Monod, Adolphe - Der Beruf der Kirche.

Monod, Adolphe - Der Beruf der Kirche.

Apg. Lucas 2, 37-43.

“Da sie aber das hörten, ging es ihnen durchs Herz und sprachen zu Petro und zu den andern Aposteln: Ihr Männer, lieben Brüder, was sollen wir tun? Petrus sprach zu ihnen: Tut Buße und lasse sich ein jeglicher taufen auf den Namen Jesu Christi zur Vergebung der Sünden, so werdet ihr empfangen die Gabe des heiligen Geistes, Denn euer und eurer Kinder ist diese Verheißung, und aller die ferne sind, welche Gott, unser Herr, herzurufen wird. Auch mit vielen andern Worten bezeugte er und ermahnte und sprach: Lasst euch helfen von diesen unartigen Leuten, Die nun sein Wort annahmen, ließen sich taufen und wurden hinzugetan an dem Tage bei dreitausend Seelen, Sie blieben aber beständig in der Apostel Lehre und in der Gemeinschaft und im Brotbrechen und im Gebet, Es kam auch alle Seelen Furcht an, und geschahen viele Zeichen und Wunder durch die Apostel. Alle aber, die gläubig geworden, waren bei einander und hielten alle Dinge gemein. Ihre Güter und Habe verkauften sie und teilten sie aus unter allen, nachdem jedermann noch war. Und sie waren täglich und stets bei einander einmütig im Tempel und brachen das Brod hin und her in den Häusern; nahmen die Speisen und lobten Gott mit Freuden und einfältigem Herzen und hatten Gnade bei dem ganzen Volk. Der Herr aber that hinzu täglich, die da selig wurden, zu der Gemeine.“„

Meine Brüder!

Seit einigen Jahren und besonders seit der furchtbaren Erschütterung, die unsre letzte politische Revolution unserm Lande und der Welt gab, trägt sich in unsrer heutigen religiösen Erweckung eine Veränderung zu, die man so bezeichnen kann, dass die Erweckung von dem einzelnen Gläubigen in die Kirche und von der Wiedergeburt des Einzelnen in die Wiedergeburt der Gesamtheit übergeht. Ich erwähne nur, was sich in der evangelischen Kirche Frankreichs begibt, obgleich eine ähnliche Bewegung in allen evangelischen Kirchen der Christenheit bemerkbar ist. Da unsre religiöse Erweckung, die unmittelbar dem allgemeinen Frieden folgte, das erste Menschenalter hinter sich hat und in das zweite getreten ist, tritt sie zugleich in eine neue Entwicklungsphase.

Sie stand im Anfang einem allgemeinen Unglauben und großer Gleichgültigkeit gegenüber, die der kirchlichen Zerrüttung nicht abhalf, die sie kaum einmal fühlen ließ, deshalb richtete sich die Erweckung nur darauf, den erloschenen Glauben in den Herzen Einzelner anzufachen; sie verkündigte ihnen Jesus, den im Fleisch geoffenbarten Gott, der die Erlösung für unsre Sünden ist, und der aus freier Gnade durch den Glauben den durch seine Werke verlorenen Menschen beruft, rechtfertigt, erneuert und erlöset. Heutigen Tages kann man diese Lebenslehre, die vor dreißig Jahren fremd erschien, wohl als in das kirchliche Bewusstsein übergegangen ansehen; die Leichtigkeit, mit der sie gegenwärtig von der Gemeinde angenommen wird, erspart dieser Lehre einen ernsten Kampf und überhebt sie zu gleicher Zeit der damit unvermeidlich verbundenen Aufregung. Deshalb fordert jetzt der Erweckungstrieb zu neuen Eroberungen durch neue Kämpfe auf. So eifrig die Erweckung auch ist, die evangelische Wahrheit dem Unwissenden zu verkündigen und sie gegen den Leugner zu verteidigen, so ist dies doch nicht mehr ihre Hauptaufgabe: diese Stellung hat sie schon gewonnen, und so sehr sie dieselbe auch zu behaupten trachtet, so treibt es sie doch vorwärts, eine andre zu erlangen. Diese andre Stellung ist die praktische Verwirklichung des christlichen Glaubens im Leben nicht dieser oder jener einzelnen Personen, sondern einer Gesellschaft, in welcher er zugleich an äußerem Umfang und an innerer Tiefe gewinnen kann, indem er sein Wesen ganz und auf jede Weise darin entfaltet. Mit einem Worte, es ist die Zeit gekommen, dass dem Gläubigen in der Kirche die Kirche der Gläubigen folge.

Aus allem, was uns umgibt, geht die Wahrheit dieser Bemerkung hervor. Wer sieht nicht, dass mit Recht oder Unrecht die kirchliche Frage von einem Jahr zum andern überall, wo die Erweckung sich Bahn brach, bedeutender wird? Wer erkennt es nicht, dass die Streitfragen unserer Zeit in der Religion wie auch in der Politik innere Streitfragen sind, und dass die wirklichen Streitigkeiten weniger zwischen Gläubigen und Ungläubigen über die Wahrheit des Evangeliums geführt werden, als unter den Gläubigen selbst über die Verbesserung der alten und die Einrichtung der neuen Kirche? Wer sieht nicht ein, dass wir die lebhaftesten Streitigkeiten in unfern Zeitungen, Flugschriften und Büchern in dem einen Wort Kirche zusammenfassen können, und dass die Lehre selbst mit in diese Bewegung hineingezogen wird, die durch eine seltsame Begriffsverwirrung der Kirche die Stütze entlehnt, die sie ihr geben sollte? Wer erkennt es nicht, dass die frommen Leute, die aus den bestehenden Kirchen austreten mit denen, die darin bleiben, nicht so sehr über die Eigenschaften der gläubigen Kirche, als über die Mittel abweichender Ansicht sind, wie dieselben zu verwirklichen seien, und dass das ganze Gottesvolk mit gleichem Eifer an der zukünftigen Kirche arbeitet, wie Noah an feiner Arche als einziger Zuflucht gegen die kommende Sündflut? Ja ich könnte auch auf eine besondere Richtung unseres Jahrhunderts verweisen, so fremdartig es auch dieser Sache zu sein scheint. Unser Jahrhundert ist der verwirrenden Lehrgebäude und der täuschenden Verwirklichung müde und sehnt sich nach einer Lehre, die praktisch und uneigennützig genug ist, um die Leiden der Menschheit zu heben und sie in den Besitz der ihr vom Schöpfer bestimmten Segnungen zu setzen; es erträumt und erstrebt eine neue Gesellschaft, die sich auf Entsagung und Liebe gründe. Es fehlt ihm nur, - doch beginnt es allem Anschein nach schon, - zu begreifen, dass Jesus Christus allein, der den Gedanken des Himmelreichs auf Erden aufstellte, ihm auch die Erfüllung geben kann, dass die Grundsätze Jesu Christi ihre Anwendung nur in der Gemeinschaft Jesu Christi, in der wahren christlichen Kirche finden können. Das Jahrhundert fühlt dies unklar heraus und hofft auf seine Art eine christliche, ihres Namens würdige Kirche, die ihrem Beruf getreu sei.

Ich glaube einem allgemeinen Bedürfnis der heutigen Kirche zu entsprechen, wenn ich die Frage zum Gegenstand meiner Betrachtung mache: Worin besteht der Beruf der Kirche, und wie muss die Kirche beschaffen sein, die demselben entspricht? Ich verstehe hier unter Kirche nicht die besondere Kirche, an der ich angestellt bin, sondern die sichtbare allgemeine Kirche Jesu Christi von dem Gesichtspunkte aus, wie sie sein sollte, nicht wie sie ist, betrachtet. Ich stelle mich demnach auf einen erhabenen, geistigen Gesichtspunkt: die Aufgabe, die ich von demselben aus beleuchten möchte, wird allen jetzt bestehenden Kirchen auferlegt, - ach! müsste ich nicht hinzufügen: die Verbesserung, auf die ich dringe, ist für alle gleich notwendig!

Ich habe in meinem Bestreben euch den Beruf der Kirche zu schildern zwei Klippen zu vermeiden: die eine ist die poetische Auffassung, die euch ein rein erdachtes Bild zeigen, die andere die nur geschichtliche, die das, was die Kirche sein sollte, ganz zu dem erniedrigen würde, was sie ist. Um beide zu vermeiden bleibt mir kein sichereres Mittel, als dass ich die erste Kirche in Jerusalem zum Vorbild nehme, in der sich die lebendige Wirklichkeit mit fast idealer Schönheit vereinigt. Hier belauschen wir die Kirche in ihrem Entstehen, ehe sie Zeit hat, die großen, einfachen und ursprünglichen Züge, die ich euch gern zeigen will, unter örtlichen Formen zu verhüllen; oder sollten wir auch in ihr gewisse örtliche Formen finden, denn sie sind nun einmal vom Bestehen unzertrennlich, so sind es doch die natürlichsten, die kindlichsten, die dem Leben, wenn ich mich so ausdrücken darf, am nächsten stehenden. Die Kirche zu Jerusalem ist die lebendige Kirche, aber sie ist noch nicht organisiert, und das ist es gerade, was zu der Untersuchung, die mich beschäftigt, erforderlich ist. Das gleiche Urteil fällt auch der heilige Geist darüber, denn er stellt uns keine organisierte Kirche zur Nachahmung auf, er entzieht die Kirche in Jerusalem, sobald sie eine feste Einrichtung erhält, unfern Blicken. Außer diesem Grunde, der schon allein genügte, diesen Text zu wählen oder, sollte ich sagen, anzunehmen, da er sich von selbst meinem Geiste darbot, treibt mich auch noch eine Rücksicht der Liebe. Der Gegenstand meiner heutigen Betrachtung erheischt ein gewisses Zartgefühl wegen der Meinungsverschiedenheit der besten Christen über die Kirchenfrage; ist aber dies noch nötig, wenn ich die Frage in die Kirche von Jerusalem, auf den Boden der brüderlichen Liebe selbst übertrage? Mein Text hat den Vorzug, dass er alle Punkte der Kirchenverfassung, welche die Kinder Gottes von einander trennen, im Dunkel lässt, aber vor unsern Augen einen Schatz allgemeiner Liebe ausbreitet, der von allen mit gleicher Lust betrachtet und mit gleichem Stolz der Welt gezeigt wird. -

Da die Kirche von Jerusalem die erste ist, welche die Welt sah, so belehrt sie uns schon durch ihr bloßes Bestehen, worin sich zum ersten Mal die große Tatsache der Kirche und ihr allgemeiner Beruf offenbart.

Ich kann diesen Beruf nicht kürzer und vollständiger zusammenfassen, als die heilige Schrift selbst tut, wenn sie die Gemeine für Christi Leib erklärt. (Eph. 1, 22, 23 u. a.) Je länger man über diese Erklärung nachdenkt, desto mehr Wahrheit und Licht findet man in derselben. Für Jesus Christus ist die Gemeinde, was für unsre Seele der Leib ist, durch den sie mit der Außenwelt in Beziehung tritt: der Leib beweist die Gegenwart der Seele und vermittelt ihre Handlung; die Gemeinde dient zum Merkmal der Gegenwart Jesu Christi und zum Werkzeug seiner Tätigkeit. Diese Vergleichung erinnert mich an eine andre, welche die Schrift in demselben Gedankengange noch tiefer schöpft: die Gemeinde ist für Jesus Christus, was für Gott, den niemand je gesehen, hat, der eingeborne Sohn ist, „der ihn uns verkündiget hat,“ denn „in ihm wohnet die ganze Fülle der Gottheit leibhaftig.“ (Col. 2, 9) Wie Jesus Christus in seiner menschlichen Natur besser als die Welt in allen ihren Werken „Gottes unsichtbares Wesen“ (Röm. 1, 20) erkennbar machte, so dass er sagen konnte: „Wer mich stehet, der stehet den Vater“ (Joh. 14, 9), - so ist die Gemeinde, welche „die mannigfaltige Weisheit Gottes“ (Eph. 3,10), (deren Sitz und Quelle Jesus Christus ist) zur Verteilung unter ihre verschiedenen Glieder erhalten hat, nach Paulus' erhabenem Ausdruck „die Fülle des, der alles in allem erfüllt“ (Eph. 1,23), und gibt der Welt auf gewisse Weise Jesus Christus wieder, der zwar den leiblichen Blicken unsichtbar ward, aber durch seinen heiligen Geist bei ihr ist bis an der Welt Ende (Matth. 28, 20). Ja noch mehr, sie gibt ihn nicht nur denen, die ihn gesehen haben, zurück, sie zeigt ihn auch solchen, die ihn niemals gesehen haben. Er ist in den Tagen seines Fleisches nur einem einzigen Lande und Volke vor Augen getreten, aber seine Kirche ist in allen Zonen verbreitet, sie trägt den Namen und das Bild des Heilandes über die ganze Erde und strebt dahin, das Urbild des menschlichen Wesens, das in ihm ist, aus seiner geschichtlichen Wirklichkeit in eine lebendige, immer gegenwärtige Wirklichkeit zu übertragen.

Fasset ihr den ganzen Werth dieses Berufes? Wohl ist es wahr, dass die Kirche das Leben nicht schafft, aber sie sammelt es und fasst es zusammen; dadurch erzeugt sie ein gemeinsames Leben, das seinen eigentümlichen Nutzen hat, indem es kräftig auf das einzelne Leben, von dem es ausgeht, zurückwirkt. Tic Gläubigen sind schon, ehe die Gemeinde ist, und jeder vertritt an seinem Theil Jesus Christus ans der Erde. „Denn wir sind Glieder seines Leibes, von seinem Fleisch und von seinem Gebeine.“ (Eph. 5, 30). Diese Glieder sind aber vereinzelt und ermangeln des gemeinsamen Lebens oder wenigstens eines dem Menschenauge erkennbaren gemeinschaftlichen Lebens bis zu dem Tage, wo der heilige Geist sie einander nähert, sie aneinander fügt und zu einem Leibe vereinigt, der die Kirche bildet. Dadurch wird sofort jedes einzelne Glied an seinen Platz gestellt und in die ihm entsprechenden Verhältnisse gebracht, und so kann es unter möglichst günstigen Bedingungen die Aufgabe erfüllen, die ihm bestimmt ist; ihre Vereinigung bringt ein zugleich mannigfaltiges und einheitliches Wesen an's Licht, welches Jesus Christus bezeugt oder besser gesagt personifiziert, und durch eine wunderbare Vereinigung des Einzellebens mit dem einer Vielheit das christliche Leben zur höchsten Vollendung erhebt, die es erreichen kann. In der Kirche also müssen wir die praktische, sichtbare, tatsächliche Entfaltung sowohl des inneren als des äußeren christlichen Lebens suchen; von der Kirche sowohl das vollendete Wachsen Jesu Christi in den Seinigen, als die vollständige Offenbarung Jesu Christi vor der Welt fordern; kurz die Kirche ist das letzte Wort des Evangeliums. Bemerket wohl, sie ist dies um so mehr, da sie es durch ihre geheime, unbewusste Lebenskraft ist. Die gemeinsame Tätigkeit der Kirche unterscheidet sich wesentlich von der verabredeten Tätigkeit einer Gesellschaft: die Tätigkeit der Kirche ist die Frucht nicht der Verabredung sondern der Übereinstimmung; sie äußert sich nicht durch Verhandlungen, sondern in geistiger freier Weise und ohne sich selbst davon Rechenschaft zu geben. Ich kann sie nur der dem Körper und der Seele gemeinsamen Tätigkeit vergleichen, die in einem um so vollkommeneren Einklang mit einander wirken, da ihr Thun nicht aus einem Entschluss sich zu nähern und zu verständigen hervorgeht.

Diese schöne Theorie hat sich in der Kirche zu Jerusalem verwirklicht. Sie gibt Jesus der Welt wieder, für die er verloren zu sein schien. Seine Feinde hofften, dass sie ihn auf immer von der Erde vertrieben hätten; seht, er erscheint auf's Neue, wandelt in Jerusalems Straßen, besucht den Tempel, heilt die Kranken und vergibt die Sünden; er tut dies wie früher, ja noch besser in Gestalt seiner Kirche, die ihm als sichtbare aber durchsichtige Hülle dient. Wir danken es der Kirche, dass die Gegenwart Jesu Christi niemals fühlbarer war, als da sie unsichtbar und geistig wurde. Ist doch die Gründung der Kirche das Werk des heiligen Geistes, der Jesus Christus der Welt deutlicher als er selbst offenbart. Jesus Christus beschränkt sich während seines irdischen Wandels auf ein individuelles Predigtamt: er umgibt sich mit Jüngern, die er durch seine Lehren und durch die Taten seines Lebens, seines Todes, seiner Auferstehung zum Glauben bringt; die Kirche aber gründet er nicht, obgleich er ihrer erwähnt, als wäre sie schon da; man könnte sagen, er eilt mit heiliger Ungeduld der Zeit voraus, wo sie erscheinen wird. - - Tiefe Zeit kommt endlich; es ist derselbe Tag, an dem der heilige Geist ausgegossen wird: der Geist senkt sich vom Himmel hernieder, und auf Erden entsteht die Kirche. Es genügt, dass man das Kapitel, aus dem ich meinen Text genommen habe, und besonders die demselben vorhergehenden Verse lese, um zu erkennen, dass das unerhört Neue, welches die Kirche von Jerusalem der Welt vor die Augen stellt, gänzlich das Werk und der Ruhm des heiligen Geistes ist; er sammelt Jesu Christi Jünger in des Herrn Namen und bildet daraus den Leib Jesu Christi. Die hervorragende Stelle, die der heilige Geist einnimmt, offenbart sich schon durch die Ordnung, in der sich die Dinge hier zutragen; sie ist die entgegengesetzte von derjenigen, die bei Erschaffung des Menschen beobachtet wurde. Bei Erschaffung des Menschen entsteht der Leib zuerst und erhält dann von Gott den Odem, der aus ihm eine lebendige Seele macht; bei der Bildung der Kirche, wie auch bei dem Menschwerden des Gottessohnes kommt der heilige Geist zuerst und nimmt den Leib an, in dem er sichtbar werden und auf Erden wirken will. (1. Kor. 15, 45-47.) Nun beginnt neben der Predigt der Apostel, die der heilige Geist mit einer neuen Kraft auegerüstet !at, eine noch mächtigere Predigt des Volkes Gottes: dieses zeiget und stellet dar, was die Apostel verkündigten, und das Wort wird in der Kirche zur That. Dieser Übergang Jesu Christi in den heiligen Geist und der ersten Gläubigen in die erste Kirche hat eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Übergang, den wir vorhin unter uns bemerkten, und durch den unsre Erweckung aus der ersten Gestaltung in die zweite eintritt; so liegt es in der Natur der Dinge, die sich nicht mit der Zeit ändert: das Evangelium wirkt seiner geistigen Eigentümlichkeit gemäß von innen nach außen, es fängt mit der Wirkung auf den Einzelnen an und gelangt später durch den Einzelnen zu einer Massenwirkung.

Worin besteht aber diese Wirkung, die der eigentümliche Berns der Kirche ist? Das Bild der ersten Kirche belehrt uns auch hierüber; wir brauchen nur die Ordnung, die uns der Apostel selbst vorhält, zu beobachten. Er betrachtet die Kirche in dreifacher Beziehung: in ihrem Verhältnis zu Gott, von dem sie ausgeht; in ihrem Verhältnis zu den Gläubigen, aus denen sie besteht, und in ihrem Verhältnis zu der Welt, aus der sie sich ausscheidet. Daraus ergeben sich die drei Lebensäußerungen des heiligen Geistes in der Kirche: das religiöse Leben in Beziehung auf Gott; das brüderliche Leben in Beziehung zu den Gläubigen; das Missionsleben in Beziehung zu der Welt.

Das kirchliche Leben beginnt in Gott: „Sie blieben aber beständig in der Apostel Lehre, im Brotbrechen und im Gebet.“ So ist also das religiöse Leben der ersten Kirche und das geheime Triebrad des weltlichen Lebens ihrer Glieder beschaffen. Ich spreche von ihrem weltlichen Leben, denn die Kirche ist kein Kloster, und nichts gibt uns zu dem Gedanken Veranlassung, dass sie sich dem tätigen öffentlichen oder Privatleben entzogen. Zwischen dem unfruchtbaren Klosterleben und zwischen dem unheiligen Leben der Welt liegt ein religiöses Leben, welches sich mit dem Himmel erfüllt, um ihn auf die Erde zu versetzen, und sich unaufhörlich an der Gemeinschaft mit Gott stärkt, um seine irdische Aufgabe zu vollbringen. Es stärkt sich aber nicht durch die Betrachtungen einer leeren, anmaßenden Frömmelei, sondern durch den demütigen und gehorsamen Gebrauch der geistigen ihm von Gott vorgeschriebenen Mittel, welche der Gnade Gottes gleichsam als Rinnen dienen, durch die sie sich verbreitet. Dieses Leben ist die Seele der ersten Kirche. Die Christen zu Jerusalem schöpfen um die Wette aus diesen himmlischen Quellen mit einer Beharrlichkeit, die allein schon uns ihr inneres Wesen offenbaret, denn wir können daraus auf ihren Glauben, ihren Eifer und alles Übrige schließen. Keine der Waffen des heiligen Kampfes wird von diesen gläubigen Menschen unbenutzt gelassen, die nur darauf bedacht sind, sich „in dem Herrn stark zu machen und in der Macht seiner Stärke“ (Eph. 6,10-13): weder das Wort Gottes, noch der gemeinsame Gottesdienst, noch die Sakramente, noch das Gebet. Nicht verabsäumt wird das Wort Gottes: „sie blieben beständig in der Apostel Lehre,“ - sie drangen immer mehr in die Erkenntnis und in das Verständnis der göttlichen Schrift ein und folgten darin den Fußtapfen der treuen begeisterten Zeugen Jesu Christi, die sich nicht damit begnügten, dass sie die heilbringende Wahrheit am Pfingsttage verkündigt hatten, sondern damit fortfuhren, sie öffentlich und in den Häusern zu bestätigen und näher zu entwickeln. Nicht verabsäumt wird der gemeinsame Gottesdienst: „sie blieben in der Gemeinschaft,“ das will sagen, in dem gemeinschaftlichen religiösen Leben, das hauptsächlich in öffentlichen Gebeten und in Austeilung der Sakramente bestand, wovon sofort wird geredet werde. Sie begriffen es, dass die Gläubigen mehr vermögen, wenn sie versammelt, als wenn sie einzeln sind, mochte es nun ihr Zweck sein, dass sie vom Herrn etwas erstehen oder die eingeschläferten Gewissen aufrütteln oder sich gegenseitig auf dem Wege zu Gott befestigen wollten, indem „sie untereinander ihrer selbst wahrnahmen mit Reizen zur Liebe und guten Werken“ (Hebr. 10, 24. 25) und ihre Versammlungen nicht verließen, denen so viele Verheißungen gegeben waren! Nicht verabsäumt wurden ferner die Sakramente: „sie blieben beständig im Brotbrechen,“ das heißt, sie feierten das Abendmahl des Herrn. Nach einer vortrefflichen Erklärung des heiligen Augustin „waren ihnen die Sakramente sichtbare Zeichen der unsichtbaren Gnade Gottes“ oder „Siegel der Gerechtigkeit des Glaubens“ nach Paulus einfacherer und tieferer Erklärung. Sie wurden zuerst getauft zur Vergebung der Sünden, aber erst nach gewonnener Erkenntnis und kraft eines persönlichen Bekenntnisses; und jetzt, nachdem sie durch das Sakrament der Geburt in die Kirche aufgenommen waren, stärkten sie durch das Sakrament der Nahrung ihren Glauben, sie feierten es oft, nach den Liebesmahlen oder sogar jeden Tag nach dem Familienmahle. Verabsäumt wurde nicht das Gebet: „sie verharrten im Gebet.“ Durch beständiges Gebet hatten die Hundert und zwanzig in dem hohen Saal das Kommen des heiligen Geistes und die Gründung der Kirche herbeigefleht; durch anhaltendes Gebet befestigt sich auch die entstehende Kirche und erbittet für sich ein immer reicheres Maß des heiligen Geistes, dem sie alles verdankt, und der allein dem Wort, dem Gottesdienst und den Sakramenten Leben zu geben vermag. Seht sie denn an, die Kirche, wie sie durch die apostolische Predigt mit dem Worte Gottes genährt, durch einen geistigen Gottesdienst mit Gott in Verbindung gebracht, durch die Sakramente mit Gottes Siegeln gezeichnet und durch das Gebet mit Gottes Geist erfüllt ist; die Kirche, das lebendige Bild Gottes, welches wir nur anzusehen brauchen, um in ihren Zügen den zu erkennen, den sie verkündigt. Da sie gleich Moses mit Gott auf dem Berge gelebt hat, so bringt sie gleich ihm ein glänzendes Angesicht in die Ebene mit, in welchem sich die unsichtbaren Vollkommenheiten des dreimal heiligen Gottes widerspiegeln.

Wollt ihr die Wirkungen des Glaubens und seine himmlische Herrlichkeit leibhaftig vor Augen sehen? Es besteht auf der Erde ein Verein, dessen Aufgabe es ist, die himmlischen Dinge sichtbar zu machen, indem er ihnen einen Leib und praktische Wirklichkeit gibt; es besteht ein Verein, in dem sich die göttliche Wahrheit bewährt durch die Früchte, die sie erzeugt, der Werth des gemeinsamen Gottesdienstes durch den Segen, der ihn begleitet, die heilsame Kraft des Sakraments durch das Heil, dass es an der Seele schafft, die Macht des Gebetes dadurch, dass kein Gebet ohne Erhörung bleibt: dieser Verein ist die Kirche. Wollt ihr einen Ort entdecken, wo ihr Ruhe findet vor dem herrschenden weltlichen Treiben, das gegenwärtig die Menschheit erfüllt, und vor den zuckenden Bewegungen, die es allenthalben erregt? Es besteht auf der Erde ein Verein, der, obgleich er in der Welt lebt, sich doch über die Welt erhebt, denn er sieht Alles in Gott und Gott in Allem; ein Verein, der in den ihm vertrauten höheren Regionen einen reinen, stillen Frieden atmet, nicht einen Frieden der Betäubung, wie der, mit dem die Welt ihr Opfer einschläfert, nicht der Frieden eigener Gerechtigkeit, den so viele betörte Herzen von den Werken, den Bußübungen oder der Einsamkeit erwarten; - nein, den Frieden des Kreuzes, den der gekreuzigte Jesus Christus den Seinigen erteilt, den er bald „den Frieden,“ bald „seinen Frieden“ nennt: dieser Verein ist die Kirche. Wollt ihr Jesus Christus irgendwo in der Welt wiederfinden, indem ihr dort Menschen findet, die ihm bei der Menschheit als Werkzeuge und Stellvertreter dienen, wie er selbst als solcher bei dem Vater gedient hat? Es besteht ein Verein auf der Erde, der mit Jesus Christus in Gemeinschaft lebt, der Jesus Christus besitzt, der ihn verwirklicht, der von ihm lebt, der in Jesus Christus wohnt und Christus in ihm; ein Verein, der mit dem Apostel Paulus sprechen kann: „Ich lebe, aber doch nun nicht ich, sondern Christus lebet in mir. Denn was ich jetzt lebe im Fleisch, das lebe ich in dem Glauben des Sohnes Gottes, der mich geliebt hat und sich selbst für mich dargegeben“ (Gal. 1, 24); dieser Verein ist die Kirche. Aber welche Kirche ist es? Ist es die heutige Kirche? Ich weih es nicht; aber es ist sicher die Urkirche. Ist es die Kirche, so wie sie ist? Ich weiß es nicht; aber es ist die Kirche, wie sie sein sollte. Mit Einem Wort, es ist die Kirche, welche die Kirche ist, und welche, wenn sie nicht unter uns besteht, durch eine Umgestaltung gesucht werden muss. -

„Wer da liebet Gott, der ihn geboren hat, der liebet auch den, der von ihm geboren ist“ sogar 1. Joh. 5, 11; wenn das göttliche Leben die Kirche beseelt, so muss es notwendig das brüderliche Leben erzeugen. Die brüderliche Liebe, jene evangelische Strömung, die sich zwischen zwei Herzen bildet, in denen Jesus lebt, als wollte der, welcher beide erfüllt, auch noch den Zwischenraum zwischen ihnen ausfüllen, - was ist sie anderes, als die christliche Liebe in ihrer höchsten Vollendung? Würde diese brüderliche Liebe der gemeinsame Schatz einer ganzen Kirche und verbände mit ebenso festen, als vielfachen Banden jedes einzelne ihrer Glieder mit allen und alle mit jedem, welche Liebesgewalt könnte dann durch diesen einen Verein, der vielmehr eine Familie von Brüdern bildete, geübt werden! Und doch nicht in höherem Grade, als es nach unserm Text von der ersten Kirche in Jerusalem geschieht: „Alle aber, die gläubig waren geworden, waren bei einander und hielten alle Dinge gemein; ihre Güter und Habe verkauften sie und teilten sie aus unter alle, nachdem jedermann Noth war;“ und ferner: „Die Menge aber der Gläubigen war Ein Herz und Eine Seele; auch keiner sagte von seinen Gütern, dass sie sein wären, sondern es war ihnen alles gemein.“ (Apg. 4, 32.)

Wir erblicken hier die hervorleuchtendste Eigentümlichkeit der ersten Kirche, die mehr als alles andre der Welt, den Aposteln und dein heiligen Geschichtsschreiber, das heißt dem heiligen Geist selbst aufgefallen ist. Die Kirche verwirklicht das von den Aposteln verkündete Urbild, sie lebt in der Liebe, welche diese predigten. Ein Ebenbild des Wesens Christi, wie er ein Ebenbild des Vaters war, überträgt die Kirche die Liebe zu Gott in brüderliche Liebe und in gemeinsames Leben; sie zähmt die Eigenliebe sogar in ihrer hartnäckigsten Äußerung, der Liebe zum Gelde, und bietet so der Welt einen Anblick dar, den vor ihr kein Verein jemals bot, keine Religion erdachte, keine Weltweisheit erträumte, den nach ihr keine Gemeinde hat wieder hervorbringen können, ohne mehr oder weniger daran zu ändern. Denn alle Nachbildungen, auch die in wahrhaft christlichen: Sinne unternommenen, wussten sich nicht gänzlich der Versuchung zu entziehen, durch menschliche Vorschriften die Geistesfreiheit zu beschränken, der Jerusalem sein Gedeihen verdankte.

Es sind hier einige erklärende Worte notwendig. Ich verstehe unter dem gemeinsamen Leben, durch welches sich die Gemeinde zu Jerusalem auszeichnet, die sichtbare Kundgebung der in den Herzen verborgenen Liebe im weitesten Sinne und fern von aller Bestimmtheit in der Anwendung. Dies gemeinsame Leben bestand nicht in einer förmlichen gemeinschaftlichen Einrichtung. Wenn es heißt: „die ersten Christen waren bei einander,“ und dies erläutert wird: „und waren stets bei einander einmütig im Tempel und brachen das Brod hin und her in den Häusern,“ und wenn wir darunter entweder eine allgemeine Versammlung im Tempel zur Feier des öffentlichen Gottesdienstes oder verschiedene Versammlungen von Einzelnen in den christlichen Häusern verstehen müssen, die durch das Bedürfnis; gegenseitiger Erbauung oder durch verwandtschaftliche oder freundschaftliche, vom Evangelium geheiligte Beziehungen veranlasst wurden; so waren doch diese Versammlungen jedenfalls unregelmäßig und vorübergehend, sie ließen dem inneren Verkehr vollständige Freiheit, so dass keineswegs das Privatleben in dem öffentlichen Leben aufging. Man nähert sich einander, sobald man sich liebt; deshalb benutzten die ersten Christen jede Gelegenheit, welche das öffentliche wie das Privatleben darbot, zu gegenseitiger Annäherung; doch war diese ganz geistiger Art und hatte keinen verpflichtenden, verfassungsmäßigen oder sozialen Character. Auch bestand dies gemeinsame Leben nicht in einer solchen Gütergemeinschaft, wie man sie in unfern Tagen preisen hört. Ein tieferes Eingehen in den Text zeigt uns, dass hier nicht von einer auferlegten, verabredeten, verhältnismäßigen oder, um den bezeichnenden Ausdruck noch einmal zu gebrauchen, von einer sozialen Güterteilung die Rede ist, sondern von einer freiwilligen Mittheilung, welche nur die Sache der Liebe des Einzelnen war, die ohne Zwang dem Besitzenden es abnahm und dem gab, der nichts hatte, doch ohne Rückhalt das Eigentumsrecht dem Gebenden und die Erkenntlichkeitspflicht dem Empfangenden vorbehielt. (Apg. 5, 8). Der Unterschied zwischen beiden Weisen ist wie der Unterschied zwischen der Gnade und dem Gebot oder zwischen dem Evangelium und dem Gesetz. Wünsche ich nun aber, dass dieses gemeinsame Leben in Jerusalem selbst auf seine wirklichen Verhältnisse Zurückgeführt gänzlich in die zeitgenössische Kirche übertragen werde? Nein, denn ich wage weder die Behauptung, dass dies ausführbar, noch dass es wünschenswert sei. So viel wir wissen, hat sich dies gemeinsame Leben der ersten Kirche auf keine andere apostolische Kirche erstreckt. Hat die Erfahrung vielleicht irgend eine gefährliche Seite, der auch die besten Dinge unterworfen sind, daran entdeckt? Diese Vermutung ist keineswegs unwahrscheinlich, weil es kaum begreiflich ist, wie die so gestaltete brüderliche Liebe in eine Regel oder in beständigen Gebrauch hätte übergehen können, ohne dass die Kirchenzucht durch die Verlockungen, mit denen die mildtätige Liebe die Begehrlichkeit des Armen reizte, in Gefahr gekommen wäre.

Die Meisten von euch, meine lieben Brüder, hören dies mit besonderem Wohlgefallen; meine Erklärungen beruhigen euch über eine unbestimmte Angst vor Sozialismus, die euch mein Text, nicht meine Rede einflößte. Wir sind also bis hier mit einander derselben Ansicht; nun lasst uns sehen, ob dies bis zum Schlüsse der Fall ist. Denket nur nicht, dass ich unter dem Vorwande, das Wort meines Meisters zu erklären, die Absicht habe es zu dämpfen! Es wäre schlimm, wenn ich nicht den Muth hätte, da ich doch im Stande war, die evangelische Liebe der umstürzenden Anmaßung des Armen gegenüberzustellen, sie eben so gut der selbstsüchtigen Rechtschaffenheit des Reichen entgegenzusetzen. Merket wohl, je weniger ich auf den Buchstaben gebe, desto mehr beachte ich den Geist, und wenn ich auf die Form des in der Kirche zu Jerusalem gegebenen Beispiels weniger Gewicht lege, so leite ich daraus die Berechtigung her, um so unbeugsamer auf den Inhalt zu bestehen. Ich wiederhole es noch einmal, dass es mir recht ist, das gemeinsame Leben in Jerusalem im weitesten Umfange und fern von aller Bestimmtheit in der Anwendung zu nehmen; aber ich will es ganz und gar aufrecht gehalten wissen in seinem Wesen, nämlich als die sichtbare Bezeugung der brüderlichen in den Herzen verborgenen Liebe. Mag die Güterteilung in Jerusalem nun wünschenswert und übertragbar sein oder nicht, sie ist über die Erde gegangen wie ein Blitzstrahl der himmlischen Liebe, die in den kommenden Zeiten der Kirche Nachahmungen, nicht Nachbildungen hervorrufen musste, denn sie zeigte ihr an einem leuchtenden Beispiel nicht, wie man die Liebe üben soll, sondern wessen die Liebe fähig ist, wenn sie den gekreuzigten Jesus Christus sich zum Vorbilde nimmt.

Wir können uns keine richtigere Vorstellung von der Liebe machen, welche die Glieder der Urkirche mit einander vereinigte, als indem wir sie mit einer Familie von Brüdern vergleichen, wie ich dies vorhin that. In einer wohlgeordneten und liebevoll verbundenen Familie werden die Brüder und Schwestern zerstreut, sie haben getrennte Geschäfte und verschiedene Wohnungen, aber die gegenseitige, in ihren Herzen wurzelnde Liebe treibt sie, sich einander zu nähern und sich ungeachtet der Ortsentfernung und Geschäftshindernisse mit einander zu versammeln, so oft sich ihnen die Gelegenheit dazu darbietet. Es können in einer solchen Familie auch die Vermögenszustände verschiedenartig sein, und Jeder verwaltet sein Eigentum; tritt aber nun der Fall ein, dass Einer Mangel an dein leidet, was zum Leben dient, so beeifern sich alle übrigen, ihm zu Hülfe zu kommen, seinem Mangel durch ihren Überfluss abzuhelfen. Ich spreche natürlich von einer Familie, wie sie sein soll. Nicht mehr und nicht weniger scheint mir die Kirche zu Jerusalem zu sein in dem lieblichen Bilde, das unser Text von ihr gibt; ebenso sollte die Kirche Jesu Christi zu allen Zeiten beschaffen sein, wenn sie ihren Namen mit Recht tragen will; sie muss eine Familie bilden, deren Mitglieder sich mit herzlicher, brüderlicher Zuneigung lieben, sich mitten in der kalten, falschen Welt aussuchen und immer dem Bedürfnis gemäß bereit sind, sich gegenseitig von ihrem „Korn, Most und Oel“ mitzuteilen. (Hos. 2, 7.) Da wo dieser Geist eingedrungen ist, gleichviel welchen Namen und welche Form er erhalte, ist nach des Propheten Gebet „Jerusalem gefertigt und gesetzt zum Lobe auf Erden.“ (Jes. 62, 7.) Da wird der Kirche zum Trost und der Welt zur Lehre auch das rührendere und das feierlichere Abschiedsgebet des Herrn erfüllt: „Auf dass sie alle eins seien, gleichwie du, Vater, in mir und ich in dir.“ (Joh. 17, 21.) Da wird die Einheit der Herzen, die sich in den Werken kund tut, früher oder später zu dein Ausrufe drängen: „Sehet, wie sehr sie sich lieb haben,“ und dieser verständige und unwillkürliche Ausruf wird bestätigen, dass in der gegenseitigen Liebe der Gotteskinder der Anfang einer himmlischen Ordnung mitten in der gefallenen Menschheit gegeben ist.

Wenn so die wahre Kirche beschaffen ist, wo finden wir sie denn aber; wo ist diese Bruderfamilie? Wenn ich recht suche, so finde ich auch in unserer Zeit wie zu allen Zeiten Brüder und Schwestern, Christen von der ausgezeichneten Art, bei denen es zur Wirklichkeit, ja zum Bedürfnis und Hang geworden ist, sich aufzuopfern. Haben wir aber eine Vereinigung solcher Brüder, eine Kirche, wie ich sie wünsche? haben wir sie nicht, so fehlt uns die wahre Kirche, und wir bedürfen einer Verbesserung! -

Die brüderliche Liebe besteht nicht in Gleichgültigkeit gegen die Welt, der wir gestern angehörten, und die „Gott so sehr geliebt hat, dass er seinen eingeborenen Sohn gab, auf dass alle, die an ihn glauben, nicht verloren gehen, sondern das ewige Leben haben!“ Das Werk göttlicher Barmherzigkeit, das Jesus Christus in der Welt verrichtete, hat er auch seiner Kirche aufgetragen: „Gleichwie du mich gesandt hast in die Welt, so sende ich sie auch in die Welt.“ Daher hat auch die wahre Kirche immer im wahren Sinne nach Verbreitung gestrebt; sie hat gefühlt, dass sie gleich ihrem Meister den Beruf von Gott erhalten hat: „zu suchen und zu retten, was verloren ist.“ Höret, auf welche Weise und mit welchem Erfolg die Kirche zu Jerusalem diesen Beruf erfüllte: „Und sie waren täglich und stets bei einander einmütig im Tempel und brachen das Brod hin und her in den Häusern; nahmen die Speise und lobten Gott mit Freuden und einfältigem Herzen und hatten Gnade bei dem ganzen Volk. Der Herr aber that hinzu täglich, die da selig wurden, zu der Gemeine,“ oder wie der Verfasser dies an einer andern Stelle ausdrückt: „wie viele ihrer zum ewigen Leben verordnet waren.“ (Apg. Luc. 13, 48).

Es leben Gott sei Dank viele Menschen in der Welt, die sich bestreben, das Urbild der Glückseligkeit, das sie in sich tragen, zu verwirklichen, die, weil sie nie finden, was sie suchen, um so unzufriedener mit dem Leben sind, von dem sie mehr verlangten; sie sind traurig aus Sehnsucht nach Glück, Zweifler aus Verlangen nach Glauben; sie leben mit offenem Ohr und aufmerksamem Auge, als erwarteten sie eine unverhoffte Erlösung, zu der sie nicht gelangen und der sie nicht entsagen können. Stellt ihr solche Seelen der ersten Kirche zu Jerusalem gegenüber, so finden sie in dieser Versammlung der an Jesus Christus Gläubigen etwas von dem, was sie in Christus selbst gefunden hätten; sie finden darin, als wäre es vom Traum ins Leben übergegangen und vom Himmel zur Erde herabgestiegen, das Urbild, das ihnen bis dahin immer entschwunden war, und von dem ihnen doch wie dem alten Simeon eine innere Stimme verheißen hatte, dass sie es sehen würden, ehe sie stürben. Es ergreift sie bei diesem Anblick heilige Furcht und inniges Vertrauen, sie geben sich einer geheimen, unwiderstehlichen Gnade hin, sie kommen in eine Art geistiger Strömung, in die man nicht geraten kann, ohne sie bis zu Ende zu verfolgen; und so machen sie schon einen Theil der Kirche aus, die sie nur zu bewundern glaubten: „Der Herr aber that hinzu täglich, die da selig wurden, zu der Gemeine.“ Die Neubekehrten belaufen sich an einem Tage auf Tausende und nach einigen Jahren auf Zehntausende.

Wir wollen uns über die Weise belehren, wodurch dieser große Erfolg erlangt wurde, dem jede gläubige Kirche in heiligem Eifer nachstreben sollte. Wüsste ich ein andres Wort für Erfolg, so würde ich es lieber gebrauchen, denn der Ausdruck Erfolg passt schlecht, weil man damit den Gedanken an Entschluss und Anstrengung verbindet. Die Kirche zu Jerusalem bringt jene tausende von Bekehrungen hervor wie ein Baum seine Früchte, nicht wie ein Handwerker seine Arbeit, weniger durch eine beabsichtigte und berechnete Tätigkeit, als durch eine unmittelbare, sich selbst fast unbewusste Einwirkung. Wir können freilich nicht behaupten, das gar keine beabsichtigte Wirksamkeit ausgeübt sei, denn dass Evangelium wird in Jerusalem beständig gepredigt. Die Apostel verkündigen es, ihre Stimme hat die Gemeine gegründet und kann, nachdem sie an dem einen Pfingsttage dreitausend Seelen bekehrt hat, denselben eben so gut noch mehr Jünger hinzufügen. Die Predigt geschieht auch durch diese neuen Jünger: ich denke sie mir, wie sie sich in der Stadt verbreiten, wie sie aller Orten die Taten Jesu Christi erzählen, wie sie beweisen, dass die Verheißung in seiner Person erfüllt ist, wie sie die gesellschaftlichen Verbindungen und die Lebensverhältnisse als Mittel benutzen, ihren Herrn und Meister denen zu verkündigen, die ihn noch nicht kennen. Dieses ganze Werk der Verkündigung des Evangeliums bildet einen Theil, ja einen Hauptteil der Missionstätigkeit der ersten Kirche, doch liegt darin noch nicht das ganze Geheimnis. Die neue, hinreißende, entscheidende Tätigkeit ist keine beabsichtigte, sondern eine unmittelbare, sie ist nicht die That des Wortes, sondern des Lebens, nicht die That der Apostel, sondern der Kirche.

Denke dir, mein lieber Zuhörer, damit dir die Wahrheit dieser Bemerkung verständlich wird, du hättest einem der Lebenstage des Menschensohnes auf Erden beiwohnen und zuschauen können, von dem jetzt die Kirche der Leib, der Vertreter auf Erden ist. Was, glaubst du, würde dich am meisten zu Jesu und seiner Lehre hinziehen? Ich glaube mich nicht zu irren, dass es weder die Macht seiner Taten, noch die Gewalt seiner Predigt wäre, die dich am tiefsten rührte und am unwiderstehlichsten hinrisse, so sehr du sie auch in den Wundem, die seine Hände ausstreuen, anstauntest, und in den holdseligen Worten, die aus seinem Munde strömen, empfändest; nein es wäre vielmehr das Leben, jenes ganze Leben voll Gehorsam, Liebe und Entsagung, jene Heiligkeit und Liebe, die sein Blick verkündet, sein ganzes Wesen atmet, die in ihm den unsichtbaren Gott sichtbar macht. Nun wohl, in der Kirche zu Jerusalem lebte etwas dein Ähnliches, was ihr die Herzen mehr als das Wort zuwandte, was sie auch ohne Wort gewonnen hätte: es war jene völlig neue Erscheinung des geistlichen Lebens, welche sie dem Auge darbot, jene Insel der Heiligkeit, der Liebe und des Friedens, die sich an einem gnadenvollen Tage aus dem Meer der Sünde, der Selbstsucht und des weltlichen Treibens erhob, eine Insel, die dem Eden gleich so köstliche Früchte brachte, wie man sie nur vom Himmel erwartet. Vor „dieser Beweisung des Geistes und der Kraft“ schwinden die Zweifel und alle möglichen Einwürfe; man sucht sie nicht mehr, man lässt sie nicht mehr zu; man ergibt sich und freut sich dessen, man müsste denn ein zweiter Kam sein, der seinen Bruder tötet, weil seine Werke schlecht und seines Bruders Werke gerecht sind. - Ich wundre mich nach allem diesen nicht, dass die drei Tausend nach einigen Tagen bis zu fünf Tausenden und in wenigen Jahren bis zu zehn Tausenden anwachsen, denn mit solchen Hilfsmitteln ist das Wort allmächtig, und eine solche Kirche gibt der Predigt der Apostel mehr wieder, als sie von ihr empfing.

Es bleibt uns, meine lieben Brüder, nun noch übrig zu fragen, ob diese so mächtige, weitreichende Wirksamkeit ein ausschließliches Vorrecht der Urkirche ist, und ob uns alles Streben, in ähnlicher Weise Einfluss auf die uns umgebenden Menschen auszuüben, für immer untersagt ist. Weshalb sollte das der Fall sein? Weshalb konnten die drei Tausend die Aufmerksamkeit der hundert und zwanzigtausend Bewohner Jerusalems auf sich ziehen, ganz abgesehen von den zwei Millionen, die sich zu den hohen Festen hinzudrängten, - und wir, die wir Erben ihrer Lehre und Nachfolger ihres Glaubens sind, sollten dazu verurteilt sein, unbeachtet unter dem ungläubigen Volke, das uns umgibt, einherzugehen? Weshalb haben die Christen in Jerusalem und im ersten Jahrhundert solche reichliche Früchte von ihrer Arbeit oder vielmehr von ihrer bloßen Gegenwart in Jerusalem geerntet mit der Aussicht auf noch reichlichere Früchte, die ihnen später in Judäa und in der ganzen Welt zu Theil wurden; und wir Christen des neunzehnten Jahrhunderts sollten uns ruhig darein ergeben, dass unser Ruf in der Wüste verhallt, dass wir in der Luft fechten, und dass unser Evangelium auf die Erde geworfen wird, ohne dass sich Jemand darnach bückt? Kommt das nicht daher, weil wir Erben nur ihrer Lehre und nicht ihrer Taten, weil wir Nachfolger ihres Glaubens und nicht ihrer Liebe sind, kurz weil wir der Welt zwar dasselbe Wort bieten, aber nicht dieselben Werke? Gott sei dafür gelobt, dass es auch unter uns aufrichtige, musterhafte Gläubige gibt; aber wo fände das aufmerksamste, wohlwollendste Auge unter uns einen Verein von Gläubigen, eine himmlische Familie, eine Oase brüderlicher Liebe in der Wüste, wie sie in Jerusalem sogar die zerstreutesten Blicke auf sich ziehen?

Meine Brüder, wir wollen an unsre eigene Brust schlagen, ehe wir Andere richten. Wir wollen dem jetzigen Geschlecht nicht Unrecht tun. Unser Jahrhundert ist, so erloschen auch der Glaube und so verweltlicht auch das Leben sein mag, doch nicht weniger als ein anderes den Eindrücken der Wahrheit, Heiligkeit und Liebe zugänglich. Ja, hat dies so wunderbar aus Gutem und Bösem gemischte Jahrhundert nicht sogar einige Seiten, die es solchen heilsamen Einflüssen besonders geneigt machen? Liegt in den Träumen von einer neuen gesellschaftlichen Ordnung, durch die unser Zeitalter wie von dem im 107. Psalm beschriebenen Sturm bewegt wird: „und sie gen Himmel fuhren und in den Abgrund fuhren,“ - nichts Edles, Berechtigtes, dem Geiste Jesu Christi und dem Andenken an Jerusalem Entlehntes? Ja, liegt nicht in jenen unfruchtbaren Versuchen, falls sie nicht lächerlich und unheilbringend sind, etwas, das unserm Jahrhundert die Augen öffnen muss, und geschähe dies auch nur durch den Gegensatz, den ihm der glückliche Versuch in Jerusalem zeigt, welcher seinen Erfolg nur der Gegenwart Jesu Christi und den Grundlehren seines Evangeliums verdankt? Ja, wenn die erste Kirche Jerusalems heute Hierher versetzt würde, es wäre dem Geiste nach Jerusalem und das erste Jahrhundert und der Form nach Paris und das neunzehnte Jahrhundert, - glaubt mir, jene Dreitausend voll Glauben und Liebe, jene Kirche voll Entsagung und voll Bruderliebe, jenes zur Wirklichkeit gewordene Evangelium, sie würden bewirken, was weder unsre Predigten, noch unsre Vereine, was weder Staatskirchen noch Sekten zu tun vermochten. Wir beklagen uns, dass die jetzige Kirche keinen Einfluss auf die Menge ausübt; es fehlt ihr ^vielleicht nur, dass sie das in Wahrheit werde, was sie sein will i die christliche Kirche, und sie wird die Menge auf's Tiefste bewegen. Wohl ist es der Mühe wert, dass wir es wenigstens versuchen; wäre der Versuch auch für die Welt verloren, und er würde dies sicherlich nicht sein, - so würde er doch uns selbst fördern. Sollte euch aber sogar ein solcher Versuch unausführbar erscheinen, sollte es euch vorkommen, als verlöre ich mich in Hirngespinsten, wenn ich euch von der Verwirklichung des christlichen Lebens und der christlichen Kirche spreche, - dann möget ihr selbst den Schluss daraus ziehen und beurteilen, ob wir einer Verbesserung bedürfen! -

Meine Brüder, wir haben eine dreifache Verbesserung nötig; diese Kirche, die ihr Leben hat im heiligen Geist, in der Bruderliebe und in der Ausbreitung des Evangeliums, liegt in der Absicht Gottes, in den Wünschen seines Volkes und in den Bedürfnissen der Zeit begründet, und weil sie notwendig ist, wird sie in der von Gott bestimmten Zeit, wenn nicht unter uns, doch anderwärts verwirklicht werden. Wenn wir dein Beispiel der Gergesener folgen und Jesus Christus zwingen, sich von uns zurückzuziehen, dann wird er sein Wort mit seinen Segnungen in ein besser bereitetes Land säen; unterdrücken können wir die Kirche nicht, wenn wir sie auch von uns stoßen. Wessen Mille wäre das aber auch? wer wünschte sie nicht von ganzem Herzen herbei? wer möchte ihr nicht gern sein Dach zum Schutz und sein Haus zum Obdach anbieten? Erwarte ich, indem ich so spreche, zu viel von der Gemeinde, zu der ihr gehört; kann oder will die reformirte Kirche in Frankreich, näher die Kirche in Paris nicht wie die Kirche in Jerusalem sein, dann bleibt es euch noch vorbehalten, dass ihr selbst noch Heute diese Musterkirche bildet und den Tag erwartet und beschleunigt, an dem jene erkennen wird, was zu ihrem Frieden dient. Können das ein paar Menschen, vielleicht hundert, fünfzig oder Zwanzig, die der in Jerusalem herrschende Geist beseelt? Ja, ihr könnt es, und wären euer noch weniger; ihr zehn, fünf oder zwei, beginnt nur! Aber nicht aus eigener Machtvollkommenheit, sondern mit Gottes Kraft, mit seiner Gnade und zu seiner Ehre! Ja, mein Bruder, meine Schwester, machet den Anfang ! - Euerm Beispiel werden viele folgen, und ihr werdet so das schöne Gleichnis oder vielmehr die Verheißung des 72sten Psalms erfüllen: „Auf Erden, oben auf den Bergen wird das Getreide dick stehen; seine Frucht wird beben wie Libanon und wird grünen in den Städten, wie Gras auf Erden.“ Es warten viele aufrichtige, aber schüchterne Seelen, denen es an Kraft und Muth fehlt, nur auf ein Zeichen, und sie werden sich erheben, um sich ohne Rückhalt ihrem göttlichen Meister zu weihen. Sie werden euch entgegeneilen, wie das Eisen dem Magnet, denn ihre Herzen sind bereit; eröffnet nur den Weg, gebt nur das Zeichen, lasst sie nur von einem noch so kleinen Verein hören, dessen Bestreben es ist, aus seinem Leben in Gott ein neues Geistesleben, aus seiner Bruderliebe ein neues kirchliches Leben und aus seinem Missionseifer ein neues gesellschaftliches Leben zu schaffen. Wohl denen, die dies Zeichen geben! Sie sind glücklich, denn sie eilen den Zeiten der Kirche voran und stellen das unter sich dar, was sie so gern von der Kirche dargestellt sähen. Wohl ihnen, denn sie bilden eine heilige Genossenschaft, um ein durchaus christliches Leben zu führen; sie vertrauen auf die Weiterführung ihres entstehenden Werkes durch den allmächtigen Gott, der es von den zwölf Aposteln zu zwei und siebenzig Jüngern, von den zwei und siebenzig zu hundert und zwanzig, dann zu dreitausend (aus denen Hunderttausende werden sollten) und so zu der Kirche zu Jerusalem brachte, die ihr unter euch wieder ins Leben rufen möchtet. Lasst euch nicht in euerm guten Vorhaben durch den Gedanken verstimmen, dass unsre Kirche sich wegen der Ungunst der Zeiten nicht in der schönen Ordnung befindet, wie früher, und das, sie schlecht geeignet ist, euch in euern Gedanken an kirchliche Wiedergeburt zu folgen. Fasset euch in Geduld und harret auf den Herrn! Es ist möglich, dass euch die von Gott und der Geschichte angewiesene Stellung zur Ausführung eures frommen Unternehmens förderlicher als irgend eine selbstgewählte ist, denn sie bringt euch nicht nur mit gewissen, verborgenen Keimen der Erneuerung in Verbindung, die sich Bahn zu brechen streben, sondern sie beschränkt euch auch notgedrungen auf die Anwendung geistiger Mittel, welche die reinsten und sichersten sind, ohne eure Aufmerksamkeit von dem Hauptstreben abzuziehen, welches darauf gerichtet ist, dass Jesus Christus in dem Leben der Seinigen Gestalt gewinne. Wohlan denn, so leget die Hand an's Werk, wo und wie ihr seid. Eines genügt dazu: eure Hetzen müssen voll Glauben und Hingebung sein, voll festen Glaubens und unbedingter Hingebung. Habt ihr ein solches Herz? darum allein handelt es sich; wenn ihr es nicht habt, dann taugt ihr weder heute zu diesem Werk, noch hättet ihr damals in Jerusalem dazu getaugt; habt ihr es aber, dann wird es sich trotz aller Hindernisse einen neuen Weg bahnen, und es wird euch nichts unmöglich sein. Wesley verlangte nur zehn wahre Methodisten, um ganz England neu zu gestalten; ich glaube ihm gern, denn diese zehn wären zehn Apostel. Mit zehn wahren Protestanten würde auch mir nicht um die reformirte Kirche Frankreichs bangen!

Ich sage reformirte Kirche Frankreichs, aber ich denke bei dieser herrlichen Unternehmung nicht nur an sie, mein Streben geht weiter. Ich wünsche diese Erneuerung nicht nur unserer, sondern auch der lutherischen, ich wünsche sie allen protestantischen Kirchen, und jede teilt meinen Wunsch. Das Werk, das in unfern Geistern arbeitet, regt sich allenthalben. Eine neue Kirche wird überall erwartet und herbeigewünscht; mau hofft ans sie im religiösen Interesse, aber nicht minder im staatlichen, da sie allein alle politischen Schwierigkeiten ausgleichen kann; man hofft ans sie im Interesse der Gesellschaft, deren Aufgaben sie allein zu losen, im Interesse der Menschheit, deren Wunden sie allein zu heilen vermag. Es herrscht überall das unbestimmte Gefühl, dass durch, die Kirche die unruhige, zerrüttete Welt zu Jesus Christus, und dass sie durch Jesus Christus zur Ruhe, zum Frieden und zur Glückseligkeit kommen muss, wonach das ganze menschliche Geschlecht seufzt. Es ist das Wünschen und Sehnen aller christlichen Gemeinschaften, aber in diesem Wünschen gehen die Geister verschiedene Wege Gottes Absicht gemäß, „auf dass die, so des Beifalls würdig sind, bewährt werden,“ ich meine, auf dass die wahren Christen einander erkennen und sich die Hand zur Verbindung am gemeinsamen Werk reichen. Dies geschieht in Folge der neuen Richtung in der lutherischen Kirche, denn hier erwecken zwar Einige einen Luther, der lutherischer ist als der des sechszehnten Jahrhunderts, und wollen die Kirche für immer auf die Gedanken und Einrichtungen eines dem Irrtum unterworfenen Menschen gründen, der selbst gegen solche blinde Verehrung feierlich protestiert hat; dagegen heben die Anderen die Grundlehre von der evangelischen Gnade hervor, die Luther so herrlich wieder an's Licht gezogen hat, dieselbe, welche die Reformation in Luthers Herzen begründet hatte, ehe sie durch ihn in der Welt begründet wurde; - dieselbe evangelische Grundlehre, welche den wahren Lutheraner mit dem wahren Reformirten und mit allen wahren Jüngern Jesu Christi vereinigt. Dies geschieht ferner in der anglikanischen Kirche in Folge der neuen Richtung; denn hier mühen sich zwar Einige ab, die klerikale und despotische Kirche wieder aufzurichten, deren Joch ihre Brüder von sich warfen, als strebten sie die Grundwahrheit durch die Formen und den Geist durch das Gebot zu ersticken; dagegen streben die Anderen danach, das reine Evangelium und die geistige Kirche frei zu machen und dadurch mit Allen, die Gott im Geist und in der Wahrheit dienen, in Einklang zu treten; und so reichen auch sie uns die Bruderhand, die wir voll Liebe drücken. Dasselbe geschieht auch in den übrigen protestantischen Gemeinschaften in Folge der neuen Richtung; denn hier ereifern sich wohl Einige, einen engherzigen Sektengeist zur Geltung zu bringen, der den göttlichen Segen an ihr Menschenwort bindet; - dagegen erheben sich Andere in dem Gefühl des ihnen Mangelnden zu weltumfassenden Gedanken und höheren Gesinnungen, die nach Vereinigung und nicht nach Trennung der Brüder trachten, und die für die Zukunft die allgemeine Kirche der in allen Kirchengemeinschaften zerstreuten Kinder Gottes vorbereiten. Ja, selbst in der römisch-katholischen und griechisch-katholischen Kirche geschieht ein Gleiches in Folge der neuen Richtung; denn wenn schon auch hier die Mehrzahl die ausschließlich römisch- und griechisch-katholischen Grundsätze wieder aufzurichten strebt, die das Mittelalter zu Grunde gerichtet und eine Reformation hervorgerufen haben, - gibt es dagegen nicht auch hier Andere, welche das Bedürfnis fühlen, zum Lebensquell des Evangeliums durchzudringen, zu dem Schatze der Erlösung und der Wiedergeburt, zum Herzen des gekreuzigten Jesu Christi, an den, sie mit den Gläubigen der protestantischen Kirche festhalten? Ja, ich sehe am ganzen Horizont ein Volk Gottes hervorkeimen, klein an Zahl, aber groß an Glauben und Liebe; ich sehe, wie es sich aus seiner alten Stellung losmacht und sich für die Kirche des Geistes, der Bruderliebe, des Missionseifers, für die Kirche der Zukunft bereit hält. Ach, möchte der göttliche Geist diese aufrichtigen und gläubigen Seelen vereinigen, die sich auf allen Seiten regen, die sich wie im Finstern tappend suchen, sich vielleicht, weil sie sich nicht kennen, bekämpfen! Möchte die heilige Schaar der Gotteskinder sich eng an einander schließen, nicht im Namen der Gleichgültigkeit, welche die wesentlichen Lehren des Evangeliums auslöscht, sondern im Namen des gemeinschaftlichen Glaubens, durch den sie alles überwinden, was untergeordnet, was irdisch oder örtlich ist. Möchte der neue Geist kommen, nach dem sich die ganze Christenheit sehnt, auf dass die Verheißung erfüllt, das Evangelium verwirklicht, Jerusalems Tage zurückgerufen, auf dass das Himmelreich auf Erden gegründet werde! Amen!

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