anderen. Biblisch im Sinne und Geist der Heiligen Schrift ist der Name, der das Wesen und die Eigenart einer Sache im Unterschied vom anderen am klarsten zum Ausdruck bringt.
Es ist uns bisher noch keine Benennung bekannt, die einerseits der biblischen Bezeichnung unbedingt treu bleibt, und die doch andererseits die zur Unterscheidung von anderen Gemeinden notwendigen Momente in sich aufnimmt. Offen und ehrlich mag dieser Name, so wie er lautet, in den Büchern der Geschichte gebucht werden. Es war mir dieser Name bisher keineswegs ein Hindernis, mich zu der Einheit der gläubigen Gesamtgemeinde zu bekennen und diese Einheit, wo und wie nur immer möglich, anzuerkennen. Man will weder mit dem Namen noch mit der Sache irgendwie Grenzpfähle setzen gegen andere Denominationen. Ich würde nun zwar mit vielen meiner Brüder sofort mit Freuden bereit sein, auf den bezeichneten Namen zu verzichten, wenn dadurch die Darstellung der Einheit der Gesamtgemeinde im mindesten eine Förderung erfahren würde. Das vermögen wir aber nicht zu erkennen. Im Gegenteil würde der Verzicht auf den seit vielen Jahrzehnten bestehenden Namen wahrscheinlich praktisch nur den Erfolg haben, daß neue Gruppen entstünden, und statt des aufgegebenen Namen neue, noch viel weniger annehmbare Namen entstünden. Wir möchten aber lieber nicht leben, als der Neubildung von Parteien innerhalb der Gemeinde auf irgend eine Weise Vorschub leisten.

Gustav Friedrich Nagel
Buchhandlung der Stadtmission Witten, 1913

Cookies helfen bei der Bereitstellung von Inhalten. Diese Website verwendet Cookies. Mit der Nutzung der Website erklären Sie sich damit einverstanden, dass Cookies auf Ihrem Computer gespeichert werden. Außerdem bestätigen Sie, dass Sie unsere Datenschutzerklärung gelesen und verstanden haben. Wenn Sie nicht einverstanden sind, verlassen Sie die Website.Weitere Information
autoren/n/nagel/nagel-die_zerrissenheit_des_gottesvolkes.txt · Zuletzt geändert: von 127.0.0.1
Public Domain Falls nicht anders bezeichnet, ist der Inhalt dieses Wikis unter der folgenden Lizenz veröffentlicht: Public Domain