Müller, Heinrich - Von der Beschaffenheit eines wahren Christen.

Müller, Heinrich - Von der Beschaffenheit eines wahren Christen.

Stets anheben ist der Christen Leben.

Daß man so trag und säumig im Christenthum ist, wie kommts? Man denkt schon ans End, und der Anfang ist noch nicht gemacht. Ich wollte, daß Paulus Sprüchwörtlein nicht so bekannt und gemein wäre, als es ist: Ich habe einen guten Kampf gekämpft, ich habe meinen Lauf vollendet. 2. Tim. 4, 7. Mancher denkt ans Kleinod, und hat kaum angefangen zu laufen; mancher an die Krone, und hat kaum den Feind gesehen. Ich will nicht, daß unsere Christen solche Anfänger sein mögen, die alsbald im Anfang still stehen und nicht fürder kommen. Nein, das Ende krönt. Besser nicht angefangen, als angefangen und nicht geendigt. Das will ich aber, daß unsere Christen sich nicht einbilden sollen, sie haben schon ergriffen, wornach Andere noch jagen müssen, sie seien schon vollkommen, dürfen nicht weiter. Denn aus solcher Einbildung kommt alle Trägheit im Christenthum, daß man sich nicht bemühet völliger zu werden. Ein Pfeil, wenn er vom Bogen losgedrückt wird, schießt im Anfang schnell fort, je näher er aber zum Ziel kommt, je langsamer wird er, und fällt endlich zur Erde. Christen, die da gedenken, sie haben heut erstlich angefangen zu werden, was sie werden sollen, sind eifrig und lassen nicht ab, bis sie das Ziel der Vollkommenheit erreichen; die sich aber einbilden, sie haben heute nicht erst angefangen Christen zu werden, sondern haben, das Ziel schon eingeholt, werden langsam und verdrossen, bis der Eifer ganz erlöscht. Junge Leute sind im täglichen Wachsthum, alte nehmen ab; wer sich für einen jungen anwachsenden Christen hält, bemüht sich immer zuzunehmen; wer sich aber dünken läßt, er sei zum vollkommenen Alter in Christo schon gekommen, nimmt mehr ab als zu. Das Alter geht doch immer bergab, nicht bergan. Ach, wie weit sind wir noch von der Vollkommenheit! Wie kurz ist die Zeit! Wie viel Hindernisse finden sich im Guten? Teufel, Welt und Fleisch sind immer geschäftig. Wie oft werden wir alsbald im Anfang niedergeschlagen? So wir nicht wollten einen neuen Vorsatz fassen und einen neuen Ansang machen, wie wäre es möglich, daß wir ein gutes Werk zu Ende bringen könnten? Kaum hast du angefangen vom Gebet des Herrn die ersten Worte Unser Vater zu sprechen, alsbald fallen dir unnütze Gedanken ein. Wolltest du fortfahren, würdest du ja vor Gott deine unnützen Gedanken ausschütten. Wie mögen ihm die gefallen? Wolltest du ablassen? Was nützt, daß du angefangen? Mein Rath ist dieser: Jag die unnützen Gedanken weg, und mache einen neuen Anfang. Glaub mir, ich muß oft wohl zwanzig mal anfangen, ehe ich ein Vater Unser mit Andacht kann zu Ende bringen. Stets anheben ist der Christen Leben. Hab ich schon 99 guter Gedanken und guter Werke beieinander, fehlt mir noch immer eins, die gänzliche Verleugnung meiner selbst. Darnach muß ich suchen, so lang ich lebe, und so oft ich mich finde, von neuem anfangen mich wiederum zu verleugnen.

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