Müller, Heinrich - Vom Selbsterkenntniß.

Müller, Heinrich - Vom Selbsterkenntniß.

Seltsam und doch nöthig. Schwer und doch nützlich.

Die Nothwendigkeit sollts gemein, der Nutz leicht machen. Wie heißts? Kenne dich selbst. Was ist seltsamer als sich selbst kennen? Ich hab noch wenig gesehen, auch unter den Allerfrömmsten, die sich selbst nicht sollten geliebt haben. Sind sie vor Andern von Gott begabt, oder thun sie für Andre ein gutes Werk, hilf Gott! wie gefallen sie sich selbst, wie verwundern sie sich über sich selbst, wie viel halten sie von sich selbst, wie spiegeln sie sich in ihren Gaben und Werken, wie der Pfau in feinen Federn! Wenns nicht hieße, eigen Lob stinkt, würden sie sich kaum des Selbstlobs enthalten, habens unterdeß gern, daß sie ein Andrer lobt; verachtet man ihre Person, verkleinert man ihre Gaben oder Werke, klagen sie darüber, als über groß Leid, meinen, die Welt fei ihrer nicht werth, weil sie nicht erkennt, was sie an ihnen für einen Schatz habe; sie seiens allein, die Gott im Schooß sitzen, an alle andern kehr er sich nicht, um ihres Gebets willen thue er Ländern und Städten wohl, mit ihnen müsse die Kirche untergehn, und alle Frömmigkeit sterben. Wolltest du wohl glauben, daß solche sich selbst kennen? Ach nein. Wer sich kennt, wird sich nicht lieben. Wer liebt, was nichts ist? Er wird von sich selbst nichts halten, weil er in seinem Grunde nichts Gutes findet. Was er Gutes hat und thut, wird er nicht sich selbst, sondern Gott als dem Geber und obersten Werkmeister zueignen. Niemand brüstet sich in fremden Kleidern, und die Art rühmet sich nicht, daß sie das Haus gebaut habe. Er lobt sich selbst nicht, hats auch nicht gern, daß ihn ein Andrer lobt, weil er nichts an sich findet, was lobenswerth sei; Niemand kann ihn so tief verachten, als er selbst thut, ihn dürstet nach Verachtung, und ist nimmer besser zufrieden, als wenn ihn Jedermann verachtet; er hält sich für den Allergeringsten, und Jedermann höher und heiliger als sich selbst. Aber sag mir, wo findest du einen solchen? Das lieb dich selbst ist das Allergemeinste, das kenn dich selbst das Allerseltsamste, und doch das Allernöthigste. Ohne Selbsterkenntniß wird Niemand selig; denn wo kein Selbsterkenntniß ist, da ist kein Glaube. Wer sich selbst nicht erkennt, traut nicht auf Gott, sondern auf sich; sucht nicht in Christo seine Gerechtigkeit, sondern in sich selbst und seinen Werken; sieht den Himmel an, nicht als ein Erb- sondern als ein Werbgut, will ihn nicht geschenkt, sondern verdient haben. Wie kann ein solcher selig werden? So nöthig die Selbsterkenntniß ist, so nützlich ist sie auch. Brechen und bauen bringt einem Christen den besten Nutzen; die Sünde muß Abbruch leiden, der Tugendbau fortgesetzt werden. Wer sich selbst erkennt, weiß, welchen Lastern er von Natur am meisten zugethan, und welchen Tugenden er am meisten Feind sei; die Laster bestreitet er am heftigsten, den Tugenden strebt er am eifrigsten nach. Siehe, so nöthig, so nützlich, und doch seltsam. Was machts? Schwer, schwer. Im Selbsterkenntniß gelangt man durch tägliche Prüfung. Der Grund ist tief, Niemand will sich hineinwagen; Mancher scheut und schämt sich hinein zu gehn, daß ihm der Greuel der Verwüstung vor Augen komme; Mancher hat mit Andern so viel zu thun, daß er sein selbst vergißt, vor Anderer Thüren fegt er, vor seiner eigenen bleibt aller Unrath liegen. Ich will auf meine eigne Brust schlagen, und nicht auf Andere den Finger strecken. Mich selbst will ich kennen lernen, und meine Werke prüfen, ob sie aus Christo oder Adam gangen, zu Gottes oder eigner Ehre gerichtet worden. Das wird mir dienen zu meiner Selbstbesserung und Wachsthum in der Heiligung.

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